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Prolog


Sie drehte sich zur Tür und wollte gerade hinausgehen, als ich wieder ihren Arm packte. „Bitte, Laurie! Bleib hier!“, flehte ich panisch, „Es tut mir leid!“
„Vergiss es. Für deine Entschuldigungen ist es zu spät!“ Laurie’s Blick wurde eiskalt, als sie weitersprach. „Ich werde die Vampire aufsuchen und mich ihnen anschließen. Überall ist es besser als hier! Du wirst nie wieder etwas von mir hören.“
Sie lachte so voller Spott, dass es mir einen Stich versetzte, als sie mit einem sarkastischen Unterton ergänzte: „Herzlichen Glückwunsch, Sharona. Du hast es geschafft! Du bist deine eigene Schwester für immer losgeworden…“
Und ehe ich reagieren konnte, war Laurie zur Tür hinaus.

Jagd


Durch meine Adern pulsierte warmes Blut, und unter meinen vorsichtigen Schritten knirschte das vertrocknete Laub, das der Herbst längst von den Bäumen geweht hatte.
Hungrig streifte ich durch die Wälder meiner Heimat. Es war früh am Morgen, die Sonne blieb noch hinter dem Horizont verborgen. Die kalte, feuchte Luft machte mir nicht viel aus – wie alle meine Artgenossen war ich nicht besonders kälteempfindlich.
Ich atmete tief ein und roch Harz, moderndes Holz, Laub, Erde, und das, wonach ich suchte – ein menschliches Opfer. Der unverkennbare Geruch des warmen, frischen Blutes war für unseresgleichen kilometerweit zu verfolgen.
Nur um da direkt von Anfang an jegliches Missverständnis auszuräumen – ich war kein Vampir! Im Gegensatz zu dieser Art trank ich nämlich nicht das Blut meiner Beute – ich brauchte ihr Fleisch.
Wenn ich also kein Vampir war, was war ich dann?
Das war eine berechtigte Frage. Ehrlich gesagt, wusste niemand es ganz genau. Manche von uns behaupteten, wir wären nicht mehr als Raubtiere in menschlicher Gestalt, was ich mir teilweise sogar eingestehen müsste.
Wir bezeichnen uns selbst als Venaren.
Wenn schließlich selbst Wesen, die laut Legende so unfähig im Überlebenskampf sind, dass sie durch einen Holzpflock sterben können, und die mit schwarzen Umhängen blass wie Albinos durch die Nacht wandern, einen eigenen Namen für ihre armselige Art der Existenz haben, warum dann wir nicht auch?
Das, was ich gerade über Vampire gesagt habe, nehme ich übrigens besser wieder zurück – verrückterweise gibt es die nämlich wirklich, und zwar nicht so, wie man sie aus Filmen wie Graf Dracula kennt. Außerdem sind sie schon von Natur aus nicht gerade Freunde unserer Art.
Unser Herz schlägt etwa zwanzig Mal in der Minute, liegt damit also deutlich unter menschlicher Frequenz. Wir sind nicht unsterblich wie Vampire, deren Herz überhaupt nicht schlägt, wir altern nur unglaublich langsam – in etwa zehn Jahren soviel wie ein Mensch in einem Jahr, und deshalb feiern wir unsere Geburtstage auch nur alle zehn Jahre.
Logischerweise sollte unsere Lebenserwartung wegen der verlangsamten Alterung eigentlich ziemlich hoch sein. Aber wie so oft ist auch hier die logischste Schlussfolgerung nicht unbedingt die richtige, denn unser Leben war gefährlich. Zu gefährlich, um alt zu werden.
Es bestand aus Kämpfen, Töten und getötet werden – den Gesetzen der Wildnis. In unserer Welt zählte allein das Recht des Stärkeren. Wir lebten in einem Rudel aus durchschnittlich drei bis acht Personen, und dieses Rudel hielt zusammen, solange es bestand. Fremde Rudel waren keine willkommenen Gäste, und es trafen auch eher selten mehrere Gruppen aufeinander.
Doch zurück zum ursprünglichen Standpunkt dieser spätherbstlichen Nacht, bevor ich noch weiter abschweife…
Der süße Duft nach Blut und menschlichem Fleisch vernebelte meinen Verstand und machte mich unkontrollierbar. Ein Knurren stieg in meiner Kehle auf und ich wandte mich in die Richtung, aus der dieser betäubende Geruch kam.
Ich war bereit. Bereit für die Jagd.
Doch ich war nicht alleine.
„Hast du schon etwas entdeckt?“, fragte mich eine hohe, kindliche Stimme ungeduldig. Gereizt kehrte ich in meine alltägliche Welt zurück, um meiner Rudelsschwester, die mich gerade zum x-ten Mal dasselbe gefragt hatte, zu antworten. Der vielversprechende Duft des Blutes verblasste, als ich versuchte ihn auszublenden, und auch die anderen Gerüche wurden schwächer. „Verdammt noch mal, Nathalie!“, fauchte ich unsere Rudelsjüngste zornig durch Gedankenübertragung an. Eine praktische Art, sich zu unterhalten, denn man konnte so laut reden, wie man wollte – niemand außer dem oder der Angesprochenen hörte es. „Musst du mich denn immer ablenken??!“, keifte ich und ließ meine Wut an einem neben mir stehenden Baum aus, indem ich meine scharfen Krallen, die statt Nägeln aus meinen Fingern wuchsen, in die harte Rinde schlug. Der Stamm erzitterte unter der unbeschreiblichen Kraft meiner Hand, obwohl ich nicht einmal wirklich heftig zugeschlagen hatte.
