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Weiter, nur weiter! Wie ferngesteuert bewegten sich seine Beine, trugen ihn dem Bahnhof entgegen. Dort würde er sicher sein, dort waren immer Menschen. Menschen, die ihm helfen konnten, Menschen, die nicht zulassen würden, dass er IHNEN in die Hände fiel. Er musste wahnsinnig gewesen sein, sich nach Sonnenuntergang alleine und unbewaffnet in die Innenstadt zu wagen. Die dunklen, verwinkelten Gassen waren IHR Jagdrevier, er hatte das gewusst. Und trotzdem hatte er einen Spaziergang unternommen. Einen Spaziergang, aus dem schnell eine grausame Verfolgungsjagd geworden war. Mit ihm als Beute und mindestens drei oder vier von IHNEN als Jägern.

Seine Lungen rasselten, Tränen brannten in seinen Augen und die strapazierten Beine bettelten um eine Pause. Nur kurz anhalten, sich anlehnen, zu Atem kommen. Oder wenigstens etwas langsamer laufen. Aber er durfte nicht nachgeben. Sein Körper flehte, aber er durfte jetzt nicht nachgeben. Jeder zu zaghafte Schritt, selbst ein kurzer Blick über die Schulter würde seinen Vorsprung verringern. Und der war ohnehin nicht gerade groß, wie ihm das nahe Knallen IHRER Sohlen auf dem Asphalt verriet. Verzweifelt lehnte er den Oberkörper nach vorne, versuchte noch mehr Tempo vorzulegen. Er konnte den rettenden Bahnhof schon sehen, ihn trennten nur noch wenige hundert Meter von dem wuchtigen Gebäude mit den gläsernen Drehtüren. Aber IHRE Schritte kamen näher, da war er sich sicher. So nah vor dem Ziel würde er sich nicht schnappen lassen. Nicht jetzt, nicht hier. Nicht so nah vor dem Bahnhof. Bitte nicht! Er würgte den widerlichen Geschmack der durch die Anstrengung hochschießenden Galle herunter, japste gierig nach Luft, rannte weiter. Hinter ihm IHRE Schritte, immer lauter. Immer näher. Nun auch noch Stimmen. IHRE Stimmen. Sie riefen nach Verstärkung, nach weiteren Jägern. Es kam ihm hoffnungslos vor. Trotz des Tempos hatten SIE noch Atem, um weitere Artgenossen herbei zurufen.

Er wollte schon aufgeben, stehen bleiben, zusammenbrechen. Sich von IHNEN erwischen, alles über sich ergehen lassen was SIE im Sinn hatten. Nur bitte bitte endlich ausruhen, atmen. Doch da kamen SIE ihm unbeabsichtigt zur Hilfe. Aus einer Seitenstraße sprang einer von IHNEN auf ihn zu, griff nach seiner Schulter, erwischte seine Jacke und krallte sich im dünnen Stoff fest. Entsetzt schrie er auf, sprang zur Seite und schlug mit beiden Armen blind um sich. Überrascht von der wilden Gegenwehr seines erschöpften Opfers ließ ER die Jacke los, zögerte und wurde von DENEN, die ihn verfolgten, überrannt. Angespornt durch den Schreck und den winzigen Vorsprung, den er gerade gewonnen hatte, legte er noch einmal alle Kraft in seine Flucht. Hinter sich hörte er wieder die Schritte. IHRE Rufe, die nun deutlich verärgert klangen. Doch der Vorsprung reichte aus. Mit letzter Kraft taumelte er in eine der beiden Drehtüren, stolperte auf der anderen Seite heraus und sank in der Bahnhofsvorhalle zu Boden. Keuchend kauerte er auf allen Vieren auf dem kalten Steinboden das ein gehetztes Tier, als das er sich bis eben noch gefühlt hatte. Da bemerkte er eine Hand neben sich. Jemand griff vorsichtig nach seinem Arm, zog ihn behutsam in die Höhe. Ein Gesicht tauchte vor ihm auf, nickte ihm beruhigend zu. Unwillkürlich sah er über die Schulter, zur Panzerglasfassade. Dort waren SIE, fünf von IHNEN. Mit flachen Händen hämmerten sie an die Scheiben, hielten Zettel hoch und riefen unverständliches.

Jemand trat neben ihn, stieß einen leisen Seufzer aus. »Also wirklich, diese Zeitschriftenvertreter können aber auch penetrant sein.« Er nickte nur matt. Penetrant war ja überhaupt kein Ausdruck.

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Tag der Veröffentlichung: 17.06.2009

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