Langsam drehe ich mich in dem knielangen, zartroten Kleid im Kreis. Die Farbe ist zwar kräftig, aber nicht aufdringlich. Sie erinnert an einen Klatschmohn in voller Blüte. „Oh, du siehst wunderschön aus, Lucia!“, flüstert meine Mutter und wischt mit einem weißen Taschentuch die Tränen unter ihren Augen weg. Ich lächele sie an und umarme sie. „Aber du bist noch nicht fertig. Ich habe noch etwas für dich“, meint sie und holt ein kleines schwarzes Kästchen aus ihrer Tasche. „Ich dachte, es ist an der Zeit, es dir endlich zu geben...“
Behutsam öffne ich die Schachtel. Darin befindet sich ein schmaler, goldener Armreif, der gewundenen Blättern nachempfunden ist. „Er ist wunderschön!“, hauche ich und streife ihn über mein Handgelenk. Er passt perfekt und schmiegt sich angenehm kühl an meine porzellanfarbene Haut. „Danke! Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe, Mutter.“
Hand in Hand machen wir uns auf den Weg zum Rathausplatz von Distrikt 4. Dort wird heute, wie jedes Jahr, die Ernte stattfinden, bei der ein Mädchen und ein Junge im Alter von 12 bis 18 ausgewählt werden, um an den alljährlichen Hungerspielen teilzunehmen. Dafür werden die Tribute aus den 12 Distrikten in eine Arena gesperrt, in der sie sich bis auf den Tod bekämpfen müssen, bis ein Sieger verbleibt. Dieser wird bei seiner Heimkehr mit Preisen wie Geld und Nahrungsmitteln überhäuft, während die anderen Distrikte hungern. Die Spiele finden aufgrund einer Rebellion der Distrikte gegen das Kapitol statt, durch die vor 112 Jahren Distrikt 13 vom Kapitol vernichtet wurde. Als Zeichen, dass sich die dunklen Tage nie mehr wiederholen dürften, werden die Hungerspiele veranstaltet.
Ich finde es nicht fair, dass wir, die Jugend, für einen Aufstand unserer Vorfahren zahlen müssen, aber was kann man schon dagegen tun? Natürlich sind die Hungerspiele nicht gerecht. Ich habe gehört, dass die Kinder in den ärmeren Distrikten für Tesserasteine mehr Lose bekommen können. Das bedeutet, wenn sie zum Beispiel sehr arm sind, können sie sich für Tesserasteine eintragen lassen, von denen einer eine karge Ration Öl und Getreide wert ist. Auch für ihre Familienmitglieder können sie die Rationen beantragen, weswegen ihre Chancen dann viel höher sind, in die Arena zu müssen, da sie mehr Lose haben.
Doch in reichen Distrikten wie Distrikt 4 gibt es keine Tesserasteine. Im Gegenteil, die Reichen schicken ihre Kinder in Trainingscenter, in denen sie schon früh auf die Hungerspiele vorbereitet werden. Dort erlernen sie das Kämpfen, Jagen und vieles anderes, was sich in der Arena bezahlt machen könnte.
Wenn in solch einem reichen Distrikt ein schwacher Tribut ausgewählt wird, überschlagen sich darum schon andere Jugendliche, an seiner Stelle gehen zu dürfen.
Ich würde mich niemals freiwillig melden, denn ich finde die Hungerspiele abscheulich und würde nicht mein Leben riskieren, nur um eine ruhmreiche Zukunft zu haben, doch auch ich werde in einem Center auf die Hungerspiele vorbereitet. Nicht weil ich es wollte, sondern weil meine Familie sehr reich ist und mein Vater es für eine Schande hält, wenn Kinder reicher Eltern nicht trainiert werden.
Mittlerweile sind wir am Rathausplatz angekommen. Meine braunen Augen suchen Vater in der Menge, doch ich kann ihn nicht ausmachen. Entweder er ist noch nicht da, oder er steht weiter hinten in der Menge.
Mein Vater ist ein einflussreicher Mann hier in Distrikt 4. Deswegen verbringt er sehr viel Zeit in seinem Büro, manchmal übernachtet er sogar dort, deswegen bekomme ich ihn kaum zu Gesicht. Eigentlich ist er wie ein Fremder für mich: Das einzige, was ich mit ihm teile, ist der Nachname: Crown.
In gewisser Weise ist der Name Schicksal, denn mein Vater ist wirklich mit Präsident Brown verwandt: Sein Urururgroßonkel war der Cousin des Urururgroßonkels meines Vaters.
Langsam begebe ich mich zur Anmeldetafel, an denen mein Name auf dem Zettel der möglichen Tribute abgehakt wird und ich zu dem Sektor der anderen 15-jährigen Mädchen geführt werde.