Nathalie zuckte vor mir zurück. „Ich hab doch nur…“
„Nur?!“, unterbrach ich sie wütend und löste meine Krallen wieder aus dem Baum, „Nur??! Du fragst mich das jetzt schon zum wer-weiß-wie-vielten Mal! Das macht mich wahnsinnig!!!“
„Sorry!“, giftete Nathalie mich an, „Aber ich hab halt Hunger!“
„Ich auch!“, gab ich entnervt zurück. Dann schloss ich meine Lider, um mich zu konzentrieren und die Außenwelt auszublenden. Ich atmete tief ein und spürte, wie die Umwelt meine Sinne einnahm und mich wie immer auf der Jagd zu einem unberechenbaren Raubtier machte. Ich öffnete ruckartig die Augen, als ich mein potenzielles Opfer erneut geortet hatte.
Meine normalerweise schlitzförmigen Pupillen weiteten sich, um mehr Helligkeit hineinzulassen, und meine Iris reflektierte das nun eindringende spärliche Licht wie die einer Katze. Die Umrisse um mich herum wurden schärfer und nahmen Gestalt an. Mit einem wilden Knurren stürmte ich los. Deutlich hörte ich, wie Nathalie hinter mir her rannte. Sie zertrat im Laufen die Äste unter ihren Füßen und machte dabei einen Lärm wie eine Horde Nilpferde.
Ich stöhnte innerlich auf und erhöhte mein Tempo.
Nathalie versuchte es mir gleichzutun, doch sie konnte nicht weiter mithalten. Wir waren zwar nicht schneller als normale Menschen – vielleicht etwas, aber nicht besonders viel – hatten aber beinahe unendliche Ausdauer, da unseren Körpern Anstrengung kaum etwas ausmachte. Stark waren wir ebenfalls: wenn wir einen Baum ausrissen, hätte es genauso gut ein Pilz sein können…
Unser Empfinden von Schmerz und die Resistenz unseres Körpers waren natürlich an unsere Kraft angepasst, da sich beides in übermenschlichen Dimensionen befand. Wenn ein Venar einen Artgenossen so hart am Arm packte, dass es einem Menschen den Knochen komplett zermalmt hätte, entlockte uns das bloß ein genervtes „Mann, du tust mir weh!“.
Nathalie lebte erst seit acht Jahren als Venarin. Obwohl sie inzwischen fast fünfzig Meter hinter mir lag, sah ich, als ich mich kurz zu ihr umwandte, deutlich und scharf ihre brünetten, schulterlangen Locken, die ihr im Wind um den Kopf wehten. Ihre großen Augen schimmerten pechschwarz, wie bei allen, deren Verwandlung weniger als zehn Jahre zurückliegt. Erst danach wird die Iris zu einem individuellen, klaren Blau wie bei mir.
Wir waren geboren für die Jagd und zu gefährlich, um uns in der Öffentlichkeit unter Menschen aufzuhalten. Die Gefahr, dass wir plötzlich schwach wurden, jemanden auf offener Straße angriffen und unsere Identität dadurch verrieten, war zu groß. Das war auch die einzige Regel, die es gab, und wir kannten niemanden, der je gegen sie verstoßen hatte.
„Wir“; das waren meine vom Verwandlungszeitpunkt aus etwa gleichaltrige Rudelsschwester Laurie und ich – Sharona.
Nathalie durfte sich sowieso noch nicht in der Öffentlichkeit aufhalten: Welche Zehnjährige (als sie verwandelt wurde, war sie erst so alt) hatte schon pechschwarze Augen? Laurie und ich waren beide vor zwölf Jahren von Richard, unserem Rudelführer, gebissen worden; sie mit achtzehn, ich mit neunzehn. An mein menschliches Leben erinnerte ich mich, wie jeder von uns, nicht mehr.
Lauries rötliche Haare waren zu einem kurzen, glatten Stufenschnitt frisiert.
Unter ihrem dichten Pony glitzerten ihre großen, dunkelblauen Augen, die ihr in Verbindung mit ihrer Stupsnase und ihrem runden Gesicht ein kindliches Aussehen verliehen – das heißt, wenn man von der für unsere Art typischen schlitzförmigen Pupille absah.
Im Gegensatz zu meinen eigenen Lippen waren Lauries ziemlich schmal.
Meine Rudelsschwester hatte eine ganze Reihe Tatoos, wie beispielsweise ihren Anfangsbuchstaben unterhalb ihrer rechten Schulter, auf ihrem linken Unterarm und an ihrem Knöchel, wo sie noch weitere verspielte Schnörkeleien besaß.
Obwohl unser Altersunterschied nur sehr gering war, ging sie mir gerade mal bis zu meiner Nase. Und ich war schon nicht wirklich groß! Meine 1,72m waren wohl kaum einer Erwähnung wert.
Blonde Ponyfransen verdeckten meine hohe Stirn und teilweise meine hellen Augenbrauen. Mit meinen hübschen Mandelaugen und den beinahe hüftlangen, blonden Locken hatte ich schon so manchen Jungen in die Falle tappen lassen, denn mein Heißhunger auf menschliches Fleisch machte auch vor absoluten Traumboys nicht Halt…
Auch in diesem Moment befand ich mich im Wald auf der Jagd. Nathalie’s Getrampel wurde bald leiser, da sie nicht mehr Schritt halten konnte. Sie blieb stehen, und ich spürte ihren beleidigten Blick in meinem Rücken.
Doch für mich gab es Wichtigeres zu erledigen als eine gekränkte Schwester zu trösten.
Schon bald hatte ich die Quelle des süßen, unvergleichlichen Geruchs in etwa zwanzig Metern Entfernung entdeckt. Hinter den Bäumen sah ich einen vielleicht neunzehnjährigen Teenager joggen. Ich dachte kurz nach. Sollte ich mich jetzt einfach auf ihn stürzen, oder meine Verführungstaktik benutzen?
