Ich saß, wie immer in den großen Pausen, mit meinem Laptop auf dem Schoß auf der Bank und bekam nichts von meinem Umfeld mit. So war es, wie gesagt, immer. Ich war gelangweilt und brauchte immer etwas zutun, auch wenn meine Lehrer es nicht verstanden.
Heute weiß ich, dass ich zu klug war, auch, wenn meine Noten das genaue Gegenteil vermuten ließen. Jedes Mal wurde ich nur gerade noch so versetzt und jedes Mal auch nur mit Murren, weil plötzlich die alles entscheidende Klausur mit einer Eins bewertet werden musste. Ihr wisst schon welche ich meine, die kurz vor den Zeugnissen. Und schon hatte ich in den meisten Fächern eine Vier auf dem Zeugnis. Jedes Mal dachten meine Lehrer, ich hätte geschummelt. Das hatte ich aber nie. Ich war dann einfach gezwungen, meine Langeweile zu besiegen und einfach mal zu schreiben, was ich doch eigentlich auch wusste. Ich meine, wenn einen der Unterricht ohnehin anödet, wer will dann schon zweimal das gleiche Jahr machen?
In den Pausen war ich, wie gesagt, immer mit meinem Laptop beschäftigt, denn meine Klassenkameraden hielten mich für einen Freak. Einen ganz üblen, denn ich war kein Streber und doch auch kein Schläger. Ich war nicht klug und doch so viel schlauer als die Anderen, ich trug keine auffällige Markenkleidung und dass, obwohl ich genug Geld zur Verfügung hatte, ich gehörte keinem Stil an (Goth, Hip Hop, Emo und was es nicht sonst noch so gibt) und ich war gut aussehend und doch allein. Ich hatte weder Freunde, noch Mädchen, die bei mir sein wollten. Ich war irgendwie unantastbar und dadurch unsichtbar für die Anderen. Für alle, dass war zumindest das, was ich dachte.
Aber wie ich schon sagte, ich war nicht klug. Also sollte man vielleicht die nächsten Zeilen nicht lesen, wenn man erwartet, dass ich Dinge bemerke, die für jeden offensichtlich sind.
Es war der erste Frühlingstag im letzten Jahr. Endlich war die Sonne hervorgekommen und ich konnte wieder gefahrenlos nach draußen, um an meinem Laptop zu arbeiten. Ich hasste die überfüllte Pausenhalle. Sie war so laut und meine Mitschüler taten auch ihr Bestes um sie mit Geräuschen jeglicher Art zu füllen.
Hier draußen war das anders. Hier vermischten sich die Geräusche mit dem Gesang der Vogel, dem Krach von der dicht befahrenen Straße und dem Plätschern der Teichanlage, an der ich meinen Stammplatz hatte.
Ich saß immer auf der Bank unter dem Kirschbaum und dort tauchte ich zweimal täglich für Zwanzig Minuten in meine Welt ab. Natürlich tat ich das am Tag wesentlich länger als nur Vierzig Minuten, aber ich spreche hier von schultäglich, wenn man so will. Ich störte niemanden, auch nicht die frisch verliebten „Eintagsfliegenpärchen“, die sich auf den anderen Bänken mit Küssen die Zeit vertrieben. Sie nahmen mich nicht wahr und doch war meine Bank Tabu, so als sei diese mit mir unsichtbar. Einfach nicht da.
Manchmal erwischte ich mich dabei, dass ich vorsichtig den Kopf hob, um zu sehen, ob sie dabei ist. Ja, auch Freaks haben Schwächen und meine hieß Kira.
Kira hatte etwas, das allen anderen Mädchen an der Schule fehlte. Ich meine nicht ihr Aussehen, auch wenn dieses ohne Frage makellos war. Ich meine Ausstrahlung, die von ihrem Äußeren unterstrichen wurde. Das ist nicht bei vielen Menschen so. Aber Kira hatte immer ein Lächeln oder Grinsen auf den Lippen und wenn dem nicht so war, dann sah man es trotzdem in ihren blau-braunen Augen funkeln, ihren Augen, deren Leuchtkraft durch ihre roten Haare noch verstärkt wurde. Sie hatte immer ausgefallene Frisuren, denn sie steckte ihr Haar immer hoch, kreppte einen Teil ihres Haares und steckte verrückte Accessoires mit in das Kunstwerk.
Auch ihre Kleidung war auffällig und hob sich deutlich von den Klamotten der Anderen ab. Sie veränderte ihre Teile immer selbst, davon ging ich jedenfalls aus, denn es waren immer Einzelstücke, selbst wenn sie einem bekannt vorkamen und man meinte, dass man die Teile an der Klassenkameradin, die gezwungenermaßen neben einem sitzt, schon mal gesehen hat, aber anders. Ich denke man sieht, dass ich mich sehr für Kira interessierte.
