Leiche gegen Tod
Kapitel I
Hallo, mein Name ist Leiche. Eigentlich ist dies ein amüsanter Name, aber wenn man den Seinszustand seines Namens erreicht hat, ist es in meinem Fall eigentlich nur ein äußerst frustrierender Name.
Ja, Sie haben richtig gelesen, ich bin eine Leiche. Wie es dazu kam? Das werde ich Ihnen erklären, im Laufe meines Briefes. Erstmal möchte ich Ihnen mein Anliegen mitteilen. Sie sind ein Anwalt, nicht wahr? Also, bitte ich Sie um Hilfe. Sie müssen meinen Fall übernehmen, denn es gibt ein Schlupfloch in meinem Fall. Sie müssen den Tod verklagen oder wenigstens dazu bringen, dass er meine Seele wieder freigibt.
Mein Körper wurde noch nicht gefunden und meine Seele hat der Tod zu Unrecht genommen. Es war noch nicht meine Zeit. Dies ist auch der Grund, weshalb ich ohne Schäden zurückkehren kann. Mein Körper verwest noch nicht, ich habe noch gut vierzig Jahre bis zu meinem Tod. Aber vielleicht komme ich besser zum Anfang, zu dem Tag, an dem der Tod meine Seele nahm. Sie sollten wissen, wie es zu alledem gekommen ist.
Also, am Tage meines unrechtmäßigen Todes war ich 23 Jahre alt und wollte eine Freundin von mir treffen. Eigentlich ist diese Bezeichnung untertrieben, sie ist meine beste Freundin. Ich hatte schon so ein komisches Gefühl als ich das Haus verließ und zu dem Bus ging, der mich in die Stadt bringen sollte und je näher ich der Stadt kam, desto unwohler wurde mir. Am Liebsten wäre ich umgekehrt, aber meine Freundin hatte in der letzten Zeit eine Menge Mist erlebt und ich wollte sie gern von ihrem Unglück ablenken. So was tut man eben für seine Freunde. Ich weiß nicht, ob es mir heute besser ginge, wenn ich auf mein Gefühl gehört hätte, aber ich wäre definitiv noch am Leben.
Wie gesagt traf ich an jenem Tag meine beste Freundin Aileen. Wir tranken zusammen Kaffee in einem Cafe, in dem wir uns schon als Jugendliche manchmal getroffen haben. Nur, dass wir damals gemeinsam mit dem Bus dorthin gefahren sind. Es war ein niedliches Cafe, direkt an der Ecke zur Straße und wenn man sich ans Fenster setzte, konnte man die Autofahrer so wunderbar beobachten. Wir saßen immer an diesem Fenster und auch diesmal sollte dies nicht anders sein. Wir unterhielten uns und lachten, bis ich aus dem Augenwinkel einen Wagen wahrnahm, der außer Kontrolle geriet. Ich weiß nicht welcher Adrenalinstoß mich antrieb, aber ich zog Aileen so schnell ich konnte an mich heran und drückte sie fest an mich. Im nächsten Moment krachte das Auto in die Scheibe und raste in den Stuhl, auf dem Aileen bis eben gesessen hatte. Er kam erst in der nächsten Wand zum Stehen und ich wusste, dass ich meiner besten Freundin soeben das Leben gerettet hatte. Sie blickte fassungslos zu dem Wagen und sah mir dann in die Augen: „Du hast mir das Leben gerettet, Leiche!“ „Ja, das habe ich wohl. Lass es mich ja nicht bereuen.“, scherzte ich und zog sie mit hoch, als ich aufstand.
Die nächsten Stunden waren sehr chaotisch und wir mussten eine Menge Aussagen tätigen und der Polizei Rede und Antwort stehen, immer wieder wurde ich für meine Geistesgegenwart gelobt. Sie beteuerten alle, dass Aileen den Zusammenprall mit dem Wagen unter keinen Umständen überlebt hätte.
Es war schon dunkel, als ich mich dann auf den Weg nach Hause machte. Ich konnte kaum fassen, was an jenem Tag passiert war und achtete nicht auf mein Umfeld.
„Du hast mich bestohlen, Leiche.“, war das erste, was ich wahrnahm. Die Worte kamen von einem dürren Mann, der in einen Umhang gehüllt war. Ich erschrak fürchterlich.
„Aileen war mein, du hast mich ihrer Seele beraubt. Sie ist gerettet und darf ein Leben führen. Aber du, du hast dein Leben verschenkt!“, in diesem Moment berührte mich der dürre Mann und warf meinen Körper über seine Schulter. Das merkwürdige daran war, dass ich dies sehen konnte, denn ich stand noch immer vor diesem Mann.
„Da du noch vierzig Jahre hättest, darf dein Körper nicht verwesen. Ich muss ihn lagern, bis du an der Reihe bist.“, erklärte er. „Du gehörst jetzt zum Totenreich. Ich wünsche viel Vergnügen.“, mit diesen Worten verschwand er. Und das ist jetzt genau fünf Jahre her.
Kapitel II
Das Totenreich ist nicht unbedingt ein angenehmer Ort, müssen Sie wissen. Nicht, dass es wirklich ein Ort ist, es ist vielmehr ein Zustand. Man bekommt nämlich alles mit, man kann überall hin. Man kann schon mal schauen, wie Himmel und Hölle und jedes andere Totenreich aussieht. Aber man kann als Rachegeist, oder als Geist, der noch Sachen zu erledigen hat, oder als beraubter Geist, so wie ich, noch in der Menschenwelt umher irren. Genau das habe ich zu Beginn getan.
Ich habe es jedoch schnell bereut. Zuerst musste ich mit ansehen, wie meine Familie fast ausrastete, weil ich verschwunden war. Dann sah ich mir an, wer mich wirklich vermisste, wer nur so tat, oder wem es gänzlich egal war. Manches war wirklich einfach nur enttäuschend. Traurig war ich auch, als ich sah, dass ein wirklich tolles Mädchen mich sehr vermisste. Sie war verliebt in mich und ich hatte es nicht bemerkt.
Als ich dies alles in Erfahrung gebracht hatte, machte ich mich auf den Weg, zu schauen, was Aileen mit den geschenkten Jahren anstellte. Es war wie eine Sucht und es frustrierte mich, wenn sie die Zeit nicht nutzte. Ich meine jetzt nicht, wenn sie mal ne Zeit lang faul auf dem Sofa lag und mit den Katzen kuschelte, sondern, wenn sie ihre Zeit mit deprimierenden Gedanken oder ähnlichem vertat. Ich wollte, dass sie wenigstens glücklich war. Wozu sonst hatte ich mein Leben gegeben, wenn sie in ihrem gar nicht glücklich war. Es war nicht so, dass sie das nicht oft war. Aber mich störte schon die kleinste Frustration. Woran das lag? An meiner Eifersucht. Auch ich wollte mal wieder wütend sein, weil mein Geld nicht auf dem Konto war oder weil meine Mutter mich bevormundete. Ich wollte jedes kleine Problem, ich wollte Furcht und Herzschmerz, denn dann kämen auch wieder Freude und Liebe. Aber ich war tot und mir war das alles nicht mehr vergönnt. Ich konnte nur zusehen und ich wurde verbittert.
