„Es war der 2. Mai 1995 als meine Tochter zum ersten Mal, das Licht der Welt erblickte. Ich weiß noch genau wie sie zum ersten Mal in meinen Armen lag und ich stolz auf sie hinab blickte. Alles war gut. Die Welt war perfekt. Für mich und für mein einziges Kind. Ich war mir sicher, dass ich ganz gut ohne den Vater des Kindes auskommen würde. Ich hatte eine Mutter die mich unterstütze und Freunde. In diesem Moment wo ich mein kleines Mädchen in den Armen hielt waren alle Sorgen und Ängste verschwunden. Für mich fing ein neues Leben mit einem neuem Geschöpf an…das Leben mit einem Kind.“
Ich hockte stumm vor dem Tagebuch meiner Mutter, die Tränen rollten über meine Augen. Nein, keine Tränen aus Traurigkeit, vielmehr waren es Freudentränen. Ich verschloss das Buch wieder und legte es wieder unter ihr Kopfkissen ich ging zurück in mein Zimmer und schloss mich ein. Ich war erstraunt, erstaunt über die positiven und liebevollen Worte meiner Mutter. Sie hatte es nicht leicht, soviel wusste ich. Meinen Erzeuger lernte ich nie kennen, und meine Mutter meinte das wäre auch besser so. „Er sei ein Arschloch“ sagte sie. Mehr wusste ich nicht, und eigentlich wollte ich auch nicht mehr wissen. Ich ging in die Küche und umarmte meine Mutter, wortlos. Sie ließ alles was sie gerade tat stehen und mich zu umarmen. Die Milche kochte über, aber es war ihr egal. Schon wieder war ich überrascht, dass sie immer für mich Zeit hatte. Egal wann…und das war schon immer so.
Als ich damals, als ich noch ganz klein war in meinem Bettchen lag und nicht einschlafen konnte war sie da. Als ich Bauchschmerzen hatte, war sie da und pflegte mich gesund. Als ich Streit mit meiner besten Freundin hatte, hörte sie mir zu und half mir. Als ich weinend nach Hause kam, weil mir jemand mein Fahrrad geklaut hatte, war sie da für mich. Sogar als ich ihr gestand, dass ich meine erste Zigarette geraucht hatte, war sie für mich da. Sie schimpfte auch oft und manchmal gab es auch eine Ohrfeige, aber ich hatte es manchmal wirklich verdient. Sie zeigte mir was es heißt zu leben, auf was es im Leben ankommt und zeigte mir wie man wieder aufsteht wenn man am Boden zerstört ist.
Sie hatte immer wieder ein kleines bisschen Liebe für mich übrig auch wenn es ihr selbst richtig beschissen ging. Ich versuchte immer eine nette Tochter zu sein und sie eine nette Mutter. Schon immer tat sie alles für mich und ich war mich sicher, dass es auch immer so bleiben würde…
Ich ging wie jeden Tag zur Schule, freute mich wie jeden Tag meinen Freund zu sehen. Ich war 14.
Die Schulglocke klingelte und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich nicht früher in die Schule kam. Es war zu spät um ein bisschen Zeit mit meinem Liebsten zur verbringen. Ich setzte mich auf meinem Platz und verbachte die Stunden bis zur Pause damit auf meine Mappe zur kritzeln. Als endlich die Glocke zur Pause klingelte, sprang ich auf und stürmte zu meinem Freund in die Klasse.