Das zweite würde natürlich mehr Spaß machen, also entschied ich mich mit einem leichten Grinsen auf den vollen Lippen dafür. Ich rannte parallel an der Straße entlang, die der Junge benutzte, überholte ihn und stellte mich hinter einer Kurve mitten auf den Weg, sodass er mich gar nicht übersehen konnte. Ich spielte ein wenig Theater, keuchte schwer und hielt mir die Seite.
Aus den Augenwinkeln sah ich ihn die Straße entlangkommen.
Er blieb stehen, musterte mich einen Augenblick lang mit diesem „Mann-ist-die-vielleicht-hot-Blick“ und trat dann neben mich.
„Ähm…kann ich dir helfen?“
Ich schloss die Augen und versuchte – wenigstens noch ein paar Sekunden – den köstlichen Duft seines Blutes zu ignorieren.
„Ja, bitte!“, tat ich hilflos, „Ich hab so wahnsinniges Seitenstechen!“
Er nickte verstehend und bot mir an: „Ich kann dich stützen!“
Ich lächelte leicht, wobei ich die Lippen geschlossen hielt, damit er meine Zähne nicht sah, und sagte: „Das ist lieb von dir, aber ich glaube nicht, dass ich laufen kann!“ Dabei sah ich ihn mit meinem Blick an, der jedesmal dieselbe Wirkung zeigte. Ich musste keine Angst haben, dass er meine normalerweise schlitzförmigen Pupillen bemerkte – es war noch so dunkel, dass sie für Menschenaugen natürlich geweitet erschienen, aber doch schon so hell, dass meine Augen einem Betrachter nicht mehr wie ein Fahrradreflektor entgegen strahlten. Allerdings waren meine Pupillen ziemlich groß, etwa so wie die einer Katze, wenn sie sich vor etwas fürchtet.
Der Junge bekam leichtes Herzflattern, sein warmes Blut strömte schneller und betäubend süß durch seine Adern.
„Soll… soll ich dich vielleicht…äh…tragen?“, stammelte er.
Ich nickte leicht. „Das wäre wirklich sehr nett von dir…“
Vorsichtig umschlang er meinen Körper, doch bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte ich seine Handgelenke gepackt und starrte ihm tief in die Augen. Ich lächelte. Hintergründig. Verschlagen.
Bei diesem Grinsen wurden meine Eck- und Schneidezähne sichtbar. Ich konnte es dem Jungen nicht verdenken, dass sein Herzschlag für einen Moment aussetzte, als er sah, dass meine gesamte obere Zahnreihe, abgesehen von den Backenzähnen, spitz und dünn wie Dolche waren, und bei geöffnetem Mund nun leicht über meine Lippen hinausragten.
Panisch wich der schwarzhaarige Teenager vor mir zurück, doch meinem harten Griff konnte er sich nicht entziehen. Ich fuhr mit den krallenbestückten Fingern meiner rechten Hand in sein volles Haar und holte mit der anderen zum tödlichen Schlag aus. Er gab ein entsetztes Keuchen von sich und versuchte vergeblich, sich los zu reißen.
„Tut mir wirklich leid!“, meinte ich achselzuckend, „Aber heute stehst wohl du auf meinem Speiseplan!“
Es war schnell vorbei. Meine scharfen, leicht gebogenen Krallen hatten wie geplant seine Halsschlagader durchtrennt. Normalerweise töteten wir unsere Opfer aber durch einen gezielten Biss, da unsere Zähne wie die von Schlangen Gift enthielten, das in hoher Dosis augenblicklich tötete. Niedriger dosiert führte es zur Verwandlung in einen Venar.
Stück für Stück sättigte ich mich an dem frischen Fleisch des Jungen.
Sein warmes, dunkles Blut lief mir an den Mundwinkeln herunter und tropfte auf mein weißes, zerrissenes Spitzenkleid, das sowieso schon schmutzig von getrockneten Blutflecken war.
In solchen Momenten war es leicht zu vergessen, dass ich einmal wie er gewesen war – ein Mensch, ein Teenager, ein junges Mädchen, das ihr ganzes Leben noch vor sich hatte, das ihrer Zukunft entgegenlebte und jeden Morgen aufwachte und sich fragte, was wohl heute auf sie warten würde. Einem solchen Leben hatte ich gerade ein Ende bereitet.
Ich fühlte mich nicht mehr wie ein Mensch.
Ich war auch kein Mensch mehr.
Ich war ein Tier auf der Jagd, getrieben von seinen Instinkten, das ohne Mitleid tötete, um selbst zu überleben.
Als ich meinen Hunger gestillt hatte, wischte ich mir die klebrigen, rotbraunen Streifen aus dem Gesicht und richtete meine offene Handfläche auf den Toten; beziehungsweise auf das, was noch von ihm übrig war.
Blutrote Flammen zügelten aus ihr hervor und innerhalb weniger Sekunden waren die kläglichen Überreste des Teenagers vom Feuer verzehrt (Eine praktische Fähigkeit, muss ich dazu sagen. Es hat also auch seine guten Seiten, in ständiger Lebensgefahr als Venarin zu existieren.).
Ein winziger Haufen schwarzer Asche blieb auf dem Feldweg zurück und ich schloss konzentriert die Augen, um Nathalie zu orten. Wir konnten die anderen Rudelsmitglieder nämlich spüren, sodass wir immer wussten, wo sie sich gerade befanden.
Laurie zum Beispiel war im Moment zu Hause, ebenso wie Richard, der für mich beinahe wie ein Vater war. Er lebte bereits seit über siebzehn Jahren als das, was er heute war – für einen Venar war das eine unglaubliche lange Zeit. Es war verwunderlich, dass Dad schon so lange als einer von uns existierte. Vermutlich lag es daran, dass er sich stets aus Streitereien und Kämpfen herauszuhalten versuchte.