Ich hatte schon früher manchmal ein Problem mit Aileens Männerwahl, aber nie zuvor hatte ich die Macht etwas zu tun. Nun hatte ich aber die Möglichkeiten. In der folgenden Zeit verließen eine Menge Idioten Aileens Wohnung angsterfüllt, nachdem Aileen sie kurzfristig im Wohnzimmer allein gelassen hatte. Im Angst machen war ich große Klasse. Auf den Glastisch hauchen und etwas drauf schreiben oder schwebende Gegenstände waren nur der Anfang meines Repertoires.
Aber irgendwann lernte ich, dass ich Aileen in Ruhe lassen musste. Ich musste sie ihr Leben so leben lassen, wie sie es wollte, denn ich hatte meine Entscheidung getroffen, als ich sie rettete. Ich war gefrustet, weil ich kein Teil mehr von ihrem Leben sein konnte, zumindest kein aktiver. Und immer wieder zwischendurch erwischte ich mich bei dem bösen Gedanken, dass ich es doch ein wenig bereute, dass ich mein Leben für sie gab, aber nicht, weil ich sie tot wissen wollte, sondern weil ICH einfach leben wollte. Manchmal ist einem als Leiche jede Ethik egal und man möchte jeden Preis zahlen. Aber das war einfach nicht ich. Ich hasste, was das Totenreich aus mir machte.
Kapitel III
Ich beschloss, dass ich mich mit meinem Schicksal abfinden müsste und so entschied ich, dass ich herausfinden musste, wo ich meine Ewigkeit verbringen wollte. Ich besuchte den Himmel, der ein wenig fad ist, die Hölle, die mich erschreckender Weise an eine Großstadt, in der es nur Laster gab, erinnert, den Styx, aber dort war es mir zu laut, denn maulende Seelen sind nicht das Wahre.
Ich war auch in Helheim, wollte von dort nach Walhalla, denn ich war ja ein gefallener Held. Oder etwa nicht? Aber Helheim war ein wenig verwirrend. Ich habe mich ständig verlaufen und mit der Riesin gezofft. In Kurnugia habe ich niemanden verstanden. Ich weiß auch nicht, wie ich dort überhaupt gelandet bin. Und ein Ort, der die übelsten Albträume übersteigt ist Xibalba und niemals wieder werde ich dorthin zurückkehren.
Sie denken jetzt bestimmt, ich wolle Sie verarschen, aber lassen Sie sich folgendes gesagt sein: Als Toter vergeht einem der Humor und als ich noch lebte, glaubte ich auch nicht an diese Vielfalt von Möglichkeiten. Man bekommt ja von jeher gesagt, dass es nur eine Wahrheit gibt, ob diese genannte dann auch akzeptabel ist, ist noch einmal eine ganz andere Frage.
Ich habe erkannt, dass ich auch an keinem dieser Orte glücklich sein würde. Warum? Weil jemand, der eigentlich noch leben müsste, niemals glücklich sein kann, wenn er herumgeistert und nicht mehr zu den Lebenden gehört. Hinzu kam folgendes: Die wirklich Toten fühlen sich von Menschen wie mich gestört. Wir gehören auch nicht zu ihnen. Wir sind unwürdig. Wir haben unser Leben nicht zu Ende gelebt und deshalb sind wir ausgestoßen.
Das Problem hierbei ist, dass es keinen Ort zum Warten gibt. Wir müssen uns arrangieren. Wir sind durchaus einige mehr, aber man wird ein Einsiedlerkrebs mit der Zeit. Ich will mir nicht mehr das Gejammer der Anderen anhören, die auf das Ende ihrer eigentlichen Zeit warten. Ich will ja nicht mal mehr mein eigenes Gejammer anhören…
So habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, dem Tod zu folgen, na ja, immer mal wieder einem von den Vielen. Für einen allein, wäre das wohl auch zuviel.
Ich beobachtete, wie Menschen starben und ihre Seelen aufstiegen oder abstiegen. Sie wussten alle, wohin sie gehen mussten. Nur ich nicht.
Eines Tages beobachtete ich, wie eine junge Frau, einem alten Mann das Leben rettete und klatschte mir mit der flachen Hand an die Stirn. Das war doch ungerecht! Und noch am gleichen Abend holte der Tod sie.
Kathrin war in unser Reich geworfen worden und sie konnte es nicht fassen, dass sie nun bereuen musste, eine gute Tat begangen zu haben.
Es ist nämlich ein Irrglaube, dass gute Menschen belohnt werden.
Ich nahm Kathrin unter meine Fittiche und es dauerte nicht lang, dass ich das erste Mal zu Zeiten meines Todes so etwas wie Glück empfand. Wir verliebten uns, auch wenn ich dies zunächst für unmöglich hielt.
Mit Kathrin zusammen machte mir die Fadheit des Himmels nichts aus. Wir hatten ne schöne Zeit, doch mir war entgangen, dass der Tod sagte, dass Kathrin ohnehin bald an einem unentdeckten Hirntumor gestorben wäre. Ich verlebte drei Monate des Glücks, dann wurde Kathrin zu einer wahren Toten und ich war Geschichte für sie. Sie wollte nicht, dass uns jemand zusammen sah und irgendwann kam sie einfach nicht mehr zu unseren Verabredungen.
Das ist jetzt ein halbes Jahr her und ich bin an dem Punkt, dass ich einfach genug habe. Ich will mein Leben zurück und Sie werden einen Weg finden. Ich verlasse mich auf Sie.
Falls Sie zweifeln und nichts tun, werde ich in Ihrer Kanzlei und Ihrem Haus poltern, bis Sie mit Ihrer Arbeit anfangen!
Mit freundlichem Gruß
Leiche
Kapitel IV
Sehr geehrte Herr Rechtsanwalt Meyer,
denken Sie ja nicht, ich hätte nicht gesehen, wie Sie meinen Brief zunächst einmal gelesen hatten und dann ein zweites Mal, bevor Sie zunächst eine halbe Stunde lachten, um dann wütend den Brief zu zerknüllen. Sie waren nicht sonderlich nett, als Sie ihre Angestellten angeschrieen haben, um zu erfahren, wer Ihnen diesen lächerlichen Brief geschrieben hat.
Das war dann auch der Grund, warum die Schreibmaschine quer durchs Zimmer flog und ich denke, ich sollte mich für diesen Ausbruch entschuldigen. Allerdings müssen Sie zugeben, dass Sie außer Kontrolle geraten sind.
