Cover

Schnaufend stand Kommissar Blatt aus seinem unbequemen Bürostuhl auf und kippte sich im Gehen den übrig gebliebenen kalten Kaffee hinein. Dann zerknüllte er den Plastikbecher und zielte auf den Müllkorb. Wie immer verfehlte er ihn, was seine ohnehin miese Laune noch weiter senkte. Schon am Abend zuvor hatten er und seine Frau wieder einen ihrer zahlreichen Streite, in dem das Wort Scheidung fiel. Was ihm früher so Angst gemacht hatte, berührte ihn inzwischen kaum noch, als ob er abgestumpft wäre. Vielleicht war Scheidung für sie beide wirklich die letzte Möglichkeit einen Schlussstrich zu ziehen. Er war froh, dass sie keine Kinder hatten. Isa hatte nie welche gewollt, wenigstens eine Sache, in der sie einer Meinung gewesen waren. Kinder hätten die ganze Sache noch verkompliziert. Vielleicht hätten sie alles aber auch vereinfacht, da sie so einen Grund gehabt hätten sich zusammenzuraufen und ein Paar zu bleiben. Aber sie hatten keine Kinder.
Am Morgen war er dann total übernächtigt im Polizeipräsidium erschienen. Sein Vorgesetzter hat ihm einen neuen Fall zugeteilt, einen Mordfall. In einer Viertelstunde würde er die Frau vernehmen müssen, die ihren Ehepartner anscheinend umgebracht hatte.
Ein Gedanke, mit dem er selbst in letzter Zeit auch schon öfters gespielt hatte.
Er hasste Vernehmungen. Die sich ständig wiederholenden Gesichter, Geschichten und Spielchen zermürbten ihn jeden Tag mehr und verkamen zu einem trockenen Einheitsbrei, den er nur mit Mühe herunterschlucken konnte.
Seufzend nahm er einen letzten tiefen Atemzug, bevor er in den Verhörraum trat. Sofort musste er husten. Verdammte Zigaretten. Isa hatte sie gehasst, deshalb hatte er erst aufgehört und dann aus Trotz wieder angefangen. Jetzt kam er gar nicht mehr von ihnen los. Nachdem er wieder Luft bekam, verdrängte er jeden Gedanken an Isa in die hinterste Ecke seines Kopfes, schloss die Tür hinter sich und schaute in seine Papiere. Susanne Wegener, stand in der Akte, 47 Jahre alt. Er musterte die Frau und stellte fest, dass sie für Alter noch sehr gut aussah. Sie trug einen hautengen Bleistiftrock und eine weinrote, tief ausgeschnittene Bluse, die ihre schlanke Figur betonten. Er fand sie sehr attraktiv. Unpassend für eine trauernde Witwe. Sie begegnete seinem Blick ihrerseits direkt und aufdringlich. Er wollte schon wegsehen, als er sich wieder seines Ranges erinnerte und die Schultern straffte. Er würde keine Schwäche zeigen. Verdammt. Das lag alles nur an Isa.
Normalerweise waren die Festgenommenen hier verschreckt und verschlossen, eine Folge der U-Haft und ihrer prekären Gesamtsituation. Diese Frau dagegen sah so aus, als würde sie förmlich auf irgendwas brennen. Er wusste nur noch nicht auf was. Er spürte etwas von seiner alten, fast vergessenen Neugier aufkommen, wegen der er damals, vor Ewigkeiten, diesen Job ergriffen hatte.
Er ließ sich auf den Stuhl fallen und sah demonstrativ lange in die Akte, als würde er sie lesen. Er hörte, wie sie mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Sie war etwas nervös. Gut.
„Also Frau Wegener“, begann er, wurde aber sofort von ihr unterbrochen.
„Darf ich hier rauchen?“ Ihre Stimme war angenehm kratzig, sie erinnerte Blatt an Isa, nur war sie noch eine Spur tiefer. Der Klang aber war gehetzt und abgespannt, als wartete sie nur auf die Absage. Blatt antwortete aber: „Nur zu.“ Er wusste, welche Menschen auf welche Methoden am Besten anspringen würden. Manchen musste man schmeicheln, anderen drohen, um das Geständnis zu bekommen, aber am Schluss war immer er der Sieger.