Kate, die vor dreizehn Jahren von Richard gebissen worden war und die Rolle der Mutter unserer fünfköpfigen Gruppe hatte, hielt sich östlich von mir im Wald auf, etwas mehr als drei Kilometer entfernt.
Auf große Entfernungen konnte man den Ort nicht mehr genau bestimmen, doch je näher man der Person kam, desto genauere Angaben über ihren Aufenthaltsort erhielt man. Wäre ich jetzt beispielsweise ebenfalls zu Hause, könnte ich eindeutig sagen, in welchen Räumen Laurie und Richard sich gerade befanden.
Nathalie brauchte ich im Augenblick eigentlich garnicht zu orten – sie veranstaltete einen solchen Lärm, dass ich sie auch so hätte finden können.
Das laute Knacken und Brechen von Ästen kombiniert mit gereizten Flüchen konnte nur von ihr stammen.
Also rannte ich in Richtung Norden, wo die Geräusche herkamen. Dort traf ich nach weniger als dreihundert Metern auf unsere Rudelsjüngste, die sich gerade den Mund an ihrem gelben T-shirt abwischte.
„Oh!“, machte sie und schaute mich überrascht an, „Wo kommst du denn jetzt her?“
Sie hatte bereits alle Hinweise auf den Kampf, der hier vor wenigen Minuten noch stattgefunden haben musste, auf dieselbe Art wie ich verschwinden lassen. Ihr Oberteil war blutverschmiert, ebenso ihre Wangen und Lippen.
„Um dich zu finden, musste ich dich eigentlich nicht einmal orten!“, spottete ich.
Finster starrte Nathy zu mir hoch. Sie war fast zwei Köpfe kleiner als ich, aber in ihren Augen funkelte es bedrohlich.
„Was willst du damit sagen?“
Ich hatte keine Lust auf einen Tobsuchtanfall.
„Nichts, vergiss es!“, lenkte ich also schnell ein, „Lass uns lieber wieder nach Hause gehen!“
Das Haus, in dem wir seit knapp zehn Jahren lebten, war eine uralte, abrissreife Villa, die schon relativ lange als einsturzgefährdet galt.
Der Putz war fast völlig abgebröckelt und die uralten Möbel zerfallen. Es stand im dichten Wald in der Nähe des Stadtrandes. Deshalb hatten wir es auch als Wohnsitz ausgewählt – es war geschützt vor der Sonne und den Blicken fremder Leute. Die ehemaligen Bewohner dieses Hauses hatten wir leider diskret entsorgen müssen, schließlich war nicht genug Platz für uns alle da.
Und obwohl es nur wenige hundert Meter von den ersten bewohnten Häusern bis hierhin waren, verirrte sich schon seit Jahren niemand mehr zu uns.
Der Grund dafür war simpel – Wanderer, die es in diese Gegend verschlagen hatte, waren nie wieder zurückgekehrt. Dafür hatten wir auf unsere Art Sorge getragen. Sie waren, wie so viele vor ihnen, von uns in aller Seelenruhe ins Haus geschleppt und getötet worden.
Jeder Polizist, Gerichtsvollzieher oder ähnliches, der gehört hatte, dass sich in diesem Haus jemand eingenistet haben sollte, und der vorbei gekommen war, um nach dem Rechten zu sehen, war ebenso geendet. Mit der Zeit kam verständlicherweise niemand mehr. Weder spielende Kinder noch Spaziergänger kamen unserem Wohnsitz zu nahe.
Der Wald war unser Jagdrevier, und er wurde von den Leuten aus der Stadt als der „Damned Forest“ bezeichnet.
Unser Haus selbst stand auf einer winzigen Lichtung, die Haustür lag allerdings sorgfältig im Schatten verborgen, was den Vorteil hatte, dass wir uns in Notfällen auch tagsüber hinaus wagen konnten. Die Sonne würde uns ansonsten töten – eines der wenigen Dinge, die ich an meinem Dasein hasste.
Ich meine: Was zur Hölle sollte das?!
Es war doch einfach lächerlich, sich wie ein Vampir vor der Sonne verstecken zu müssen!
„Also, was ist jetzt? Gehen wir nach Hause oder was?“ Nathalies Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Klar doch, du Nervensäge!“ Ich grinste. „Wir wollen doch nicht, dass du Heimweh nach Mommy bekommst…“

Das fremde Rudel


Zu Hause wartete meine Familie bereits auf uns. Auch Kate war wieder eingetroffen und empfing uns mit den anderen im Flur. Sie war fast einen Kopf größer als ich, und ihr naturblonder Stufenschnitt fiel ihr wie immer locker auf die Schultern, nur selten band sie ihn zusammen.
„Hi! Da bist du ja endlich!“ Laurie umarmte mich stürmisch. Ihre blauen Augen glitzerten freudig. „Schau mal, ich hab ein neues Tatoo!“ Stolz zeigte sie auf ein schwarzes Muster vorne an ihrem Hals, das sie sich wie immer selbst gestochen hatte.
Das war nicht schwierig, denn die millimeterdünnen Tätowiernadeln konnten wir uns leicht unter die Haut stechen, so unverwundbar sie sonst auch gegen menschliche Angriffe war.
„Irgendwann bist du ganz schwarz!“, grinste ich. Bei dieser Vorstellung lachte Nathalie. „Geh dich lieber umziehen, du albernes Kind!“, befahl Laurie und warf einen vielsagenden Blick auf Nathys verschmiertes Oberteil.
„Sharonas Kleid ist genauso dreckig!“, stellte Nathalie beleidigt fest und verzog sich in ihr Zimmer.