Vielleicht hilft es Ihnen, mir zu glauben, dass Sie in diesem Augenblick vor dem Computer sitzen, während ich hier schreibe. Ich sehe an Ihren Augen, dass sie verschreckt sind und sich fragen, warum ich ausgerechnet Sie mit meinem absurden Problem belästige. Ich will es Ihnen sagen. Ihre Familie ist okkult. Sie sind in der Lage, Geister zu sehen, wenn Sie es zulassen und Sie sind in der Lage auch einen übernatürlichen Prozess zu führen. Wissen Sie, gerade unter Anwälten ist so eine Gabe äußerst selten. Ich habe Ihren Stammbaum analysiert und alle Männer in Ihrer väterlichen Linie hatten die Gabe des Mediumdaseins. Ich weiß noch nicht, was Sie dazu gebracht hat, diese Gabe zu verdrängen, aber seien Sie sich gewiss, dass ich Sie dazu bringen werde, sie wieder zu entdecken. Es tut mir leid, aber mir bleibt nichts anderes übrig, denn ich will wieder leben. Dafür brauche ich Sie!
Und vielleicht freut es Sie, dass ich Ihnen Ihren Job bereits jetzt leichter gemacht habe. Ich habe alles gefunden, was wir brauchen, um den Prozess zu beschwören. Das klingt jetzt vielleicht gewichtiger als es ist, denn das Beschwören meine ich wörtlich. Sie müssen den Obertod rufen, aber ich habe das Ritual für Sie und ich werde es Ihnen erklären, sobald Sie soweit sind, zuzugeben, dass Sie mich sehen können. So etwas schreibt man nicht auf, man weiß nie, wem es in die Finger fällt und stellen Sie sich vor, was der falsche Mensch mit dem Tod alles anfangen kann.
Woher ich weiß, dass Sie nicht der Falsche sind? Ich habe Sie studiert. Wenn ein Mandant Ihnen gegenüber zugibt, dass er schuldig ist und Sie seine Tat für abscheulich halten, dann kündigen Sie Ihr Mandat. Sie vertreten niemanden, der ein menschliches Charakterschwein ist. SIE sind ein GUTER MENSCH! Lachen Sie nicht. Ich kann Sie durchschauen! So etwas lernt man als Geist. Man versteht die Menschen.
Helfen Sie mir bitte. Sie müssen mich doch sehen?! Bitte. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch tun soll. Ich will doch nur wieder ein Mensch sein. Ich will LEBEN! Sie müssen doch die Ungerechtigkeit in dem System der Tode erkennen? Lassen Sie mich bitte nicht im Stich.
Oh, seh ich richtig? Sie sehen mich! Na dann, dann können wir uns doch richtig unterhalten…
Kapitel V
Der Anwalt fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen, dunkelblonden Haare. Er war noch nicht sonderlich alt, aber in diesem Augenblick wirkte er älter. Er war aufgebracht.
„Wieso? Was. Warum tun Sie mir das an?“, Jake Meyer sah mich eindringlich an. Durch seine Moralvorstellungen war er kein reicher Mann, aber er hatte Stil. Er war ungefähr in dem Alter, in dem ich gewesen wäre, wenn ich noch am Leben wäre, vielleicht ein wenig älter.
„Wie meinen Sie das? Was habe ich Ihnen angetan?“, ich ahnte, worauf er hinaus wollte, aber ich wollte, dass er Vertrauen zu mir fassen konnte, denn ich musste auch ihm vertrauen können.
„Wie ich das meine? Ist das Ihr Ernst? Ich denke, Sie verstehen Menschen? Meine Mutter wollte nicht, dass ich mich auf diese Seite einlasse. Sie sagte mir, wenn ich helfen wolle, dann solle ich den Lebenden helfen und nicht den Toten. Den Toten könne man nicht helfen, für Sie sei alles zu spät und Sie tauchen hier auf und sagen einfach, dass es noch viel mehr zwischen Leben und Tod gibt?! Echt jetzt?“, er schrubbte sich mit den Händen durch sein Gesicht, stand auf und öffnete seine Bürotür, die ins Vorzimmer führte.
„Sagen Sie bitte all meine Termine ab und dann können Sie nach Hause gehen! Es tut mir leid, wie ich mich vorhin benommen habe.“, sagte er zu seinen Angestellten und Lehrlingen und schloss die Tür wieder und sah mich an.
„Es tut mir leid, dass ich Ihre Welt zerrütte. Aber ich weiß einfach nicht, an wen ich mich wenden soll, wenn Sie mir nicht helfen.“, erklärte ich und setzte mich auf sein Sofa.
Er wartete einen Moment, bis seine Angestellten das Büro verlassen hatten und sah mich währenddessen eindringlich an.
„Also, Sie sprachen von einem Ritual. Es ist in Ordnung, ich werde versuchen Ihnen zu helfen. So wie Sie mir den Fall geschildert haben, denke ich, dass es wirklich ein ungerechtes System ist, dass der Tod verfolgt. Aber wir machen das Ganze auf meine Art. Ich werde das Tempo vorgeben und ich werde die Vorgehensweise bestimmen. Ich möchte, dass Sie sich auf meine Art einlassen, denn sonst kann ich nichts für Sie tun. Als erstes muss ich Kontakt zu meinem Vater aufnehmen, dann muss ich Informationen über das Übernatürliche einholen und zwar für mich selbst und ich muss mehr über den Fall erfahren, auch aus menschlicher Sicht. Ich werde mich auch mit Ihrer Freundin Aileen unterhalten müssen. Ist dies alles in Ordnung so für Sie?“ Mir gefiel, dass er schnelle Entscheidungen traf und ich fand gut, dass er wusste, wie er vorgehen wollte. Für mich kam es nicht auf ein paar Tage oder Wochen an. Es war egal. Also willigte ich ein und erklärte, ich würde ihn bald wieder besuchen, aber dann, wenn er allein war. Er nickte.
Ich machte mich für ihn unsichtbar, denn ich wollte mitbekommen, wie er vorging und wie gut er war. Zunächst bemerkte er mich nicht, er war zu sehr mit Internetrecherchen beschäftigt. Aber diese stellten ihn wirklich nicht zufrieden, ich konnte es an seinem Gesicht erkennen und wie er nervös eine Zigarette aus der Schublade herausfischte, die er eigentlich nie rauchen wollte. Er zündete sie an und entspannte sich augenblicklich. Mit der Kippe im Mundwinkel nahm er den Kopfhörer seines Telefons in die Hand und wollte gerade wählen. Aber dann blickte er mich genau an.
„Mein Tempo und meine Vorgehensweise!“, sagte er in einem scharfen Ton, doch er lächelte dabei. Ich musste grinsen, und ließ ihm seine Zeit, wie ich es versprochen hatte.
Kapitel VI
Es klingelte, dies war nicht weiter ungewöhnlich. Aber es war insofern ungewöhnlich, dass ich gerade erst umgezogen war und noch niemand die Adresse kannte. Ich sah durch den Spion, aber den Mann, der dahinter stand, kannte ich nicht. Aber wenn er mein neuer Nachbar sein sollte, so hatte ich definitiv kein Problem damit. Er war zwar nicht unbedingt mein Typ, auf den ich stand, aber ich konnte nicht leugnen, dass er attraktiv war.
