Vor langer Zeit lebte an einem breiten Fluss eine einsame Frau. Sie sah jung aus, höchstens 25 Jahre, doch in Wahrheit weilte sie schon viele, viele Jahre auf der Erde. Doch das wusste kein Mensch, denn wie gesagt: Sie lebte allein in ihrer entlegenen Hütte. Zumindest wohnte dort kein weiterer Mensch. Denn eine Freundin hatte die Frau: Eine Meerjungfrau, die in dem Fluss lebte.
Da Meerjungfrauen bekanntlich sehr alt werden, waren die zwei schon lang befreundet. Wie sie sich kennen lernten, ist eine interessante Geschichte, doch diese erzähle ich ein andermal. Heute soll es um ein anderes Abenteuer gehen.
Diese Frau hatte in ihrer Kindheit, bevor sie unsterblich wurde und sich isolierte, den Namen Aurelia getragen, doch da sie mittlerweile in ihrer Einsamkeit mit niemandem mehr sprach, hatte sie ihren Namen vergessen. Die Meerjungfrau und sie kommunizierten über ihre Gedanken, denn Meerjungfrauen können nicht sprechen. Dabei tauschten sie auch keine Wörter aus, so wie wir das kennen, sondern sie sendeten sich Gefühle und Farben, also handelte es sich um eine abstrakte Form der Kommunikation, die keine Namen benötigte. Wir wollen der Meerjungfrau aber einen Namen geben, damit ich die Geschichte besser erzählen kann. Wir nennen sie hier Undine, in Anlehnung an die älteste uns bekannte Meerjungfrau der Geschichte.
Vielleicht kennt ihr die Sagen, in denen Meerjungfrauen oder Nixen wunderschön singen oder untreue Männer in den Tod führen. Das stimmt teilweise. Undine sang nicht tatsächlich, sondern übertrug ein Gefühl von Wohlsein und Zufriedenheit in die Köpfe der Männer. Diese Emotion war so überwältigend, dass Überlebende von einem lieblichen Gesang berichteten, ähnlich der Erfahrung eines Engelchors beim Eintritt in das Himmelreich, das natürlich auch nicht tatsächlich da ist, sondern eine Einbildung des Gehirns ist, um die Emotionen verarbeiten zu können. Nichts bringt Gefühle so stark zum Ausdruck wie Musik.
Undine lebte im Fluss, denn hier war sie den Menschen näher als auf dem offenen Meer. Sie überprüfte jeden Mann, den sie begegnete auf seine Treue und fand sie einen mit bösem Herzen, so lockte sie ihn zu sich ins Wasser, wo sie ihren Tod fanden. Diese grausame Aufgabe war das Schicksal aller Meerjungfrauen, denn sie waren mit einem Fluch belegt, der diese Arbeit zu ihrem Lebensinhalt machte.
Eines Tages war Undine also unterwegs, um ihrem Dienst nachzugehen, als sie einen jungen Mann am Ufer sitzen sah, der seine Füße ins Wasser baumeln ließ. Sie konzentrierte sich und sendete ihm das wohlige Gefühl in den Kopf. Sein Blick verklärte sich und als er sich vollends der Wonne hingab, konnte sie mit ihrer geistigen Kraft ein Blick in sein Herz werfen. Sie entdeckte dort etwas, was sie stutzen ließ. Sie kontrollierte noch zwei Mal, dass sie sich nicht irrte, dann ließ sie von ihm ab und schwamm so schnell ihre Flossen sie trugen zu ihrer Freundin Aurelia. Vor ihrer Hütte angekommen sendete sie eine schnelle Folge von warnenden Gefühlen und roten Bildern ab, um Aurelia zu alarmieren. Sofort kam sie aus ihrer Hütte gehechtet, kniete sich an den Fluss und schaute Undine in ihre saphirblauen Augen, um die Kommunikation zu erleichtern. Mit einem fragenden Gefühl sendete sie ihr ein Zeichen, dass sie bereit und aufmerksam war, um zu erfahren, was Undine gesehen hatte.