„Kleine Kinder…“, seufzte Laurie und verdrehte gespielt theatralisch ihre Augen.
„Stell dich doch nicht so an!“, grinste ich und tröstete sie sarkastisch: „Du warst ja auch mal klein!“
Nathalie kam nach wenigen Sekunden zurück ins Wohnzimmer. Sie zwängte sich gerade in ein hellblaues, einigermaßen sauberes T-shirt und musste sich natürlich gleich wieder einmischen: „Eben!“
Alle Klamotten, die wir besaßen, hatten entweder unseren Opfern oder den vorherigen Besitzern dieses Hauses gehört.
Die Kleiderschränke dieser Familie waren aber mittlerweile wie alle hölzernen Möbelstücke durch die Luftfeuchtigkeit modrig geworden, sodass wir ihr Holz zum Heizen verwendet hatten. Die Kleidungsstücke lagen jetzt in unseren Zimmern verstreut auf dem Boden, und die meisten von ihnen waren ohnehin mittlerweile blutbefleckt.
Der einzige Grund, weshalb wir uns umzogen, war, dass die Kleidung nach der Jagd wegen dem feuchten Blut unangenehm am Körper klebte.
Ohne Nathy zu beachten, sagte ich an Laurie gewandt: „Draußen wird es bald hell. Am besten, wir legen uns schlafen, viel mehr können wir ja eigentlich eh nicht machen!“
„Ja, später! Erst will ich dir etwas zeigen. Komm mal mit!“ Wir ließen Nathalie zurück und gingen vorsichtig, Schritt für Schritt, die zerfallene Treppe nach oben.
„Ich habe echt jedes Mal Angst, dass sie zusammenbricht, wenn ich hochgehe!“, gab Laurie zu.
„Klar – bei deinem Gewicht!“, spottete ich.
„Na warte!“ Laurie stürzte sich auf mich, sodass wir beide zu Boden fielen, und versuchte vergeblich, mich zu erwürgen. „Du weißt schon, dass ich länger als zehn Minuten die Luft anhalten kann?“, fragte ich sie unbeeindruckt.
„Stell dir vor, du könntest es nicht!“, zischte meine Schwester gespielt bedrohlich und drückte noch fester zu, was mich aber nicht besonders störte.
Da wir nicht – wie beispielsweise Vampire – tot waren, mussten wir zwar regelmäßig atmen, aber nicht so oft wie Menschen. Wir konnten die Luft problemlos einige Minuten anhalten, ohne dass es uns etwas ausmachte.
Unter uns knackten die Treppenstufen, und Laurie sprang eilig wieder auf. Gemeinsam gingen wir in ihr Zimmer, und Laurie holte ihre Digitalkamera aus einem der Pappkartons, die sich an ihrer Zimmerwand stapelten. Sie hatte die Kamera letzten Monat von einer Touristin aus einem nahe gelegenen Teil des Waldes geklaut. Natürlich war die Frau daraufhin genauso spurlos verschwunden wie andere vor ihr auch.
Rechts von uns befand sich eine offene Glastür, die auf einen großen Balkon hinausführte. Frische Luft strömte herein und wehte meine Haare nach hinten.
Draußen wurde es langsam etwas heller.
Laurie schaltete die Kamera ein, und ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht, als sie mir ein Kurzvideo zeigte. Darauf zu sehen war Nathalie, wie sie mit großen Sprüngen ums Haus lief, und zwischendurch mit nicht vorhandenen Gegnern kämpfte. Offensichtlich war sie es leid, die Schwächste von uns zu sein, und hatte sich in den Kopf gesetzt, zu trainieren. Ich brüllte vor Lachen los, weil es einfach zu bescheuert aussah, wie meine kleine Schwester ohne ersichtlichen Grund die merkwürdigsten Verrenkungen machte.
Nathy kam die Treppe hoch gelaufen und betrat das Zimmer. „Was ist? Warum lachst du so?“
Blitzschnell löschte Laurie das Video und log an meiner Stelle: „Ich habe ihr einen Witz erzählt!“
„…und der wäre?“, fragte Nathalie misstrauisch. Hilflos sah Laurie mich an.
„Ich erzähle ihn dir, Nathy!“, keuchte ich, und bemühte mich krampfhaft um Fassung, während ich mein Gehirn nach einem Witz durchforstete.
Endlich fiel mir einer ein und ich begann: „‘Daddy, was hat Mommy da eigentlich unter ihrer Bluse?‘, fragt die kleine Tochter ihren Vater. ‚Das sind zwei Ballons, und wenn die Mommy stirbt, dann fliegt sie daran zum lieben Gott in den Himmel!‘, erklärt der Vater.“ Als ich Nathalie’s verständnisloses Gesicht sah, musste ich an das Video denken und prustete erneut los.
Dann erzählte ich mit gepresster Stimme, um mein Gelächter zu unterdrücken, weiter: „Einige Tage später kommt die kleine Tochter ganz aufgeregt in die Garage gerannt und schreit: ‘Daddy, komm schnell ins Haus, die Mommy stirbt!‘ ‚Aber Kleine, wie kommst du denn darauf?‘, fragt der Vater erschrocken.“
Nathalie’s dümmlicher Gesichtsausdruck machte es noch schlimmer und ich fuhr nur mühsam beherrscht fort: „Da sagt die Tochter: ‘Der Briefträger bläst gerade in der Küche ihre Ballons auf und Mommy schreit dabei die ganze Zeit ‘Oh Gott, oh Gott, ich komme!‘“
Während Laurie ungeniert losprustete, schüttelte Nathalie nur genervt den Kopf und verzog sich wieder.
„Hey, du hast mir das Leben gerettet!“, bedankte sich Laurie bei mir, „Nathy hätte mich getötet, wenn sie herausgefunden hätte, dass ich sie heimlich gefilmt habe!“ Sie legte die Kamera weg und wir gingen hinüber in mein Zimmer. Laurie betrachtete die auf dem Boden verstreuten Skizzen, die ich immer malte, wenn mir langweilig war. Es waren hauptsächlich Bleistiftzeichnungen.
Laurie hob eine von ihnen auf. „Du kannst so toll zeichnen!“, sagte sie bewundernd, während sie das Bild betrachtete, „Ich wünschte, ich könnte das auch!“
Dafür war sie selbst eine richtig gute Sängerin, was von mir garantiert niemand behaupten würde.
„Können wir nicht irgendetwas spielen? Du hast doch noch ein paar alte Gesellschaftsspiele in deinem Zimmer herumliegen!“, bat sie.
„Nein, das ist doch langweilig!“, wehrte ich sofort ab, „Darauf habe ich gar keine Lust!“
Laurie presste die Lippen zusammen. „Gut. Dann lass uns Musik hören! Ich habe ja noch den MP3player von dem Mädchen, das vorgestern hier in der Nähe vorbei gekommen ist.“
„Keine Lust!“, erwiderte ich bloß erneut, „Komm, wir gehen in den Wald!“
„Och nee…“ Laurie verzog das Gesicht. „Ich würde aber lieber…“
„Dann gehe ich halt alleine!“, schnitt ich ihr das Wort ab. In Laurie’s Augen blitzte es auf, und sie knurrte gereizt: „Nein, nein! Schon okay. Ich komme mit!“
Übermütig nahm ich Anlauf und sprang in vollem Tempo auf die Brüstung meines Balkons und von da hinunter in den Vorgarten.
„Puh, das war knapp!“, rief ich meiner Schwester zu, als sie langsam und mit einem verkniffenen Ausdruck im Gesicht, den ich nicht deuten konnte, auf den Balkon trat. Beinahe wäre ich in dem kleinen Bachlauf gelandet, der quer durch unseren Garten führte.
Laurie landete neben mir im weichen Gras und wir machten ein kleines Wettrennen. Nach etwa zweihundert Metern blieb meine Schwester stehen und blickte sich um. „Sieh mal, da vorne!“ Sie zeigte auf eine kleine Gruppe Wildkaninchen, die vielleicht zwanzig Meter von uns entfernt herum hoppelten. „Sind die süß!“ Das Lächeln kehrte beim Anblick der kleinen Tierchen auf ihr Gesicht zurück.
„Ich hab sie schon längst gehört!“, erwiderte ich und pfiff schrill auf zwei Fingern, woraufhin die Tiere sofort in ihre unterirdischen Gänge flüchteten.
Auf einmal hob Laurie ruckartig den Kopf. „Riechst du das auch?“
Fragend schaute sie mich mit ihren großen Augen an. Ihre Pupillen waren fast nur noch ein schmaler Schlitz, da die Sonne bereits aufging und ihre Helligkeit sich auch hier unter dem schützenden Blätterdach bemerkbar machte.
Ich sog die Luft ein und nickte. Der Wind, der aus dem Nordosten zu uns herüber wehte, trug einen süßlichen Geruch.
Blut.
„Danke, ich bin satt!“, seufzte ich, „Außerdem habe ich keine Lust, so weit zu laufen. Das ist bestimmt ein Kilometer!“
„Das ist doch gar nicht weit!“, protestierte Laurie, „Komm schon! Wer zuerst da ist…“
„Meinetwegen!“, stimmte ich gnädig zu.
Laurie hatte ein paar Sekunden Vorsprung, und ich schaffte es nicht mehr, sie einzuholen, denn auf einmal hob sie die Hand und wurde langsamer.
„Wir sind gleich da!“
Ich stoppte abrupt. Gemeinsam lauschten wir auf die Geräusche des Waldes. Irgendwo zirpte eine Grille, ein Hund bellte. Es war ein klarer, noch dämmriger Herbstmorgen. Spätherbst, um genau zu sein. Laurie zeigte stumm auf einen dunkelblauen, sich vorwärts bewegenden Fleck auf dem breiten Waldweg vor uns. Ein T-shirt. Sein Träger lief schnell, und der Fleck wippte auf und ab. „Vermutlich ein Jogger!“, meinte ich leise, „Die sind ja alle total verrückt und rennen so früh morgens alleine hier herum… Tja – sein Pech, unser Glück! Ich hab eben auch schon einen erwischt!“
Laurie kicherte und verschwand lautlos zwischen den Bäumen. Ich hörte einen überraschten Aufschrei und dann sagte meine Schwester etwas, was ich nicht verstand. Nach knapp zehn Minuten tauchte sie wieder neben mir auf. „So schnell?“, staunte ich, „Oder hast du vergessen, ihn zu verbrennen?“
„Nein, hab ich nicht!“, grinste Laurie selbstgefällig.
„Was hast du eben eigentlich gesagt?“, wollte ich wissen.
Laurie’s Grinsen wurde breiter. „Ich hab ihn gefragt, ob er denn sein Testament schon geschrieben hat! Und da hat der doch tatsächlich ‚Ja!‘ gesagt!“ Sie lachte. „Ich hab zu ihm nur gemeint ‚Dann gehen wenigstens Ihre Verwandten nicht leer aus!‘ “
„Aber wenn keine Leiche gefunden wird und man nicht mit Sicherheit sagen kann, ob er tot ist, kriegen die Verwandten doch nicht einfach sein Geld, oder?“, gab ich zu bedenken.
Laurie zuckte mit den Achseln. „Egal! Du hast einfach keinen Humor!“ Ihr Gesicht war blutverschmiert, ihr pinkes Oberteil mit Blutspritzern gesprenkelt. „Du solltest dich waschen!“, schlug ich ihr vor. Wir machten uns auf den Weg zum Golden River, dem schmalsten Fluss in der Umgebung.
