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Der Rabe und das Kind

 

Der Wind wehte durch die hohen Bäume und riss einige rot-gelbe Blätter mit sich, die sich nach einem ungewöhnlich heißen Sommer noch verzweifelt an den Zweigen gehalten hatten.
Zu dem Rauschen, das dieses Szenario verursachte, mischte sich der vorwurfsvolle Schrei eines Raben, der sich krächzend in die Lüfte schwang und wie die Blätter vom Wind davon getragen wurde.

 

Ein junger Mann von etwa 23 Jahren lag auf einer Wiese, die ihr saftiges Grün schon vor einigen Wochen verloren hatte und starrte in den Himmel empor. Er verfolgte das Naturschauspiel mit beinahe kindlicher Neugier, welche schon oft als Zerstreutheit und Naivität interpretiert worden war.
Der etwas zu groß und zu dünn geratene Mann sah seine Faszination jedoch nicht als Laster, vielmehr war er sich sicher, dass man das große Ganze nur in der Hingabe zum Kleinen erfassen konnte.

 

„Andererseits..“, murmelte er vor sich hin. „Was ist schon ‚klein‘?“. Ein scheinbar nichtiger Windstoß, wie ihn jeder mehrmals tagtäglich erlebt wird leicht als Kleinigkeit abgestempelt. Aber spinnt man den Gedanken weiter, so können wunderbare Dinge die Folge sein. Oder abscheuliche Dinge.

 

Der Rabe, der vorhin schreiend vom Wind losgetrieben wurde, fliegt möglicherweise geradewegs auf ein Wohnhaus zu und lässt sich dort an einem Fenster nieder. Der kleine Junge, der dies bemerkt, wackelt auf zittrigen Beinen zum Fenster und beschaut gefesselt das Tier. Für einen kurzen Augenblick sehen sich beide Lebewesen in die Augen, bevor der Vogel dem Ruf der Natur folgt und seine großen, schwarzen Flügel ausbreitet. Verträumt folgt das Kind dem Flug des Raben, wie er wagemutig mit starken Schwüngen in der Ferne verschwindet. Noch lange verharrt es am Fenster und starrt dem Sonnenuntergang entgegen, in dem der Vogel verschwunden war. Das Kind träumt vom Fliegen, vom unbeschwerten Reisen durch die Lüfte, dem Freisein, der Unabhängigkeit. Gedankenverloren wandert er durch das große Haus.


Seine Eltern starren geschäftig auf den Fernseher, den PC oder ihr Handy, zu sehr von ihren Sorgen abgelenkt um zu bemerken, dass er sich einem Geländer nähert, hinter dem es einige wenige Meter in die Tiefe geht. Gefesselt vom Traum des Fliegens schwingt er sich beherzt darüber und merkt erst zu spät erschrocken, dass die Gaben eines Vogels uns Menschen nicht zuteil geworden sind. Enttäuschung und Trauer blitzen in ihm auf, bevor er auf dem Boden aufschlägt."

 

Der junge Mann auf der Wiese blickt mit zusammen gezogenen Augenbrauen ins Nichts. Ein solcher Gedanke ist nicht erfreulich. Es geschieht bereits so viel Böses in der Welt, dann sollte man wenigstens in der Phantasie davor gefeit sein.


Er reckt sich und verschränkt die Hände hinterm Kopf. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Wieso sollte sich nicht alles zum Guten wenden können?

 

Die Eltern hören den Aufprall und eilen zur Hilfe. Sie rufen den Notarzt, der schnell zur Stelle ist, um sich um den bewusstlosen Jungen zu kümmern. Die Ärzte untersuchen eilig seine Vitalfunktionen und etwaige Knochenbrüche. Schnell wird klar: Dem Jungen ist bis auf eine kleinere Gehirnerschütterung und einem komplizierten Oberschenkelknochenbruch nichts Ernsthaftes zugestoßen. Hastig wird der Junge ins Krankenhaus gefahren, um dort den Knochenbruch zu behandeln.

Schockiert warten die Eltern und machen sich Vorwürfe. Noch nie war ihrem kleinen Schatz etwas zugestoßen und sie hätten ihm gewünscht, dass er für lange Zeit kein Krankenhaus von innen sehen müsse.

 

Nach scheinbar endlosen Minuten des Vorwürfemachens und Bangens tritt endlich ein Arzt mit ernster Miene an die Eltern heran. Ihrem Sohn ginge es den Umständen entsprechend gut, doch habe man bei der routinemäßigen Blutuntersuchung eine Nierenerkrankung entdeckt. Diese wäre ohne den Besuch im Krankenhaus wohl jahrelang unerkannt geblieben, bis es letztendlich möglicherweise zu spät geworden wäre.
Das Gefühlssprektrum der Eltern reicht von der Erleichterung über das unbeschadete Überstehen des Sturzes über Ärger über sich selbst, aber auch ihren Sohn, bis hin zu Angst vor der Diagnose.

 

Zufrieden lächelnd setzt sich der Mann im Schneidersitz auf die Wiese. Er klopft einzelne Grashalme von seinem Shirt und kehrt mit seinen Gedanken langsam in die Realität zurück. Natürlich wünscht er niemandem einen Knochenbruch, aber wenn es zum Erkennen einer ernsthaften Erkrankung beiträgt..?
Der Mann steht auf und streckt seine steifen Gelenke, dann macht er sich pfeifend auf den Heimweg.

 

Zum selben Zeitpunkt erfährt, nicht unweit von der trockenen Wiese, ein kleiner neugieriger Junge eine intensive Begegnung mit einem großen, schwarzen Raben.

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.03.2016

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