Ich öffnete die Tür und lächelte freundlich. Der dunkelblonde Mann betrachtete mich kurz von oben bis unten und schenkte mir ein Lächeln. Doch es dauerte einen Augenblick, bis ich realisierte, dass es ein belustigtes Lächeln war. Es fiel mir ein, dass ich gerade am Streichen meines Flurs war und ein wenig tollpatschig mit dem Lila umgegangen war.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte ich den Mann, der sich in seiner Jeans und dem schwarzen Kurzmantel lässig an meinen Türrahmen lehnte und immer noch grinste.
„Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht stören, aber ich hätte da einige Fragen an Sie bezüglich Ihres Freundes.“, erklärte er.
„Ich habe gar keinen Freund. Und wieso klingen Sie an meiner Tür und wollen mich was wegen meines Freundes fragen? Woher haben Sie denn diese Adresse? Die hat noch niemand!“, ich wurde ein wenig panisch. Ich fand es gruselig, dass ein Fremder vor meiner Tür stand und mich mit so einem merkwürdigen Satz begrüßte. Ich hatte schon zu viel mit Fremden erlebt. Und zwar oft nichts gutes, wenn Sie plötzlich da waren und aufdringlich waren.
„Ich meinte nicht Ihren Freund, sondern einen Freund. Leiche. Von ihm habe ich auch Ihre Adresse.“, sagte er nun und mir stockte das Herz. Ich hatte Leiche seit mindestens 5 Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal etwas von ihm gehört. Und Leiche konnte nicht meine neue Adresse kennen, dies war unmöglich!
„Das kann nicht sein!“, rief ich aus und wollte die Tür schließen, aber er drückte lässig dagegen, denn er war viel stärker als er aussah.
„Doch, er hat mir Ihre Adresse gegeben. Ich schwöre es. Ich bin sein Anwalt und er hat mich um Hilfe gebeten. Aber damit ich ihm helfen kann, müssen Sie mir helfen!“
„Sie sind nicht sein Anwalt. Leiche ist vor 5 Jahren abgehauen und nie wieder aufgetaucht. Ich kann Ihnen nicht helfen, selbst wenn Sie sein Anwalt sein sollten. Ich habe ihn nie wieder erreicht und ich war sehr lange sehr traurig deswegen! Und jetzt gehen Sie bitte.“
„Er hat mir gesagt, ich solle Ihnen was sagen!“, der Mann beugte sich vor und flüsterte mir etwas ins Ohr, was er unmöglich wissen konnte, außer er hatte es von mir oder von Leiche erfahren und da ich dem Herren noch nie begegnet war, musste er es von Leiche wissen.
„Ok, Sie kennen Leiche wirklich! Aber das heißt noch lange nicht, dass ich Ihnen trauen muss. Ich konnte Leiche auf keine Art und Weise erreichen, das heißt, Sie könnten Ihn auch entführt und gefoltert haben.“, ich meinte das auf keinsten Fall irgendwie witzig, doch er grinste breit, bis er begriff, dass ich diese Option durchaus für möglich hielt.
„Hören Sie, Aileen…“
„Frau Sonewski für Sie! Keine Vertrautheit mit Fremden von denen ich so gar nichts weiß.“
„Hören Sie, Frau Sonewski, ich habe Herrn Leiche nicht entführt und ich darf Ihnen auch nicht erzählen, warum er sich bei Ihnen nicht melden konnte. Aber ich muss kurz von Ihnen hören, was an dem Tag passiert ist, an dem Sie sich das letzte Mal mit ihm getroffen haben. Mehr brauch ich gar nicht!“
„Was passiert ist? Er hat mir das Leben gerettet und dann ist er aus meinem Leben verschwunden und ich versteh nicht, wo er hin ist! Ich versteh nicht, warum er so gehandelt hat. Reicht Ihnen das, Herr…? SIE haben sich nicht einmal vorgestellt. Ich fasse es nicht!“, ich ließ die Tür offen und ging ein Stück zurück in meine Wohnung, in der ich mich auf den Boden setzte. Es war einfach zu viel. Ich drückte mein Gesicht in meine Hände und weinte.
„Hey…, ich wollte das nicht…, ich wollte Sie nicht überfordern.“, hörte ich ihn leise sagen, bevor ich wahrnahm, dass er zu mir gekommen sein musste und mir die Hand unsicher auf die Schulter legte.
„Frau Sonewski?“
„Sagen Sie ruhig Aileen!“, schlurzte ich. „Und stellen Sie sich endlich vor!“, ergänzte ich.
„Mein Name ist Jake Meyer.“
„Klingt nicht nach Anwalt.“, murmelte ich.
„Mein Vater hatte auch einen anderen Plan für mich!“, lachte er und sah mich aufmunternd an.
Jake war mir sympathisch und er schien mir sehr ehrlich zu sein. Außergewöhnlich für einen Anwalt, wie mir eine Freundin, die für einen Anwalt gearbeitet hatte, mir immer wieder erklärt hatte.
Nachdem ich mich beruhigt hatte, erzählte ich Jake alles von dem Tag, an dem ich meinen besten Freund das letzte Mal gesehen hatte. Er blieb dann noch einen Augenblick, bis er sicher war, dass es mir halbwegs gut ging und in der Verfassung war, allein zu bleiben.
Als er weg war, weinte ich dennoch, solange bis ich mit beiden Katzen auf dem Schoß eingeschlafen war.
Kapitel VII
„Und? Wie hat sie reagiert?“, ich wartete auf Jake in seiner Wohnung. Ich hatte geschworen, dass ich ihn nicht begleiten würde. Er zog seinen Kurzmantel aus und sah mich flüchtig an.
„Erst hat sie gesagt, dass ich kein Anwalt sei, dann hat sie geschimpft, dass sie immer versucht habe, dich zu erreichen und dann hat sie mir alles erzählt. Sie war ziemlich fertig. Sie vermisst dich!“, antwortete er, während er seinen Mantel aufhängte.
In der Zwischenzeit hatten wir beide viel geredet und waren fast Freunde geworden, er hatte viel über das Übernatürliche gelernt und zwischendurch auch viel bei mir erfragt. Wenn ich was mal nicht wusste, saß ich schließlich an der Quelle für Informationen.
„Ach, sie hat doch eine Menge Freunde. Ich wette, dass ich gar nicht so sehr fehle. Auf mich wirkte sie immer sehr fröhlich.“, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Jake einen Vorwurf in seinem Bericht versteckt hatte.
„Du weißt schon, dass Menschen, die besonders fröhlich wirken, meist die Unglücklichsten sind?!“
„Ist das so? Ich habe in letzter Zeit nicht viel mit Menschen zu tun gehabt!“, ich wusste nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund war ich sauer. Ich war sauer auf Aileen und auch auf Jake. Heute weiß ich, dass ich eifersüchtig war. Auf Jake war ich eifersüchtig, weil er zu meiner besten Freundin konnte, während er mich gebeten hatte, dass ich mich nicht einmischte. Es hätte ihn verwirrt, wenn ich da gewesen wäre. Und auf Aileen war ich sauer, weil ich nicht hören wollte, dass sie unglücklich war. Ich hatte ihr ihr Leben gerettet, verdammt. Sie sollte feiern und hüpfen und zwar jeden Tag.