Etwa wöchentlich kamen wir hierher um zu baden, denn auch wenn man so abgeschottet lebte wie wir, war Körpergeruch nicht wirklich angenehm. Wir mussten uns zum Glück nicht so oft waschen wie Menschen, denn unsere Körper produzieren Schweiß und ähnliches viel langsamer.
Wir legten unsere Kleidung ab und begannen uns ohne große Umschweife zu waschen. Es war uns längst nicht mehr peinlich, nackt zu sein – daran hatten wir uns bereits vor Jahren gewöhnt.
Es ist, als wäre man ständig in der Sauna oder an einem FKK-Strand. Irgendwann ist die Nacktheit alltäglich und man achtet nicht mehr darauf.
Laurie entfernte die Blutspuren auf ihren Wangen und in ihren Mundwinkeln, und als wir uns wieder angezogen hatten, wanderten wir ziellos durch den Wald.
Plötzlich blieb meine Schwester stehen und blickte angestrengt in eine bestimmte Richtung. „Ich habe etwas gehört!“, erklang ihre aufgeregte Stimme in meinem Kopf, „Da unterhalten sich irgendwelche Leute. Aber ich bin sicher, dass es keine Menschen sind!“
„Wie viele sind es denn?“, fragte ich. Noch hörte ich nicht das Geringste.
„Weiß ich nicht. Sechs oder sieben, könnten aber auch acht oder sogar neun sein!“, antwortete sie unsicher.
„Lass uns vorsichtig nachsehen!“
Doch wir waren kaum fünfzig Meter weit gekommen, als Laurie zusammenfuhr. „Sie haben uns gehört! Sie kommen hierher!“
Ich lauschte konzentriert, und jetzt hörte auch ich die leisen, sich nähernden Schritte. „Es sind Venaren, richtig?“
Laurie nickte. „Ich denke schon, sonst hätten sie uns nicht hören können! Weitergehen oder weglaufen?“
Ich dachte nach und versuchte, die Situation abzuschätzen. Es war gefährlich, dem war ich mir durchaus bewusst. Aber das hier war noch immer unser Revier, also hatten die Fremden hier gar nichts zu suchen.
„Weitergehen!“, entschied ich deshalb stur.
Nicht mal eine halbe Minute später standen wir ihnen gegenüber. Sie waren zu siebt. Niemand sagte ein Wort – jeder wartete, dass der andere etwas sagte. „Eine schöne Nacht heute, oder?“, begann der Braunhaarige, der viel kräftiger gebaut war als die anderen, schließlich, als die Stille unbehaglich wurde.
Er schien ihr Anführer zu sein.
„Zu blöd, dass sie längst vorbei ist!“, gab ich schnippisch zurück.
„Ich bin Visar!“, stellte er sich vor, „Und das hier ist mein Rudel!“
Sie lächelten uns zu – ein höfliches Lächeln, kein freundliches. Der neue Clan verströmte einen eigenartigen, neuen Geruch, den ich noch nicht kannte. Er roch nach feuchtem, altem Holz, nach Laub und, verwirrenderweise, nach Weihrauch.
Sie lebten eindeutig nomadisch – zogen von Stadt zu Stadt, Dorf zu Dorf, und nahmen sich auf ihrem Streifzug, was ihnen über den Weg lief. Das erkannte ich daran, dass sie alles, was ihnen zu gehören schien, in ihren Taschen bei sich trugen.
Erst jetzt registrierte ich, dass es sich bei ihnen um Vampire handelte – ihre Haut schimmerte ungewöhnlich blass, und im Gegensatz zu unseren waren nur ihre Eckzähne spitz.
Vampire ernährten sich bloß von dem Blut ihrer Beute und versteckten den restlichen Körper irgendwo, da sie nicht die Fähigkeit besaßen, ihn zu verbrennen. Manchmal ließen sie ihn aber auch einfach an Ort und Stelle liegen, was bei ihnen des Öfteren dazu führte, dass Menschen ihrer Identität auf die Schliche kamen und Jagd auf sie machten.
Deshalb waren Vampire bei uns Venaren auch nicht unbedingt beliebt – schließlich konnte durch ihr Handeln ebenso jederzeit unsere eigene Existenz entdeckt werden!
Vampire besaßen ganz normal geformte Pupillen und hatten ihre menschliche Augenfarbe behalten. Ihre Augen reflektierten im Dunkeln nicht.
Die einzige Gemeinsamkeit, die Vampire mit Venaren haben, war die Tatsache, dass sie bei Sonnenkontakt verbrannten. Um sie bei einem Kampf zu töten, musste man sie – ebenso wie wir es untereinander taten – mit dem Feuer aus unseren Handflächen verbrennen. Da Vampire das umgekehrt bei uns nicht konnten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als uns die Köpfe abzutrennen, weil damit das Gehirn, das für die Steuerung des Körpers zuständig ist, keine Verbindung mehr zu den Muskeln und Nerven hat. Vampire waren etwas stärker als Venaren, deswegen stellte das für sie in der Regel kein Problem dar.
Eine Frau mit langen, braunen Locken musterte uns mit neutralem Desinteresse. Sie trug ein schwarzes, knielanges Kleid und mehrere Lederarmbänder an ihrem linken Handgelenk.
Die blonde Vampirin neben ihr starrte Laurie fast schon penetrant an.
Der rote, enge Rock und das bauchfreie Glitzeroberteil betonten ihre schlanke Figur. Um ihren Hals baumelte eine lange Perlenkette. Sie sah schwach aus, wie ein Modepüppchen, aber geballte Muskelstränge in ihren Oberarmen verrieten jedem aufmerksamen Betrachter ihre Gefährlichkeit.