Diese Frau würde eher etwas sagen, wenn sie sich einigermaßen wohlfühlte. Nach jahrelanger Polizeiarbeit hatte er so was im Gefühl.
Mit zittrigen Händen steckte sie sich eine an. Ihr roter Nagellack war abgesplittert. Nachdem sie einige tiefe Züge genommen hatte, entspannte sie sich augenblicklich. Ihre Finger hatten sofort aufgehört zu zittern.
„Also Frau Wegener“, fing Kommissar Blatt von neuem an, „Sie wissen, weshalb Sie hier sind?“
Sie nickte.
„Und Sie sind sich sicher, ohne Anwalt reden zu wollen?“ fragte er sie mit prüfendem Blick. „Ja, ich habe Jura studiert. Ich weiß mich zu verteidigen“, krächzte sie angriffslustig.
Blatt zuckte mit den Schultern. Seine Erfahrung sagte ihm da was anderes, aber so würde es wenigstens für ihn einfacher werden. „Jura? Hier steht aber, Sie wären Apothekerin, “ sagte Blatt mit einem Blick in die Akten.
„Ich habe das Studium abgebrochen. War irgendwie nichts für mich“, murmelte sie zwischen zwei Zügen. Nach ein paar formellen Dingen, kam er zur Sache.
„Ihr Mann wurde vor zwei Tagen um kurz nach acht in Ihrer Wohnung von den Putzkräften tot aufgefunden. Man hat Sie, Frau Wegener, erst einen Tag nach dem Tod Ihres Mannes finden und informieren können. Können Sie mir sagen, wo Sie sich zur Tatzeit befunden haben?“
Er hatte in der Akte gelesen, dass die Nachbarn behaupteten, dass das Paar oft gestritten hätte und sie deshalb mehrmals Ruhestörung gemeldet hatten.
Markus Wegener war bei seinem Auffinden schon mehr als sechs Stunden tot gewesen. Die Gerichtsmedizin hatte noch kein endgültiges Autopsieergebnis, sie ging aber von Tod durch Vergiften aus. Das würde zu dieser Schlange passen, dachte Blatt bei sich.
Frau Wegener war jetzt wieder sehr aufgeregt, aber nicht auf die Art und Weise, die Blatt erwartet hätte. Da war von Trauer keine Spur.
„Ja, das kann ich“, sagte sie und ihre Stimme vibrierte, „ich war bei ihm“. Das wird einfach, dachte sich Kommissar Blatt und lehnte sich zurück. „Dann erzählen Sie mal.“
Die Frau zündete sich die nächste Zigarette an, obwohl die erste nur halb aufgeraucht war.
Und er hat geglaubt, er wäre süchtig, aber diese Frau war wirklich krass.
Sie nahm einen weiteren schaudernden Zug, der ihre Brüste erbeben ließ. Dann, den Blick auf die aufsteigenden blauen Dunstschwaden in weiter Ferne geheftet, begann sie zu erzählen.
„Ich lernte Markus vor zwei Jahren kennen. Wir waren beide weit über vierzig und froh, überhaupt etwas zu kriegen.“ Sie zwinkerte ihm schelmisch zu. „Kurze Zeit später heirateten wir. Obwohl wir uns erst kurz kannten, war alles gleich wie im Märchen, es war einfach perfekt. Sie wissen was ich meine, was?“ Der Kommissar legte die linke Hand über seinen Ring. „Naja, jedenfalls wollte er, dass ich den Beruf aufgebe, da er genug für uns beide verdiene, aber ich lehnte ab. Ein bisschen Unabhängigkeit schadet nie, nicht wahr?“
Sie lachte schrill auf, aber das schmierige Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Blatt war befriedigt. Er hatte diese Frau wohl richtig eingeschätzt. Da war nichts Tiefgehendes an ihr, es war bloß plumpes Geschwätz, wie er es schon oft hier gehört hatte. Zufrieden wendete er sich wieder der Verdächtigen zu. „In Ordnung, aber was passierte jetzt in der Nacht?“
„Ja ja, hetzen sie mich nicht!“ krächzte sie, und fuchtelte mit ihrer Hand, als ob sie eine Fliege verscheuchen wollte. Er entwickelte langsam eine ausgewachsene Abneigung gegen diese Frau. Susanne Wegener schien gerade richtig in Fahrt zu kommen, ihre Augen begannen fiebrig zu glänzen, als sie weitererzählte. „Ich musste am nächsten Tag zu einer kranken Freundin nach Berlin reisen, also ging Markus am Abend mit mir noch mal schick essen. Danach gingen wir in die Wohnung landeten schnell im Bett“ -wieder ein Auflachen-„ und um halb zwölf ging ich zum Bahnhof. Da hat er aber noch gelebt, dass kann ich ihnen versichern, er hat geschnarcht wie ein Sägewerk.“ Blatt zählte die vierte Zigarette. „Zwei Tage später komme ich aus Berlin zurück, und was muss ich hören? Mein Mann ist tot!“ An dieser Stelle brach sie ab und schluchzte hysterisch auf. Er reichte ihr ein Taschentuch, in das sie sich geräuschvoll schnäuzte. „Und so war es“, sagte sie hochdramatisch.