Und ich war sauer auf mich selbst. Ich dachte in letzter Zeit immer nur an mich und nie an meine Freunde und meine Familie. Natürlich hatten sie ihr Leben weitergelebt und genau das war es auch, was ich wollte. Aber dennoch wollte ich, dass sie mich vermissen und dass es ihnen schwer fiele, ohne mich zu leben.
Jake beobachtete mich, er ließ mir einen Augenblick.
„Geht es jetzt wieder? Hast du gemerkt, was in dir vorgeht und was falsch läuft gerade bei dir?“, fragte er nach einer Weile, woraufhin ich nur nicken konnte.
„Gut. Ich würde dich ja auf ein Guinness einladen, aber ich glaube, das bringt bei dir nichts, seh ich das richtig?“, er machte sich auf den Weg in die Küche, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen.
„Ja…, das siehst du richtig.“, ich hing noch einen Augenblick meinen Gedanken nach, aber dann setzte sich Jake zu mir und sah mich an.
„Hör mal, wir kriegen das alles wieder hin. Ich bin übersinnlich, habe Jura studiert und bin ziemlich clever. Also kann man wohl davon ausgehen, dass ich das Ding auch gegen den Tod schaukeln kann.“, er lachte und ehrlich gesagt, steckte mich sein Lachen an. Vor allem machte er mit seinem Lachen Mut. Ich war wirklich gewillt ihm zu glauben, mich seinem Selbstvertrauen anzuschließen, denn es war einfach nur ehrlich von ihm.
Kapitel VIII
3 Tage sind vergangen, seitdem Jake plötzlich vor meiner Tür stand. Mir ging nicht aus dem Kopf, dass er Kontakt zu Leiche hatte und seit 5 Jahren wollte ich endlich wieder mit meinem besten Freund reden. Er fehlte mir so sehr. Ich wollte wissen, wie er einfach verschwinden konnte, ohne sich auch nur ein einziges Mal bei mir zu melden.
Ich hatte mit einer Freundin gesprochen, hatte ihr von dem Besuch von Jake erzählt. Sie ist immer sehr kritisch und im Gegensatz zu mir auch sehr offen für spirituelle Dinge. Ich selbst bin sehr gläubig, für mich ist der christliche Glaube wie ein Anker. Ich kann mich nicht mit Dingen wie Geistern oder Weissagung anfreunden, aber sie ist sehr dafür zu haben.
Ich hatte mich kurz nach Leiches Verschwinden auch fast mit ihr in den Haaren, denn sie war fluchtartig aus meiner Wohnung verschwunden während eines Besuches. Als ich sie gefragt hatte, was los war, meinte sie, ich würde von einem Geist verfolgt. Sie war so überzeugt davon, dass ich echt sauer wurde. Sie wusste, dass ich mit Geistern nichts anfangen konnte und auch nicht wollte.
Auf jeden Fall meinte sie, dass an dieser Sache mit Jake etwas nicht richtig sei. Sie verstand nicht, warum Leiche einen Anwalt beschäftigte, der sich nach dem Tag meiner letzten Begegnung mit Leiche erkundigte. Sie erklärte, dass sie sich mal über Jake erkundigen würde und ich wusste, dass sie dann auch etwas herausfinden würde, es war voll ihr Ding, Dinge zu hinterfragen.
Sie hatte mir dann erklärt, dass Jake selbst als jüngster seines Jahrgangs sein Studium beendet hatte und dass bei seiner Abschlussfeier sein Vater nicht aufgetaucht sei. Sein Vater sei ein Reisender. Mal reise er mit Jahrmärkten, mal mit Mittelaltermärkten, wo er jeweils Tarotkarten legte oder aus der Hand las. Meine Freundin meinte, dass Jake vielleicht etwas spirituelles geerbt hätte. Sie hat auch gelesen, dass er seine Mandate auch mal ablehnt und dass er wohl den Charakter eines Menschen sehen kann.
Irgendwie fand ich Jake faszinierend. Er ging mir auch ohne die Umstände nicht aus dem Kopf. Eigentlich war er so gar nicht meins, aber er war so charismatisch. Er hatte echte Ausstrahlung, so etwas war selten und das, was meine Freundin mir erzählt hatte, machte ihn nur noch interessanter.
Aber dennoch war das wichtigste, dass er Kontakt zu Leiche hatte und wenn ich endlich über ihn an Leiche herankommen konnte, dann würde ich das nutzen. Damit ich ihn fertig machen konnte.
Das war der Grund, weshalb ich in seinem Büro anrief und einen Termin vereinbarte. Ich würde Jake so richtig auf den Zahn fühlen, denn er hatte mich überrumpelt, also würde ich es mit ihm genauso machen. Ich hatte mich unter einem anderen Namen gemeldet und wusste, dass ich Jake am Besten keine Zeit zum Denken ließe, wenn ich in seinem Büro war.
IX
Wie eine Furie stürmte das blonde Etwas in mein Büro und schrie mich an, sie wolle wissen, wie sie Leiche erreichen könne. Ich hatte sie fast nicht erkannt. Sie war dem Mädchen, das ich in ihrer Wohnung besucht hatte, nicht wirklich ähnlich. Sie hatte sich herausgeputzt und hatte Zeit gehabt, alles zu verdauen und jetzt erst bemerkte ich ihr Temperament, das in ihr loderte. Ich fand das echt merkwürdig, denn eigentlich sah ich den Menschen ihren Charakter immer sofort und komplett an. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich jetzt wusste, was für ein Mensch Aileen war. Sie war sensibel, auch wenn sie viel dafür tat, dass man das nicht merkte, sie wollte gern tougher sein, als sie es war. Sie war manchmal ein wenig naiv, ich denke vor allem Männern gegenüber und in ihr brodelte ein Feuer, das sie aber meistens auf kleiner Flamme hielt. Warum sie das tat, konnte ich mir noch nicht erklären. Aber sie wird schon ihre Gründe dafür gehabt haben.
„Wo ist der Mistkerl?“, fragte sie erneut und ich starrte sie ungläubig an.
„Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ich weiß es nicht genau…“, antwortete ich.
„Sie werden doch wohl ne Akte haben und da stehen Adressen drin!“, sie war außer sich und ich machte sie nur noch rasender.
„Ich führe keine Akte in der Angelegenheit!“, seufzte ich und meine Antwort schien die Nadel zu sein, die Aileen die Luft rausließ.
„Heißt das, dass Sie wirklich spirituell sind und meine Leiche ein Geist. Hat er sich deswegen nie gemeldet?“
„Ich darf nicht mehr mit Ihnen über Leiche reden. Ich habe ihm das versprochen.“, erklärte ich.
