Es war wieder einer dieser Tage im Hochsommer, wo man sich am liebsten auf die Straße legen will um zu zerfließen. Die genaue Gradzahl habe ich nicht mehr im Kopf, aber die Menschen sprachen von diesem berüchtigten „Jahrhundertsommer“, und obwohl der August recht verregnet war, traf diese Bezeichnung an diesem besonderen Tage zu. Meine Freunde waren alle in irgendwelchen fernen Ländern unterwegs, um einen sich schälenden Sonnenbrand zu verpassen, während ich zu Hause abhing. Normalerweise wäre ich nämlich niemals alleine ins Kino gegangen, aber die staubige Hitze und einschläfernde Langeweile hatten meinen Willen geschwächt. Dort würde es wenigstens eine Klimaanlage geben…
Das Sommerloch beherrschte das Kinoprogramm, also entschied ich mich für irgendeinen pseudo-intellektuellen Schwachsinn mit viel Musik, jedenfalls hoffte ich auf viel Musik. Der Film hatte bereits begonnen. Als ich in den ziemlich kleinen Saal trat, klebte der Boden von Popcorn-Resten und verschütteter Cola. Jeder Schritt von mir verursachte ein sattes Schmatzen. Das alles störte mich jedoch überhaupt nicht, weil die Klimaanlage auf vollen Touren lief, und es mich zum ersten Mal an diesem Tag fröstelte. Hach!!
Wohlig ließ ich mich in einen der abgewetzten Sessel fallen und genoss meine Gänsehaut. Außer mir saß zwei Reihen weiter nur noch ein alter Mann mit Spazierstock da. Anscheinend waren wir die beiden einzigen Zurückgelassenen in der Stadt.
Die Handlung des Films war ziemlich verworren und unlogisch, deshalb wunderte es mich nicht, als der Kopf des Mannes zwei Reihen vor mir auf die Brust sank. Auch ich hing nur noch lethargisch in meinem Sessel und ließ die seichten Dialoge an mir vorbeispülen. Doch dann bemerkte ich die Binde am Oberarm des Mannes. Er war blind! Diese Erkenntnis kam so überraschend, dass ich auf einen Schlag hellwach war und mich wieder aufsetzte.
Was wollte ein Blinder im Kino?
Ich beobachtete ihn weiter und bemerkte, dass er gar nicht schlief, sondern andächtig lauschte. Irgendwie fand ich diese Tatsache herzzerreißend traurig. Ich fuhr mir mit dem Unterarm über die Augen. Was war los mit mir? Ich war doch sonst nicht so nah am Wasser gebaut.
Und dann, ich weiß nicht wieso, tat ich es dem Blinden gleich und schloss die Augen. Anfangs hörte ich nur den Film, und der kam mit geschlossenen Augen nicht besser an, als mit offenen. Ich wollte schon wieder verärgert die Augen aufschlagen, als ich auf einmal wirklich hörte. Es kam ein Leuchten über mich und ich konnte einfach alles hören. Das Auf- und Abschwellen der Toilettenspülung im Stockwerk über uns, das flirrende Geräusch des Kühlschranks auf dem Gang, ein unidentifizierbares Kratzen rechts von mir. Ich hörte sogar das Platschen einer herab fallenden Eiskugel und das darauf folgende Weinen des Kindes von draußen. Wie gesagt, ich hörte alles. Das Ganze wirkte so überraschend, überwältigend, so umfassend auf meinen Geist, dass ich wie erschlagen in meinem Sessel saß und mit meinem offenen Mund weiter lauschte. Der Film war schon längst vorbei, als ich mich endlich aus meiner Starre lösen konnte. Als ich meine Augen wider aufschlug, waren alle Geräusche wieder gedämpfter und in den Hintergrund zurückgetreten.
Das Kino war leer. Ich war allein.
Die darauf folgenden Tage lauerte ich immer in diesem Saal, doch den Mann sah ich nie wieder.
Heute frage ich mich manchmal, ob ich nicht kurz eingenickt bin und mir alles eingebildet habe. Aber ich denke, über manche Dinge sollte man nicht allzu genau nachdanken, sondern sie einfach so in Erinnerung behalten und sie genießen…
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2009
Alle Rechte vorbehalten