Jetzt müsst ihr wissen, dass Aurelia, nachdem sie erfahren hatte, dass sie ihre Freunde und Verwandten bei weitem überleben würde, ihrer Heimat den Rücken gekehrt und nie wieder zurück gekommen war. Sie konnte nicht ertragen, die wichtigen Personen in ihrem Leben altern und schließlich sterben zu sehen und hatte sich daher für das Eremitenleben entschieden, dass sie nun führte. Dabei hatte sie bei ihrer Abreise das Gerücht gestreut, todkrank zu sein, damit niemand jemals auf die Idee kam, nach ihr zu suchen und ein, zwei Generationen später sich schließlich niemand mehr an sie erinnerte.
Das war jetzt 250 Jahre her, weshalb sie nicht glauben konnte, was Undine ihr berichtete:
Der junge blonde Mann, der nur wenige Kilometer entfernt am Fluss gesessen hatte, trug in seinem Herzen das feste Ziel, Aurelia aus dem Dorf Miniras zu finden. Sein gesamter Geist war von diesem einen Gedanken erfüllt.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Aurelia davon ausgegangen, dass kein menschliches Wesen auch nur eine Erinnerung an sie hatte. In diesem Gedanken hatte sie sich getröstet und sicher gefühlt, doch nun schien ihre Welt auseinander zu brechen. Durch einen Wirbel von Gedanken und Sorgen hörte sie ein leises Brummen, das sie beruhigte und ihre Verwirrung langsam löste. Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, dass dies Undines beruhigende Geste war. Sie bedankte sich bei ihr und das Summen in ihrem Kopf verstummte.
Die zwei Freundinnen schwiegen sich kurz an, dann diskutierten sie still auf ihre Art und Weise und kamen schließlich zu dem Entschluss, dass Aurelia den Mann aufsuchen musste. Mit dieser Entschlossenheit würde er sie so oder so finden, doch auf diesem Weg konnte Aurelia ihm zuvor kommen und vielleicht ihre Identität zunächst verschleiern. Aurelia wäre es lieber gewesen zu flüchten und sich noch tiefer in der Einsamkeit zu verstecken, doch holte sie auch die Neugier, die wissen wollte, woher der Mann von ihrer Existenz wusste oder sie zumindest erahnte.
Hat eine Meerjungfrau jemandem ins Herz geblickt, verbindet die zwei Wesen noch eine Zeitlang ein besonderes Band. Sie spüren die Anwesenheit des anderen. Dem Menschen, der nicht weiß, was mit ihm geschehen war, ist das nicht bewusst, aber die Meerjungfrau kann dieses Band nutzen, um den Menschen wiederzufinden. So führte Undine ihre Freundin zu dem jungen Mann.
Aurelia hockte im Dickicht, einige Meter von dem Mann entfernt. Sie war nervös, hatte sie doch seit vielen Jahren nicht mehr mit einem Menschen gesprochen. Sie räusperte sich vorsichtig. Ihre Stimme war noch da, doch hatte sie sie in den letzten Jahren nur zum Summen oder Singen gebraucht. Nervös stand sie auf, strich ihr geflicktes Kleid zurecht, das sie trug, und schritt auf den Mann zu, der gerade auf einem umgestürzten Baumstamm saß und etwas aß, das Aurelia auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Als er sie bemerkte, schaute er sie überrascht an, sprang auf, ließ sein Essen auf den Baumstamm fallen und nahm eine verteidigende Haltung an. Bevor er die Essensreste in seinem Mund schlucken und etwas sagen konnte, kam Aurelia ihm zuvor. Sie hob beschwichtigend die Hände und sagte:
„Ich bin unbewaffnet! Ich möchte dir nichts tun“
Ihre Stimme bebte ein wenig, unsicher, welche Lautstärke und Betonung zu wählen war. Ihr Gegenüber schien dies jedoch als Angst aufzufassen. Sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck von kritisch zu hilfsbereit und seine Haltung entspannte sich.