Ich wollte zu ihm rennen und ihn umarmen doch was ich sah, ließ mich erstarren. Ich traute meinen Augen nicht, er küsste meine beste Freundin. Ich konnte es nicht verstehen. Ich wollte es nicht verstehen. Er küsste sie, so richtig, mit Leidenschaft und sie gab sich vollkommen ihm hin. Sie vergasen alles um sich herum und so war es auch bei mir. Ich stand nur da und sah sie verständnislos an. Sie bemerkten mich nicht bis ich zu Boden viel und weinte. Mir war in diesem Moment egal was alle von mir dachten. Ich lag da, wie ein Häufchen Elend und weinte. Ich spürte eine Hand auf meinen Schultern. Ich blickte nicht auf. Ich roch den vertrauten Geruch meines Freundes doch ich bewegte mich nicht. Ich schrie: „lass mich!“ und weinte weiter. Meine „beste Freundin“ wollte mich trösten doch ich wollte sie nicht mehr sehen. Ich hörte wie die Glocke klingelte und stand auf. Ich sah niemanden an, ich ging aus der Klasse und spürte die Blicke der anderen doch es war mir egal. Ich ging nicht mehr zum Unterricht ich verließ einfach die Schule. Zitternd ging ich nach Hause. Ich machte einen Umweg um Menschenmassen zu vermeiden. Zu Hause läutete ich an der Haustür meine Mutter öffnete und sah mich erschrocken an. „Was ist passiert, Schatz?“, fragte sie mit ihre tiefen sympathischen Stimme. Ich sagte nichts, ich konnte nichts sagen und sie fragte nicht weiter. Sie umarmte mich wortlos, und genau das, war das, was ich brauchte. Später erzählte ich ihr alles und die horchte mir zu. Zwei gefühlte Stunden erzählte ich, alles. Sie machte mir Mut, sagte, dass ich jemand Besseres verdient hätte. Sie war für mich da. Kochte Tee, brachte mir 100 Tafeln Schokolade und schaute mit mir Komödien. Es war nicht so, dass sie nichts anderes zu tun gehabt hätte, doch für mich ließ sie alles warten. „ Schatz, die Arbeit läuft nicht davon, du bist mir wichtiger“, sagte sie.
Immer und immer wieder zeigte sie mir, dass sie immer für mich da ist, auch dann, wenn es kein anderer war…
„Schatz, ich muss zum Arzt! Mach dir dein Essen bitte heute selber!“, sagte sie und schloss die Türe hinter sich. Ich war ich nicht böse oder so, ich machte es gerne. Nach der Schule kam ich nach Hause stellte ich Nudelwasser auf den Herd und wartete biss das Wasser kochte. Ich schüttete meine Lieblingsnudel in den Topf und las inzwischen die Zeitung die Tageszeitung. Später aß ich dann genüsslich meine Nudeln und machte den Abwasch. Drehte mir die Musik auf und sang laut mit. Plötzlich hörte ich die Tür ins Schloss fallen, drehte die Musik leiser und ging aus der Küche. Meine Mutter rannte in ihr Zimmer und ich folgte ihr. Doch ihre Tür war verschlossen. Ich wusste nicht was los war. „Mama!? Alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt. Es kam keine Antwort. Ich klopfte an ihrer Tür. Nach einer Weile öffnete sie Tür und ließ mich zu ihr. Sie weinte. Und es war das erste mal dass ich sie weinen sah. Sie erzählte mir, dass sie einen Tumor im Kopf hatte. Einen Tumor den niemand mehr heilen könne. Mein Herz blieb für einen Augenblick stehen, ich wusste nicht was sagen, wusste nicht was tun. Ich saß da, sah ihr in die Augen und sagte nichts. Mir war klar, dass dieser verdammte Tumor alles ändern würde…Damals war es mir schon klar und ich hatte Recht.
Ich wollte das Beste für sie. Ich strengte mich in der Schule mehr an, schmiss den Haushalt und versuchte immer für sie da zu sein. In dieser Zeit war sie sehr oft im Krankenhaus, und ich versuchte sie so oft wie möglich zu besuchen. Zu Hause backte ich Kuchen und brachte ihn ihr in das Krankenhaus. Sie freute sich immer wieder mich zu sehen. Ihre Lebensfreude und ihre liebevolle Art hatte sie immer noch. Sie lächelte immer, nahm alles mit Humor und genoss jede einzelne Minute. Trotzdem merkte man, dass sie immer schwächer wurde. Ihr schönes ovales Gesicht wurde immer knochiger und dünner, ihre warmen vertrauten Hände wurden immer dünner und knochiger. Es bildeten sich tiefe Falten rund um ihre Augen. Ihre Lippen wurden von Tag zu Tag bläulicher und von Tag zu Tag verschwand auch ein kleines bisschen ihre Lebensfreude. Es ging sehr lange so. Jeden Tag war ich bei ihr, jeden Tag erzählte ich ihr alles, was im Leben außerhalb des Krankenhauses abging. Sie horchte immer interessiert zu, sie fragte immer wieder nach ob zu Hause alles in Ordnung wäre und immer wieder versicherte ich ihr dass alles passte. Immer wieder aufs Neue, fragte sie auch mich ob es mir gut ginge und um sie nicht zu beunruhigen sagte ich immer ja. Innerlich weinte ich, innerlich zerbrach ich, doch ich wollte meine Mutter nicht noch mehr beunruhigen. Einmal sagte meine Mutter: „ Celine, du hast dein Strahlen verloren, früher warst du anders, geht es dir nicht gut?“ Ich wusste nicht was sagen, doch das musste ich auch nicht, ich konnte meine Tränen nicht mehr zurück halten. Meine Mutter streichelte mir über das Haar. Es war fast so wie immer. Außer dass ich wusste, dass ich diese Hände nicht mehr lange spüren werde. Ich erzählte ihr alles, wie einsam es ohne sie zu Hause war. Wie sehr sie mir fehlte. Wie sehr ich sie liebte und wie sehr ich mir wünschte sie immer an meiner Seite haben zu können.