Dort wartet schon Lyz auf mich, meine beste Freundin. „Lilly!“, ruft sie fröhlich und gibt mir ein Küsschen. „Gut, dass du endlich da bist! Stell dir vor...“
Schon versinkt sie in eine ihrer Schnatterattacken. Ich kenne das von ihr und schalte ganz ab – bei ihr reicht es, einfach zwischendurch zu nicken und „Echt? Krass!“ zu sagen.
Ich bin nicht wirklich nervös, denn ich weiß, dass ich, im unwahrscheinlichen Fall, dass ich gezogen werde, eine gute Chance habe, zu überleben. Mir ist klar, dass ich nicht die beste Kämpferin bin, aber ich habe andere Waffen: Meine Intelligenz und meine Schnelligkeit.
Ersteres habe ich meiner Mutter zu verdanken – den Grips habe ich von ihr geerbt. Ich war schon immer Klassenbeste, auch wenn ich mir noch nie viel daraus gemacht habe, aber ein kühler Kopf kann in der Arena nicht schlecht sein – es ist jedenfalls besser, als einfach auf alles und jeden mit dem Schwert einzuhacken.
Die Schnelligkeit habe ich mir einerseits im Trainingscenter antrainiert, andererseits liegt sie mir schon in den Genen, da ich sehr klein bin – mit meinen 15 Jahren bin ich nur circa 1,64 m groß. Einerseits ist das lästig, aber andererseits verschafft es mir einen entscheidenden Vorteil: Ich bin nicht so träge wie meine Gegner. Auch wenn die vielleicht zwei Meter groß und muskelbepackt sind, kann ich ihnen ausweichen und sie verwirren.
Lyz sagt immer, wenn ich kämpfe, würde es aussehen, als ob ich tanze: Mit minimalistischen Bewegungen weiche ich Hieben aus, gleite weich an meinem Gegner vorüber, ducke unter seinen Hieben hindurch und platziere gekonnt Schläge von unten, die er nicht erwartet.
Der Nachteil der meisten Tribute aus Distrikt 1 und 2, den anderen reichen Abschnitten Panems, ist ihre Arroganz: Sie schauen meist nur nach oben und nicht nach unten, denn für sie kriecht am Boden das Gesindel, gegen das es sich nicht lohnt, zu kämpfen.
Ich werde aus meinen Gedankengängen herausgerissen, als ich die schrille Stimme von Suzan Greenmoss vernehme, der hektischen Betreuerin unseres Distrikts. Sie klopft mit zwei Fingern auf das Mikrofon auf der provisorisch aufgebauten Bühne, um sich zu vergewissern, dass es an ist, und beginnt mit quietschender Stimme: „Fröhliche Hungerspiele, und möge das Glück stets mit euch sein! Meine lieben Bewohner von Distrikt 4, es ist mir eine Ehre, hier der Ernte aus eurem wohlhabenden Distrikt beiwohnen zu dürfen. Zuerst habe ich aber leider eine traurige Nachricht für euch: Wegen Sparmaßnahmen wurde der kleine Film, der alljährlich zu Beginn der Ernte gezeigt wird, aufgrund einer Sparmaßnahme gestrichen!“ Sie spitzt ihren Mund und macht dabei ein bekümmertes Gesicht. In ihrem zitronengelben Kleid und ihrer minzfarben gefärbten Perücke mit passenden Schuhen sieht sie wirklich albern aus. „Wie auch immer“, fährt sie fort. „Ich werde nun damit beginnen, einen mutigen jungen Mann und eine mutige Junge Frau auszuwählen, denen die Ehre zuteil wird, Distrikt 4 bei den 112. Hungerspielen zu repräsentieren. Ladys first!“ Sie stöckelt zu der großen Glaskugel zu ihrer Rechten, in denen Hunderte kleiner Zettel stecken. In vier davon steht mein Name, Lilly Crown!, denke ich nervös und stecke mir mit einer Hand eine meiner Strähnen hinter das Ohr.
Suzan greift tief in die Kugel und zieht von ganz unten einen Zettel heraus. Langsam, feierlich, schreitet sie damit zurück zum Mikrofon und hält ihn prüfend gegen die Sonne, als ob durch das dicke Papier der Name durchscheinen würde. Dann öffnet sie den Zettel. Der Name hallt laut über den versammelten Platz. „Lucia Crown!“
Mein Magen macht einen kleinen Sprung. Jetzt ist also der Moment gekommen, auf den ich so lange hingearbeitet habe. Wie es wohl sein wird? Mit sicheren Schritten bahne ich mir einen Weg durch die Menge und versuche, ernst aber trotzdem würdevoll zu wirken.
Meine schwarzen Ballerinas klackern leise auf dem hellgrauen Stein. Leise erklimme ich die hölzerne Treppe. Ich konnte mich schon immer bewegen wie eine Katze. Suzan lächelt mich breit ein und ich erwidere es, mein kleines, charmantes Lächeln.
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner besten Freundin.♥