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1 Lhucy

 

In aller kürze

Kurzgeschichten

Lhucy

 

Sie saß am See im Wald und ließ sich den heißen Juli-Sonne auf den Rücken brennen. Es war absolut still, nur die Vögel des Waldes und Das Summen von unzähligen Insekten waren zu hören. Leise rauschte der zarte Wind durch das Laub der Bäume und der Duft von frischem Wasser und Seerosen umschmeichelte sie.

 

Ihre Gedanken schweiften wie immer dahin. Ihr ging es eigentlich gut. Sie hatte ein schönes Auskommen, eine Wohnung im angesagtesten Viertel der Stadt. Ihre Eltern lebten beide noch und waren bester Gesundheit. Ihre Geschwister hatten einen Haufen Kinder, die alle Tante Lhucy abgöttisch liebten und von Ihr so richtig verwöhnt wurden.

Sie war zufrieden mit ihrem Leben im Großen und Ganzen. Allein ein Punkt lag ihr am Herzen: Das Herz!

 

Sie war 35 Jahre alt und noch nie! Noch NIE! verliebt. Sie hat nie geküsst, nie gekuschelt noch nie die brennende Leidenschaft für einen Mann empfunden. Das stimmte sie manchmal traurig. Denn obwohl sie es nicht körperlich vermisste, sie kannte es ja nicht, vermisste sie es in ihrem Herzen.

Wenn sie andere Menschen sah, die sich innig liebten, kam sie sich wie ein Alien vor. Wie jemand, der von außen zu sieht. Ein Beobachter in einem riesigen Museum. Zusehen, nicht anfassen. Das machte sie einsam. Auch wenn sie nicht wirklich einsam war. Doch so dann und wann fragte sie sich, ob es für Sie nicht den EINEN geben würde.

Auch heute, hier an dem schönen See im Wald dachte sie wieder daran. Wie wäre es, diesen versteckten Ort mit einem Geliebten zu teilen? Wie wäre es hier gemeinsam zu liegen? Zu Träumen? Sich vielleicht auch zu lieben?

 

Wie würde er aussehen? Wie würde er riechen? Seine von der Sonne erhitzte Haut, wie würde sie sich anfühlen? Wie wäre es, wenn sein Atem sanft über ihre Haut streichen würde? Sie verlor sich in einem Traum, der sie immer wieder heimsuchte. Solange es dauerte, war es wunderschön. Sie fühlte sich geborgen, warm und zufrieden. Erhitzt und feucht folgte Sie dem Traum. Sie fiel ins Bodenlose und schwebte auf Wolken. Es drehte sich alles um sie.

 

KNACK

 

Ein Zweig knackte und sie schrak auf. Direkt vor ihr kniete ein Mann. Sie sah ihm direkt in die Augen.

Und was für Augen. Herzzerreissende braune Augen, die sie freundlich anlächelten. Eine gerade, am Ende breite Nase über zwei perfekt geformten Lippen, die zum Küssen gerade zu einluden. Ein leicht vorstehendes markantes Kinn, Wangenknochen nicht zu hoch und nicht zu ausgeprägt um seiner herben Männlichkeit nicht zu viel von der Süße der Jugend zu nehmen. Kastanienbraunes Haar umrahmte kurz und verstrubbelt sein schönes Gesicht. Seine breiten Schultern und muskulösen Arme schienen ihr zuzurufen: „Ich halte dich!“

Ein schwarzes T-Shirt spannte sich angenehm über seiner starken Brust. Am Handgelenk seiner rechten Hand baumelte ein mit einem Lederband geschnürter Talisman: Ein Wolfskopf aus Knochen geschnitzt.

 

Während er sie einfach nur anlächelte, sah sie sich und ihn in ihren Gedanken zusammen. Sie liebten sich am Seeufer. Sie schritten gemeinsam in festlichen Kleidern aus der Kirche. Sie gingen Hand in Hand mit ihren Kindern durch den Wald spazieren. Sie saßen stolz zusammen im Publikum als ihre Tochter den Abschluss machte. Sie saßen im weißen Haar auf der Veranda ihres Hauses und blickten in den Sonnenuntergang. Lhucy wusste es. Das war ER. Mit ihm würde sie für immer und ewig zusammen bleiben.

 

Das war ihr letzter Gedanke, bevor der Mann mit den herzzerreißenden braunen Augen ihr eine Pistolenkugel in den Kopf jagte.

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.10.2017

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