„Ach, kommen Sie, Jake! Sie können mich mal! Wie würden Sie denn an meiner Stelle reagieren?“, sie sah mich erwartungsvoll an, aber ich wusste keine Antwort. Solche Momente gab es sehr selten in meinem Leben und ich konnte sie nie leiden. Aber was sollte ich jetzt tun? Ich hatte Leiche ein Versprechen geben müssen und wenn ich mich nicht daran hielt, dann war er wahrlich in der Lage mir das Leben schwer zu machen.
„Jake…“, sagte Aileen leise und sah mich inzwischen an wie ein hungriger Welpe.
„Ich kann nicht.“, sagte ich leise. Und wie aufs Stichwort saß plötzlich Leiche neben ihr auf dem Sofa und sagte: „Alter, wenn du ihr was sagst, dann geh ich dir für immer auf den Senkel! Ich hab damit echt kein Problem. Aber ich will nicht, dass ihre Weltsicht zerstört wird.“
Aileen folgte meinem Blick und seufzte: „Ist er hier und droht Ihnen? Leiche, man. Halt die Fresse! Ich bin echt sauer und will einfach nur wissen, was los ist…“, sie schien zu akzeptieren, dass irgendwas passiert ist, was über ihre Vorstellungskraft hinaus ging. Ich verstand, was Leiche meinte mit ihrer Weltsicht, sie schien selbst nicht zu fassen, dass der letzte Satz von ihr gekommen war.
„Aileen, Sie werden es noch früh genug verstehen und ich verspreche Ihnen, dass ich Leiche, sofern alles gut geht, selbst für sie festhalte, damit Sie ihn verprügeln können.“, sagte ich leise und sah sie an.
„Nicht übel nehmen, aber dafür brauch ich niemanden, der ihn festhält. Sie zwinkerte mir zu und verließ mein Büro und ich wusste, dass sie Recht hatte. Gnade, dem Leiche, Gott! Sollte er je wieder in Fleisch und Blut vor ihr stehen.
Ich sah noch lange auf die Bürotür, nachdem sie gegangen war. Sie war definitiv einzigartig, das konnte ich schon mal sagen.
„Ey! Verknall dich nicht in sie. So einen wie dich will ich auch nicht an ihrer Seite wissen.“, warf mir Leiche an den Kopf und lachte. Ich wusste nicht wirklich, was daran lustig war, aber was sollte es?!
Kapitel X
Jake hatte mich gerufen, es war an der Zeit sagte er. Und ich war sofort bei ihm. Er wollte endlich das Ritual durchführen. Ich freute mich so, ich glaubte wirklich, dass er mich befreien könnte. Er war meine letzte Hoffnung.
Er hatte seine Wohnung schon vorbereitet. Er hatte die Symbole mit Kreide gemalt, er hatte die Kerzen in der richtigen Farbe und im richtigen Geruch. Ja, schwarz reichte nicht, es musste auch nach Patchulli riechen. So richtig Klischee!
„Hey.“, begrüßte er mich doch recht wortkarg.
„Hey, was los? Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter. Freu dich, du bist mich bald los!“, lachte ich und setzte mich auf sein Sofa.
„Wenn alles gut geht. Du vergisst wohl, dass diese Sache für alle Beteiligten ein großes Risiko ist.“
„Wieso sollte es für mich ein Risiko sein? Ich bin eh schon tot, toter können sie mich nicht machen und dir werden sie schon nichts tun.“
„Wenn das mal alles ist.“, sagte Jake in einem sehr merkwürdigen Ton und begann die Worte des Rituals zu sprechen. Ich wollte ihn noch fragen, was er damit meinte, aber da war es schon zu spät. Alles begann sich zu drehen und ich stöhnte, denn wir wurden in eine mir sehr bekannte Ebene gezogen. Mein Zuhause, wenn man so will. Der Ort an den man zuerst kommt, bevor es irgendwo anders hingeht.
Wir wurden jedoch gleich in einen Gerichtssaal gebeamt. Und hier erschrak ich. Ich saß neben Jake, meinem Anwalt. Vor uns saß ein mir Unbekannter, ein Richter. Zu meiner linken waren sämtliche Tode versammelt. Ich dachte, dass dies auf der Erde bestimmt zu Verwirrungen führen würde, wenn nun niemand mehr stürbe, bis das hier vorbei war. Zu meiner Rechten aber war Aileen und sie sah den Richter sehr verwirrt an. Er hatte ihr bereits eine Frage gestellt, noch bevor ich mitbekommen hatte, was überhaupt geschehen war. Sie antwortete hektisch, fast panisch, aber dann beruhigte sie sich etwas.
Neben ihr erschien eine Freundin von ihr. Sie hatte mal mit ihr gearbeitet und war ein wenig schräg was das Spirituelle anging, aber bestimmt fähig mit Jake mitzuhalten. Sie hatte zwar kein Jura studiert, aber sie war gelernte Anwaltsgehilfin. Aber sie hatte einen Vorteil gegenüber Jake und zwar beschäftigte sie sich schon fast ihr Leben lang mit dem Übernatürlichen.
Natürlich war sie zunächst ein wenig verwirrt, aber sie fasste sich schnell, als sie mich sah und die Tode erblickte. Dann sah sie wieder zu mir und schüttelte verständnislos den Kopf. Ich fragte mich, ob sie mehr wusste als ich.
„Darf ich zunächst mit Aileen sprechen, sie weiß nicht, was hier auf sie zukommt und was Leiche ihr hier wohlmöglich antut.“, bat sie ganz ruhig und sah den Richter an. Ich war außer mir. Was ich ihr antun könnte. Ich sah zu Jake, aber der war recht gefasst.
„Hast du das gemeint? Das Aileen etwas geschehen kann?“, schrie ich ihn an, aber er schüttelte den Kopf.
„Ich wusste es nicht. Die ganzen Texte waren doch recht wirr, falls du dich erinnerst?!“
Ich wollte nicht, dass ihr etwas geschah. Ich wollte das nie. Ich wollte auch nicht, dass 3 Lebende wegen mir einer solchen Gefahr ausgesetzt waren, sich hier, in dieser Ebene aufzuhalten, aber am Blick des Richters sah ich, dass es jetzt zu spät war.
XI
„Was meinst du damit, was Leiche mir antun könnte?“, fragte Aileen und sah mich verzweifelt an.
„Pass auf. Es sieht folgendermaßen aus und es ist wirklich so, dass musst du jetzt einfach so hinnehmen. Leiche ist damals gestorben. Ich weiß noch nicht genau, weshalb, bin mir aber sicher, dass wir das heute erfahren werden. Er und dieser Jake haben ein Ritual gewirkt, wodurch es Leiche möglich ist, über seine eigentlich verbliebenen Jahre zu verhandeln…“, versuchte ich zu erklären.
„Und was mache ich dann hier?“, ihr blick war nicht mehr verzweifelt, eher ängstlich und wütend.
„Er hat dir das Leben gerettet und ich würde sagen, dass er dadurch Zeit verloren hat. Ich weiß es noch nicht, Aileen, aber ich fürchte, du bist in Gefahr, wenn nicht sogar Jake und ich auch…“
„Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wie kann er nur?“
„Ich denke nicht, dass er sich darüber so wirklich im Klaren war…“, seufzte ich.
„Können wir dann bitte mit der Verhandlung beginnen?“, fragte der Richter genervt.
„Ja, natürlich, Richter Gideon!“, ich blickte ihn ehrfürchtig an. Er war einer der großen vier Richter aus der Bibel gewesen. Er schien überrascht, dass ich ihn erkannt hatte.
„Sie haben anscheinend eine gute Wahl getroffen zu haben, Frau Sonewski.“, sagte er und begann seine Verhandlung.
„In dem Fall Leiche gegen Tod bitte ich den Rechtsanwalt Jake Meyer das Anliegen von Herrn Leiche vorzutragen!“
Jake stand auf und räusperte sich, so genau schien er nicht zu wissen, wie er anfangen sollte, doch dann räusperte er sich: „Am 12.02.2012 traf sich Herr Leiche mit Frau Sonewski in einem Café, um sich einfach mal wieder zu unterhalten. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass ein Wagen auf das Café zuraste und zog Frau Sonewski aus dem Weg. Somit rettete er ihr das Leben. Am Ende des Tages wurde er dann vom Tod geholt mit der Erklärung, dass die Seele gesühnt werden müsse. Seitdem ist er eine umherirrende Seele, die nirgends wirklich hin gehört. Diesen Zustand empfindet Herr Leiche als ungerecht und möchte, dass sein Fall überdacht wird.“
„Gut, dann rufen Sie ihren ersten Zeugen auf, Herr Meyer!“
„Ich rufe Herrn Leiche in den Zeugenstand.“
Leiche ging in den Zeugenstand und bestätigte das Gehörte. Er erzählte, wie es ihm seit seinem Ableben ergangen war und erklärte, dass er diesen Zustand keine weiteren 35 Jahre aushalten könnte. Er wünschte sich eine Lösung für sein Problem, selbst wenn diese bedeuten würde, dass er nie wieder zurück könnte und somit für immer tot wäre, aber dann hätte er einen Ort an den er gehören würde. Aileen schluckte schwer, als sie hörte, dass er auch das in Kauf nehmen würde. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, obwohl es nicht ihre Schuld gewesen war, was mit Leiche geschehen war. Jake gab Leiche als Zeugen frei und nun war es an mir, ihm Fragen zu stellen.
„Leiche? Bereust du es, Aileen das Leben gerettet zu haben?“
„Manchmal. Ja. Ich meine Nein. Nicht wirklich. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass sie ihr Leben nicht wirklich nicht nutzt.“, antwortete er leise.
„Und du denkst, du hättest deine Zeit besser genutzt?“
„Ich denke ja.“
„Auch unter dem Unstand, dass du gar nicht weißt, dass dein bester Freund seine Zeit für dich gegeben hat?“
„Nein, vermutlich nicht.“, antwortete er leise.
„Keine weiteren Fragen.“, sagte ich fest und ging zurück zu meinem Platz.
XII
Jane, so hieß meine Freundin, hatte kein Erbarmen mit Leiche gehabt. Sie hatte ihn nicht viel gefragt und sie hatte ihn auch nichts Schlimmes gefragt, aber es hatte ausgereicht, denn ich sah, dass sie ihn getroffen hatte. Sie hatte all seine Wut und Verzweiflung, die sich in den letzten Jahren gesammelt hatte und auf mich fokussiert hatte, mit einer einzigen Frage beiseite gewischt und in ihm Selbstzweifel geweckt. Ich konnte ihm das ansehen.
Als nächstes rief Jake den Tod in den Zeugenstand und zwar den Tod, der Leiche mit sich genommen hatte. Jake ließ ihn zunächst den Unfallhergang rekonstruieren und kam dann zu einer sehr interessanten Frage: „Warum musste für Frau Sonewskis Rettung eine Ersatzseele geholt werden? Wie oft hört man, dass Menschen vor dem sicheren Tod gerettet worden sind und nie hörte man, dass die Retter spurlos verschwanden oder starben.“
„Aileen Sonewski sollte an diesem Tag einfach sterben. Es sollte so sein. Es gab keinen Ausweg. Herr Leiche hat sich dem Schicksal in den Weg gestellt. Es gibt Schicksale, und das sind die meisten der Welt, die absolut unrelevant sind. Aber dann gibt es einige Ereignisse auf der Welt, die nicht verändert werden sollen. Wo wir auch keine Ausnahmen machen dürfen. Aber einzelnen Menschen soll es dann noch möglich sein, etwas zu ändern. So ein Mensch war an jenem Tag Herr Leiche. Er ist ein sehr ehrbarer Mann, denn er hat ein großes Opfer gegeben.“
„Sie sagen also, dass es für den Verlauf der Welt wichtig war, dass Aileen an jenem Tag gestorben wäre, beziehungsweise überhaupt jemand?“, fragte Jake.
„Nein, Aileen, aber da Leiche ihr wirklich willentlich und nicht im Affekt das Leben rettete, hat sich das Weltschicksal verändert. Ob dies nun für den Verlauf der Welt wirklich relevant war, das möchte ich nicht behaupten. Aber das ist auch nicht mein Job. Mein Job ist es, für Ordnung zu sorgen.“
„Aber…“, Jake fehlten die Worte. Er blickte von Leiche zu mir und wieder zurück. Er wusste nicht mehr wie er argumentieren sollte. Was auch immer er jetzt sagen wollte, er schien damit zu hadern und das spürte auch Jane. Sie stand auf und stellte sich entschlossen an Jakes Seite.
„Es ist keine Ordnung, wenn sie ein Leben für ein anderes nehmen! Und es wäre auch keine Ordnung, wenn sie es wieder tauschen würden. Sie haben damals verloren, und zwar gegen Leiche, der noch nicht einmal wusste, dass er ein Spiel spielte. Sie müssen ihn gehen lassen, sie müssen uns alle gehen lassen! Niemand von uns Vieren ist hier zu Recht und sie haben mindestens drei Leben zerstört. Leiche, der wertvolle Zeit seines Lebens verpasst hat und dessen Familie wahnsinnig gelitten hat. Aileen, die ihren besten Freund verloren hat, die ihre Sicht der Dinge aufgeben musste und das Übernatürliche akzeptieren musste. Jake, der sich mit Absicht vom Übernatürlichen abgewandt hatte. Sie sorgen nicht für Ordnung, sondern verursachen Chaos!“, sie atmete einmal laut und bestimmt aus und sah den Tod ernst an.
„Wir haben dann keine Fragen mehr an den Zeugen!“, beendete für Jake und sah Jane an.
„Partner?“, fragte er leise und sie nickte, was für mich das Stichwort war, mich zu Leiche zu setzen und unter dem Tisch seine Hand zu halten.