Er hatte die ganze Zeit keine einzige Träne gesehen. Der Fall ist klar, es fehlt nur noch das Geständnis, und das würde er aus ihr rausleiern. „Wir werden Ihr Alibi überprüfen, Frau Wegener“, sagte Blatt mit bedeutsamer Stimme.
„Machen Sie doch!“ fuhr sie ihn wutentbrannt an. Ihre Stimmung hatte sich binnen Sekunden geändert. „Und nehmen Sie Ihren Scheiß mit!“ Der Kommissar fing die Akte auf und ging zu ihr hinüber. Er packte ihre Handgelenke und drückte sie fest auf den Tisch und machte dem Beamten an der Tür ein Zeichen, nicht einzugreifen. Susanne Wegener schrie und zappelte wild, beruhigte sich aber genauso schnell wie sie aufgebraust war. „Wenn ich Sie jetzt loslasse, werden Sie ruhig bleiben, verstanden?“ Schniefendes Nicken. Er ließ sie los. „Was ist denn mit der los? Ist sie auf Drogen?“ fragte er sich, als er wachsam zu seinem Platz zurückging. Frau Wegener saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl. Von der starken, Sex versprühenden Frau war nichts mehr zu spüren, als sie mit zerlaufenem Make-up und verschmierten roten Lippenstift in ihrer Tasche kramte und sich die nächste Kippe anzündete. Blatt hatte aufgehört zu zählen. Er erwägte es kurz, ihr den Glimmstängel wegzunehmen, aber sie klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender an eine Holzplanke. Es schien ihm falsch, ihr das Letzte wegzunehmen, was sie noch zu beruhigen schien. Er hatte plötzlich Mitleid mit der Frau. „Also Frau Wegener“, sagte er, als ihn die blauen Dunstschwaden wieder umhüllten, „wollen Sie mir jetzt die wirkliche Version der Geschichte erzählen? Wäre das nicht besser?“
„Also schön“, antwortete sie mit einem leichten Hickser in der Stimme „ich gebe zu, wir waren nicht immer das glückliche Paar. Anfangs funktionierte es richtig gut, aber mit der Zeit konnte er mich genauso wenig ausstehen wie ich ihn. Es lag nicht an den Umständen, es lag nur an uns. Die vielen Kleinigkeiten, die sich anhäuften und dann regelmäßig explodierten. Wir gingen uns dauernd auf die Nerven, und irgendwann hassten wir uns richtig.“
Blatt fühlte sich unangenehm an jemanden erinnert.
„Aber ich würde ihn nie umbringen!“ schrie sie verzweifelt.
Er glaubte ihr nicht. Diese Frau war zu morden fähig, da war er sicher. Es fehlten nur noch die Beweise für die Staatsanwaltschaft. In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ein junger Polizist, frisch von der Schule, brachte ihm einen Zettel. Währendessen starrte er Frau Wegener wie ein wildes Tier ununterbrochen an, aber sie schien nicht mal Notiz von ihm zu nehmen. Sie starrte etwas an, was offenbar nur sie sehen konnte.
Als er den Raum verlassen hatte, sah er sich das Papier an. Es stammte von Bert Fuchs, dem Gerichtsmediziner. Die handschriftliche Notiz besagte lediglich: Tod durch Arsenvergiftung. Aufnahmeweg unbekannt.