Ein Problem gab es jedoch: Ich hätte sie niemals angesprochen. Sie war so ausgefallen, warum sollte sie sich für einen Freak wie mich, den jeder meidet, interessieren? Und so beschränkte ich mich darauf, sie manchmal anzusehen und jeden Tag zu hoffen, dass sie nie zu den knutschenden Teenieparasiten auf den anderen Bänken gehören würde. Ich glaube, wäre das je der Fall gewesen, dann wäre ich gestorben. Nicht vor Eifersucht oder vor Liebeskummer, sondern weil sie das nicht verdient hatte. Ich habe beobachtet, dass das nie gut geht. Was meint ihr, was ich nicht alles höre und sehe in den Pausen? Liebe, Eifersucht, Betrug, Hass. Das ist keine Liebe, das ist eine Daily Soap.
An diesem Frühlingstag, es war ein Freitag, sollte aber alles anders sein, als ich es gewohnt war. Meine Bank hatte einen defekt, sie war nicht unsichtbar geworden und so setzte sich jemand neben mich. Etwas genervt konzentrierte ich mich stärker auf meinen Laptop und rechnete fest damit, von einem knutschenden Paar ständig angebufft zu werden, als sich der Mensch neben mir räusperte.
„Keason?“, erklang die klarste und dennoch festeste Stimme, die ich je gehört hatte. Etwas verwirrt wand ich den Blick von meinem Laptop ab und sah in Kiras wunderschöne Augen. Ich war ihr noch nie so nah. Sie ging in die Parallelklasse und ich sah sie immer nur in den Pausen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass nicht nur ich verwirrt war, nein auch die knutschenden Paare sahen zu uns herüber. Darüber belustigt, lächelte Kira und ein Funkeln glitt durch ihre Augen.
„Hey. Geht doch. Ich dachte schon, du würdest mich gar nicht mehr wahrnehmen.“, lachte sie sanft. Ich schluckte, ich und sie nicht wahrnehmen? Ich fragte mich vielmehr, warum sie mich wahrnahm.
„Was ist? Bist du doch stumm?“, sie lächelte noch immer und ich hatte inzwischen Angst, dass ich einen Tagtraum hatte. Ich meine, man hat es doch oft in Filmen und Serien gesehen. Dinge, die so real wirken und dann doch nur Verarsche vom Gehirn sind. Dennoch schüttelte ich langsam den Kopf, auch auf die Gefahr hin, dies für eine imaginäre Kira zu tun.
„Gut, dann kannst du mir ja antworten!“
„Worauf?“, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme nicht so bebte, wie ich es innerlich tat. Ihr Blick verriet mir, dass ich wohl eher etwas schroff klang und so versuchte ich, meine Körperhaltung offener zu gestalten, in dem ich mich ihr leicht zudrehte und sie aufmerksam ansah. Sie räusperte sich noch mal. Ich schien sie aus dem Konzept gebracht zu haben. Dies, das sei mal nebenbei angemerkt, kann ich nämlich äußerst gut: Menschen verwirren.
„Du weißt doch sicher, dass morgen die Schulparty ist. Ich habe mich gefragt, ob du nicht Lust hättest, dieses Mal auch zu kommen und vielleicht, aber nur, wenn du willst, gehen wir… zusammen?“, sie lächelte noch immer, aber nicht mehr so selbstsicher wie vorher.
Ich warne vor, hier kommt nun der Teil, an dem man sich die Hand vor den Kopf schlagen will und am liebsten heulen möchte, nur weil ich seltendämlich war.
Ich kann nicht mal erklären, was in meinem Kopf vorging, das meiste davon war jedoch richtiger Unfug. Szenen aus Filmen wie Carry, der Gedanke, mich furchtbar beim Tanzen zu blamieren, die Tatsache, dass ich solche Massenveranstaltungen hasste. All das führte zu der dämlichsten Aussage, die ich je in meinem Leben getätigt habe: „Hm. Hör mal. Ist nichts gegen dich, aber ich hasse so dümmliche Massenveranstaltungen. Die meisten gehen doch da nur hin, um sich zu profilieren und zu zeigen, wie toll sie sind. Es endet doch für viele nur in Alkoholkoma oder einem bösen Erwachen. Ich finde das hirnlos!“ Hirnlos! Ja, richtig gelesen! Hirnlos! Der Einzige, der hier hirnlos war, war ich.
Da saß sie, Kira, die ich wirklich gern hatte, respektierte und bewunderte und ich sage indirekt: Du bist dumm!
Das war die Message meiner Aussage.
„Bist du tatsächlich so arrogant?“, keifte sie mich an und stand auf. „Ich habe wirklich gedacht, dass sich alle anderen in dir täuschen, aber anscheinend hast du Recht und ich bin dumm!“, dann ging sie davon, wütend und motzend. Und mir ging das alles viel zu schnell.
Ich hatte noch immer nicht verstanden, was gerade passiert war, als einige meiner Mitschüler lachten und andere sich über mein arrogantes Wesen ausließen. Ich saß da, als hätte ich ein Brett vorm Kopf und zwar ein zwei Meter dickes.
„Arme Kira. Ich hab eh nie verstanden, was sie von dem Idioten will. Und dass er bei seinem sozialen Stand sagt, wir seien alle dumm, ist ja wohl die Höhe.“, hörte ich eine ihrer Freundinnen flüstern.
„Der rafft auch gar nichts. Seit der ersten Klasse beobachtet sie ihn und findet ihn interessant und er erteilt ihr so einen Korb!“, lachte Sven, der schon immer mit mir in eine Klasse ging.
Als es klingelte ging ich nicht in meine Klasse und auch nach Schulschluss saß ich noch auf meiner Bank, als sei ich versteinert gewesen.
Seit der ersten Klasse? Sie wusste von mir? Ich hatte sie erst vor 2 Jahren entdeckt, während sie mich schon seit 9 Jahren interessant fand? War ich vielleicht wirklich arrogant? Auf jeden Fall war ich ein Idiot.
Ich hatte die Chance vertan, Kira besser kennen zu lernen, vielleicht eine Freundschaft oder sogar mehr mit ihr aufzubauen. Ich hatte alles versaut, alles, was ich mir in den letzten Jahren überhaupt gewünscht hatte.
Es ist ja nicht so, dass ich immer allein sein wollte. Ich war es einfach. Ich war allein und zwar, weil ich so war, wie ich nun einmal war. Doch genau das war es, was Kira an mir interessant gefunden hatte. Ich konnte nicht hier sitzen und nichts tun. Ich musste handeln. Ich musste ihr zeigen, dass sie mich nicht falsch eingeschätzt hatte, sondern dass ich nur aus Angst falsch reagiert hatte.
Entschlossen stand ich auf, holte meine Sachen aus der Klasse und ging nach Haus. Mein Vater schlief noch und so konnte ich ins Internet, ohne dass er mir auf die Finger schauen würde. Manchmal tat er so etwas, denn er wusste, was ich anrichten konnte, wenn ich das wollte.
Diesmal richtete ich aber nichts an, ich holte mir Informationen. Ich brauchte Kiras Adresse und ich brauchte einen Plan. Zu der Party am nächsten Tag würde ich nach meinem Auftritt bestimmt nicht gehen. Ich wollte alles richtig stellen, aber ich wusste wirklich nicht wie. Und zum ersten Mal in meinem Leben handelte ich instinktiv, statt alles stundenlang zu überdenken.
Als ich ihre Adresse hatte, verließ ich das Haus und fuhr mit dem Bus zu ihrem. Es war ein sehr großes Haus, es standen zwei Autos davor und auch eine Menge Fahrräder. Diese Familie schien mehrere Kinder zu haben und mindestens eines davon war dem Spielzeug im Garten zu Folge auch noch jünger.
Ich versuchte einen Blick ins Haus zu erhaschen, als mich ein riesiger Hund ankläffte. Er hatte sich auf die Hinterpfoten gestellt, stützte sich am Zaun ab und bellte mich auf Augenhöhe an. Ich wich ein Stück zurück und sah, dass ich dennoch die Tür erreichen konnte, ohne dass der Hund mich anfallen würde. Ich atmete tief durch, klingelte an Kiras Haustür und plötzlich hoffte ich, dass niemand öffnen würde.
Was zur Hölle sollte ich denn sagen? Aber ich hatte keine Zeit, mir einen Plan zusammen zu basteln, denn die Tür wurde schon geöffnet. Ein kleines Mädchen öffnete und grinste mich an. Ihre Augen funkelten genau wie die Augen von Kira.
„Halloooooo?!“, fragte sie fröhlich und sah mich mit großen Augen an.
„Ich… Ich würde gern mit Kira reden…“, stotterte ich vor mir her. In dem Augenblick veränderte sich die Haltung der Kleinen und alles Freundliche verschwand aus ihren Augen. Ich hatte nicht erwartet, dass mich jemals der Blick einer Fünfjährigen so einschüchtern könnte, aber mit diesem Blick hätte die Kleine sogar die Hölle einfrieren können.
„Du bist Keason?! Nein! Kira will aber nicht mit dir reden! Du bist ein furchtbarer Mensch!“, schrie sie mich an und knallte die Tür vor meiner Nase zu.
„Hey Kleine. Wer war das?“, hörte ich ein junge Männerstimme hinter der Tür, sie klang etwas belustigt.
„Das war Keason!“
„Der Idiot, der Kira heute so schlecht behandelt hat?“, die Tonlage der Stimme änderte sich und veranlasste mich, mich erstmal zu verdrücken.
Ich hatte es so gründlich versaut, dass mich nun ihre gesamte Familie hasste. Wieso hatte ich nur immer in meiner eigenen Welt gelebt und warum hatte ich nicht erkannt, dass Kira mir nur näher kommen wollte. Ich bin so ein Horst!
Trotz Allem ging ich nicht nach Haus. Ich wartete und beobachtete ihr Haus, vielleicht würde sie es ja verlassen? In der Küche war das Fenster geöffnet und so konnte ich hören, als sie ihrer Familie sagte, sie ginge in ihr Zimmer. Nun musste ich nur noch beobachten, wo ihr Licht anging, dann wusste ich wenigstens, wo sie war. Es dauerte eine Weile, dann sah ich es. Im Dach. Wo sonst? Und bevor ich weiter drüber nachdachte, kletterte ich über den Zaun, schlich an dem schlafenden Monsterhund vorbei und kletterte auf einen Baum, welcher in die Nähe ihres Fensters führte.
Ich habe mich, und das schwöre ich, nie zuvor so verhalten und ich konnte mir auch nicht erklären, warum ich das hier tat. Ich stand auf dem Dachvorsprung, als Monster mir half, ohne es zu wissen. Er war aufgewacht und hatte mich entdeckt. So saß er nun im Garten, blickte zu mir hoch und jaulte und kläffte sich die Seele aus dem Leib. Kira öffnete ihr Fenster, um ihn zur Ruhe zu ermahnen und weil es noch immer schön draußen war, ließ sie es geöffnet. Vorsichtig kletterte ich zu ihrem Fenster und sah kurz in ihr Zimmer, ich wollte sie ja schließlich nicht beim Umziehen überfallen oder so, bevor ich hinein sprang. Erschrocken drehte sie sich zu mir um und war anscheinend sprachlos.
„Bevor du schreist…, Bitte. Hör mir kurz zu. Dann hau ich auch wieder ab und mir ist auch egal, ob mir das Monster da unten dann irgendwas abkaut. Ich habe es richtig vermasselt, dass weiß ich. Ich hatte Angst und es ging mir so viel durch den Kopf. Ich war ein Idiot. Ich…, ich mag dich, auch wenn das schwer zu glauben ist, nach dem, was ich vorhin gesagt hab. Ich mag dich schon ziemlich lange. Meine Antwort hätte so sein müssen: „Wow. Eigentlich geh ich nicht gern zu Partys, aber mit dir würde ich gern gehen.“ Na ja. Jetzt ist es zu spät, das ist mir klar, so wie deine Familie mich behandelt und ich habe es auch nicht anders verdient. Ich möchte mich nur bei dir entschuldigen und vielleicht kannst du mir irgendwann verzeihen?! Ich bin halt der größte Idiot, den es gibt.“, ich versuchte ein Lächeln, auch, wenn mir absolut nicht danach war, und ging zurück zum Fenster, um auf dem selben Weg zu gehen, auf dem ich gekommen war.
„Wenn du jetzt durch dieses Fenster kletterst, dann hast du Recht! Dann bist du der größte Idiot, den es gibt. Auch wenn ich glaube, dass du einfach ein bisschen Übung im Umgang mit Menschen brauchst!“
„Wie…?“, verwirrt drehte ich mich zu ihr um. Kira lächelte und ihre Augen funkelten wieder.
„Du stehst wirklich ziemlich oft auf dem Schlauch, kann das sein?“, fragte sie lachend.
„Ich weiß nicht, was du meinst? Ich …, was?“
„Man kann nicht todesmutig an einem schlafenden Drachen vorbei schleichen, einen Berg bezwingen, der Prinzessin sagen, dass man sie mag und sie dann im Turm lassen.“, sie kam einen Schritt auf mich zu und grinste frech.
„Keason! Zeig mir, wer du wirklich bist! Nimm den Helm ab, mein Ritter, und zeig mir den Menschen dahinter.“, sagte sie theatralisch, lächelte und nahm meine Hand.
„Du hasst mich nicht?“, fragte ich vorsichtig, denn ich hätte es nur zu gut verstanden.
„Nein, ich hasse dich nicht! Das könnte ich gar nicht. Du faszinierst mich und ich möchte, dass mehr Menschen in dir sehen, was ich sehe!“, sie küsste mich sanft auf die Wange.
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2011
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