Irgendwann kam dann der Anruf, von dem ich genau wusste, dass er irgendwann kommen würde. Von diesem Anruf von dem ich mich immer fürchtete. Der Anruf vom Krankenhaus. Ich legte auf und stürmte zur Tür. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Ich radelte so schnell ich konnte zum Krankenhaus und übersah dabei viele rote Ampeln. Doch es war mir egal. Die Autos hupten, die Leute schimpften doch es raste alles wie ein unwichtiger Film an mir vorbei. Ich rannte die Treppen hinauf bis zum vierten Stock. Noch nie stieg ich so schnell Treppen. Die Tür war geschlossen und ich machte mir nicht die Mühe anzuklopfen. Ich rannte ins Zimmer, ans Bett meiner Mutter und blieb stehen. Ich war schockiert, sie hing an tausenden Maschinen. Sie war Blass, blass wie sonst nie. Ihre Haut war weiß, schon fast durchsichtig. Ihre sonst so leuchtenden Augen waren gelblich und ausdruckslos. Sie zitterte. Ihre blauen Lippen bewegten sich nicht. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Mit zittriger Stimme sagte ich: „Hi mum, wie geht’s?“
Zu meinem Erstaunen öffnete sie ihren Mund und antwortete mit schwacher, leiser Stimme: „Hallo Schatz, alles gut, bei dir?“ Ich sagte nichts mehr, ich wusste dass sie log. Wie konnte es ihr gut gehen wenn sie im Sterben lag. Plötzlich wurde mir das Wort „sterben“ klar. Ich wusste, dass ich nur mehr einige Minuten hatte. Einige Minuten zusammen mit ihr. Und dann fing ich an zu reden. Ich sagte ihr alles was ich schon immer sagen wollte. Wie sehr ich sie liebte und wie wichtig sie mir war. Sie lächelte hob ihre Hand und streichelte mir liebevoll über meine Wangen. Ihre Hand fühlte sich kalt an, doch in diesem Moment strömte eine unglaubliche Wärme von ihr zu mir. Ich lächelte und hielt ihre Hand so fest ich konnte. Ich sah sie an, wortlos. Dicke Tränen rollten mir über mein Gesicht und auch meiner Mutter erging es ähnlich. „Schatz, danke, dass du so ein tolles Mädchen bist, du bist und warst immer das wichtigste für mich! Vergiss nie, dass du etwas ganz besonderes bist! Und verliere nie dein Lächeln und deine Lebensfreude! Danke für alles mein Kind!“, sagte sie. Sie richtete sich auf, mit ihrer letzten Kraft und umarmte mich. Ich hielt sie fest. Noch bevor ich Antworten konnte schloss sie ihre Augen. Ich sah sie an, und realisierte nichts mehr. Sie war tot. Weg von meiner Welt und in diesem Moment verstand ich es nicht. Irgendwann nach 5 Minuten merkte ich, dass sie nicht mehr lebte. Ich spürte ihren Herzschlag nicht mehr, sie atmete nicht mehr. Ich legte sie ins Bett, ganz sanft, als hätte sie noch etwas gespürt. Da lag sie, regungslos. Und ich sah sie an. Eine Krankenschwester legte ihre Hand auf meine Schulter. Ich sah sie nicht an. Ich schaute nur meine Mutter an und weinte. Weinte um einen Menschen der alles für mich war, der immer alles für mich tat und nun war dieser Mensch weg. Tot. Und ich musste es akzeptieren, konnte nichts dagegen tun. Ihr Leben war zu Ende, aber meines ging weiter. Ohne sie. So weh es tat, es ging. Denn die Erinnerung an einen wunderbaren Menschen lebte weiter. Für immer.
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Müttern. Denn ohne eine Mutter wäre das Leben um einiges härter