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Sie hatte ihn kennengelernt, an einem 13. Mai.
Es war ein Dienstag.
Es war Liebe.
Er war der Eine.
Der Richtige für sie.
Plötzlich wusste sie, wofür sie lebte.
Alles war so klar; so scharf; so unbeschreiblich schön.
Sie sah die Welt mit neuen Augen.
Wenn er kam, zog sich alles in ihr zusammen und explodierte in einem Feuerball der Gefühle.
Sie hatte keine Kontrolle mehr über sich; sie wusste nichts mehr, kannte nichts mehr, fühlte nichts mehr, sah nichts mehr außer ihm.
Er machte Scherze, flirtete und suchte das Gespräch mit ihr.
Sie war glücklich.
Dann brachte er seine Freundin mit.
Ihre Welt schwankte; ihre Hoffnung erblasste in dem lähmenden Entsetzen, das sie erfasste, als ihr alles klar wurde.
Sie war fassungslos.
Er hatte es nie ernst gemeint.
Er hatte herumgealbert, hatte sich nichts dabei gedacht, hatte nicht gewusst, wie es um sie stand, hatte keine Ahnung von ihren Gefühlen.
Er hatte ihr seine Freundin vorgestellt, ohne dabei zu ahnen, was er ihr antat.
Sie zuckte unter der Qual, doch sie ertrug es.


Innerlich stürzte sie auf die Knie, aber vor ihm wahrte sie ihre Haltung.
Er jedoch spürte, dass sie plötzlich anders war.
Er fragte sie nach dem Grund.
Sie konnte nicht schweigen.
Er sagte, er sei zu alt für sie.
Er lachte und wuschelte durch ihr Haar.
Er stand auf und ging.
Sie starrte ihm hinterher; leer und ausgebrannt.
Er sah sich nicht um. Er verstand nicht.
Gelacht hatte er über sie.
Doch sie ertrug es.


Ihre Liebe zu ihm blieb, aber sie veränderte sich.
Sie gab ihr keine Kraft mehr so wie vorher, war nichts Schönes mehr, machte sie nicht mehr glücklich.
Der Gedanke an ihn brachte sie nicht mehr zum Strahlen; er brachte sie zum Weinen, erfüllte ihr gebrochenes Herz mit bohrendem Schmerz, zerrte an ihrer zerschundenen Seele.
Aber es blieb Liebe, und sie ertrug es.
Er verletzte sie.
Er verletzte sie mit allem, was er sagte, mit allem, was er tat.
Aber sie konnte ihn nicht hassen.
Sie konnte ihn nicht vergessen.
Sie liebte ihn, obwohl er ihr so wehtat.
Ihr gebrochenes Herz war ein Berg aus scharfen Splittern, der von innen in ihre Brust schnitt und ihr den Atem raubte.
Sie liebte ihn, obwohl sie innerlich tot war.
Sie spürte nichts mehr außer der Qual, die seine Worte in ihr verursachten.
Doch sie ertrug es.


Sie war glücklich, solange sie in seiner Nähe war; sie fühlte sich wieder ganz, dachte nicht an all die Tränen, die sie wegen ihm schon geweint hatte, dachte nicht mehr an all die Schmerzen, die sie zerfraßen.
Doch wenn er ging, brach alles wieder zusammen.
Qual, Pein, Trauer, Hilflosigkeit und Ohnmacht stürzten auf sie ein, fielen über sie her wie Tiere.
Sie wollte schreien, aber die Splitter ihres Herzens würgten sie in der Kehle.
Bleib hier! Lass mich nicht allein!
Lautlose Gedanken, die nur in ihrem Kopf widerhallten.
Er hörte sie nicht.
Er ging und trieb sie in lähmende Besinnungslosigkeit; er kam zurück und brachte ihr neue Lebenskraft; er ging und ließ sie wieder allein mit ihrem Schmerz.
Sie ertrug es.


Tausende Tode starb sie in jeder Nacht, die verstrich, ohne dass er bei ihr war.
Sie ertrug es.


Sie versuchte, sich selbst Hoffnung zu machen, doch sie zerbrach jedes Mal aufs Neue, wenn sie sah, wie er die andere küsste.
Sie ertrug es.


Er machte ihr Komplimente und schnitt ihr dabei nur noch tiefer in die Seele, weil ihr klar war, dass es nicht sein Ernst war.
Sie ertrug es.


Er trennte sich von seiner Freundin, war wieder frei, doch bevor sie sich aufraffen konnte, ihr Glück noch einmal zu versuchen, fand sein Mund vor ihren Augen schon wieder einen anderen.
Sie ertrug es.


Ein Gedanke erreichte ihr Bewusstsein, ein Gedanke, den sie all die Jahre versucht hatte, fortzuschieben.

Er liebte sie einfach nicht.
Er würde sie nie lieben.
Nie.
Nicht in diesem Leben.

Sie ertrug es nicht.


Diesmal nicht.
Sie konnte es nicht.
Alles zerbrach, zersprang, zersplitterte.
Sie gab ihn auf, an einem 24. Januar.
Nichts hielt sie mehr zurück, das zu tun, was sie als den einzigen Weg sah.
Es war ein Weg ohne Wiederkehr.
Das wusste sie in dem Moment, als sie am Pier stand und hinaus auf das schwarze Wasser des reißenden Flusses starrte.
Sie liebte ihn immer noch.
Die Nacht war kalt und dunkel.
Ihr Atem kondensierte an der Luft und sie zitterte.
Ein Schritt, ein Sprung.
Die Kälte des Wassers war so dicht am Gefrierpunkt, dass sie wie Nadeln in ihre Haut stach und ihr den letzten Rest Luft aus der Lunge presste.
Sie kämpfte nicht.
Es war vorbei bevor es begonnen hatte.
Aber sie nahm sich nicht das Leben.
Nicht wirklich.
Sie befreite sich nur von der unsagbaren Qual, die ihr das Herz zerriss.
Sie floh; floh in eine andere Welt.
Eine bessere Welt.
Aber sie war nicht besser.
Nicht wirklich.
Denn es war eine Welt ohne ihn.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet dem Jungen, der seit drei Jahren der Eine für mich ist, und der das einfach nicht begreift.

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