Arsen? Die Frau war Apothekerin. Sie arbeitet an einem Ort, wo man leicht an tödliche Substanzen kam. Damit war jeder Zweifel beiseite geräumt. Jetzt würde es ein Leichtes sein, ein Geständnis zu bekommen. Als er siegessicher aufblickte, sah er, dass Susanne Wegener die letzte Zigarette aus der Schachtel zog.
Aber etwas stimmte nicht. Sie zitterte derart, dass ihr die Zigarette aus der Hand fiel. Er dachte erst, sie würde weinen, doch dann sah er, wie sich ihre Augen in ihren Höhlen verdrehten und ihr Mund schäumte. Aber irgendwie konnte er sich nicht rühren und saß festgefroren auf seinem Stuhl. Auch, als die Frau vom Stuhl fiel, beobachtete er nur fasziniert, wie der Beamte an der Tür auf sie zustürzte und sie auffing. Aber sie krampfte so stark, dass er sie nicht festhalten konnte. Blatt erinnerte sie an eine Puppe mit verdrehten Gliedern. Ihr Stöhnen und Schreien erfüllte den kleinen Raum.
Dann war es auf einmal still. Sie bewegte sich nicht mehr.
Der Beamte auf dem Boden sah hilflos zu Blatt hinauf.
Der Schaum an ihrem Mund hatte sich rot verfärbt.


Kommissar Blatt sah mit einem leeren Weinglas in der Hand auf den leblosen Körper, verborgen unter einem weißen Leinentuch, hinunter. Er konnte nur ihr Gesicht sehen. Sie hatten ihr den Schaum und den verschmierten Lippenstift abgewaschen. Ungeschminkt sah sie aus wie jede Frau in den späten Vierzigern. Es fröstelte ihn. Direkt daneben lag ihr Mann, auch unter einem weißen Leinentuch. Ihr Tod spielte sich, wie in den vergangenen Stunden, in seinem Kopf immer wieder in einer Endlosschleife ab. Es zerfraß ihn vor Selbstzweifeln. Die Schuld stieg in ihm hoch wie eine giftige Säure, die ihn zu ersticken drohte.
Es klirrte. Er hatte zu stark zugedrückt. Er wollte sich nach den Scherben bücken, aber der Pathologe kam ihm entgegen und sagte: „Lass es liegen. Was machst du noch hier? Ich dachte, du wärst schon seit einer Stunde zu Hause.“
Er watschelte auf ihn zu und sah ihn prüfend über seine Brille hinweg an.
„Du siehst furchtbar aus. Leg dich hin. Das wird dir gut tun, glaub mir.“
„Es war meine Schuld“, lallte Blatt unverständlich. Der Pathologe hatte ihn offensichtlich aber verstanden, denn er klopfte ihn mitfühlend auf die Schulter und sagte: „Du weißt, dass das nicht stimmt. Sogar ich wusste nicht, wie das Arsen in den Körper gekommen ist. Du hättest also gar nicht wissen können, dass es in der Zigarette gesteckt hat. Niemand konnte das.“
Blatt grunzte.
„Hör mal, solche Fälle landen täglich auf meinem Tisch. Diese Frau war sehr krank. Der Tod war nur die letzte Stufe für sie. Komm, fahr nach Hause. Du solltest darüber schlafen. Deine Frau wartet bestimmt schon auf dich.“
„Isa…wir haben uns getrennt“, erwiderte Blatt schwach. In dem Augenblick, in dem er es sagte, wusste er, dass es stimmte. Es stand zwar noch nicht auf den Papieren, aber tief in ihnen drinnen wussten sie es beide. Es war ihm nur bis jetzt noch nicht bewusst gewesen.
Doch anstatt noch verzweifelter zu werden als ohnehin schon, überkam ihn eine seltsame Ruhe, als wäre ihm eine schwere Last von der Brust genommen worden. Allein das Wissen, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben, beruhigte ihn.
„Ich geh in ein Hotel…aber danke für…du weißt schon.“ Der Gerichtsmediziner winkte ab. Er hatte das Gefühl, gewachsen zu sein. Sogar mit dieser toten Frau im Hinterkopf würde er jetzt klarkommen können. Er brauchte nur Zeit.
Langsam ging er zum Fahrstuhl. Bevor er durch die geöffnete Tür trat, zog er seine Zigarettenschachtel samt Zigaretten aus der Manteltasche und warf sie Richtung Papierkorb.
Diesmal traf er.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /