Ich kann dich sehen. Ich kann sehen, wie du mich ansiehst. Ich ekel dich an! Du verstehst es nicht und du wirst es nie verstehen. Du schüttelst den Kopf und schreist. Dann rennst du los. Doch es hat keinen Sinn mehr. Es ist zu spät. Ich habe es getan! Es ist vorbei. Ich fühle es. Nie wieder werde ich den Schmerz spüren und nie wieder werde ich leiden!
Wenn du zurückkommst wirst du fragen, warum ich das getan habe, doch ich werde dir nicht antworten können, denn dann werde ich keine Kraft mehr haben. Aber ich würde es dir sagen, glaub mir das! Ich würde es dir sagen. Ich würde dir sagen, dass du Schuld bist! Ja du, du und alle anderen! Ich habe gehasst, was ich gesehen habe! Ich war nicht so, wie ihr mich wolltet. Ich war ein Freak, gefangen in einem Körper, den jeder begehrte. Das war der Grund.
Du kommst zurück und siehst mich verständnislos an. Du verstehst es nicht, aber du trauerst auch nicht. Es tut dir nicht leid. Du verstehst nur einfach nicht. Du weißt nicht, weshalb ich meinen Körper so zerstörte.
Der erste Schnitt war der Sauberste, aber ich fühlte noch immer nichts. Es tat gar nicht weh. Nun siehst du mich an, als täte ich dir leid, aber es ist nicht nötig. Ich habe es so entschieden. Dieser Schnitt war nur der Anfang. Er tat nicht weh und er half auch nicht.
Der zweite Schnitt war der Tiefste, bei ihm stand es bereits fest. Du brauchst nicht versuchen, es zu verstehen. Bei ihm wusste ich bereits, wie dies hier enden wird. Das Blut faszinierte mich und mein Spiegelbild lächelte mich an. Es war glücklich, zum ersten Mal seit langem. Ich hatte es früher gehasst! Es war zu schön und jeder wollte ein Stück meiner Schönheit. Nur ich nicht. Ich wollte sie nicht. Ich wollte meine perfekte Haut nicht mehr. Verstehst du! Ich wollte sie einfach nicht mehr! Trau ruhig deinen Augen, du wirst sehen, dass mein Kunstwerk nicht lügt. Ich wollte meine Haut nicht mehr.
Der dritte Schnitt war der Längste. Ich hatte mein weißes Kleid ausgezogen und mit dem Messer einen tiefen, gradlinigen Schnitt in meinen Oberkörper gezogen. Ich hatte einfach die Kontrolle verloren. Aber das macht nichts. So wollte ich es. Mein Körper war nicht mehr wichtig. Abgesehen von der Nachricht, die ich mit ihm hinterlassen würde. Niemand würde sich an das hübsche, blondgelockte Mädchen erinnern, welches einen perfekten Körper und eine perfekte Haut hatte. Jeder würde in Zukunft über mich reden, aber nur darüber, wie ich diesen perfekten Körper zerstört hatte. Das war mein Ziel. Ihr werdet alle darüber nachdenken, aber keiner wird es verstehen. Keiner weiß, was hinter meiner perfekten Fassade vor sich ging. Was ich wegen ihr erlitt. Und nie wird es einer erfahren. Warum auch? Du wirst es bestimmt niemanden erzählen, oder? Du würdest den Grund auch nicht verstehen, selbst wenn ich ihn dir ins Gesicht spuken würde! Die Gesellschaft hat mich zerstört. Und nie wird die Gesellschaft es einsehen, es wird immer so bleiben. Man muss perfekt sein und funktionieren, wenn eines von beiden nicht so ist, dann ist man ein Freak. Ein Freak, der nichts wert ist. Ich höre auf mit dem Schauspiel! Ich gebe auf!
Ich höre Sirenen, aber das wird nichts mehr ändern. Kein Arzt kann mich noch retten! Ich bin hoffnungslos verloren! Der Doktor stürmt herein und bleibt kurz verstört stehen. Ich sehe es, er hatte nicht mit diesem Bild gerechnet. Ich habe seine heile Welt zerstört. Ein hübsches Püppchen wie ich tat sich so etwas wie das hier nicht selbst an, das war unmöglich. Er stürzt neben mich. Er will mich retten, vielleicht auch nur, damit ich mich erklären würde… Damit er verstehen könnte. Verstehen und vergessen. Aber dafür ist es zu spät. Niemand wird es je verstehen, denn ich werde gehen. Mein Körper liegt in den letzten Zügen. Einen Brief hatte ich vorher nicht geschrieben, also werdet ihr es nie erfahren! Ich werd euch auch nicht heimsuchen! Versprochen. Ich habe meine Rache.
Der vierte Schnitt war der Gewagteste und er gefällt mir am besten. Er ist das perfekte Detail meines Kunstwerkes! Ich hätte gern mehr wie diesen gemacht. Er ist so schön. Aber die Kraft hatte ich nicht mehr. Mein mädchenhaftes, weißes Zimmer war blutgetränkt. Dieses Blut fehlte für einen weiteren kunstvollen Schnitt. Aber das wäre auch nicht mehr wichtig. Ob nun vier oder fünf Schnitte. Wer würde später noch danach fragen? Ich frage mich, was sie in der Schule sagen werden?
„Hast du gehört, was sie getan haben soll?“ – Alle werden es gehört haben…
„Ja, furchtbar. Ich frag mich, warum keiner von uns die Anzeichen gesehen hat?“ - Anzeichen? Gab es die denn…
„Sie soll sich ja total entstellt haben!“ – Das werden sie sagen, aber ist es so? Zwei Schnitte in den Armen, ein Schnitt im Oberkörper, einer im Gesicht. Der im Gesicht ist der perfekte Schnitt. Leider schränkt er meine Sicht ein wenig ein…
„Ich frag mich nur warum…“ – Warum nur? Ja warum denn nur?
Es ist nicht so, dass jemand meine Gründe verstehen würde, aber ich bin nicht verrückt! Nein, das bin ich nicht! Wie du meinen Körper jetzt in Erinnerung behalten wirst, das ist meine Rache! Meine Rache in blutiger und abstoßender Form. Ich bin nicht mehr hübsch, du kannst nicht mehr damit angeben. Ich war auch nie schön. Das habt ihr nur so gesehen. Ich war zerstört und das schon immer. Ich war nie heil. Von Anfang an habt ihr mich systematisch zerstört. Ich war bereits tot, auch als ich noch lebte! Ihr habt mich getötet, als ihr mich verkauft habt. Ich musste schon als Baby perfekt sein. Und nie änderte sich das. Perfektion! Das war alles, für das ich wichtig war.
Warum habe ich es bloß getan? Das werdet ihr fragen! Ich war abhängig von dem Schmerz, den niemand versteht. Aber es ist nicht der Schmerz, den ich spürte, der mich abhängig machte. Es war die Vorfreude auf den Schmerz in deinen Augen, die mich abhängig machte, Daddy.
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2011
Alle Rechte vorbehalten