„Was machst du denn hier draußen? Das nächste Dorf ist viele Kilometer entfernt. Geht es dir gut?“
Aurelia nickte und legte sich in ihrem Kopf die Geschichte zurecht, die sie ihm erzählen wollte.
„Ich bin als junge Erwachsene von zu Hause weggelaufen und habe dann nicht mehr nach Hause gefunden. Ich irre schon ein paar Monate durch den Wald. Mir geht es aber den Umständen entsprechend gut..“ Sie warf einen unsicheren Blick um sich, als würde sie nicht schon seit vielen Jahrzehnten, sondern erst seit ein paar Monaten allein im Wald sein und krümmte ihren Rücken, wodurch sie dünner und eingefallener aussah, als sie tatsächlich war.
„Wo kommst du denn her? Ich bin Anton aus dem Dorf der Lokopeia und möchte dir gern helfen, wieder nach Hause zu finden. Wenn du das überhaupt möchtest“, fügte er noch hinzu.
Aurelia lächelte ihn an, was er auch sofort erwiderte. „Danke, das ist nett. Ich glaube aber nicht, dass du mein Dorf kennst, denn ich bin vermutlich schon viel zu weit davon entfernt und kenne nicht einmal dein Dorf!“. Das war allerdings gelogen. Aurelia kannte den Namen seines Dorfes nur zu gut, denn war es doch eben jenes gewesen, wo sie damals aufgewachsen war. Das musste bedeuten, dass er schon seit mehreren Wochen unterwegs war, wenn nicht gar ein halbes Jahr. Sie musste sich beherrschen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, doch Anton schien nichts zu bemerken.
„Versuch es doch mal, ich bin viel herumgekommen. Und deinen Namen kenne ich immer noch nicht“, antwortete er mit einem Augenzwinkern, als ahnte er vielleicht doch, dass Aurelia ein Geheimnis hatte.
„Das Dorf heißt Milaka.“ Dieses Dorf existierte natürlich nicht wirklich. „Und ich bin Aurelia“. Anton fiel beinahe die Kinnlade herunter. Er schaute sie entgeistert an und versuchte, das eben von ihr Gesagte zu verarbeiten.
Ihr fragt euch jetzt sicher, wieso Aurelia ihm nicht einen falschen Namen gegeben hat. Nun, ihr Name war nicht sehr außergewöhnlich gewesen, als sie noch jung war. Sie wollte die ehrliche Reaktion von Anton sehen und erhoffte sich so einen erleichterten Einstieg, um zu erfahren, warum er hinter ihr her war.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie mit gespielter Besorgnis und fasst Anton beschwichtigend an den Arm. Dieser schüttelte nur langsam den Kopf und antwortete dann schließlich:
„Nein, alles in Ordnung. Es ist nur.. Wie alt bist du denn?“
„Ich bin 23. Wieso?“
„Ach, schon gut. Das wäre auch zu einfach gewesen…“, murmelte Anton niedergeschlagen. Aurelia blickte ihn fragend aber geduldig an und erhielt eine Antwort auf ihre nicht gestellte Frage.
„Weißt du, ich bin auf der Suche nach jemandem, der zufällig genau so heißt wie du. In dem Dorf, aus dem ich komme, Lokopeia, erzählt man sich diese Sage… Jedenfalls sah ich mich gezwungen, dieser Geschichte auf den Grund zu gehen. Doch nun irre ich schon viele Monate umher, ohne eine Spur oder einen Ansatzpunkt. Es ist zum Verzweifeln..“, seufzte Anton hoffnungslos.
„Ich bin auch schon lange in den Wäldern hier. Wonach genau suchst du denn? Vielleicht kann ich dir helfen“, fragte Aurelia hilfsbereit und erhoffte sich weitere Details.
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2017
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