„Wir brauchen kurz fünf Minuten Zeit, um uns zu beraten.“, erklärte Jane dem Richter, welcher nickte, Er schien noch ein wenig überrumpelt, aber ich glaube, dass waren fast alle im Raum, abgesehen von Jake und Jane, die bereits damit beschäftigt waren einen Schlachtplan zu erarbeiten.
„Du hast mir gefehlt.“, sagte ich leise zu Leiche.
„Ich weiß.“, grinste er breit. „Du mir auch!“, ergänzte er leise.
XIII
„Du magst Aileen mehr als du solltest, oder?“ fragte Jane mich und grinste.
„Woher weißt du das?“, ich war wirklich überrascht, normalerweise war ich sehr gut darin, zu verstecken, was in mir vorging, schließlich war ich Anwalt.
„Ich bin gut darin, zu sehen, was in Menschen vorgeht. Aber jetzt sollten wir klären, wie wir hier rausgehen wollen.“
„Mit Leiche und Aileen vorzugsweise.“, antwortete ich.
„Na, so viel ist klar. Aber das reicht uns doch wohl nicht. Ich denke, dass Leiche seine Zeit zurück erhalten sollte.“
„Ja. Da hast du eigentlich Recht!“
„Ihre 5 Minuten wären dann rum!“, erklärte der Richter und ich nickte. Ich bewegte mich selbstsicher durch den Raum.
„Wir haben uns beraten und haben für uns schon mal befunden, dass Frau Sonewski mit dieser Sache hier nichts zu tun haben sollte. Sie hat Glück gehabt, was bedeutet, dass sie nicht im Nachhinein belangt werden kann und ihr Tod nicht nachgefordert werden kann. Und Herr Leiche ist komplett zu Unrecht hier festgehalten werden. Ihm steht seine geraubte Zeit rückwirkend zu. Er hat eine Menge Dinge in seinem Leben verpasst, was nicht rechtens sein kann. Seiner Familie und seinen Freunden wurde zu Unrecht Schmerz zugefügt worden. Von daher verlangen wir hier gerechten Ausgleich. Und es ist offensichtlich, dass Jane und ich hier gar nichts verloren haben.“, erklärte ich fest und sah den Richter an.
„In Ordnung. Ich habe es vernommen. Ich werde mich nun zurückziehen! Das Urteil verkünde ich in einer Stunde und nur, um es klarzustellen, für alle Parteien gibt es danach kein Zurück mehr.“
Ich setzte mich zwischen Aileen und Jane und lauschte Leiche und seiner besten Freundin, wie sie sich nach all der Zeit austauschten. Ich beobachtete, wie Aileen Leiche liebevoll auf die Schulter schlug, als er ihr gestand, dass er ihre Liebschaften vertrieben hatte.
„Zwischendurch hatte ich wirklich Angst, dass du mich gegen Leiche tauschen willst.“, sagte Aileen irgendwann aus heiterem Himmel und sah mich an.
„Nein, das war nie mein Plan und mit Jane an deiner Seite hätte das auch nie passieren können.“
„Und ich hätte das auch nie zulassen können.“, sagte Leiche zu Aileen und knuffte sie sanft.
Die letzten Minuten vergingen nur sehr langsam, so als hätte man uns eine Sanduhr zum Hohn hingestellt und wir müssten mit ansehen, wie der Sand in der Uhr verrinnt. Sandkorn um Sandkorn und dann kam der Richter endlich wieder.
„Ich habe eine Entscheidung getroffen!“, erklärte er und sah in die Runde.
XIV
„Ich habe eine Entscheidung getroffen!“, erklärte der Richter und sah in die Runde. Ich war absolut nervös. Ich wusste, was hier alles auf dem Spielstand und ein wenig hatte ich das Gefühl, dass ich die Einzige war, die das wusste.
Neben mir saß Jake und fummelte nervös an einem Zettel herum und blickte ein wenig sehnsüchtig zu Aileen. Auch Aileen hatte ihm zwischenzeitlich verstohlene Blicke zugeworfen.
„Ich gebe folgende Erklärung ab: Herr Leiche, Sie werden leben!“, erklärte der Richter und Leiche schien nicht zu wissen, ob er sich freuen sollte oder ob er weinen sollte. Er blickte ängstlich zu Aileen.
„Frau Sonewski, auch Sie werden leben!“, jetzt freuten sich beide. Aber je länger die Pause wurde, desto bedrückter wirkten sie.
„Sie wollen doch wohl nicht Jake und Jane hier behalten? Das können Sie doch nicht tun! Die beiden haben doch nichts damit zu tun!“, schrie Aileen und sah uns beide an.
„Weiter verfüge ich, dass die Beteiligten die komplette Zeit vergessen und ihr Leben in Erinnerung haben, als sei Herr Leiche nie verschwunden.“, sagte der Richter und schnippte einmal mit den Fingern. In diesem Moment verschwanden Leiche und Aileen. Sie waren nicht mehr da und Jake und ich sahen uns erschrocken an. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gedacht, dass wir nicht erwähnt worden waren, weil wir nie zur Debatte standen, aber dem war wohl nicht so.
„Nun zu Ihnen beiden! Sie werden unter einer Bedingung Ihre Leben wieder aufnehmen. Sie dürfen nie ein Wort über diese Sache hier verlieren. Niemals. Sollte dies geschehen, dann können Sie sich von Ihrem Leben verabschieden!
Sie beide werden niemals vergessen, was hier geschehen ist! Wir können Sie nicht erfolgreich beeinflussen. Und nun: Auf wieder sehen.“, mit diesen Worten zappte er auch uns weg und wir tauchten in einer Wohnung auf, von der ich annahm, dass sie Jake gehörte.
„Okay. Dann werde ich mal gehen!“, erklärte ich und drückte Jake meine Nummer in die Hand: „Falls du mal irgendwas wissen willst.“
XV
„Mensch. Ich danke euch allen, dass ihr zu meiner Hochzeit erschienen seid. Ich danke vor allem Leiche, der meinen Mann auf Herz und Nieren getestet hat und ihn für gut befunden hat und auch Jane, ohne die ich meinen Jake niemals kennen gelernt hätte. Eines Tages ist sie mit ihm im Schlepptau aufgetaucht und hat gesagt: Aileen. Ich stelle dir hier deinen Traummann vor! Sie lachte, aber sie hatte so sehr Recht! Danke euch!“, Aileen lachte und sah Jane und mich fröhlich an.
Sie hatte Recht, ich hatte Jake auf Herz und Nieren getestet und er war einer meiner besten Freunde geworden. Ich hatte irgendwie das Gefühl mit ihm verbunden zu sein, so als würde ich ihm für irgendetwas was schulden. Kurz: Ich mochte ihn.
Und jetzt kannte sie ihren Jake seit 2 Jahren und sie haben geheiratet, Bald gibt es kleine Babyfüßchen in ihrer Wohnung. Oder so, wer weiß, wie sie ihre kleine, perfekte Familie vervollständigen würden.
Aber ich war verdammt glücklich, ich war Trauzeuge einer Traumhochzeit. Wer hätte das je gedacht. Wie schön doch das Leben ist!!!
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2012
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