Der schwarzhaarige Mann hinter ihr, der ihr seine Hand auf die Schulter gelegt hatte, gehörte offensichtlich zu ihr.
Einer der Vampire schaute so betont interessiert auf seine Füße, als wären sie ihm gerade zum ersten Mal aufgefallen.
Der Dunkelblonde neben ihm starrte genau wie die blonde Frau Laurie an, aber die Punkerin mit dem platinblonden Bob, deren Hand er hielt, warf ihm aus ihren braunen Augen einen scharfen Blick zu, so als wäre sie eifersüchtig. Sie hatte drei Ohrringe im rechten, und einen im linken Ohr. Das Tatoo neben ihrem Bauchnabel zeigte eine aufgerichtete, zischende Kobra.
Sie trug einen unglaublich kurzen, rot-schwarz karierten Minirock und ein blutrotes Oberteil, das einem Triangel-Bikini garnicht so unähnlich war.
Das gesamte Rudel lief barfuß. Ihre Füße waren dreckig, doch dass schien sie nicht zu stören.
„Tut mir sehr leid, aber das hier ist unser Jagdrevier!“, machte ich sie nach einer langen Schweigepause auf die Umstände aufmerksam.
Wenn die Vampire hier in der Gegend blieben, bestand für uns die Gefahr, dass sie eines oder mehrere ihrer Opfer einfach für jedermann ersichtlich liegen ließen, und jemand sie bemerken würde.
Die Folgen wären offensichtlich – es würde von Seiten der Menschen etliche Suchaktionen geben, und möglicherweise würde auch die Existenz unserer Art bemerkt werden. Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass Menschen gegen uns nichts ausrichten könnten, aber wer wusste, was sie sich einfallen lassen würden, um das zu ändern? Menschen waren unglaublich hartnäckig, wenn es darum ging, Dinge zu vernichten, die ihnen im Beherrschen der Erde Konkurrenz machten und ihnen gefährlich wurden.
Visar schien meine Gedanken zu erraten.
„Wir werden nicht lange bleiben!“, versprach er.
„In der Tat!“, zischte ich bestätigend, „Ihr werdet nämlich auf der Stelle weiterziehen!“ Ich fauchte drohend, um den Ernst meiner Worte deutlich zu machen. Visar beugte sich leicht vor und knurrte mich an, wobei er seine langen Eckzähne entblößte.
Laurie zog mich einen Schritt zurück. „Verdammt, lass das! Sie sind viel stärker als wir, und sie sind in der Überzahl!“, beschwor sie mich.
Ich musterte Visar mit feindseligem Blick, doch ich beschloss auf meine Schwester zu hören, weil ich genau wusste, dass sie recht hatte. Visar und sein Rudel würden uns im Falle eines Kampfes auf der Stelle töten – und dass, obwohl sie sich in unserem Revier befanden.
Diese Tatsache reizte mich bis aufs Blut, aber ich beherrschte mich eisern. Langsam trat ich einen Schritt zurück, um den Fremden zu zeigen, dass ich nicht mehr auf einen Kampf aus war. „Wie du meinst. Aber wir werden es Kate und Richard erzählen. Sie werden wissen, was zu tun ist!“
Visar richtete sich wieder auf und starrte mich aus seinen dunkelgrünen Augen überlegen an. Ich bleckte warnend meine dolchartigen Zähne und wandte mich dann abrupt um.
„Lass uns gehen. Sollen sie doch ihren Willen durchsetzen – sie werden schon sehen, was sie davon haben!“, schimpfte ich zornig. Mit einem leisen Knurren verließen wir den Vampirclan und machten uns durch den bedrohlich heller werdenden Wald eilig auf den Weg nach Hause.

Der Streit


Laurie, Nathy und ich saßen im Wohnzimmer auf einem vergilbten und durch die Luftfeuchtigkeit modrigen Sofa. Seit der Begegnung mit den Vampiren war erst eine Nacht vergangen.
Wir hatten Mom und Dad doch nichts von ihnen berichtete, denn wir wollten sie nicht beunruhigen.
Außerdem war der Clan wahrscheinlich längst weiter gezogen.
Nathy las einen alten Roman, dessen dünne Seiten brüchig und gelb geworden waren. „Das Geisterhaus“ lautete der Titel. Sie war etwa in der Mitte des Buches angelangt, und Laurie fragte interessiert: „Und, ist es spannend?“
Nathalie zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Naja, manchmal schon.“
Laurie gab sich damit nicht zufrieden und nahm der Rudelsjüngsten das Buch aus der Hand. Nathy konnte dagegen nichts ausrichten – sie kniff nur zornig die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander, denn sie durfte nichts gegen ein älteres Rudelmitglied unternehmen.
Laurie suchte einen Anhaltspunkt und begann, laut vorzulesen: „Clara ließ sich zu allem Zeit. Nach zwei Wochen flatterten neue Vögel in den alten Käfigen, und sie hatte sich eine Porzellanprothese machen lassen, die sich mittels eines im…inege…ingenö…“
„Ingeniös!“, half Nathy ihr mit verärgertem Unterton auf die Sprünge.
„Ääh…genau. Also… die sich mittels eines ingeniösen Mechanismus an ihren Backenzähnen festmachen ließ, …“ Sie begann breit zu grinsen und fuhr fort: „…aber das Gebiss war so unbequem, dass sie es vorzog, es an einem feinen Kettchen am Hals zu tragen. Nur zum Essen und zu Gesellschaften setzte sie es ein.“ Nun konnte Laurie sich nicht mehr beherrschen und prustete los.
Nathalie, rot vor Zorn und Scham, entriss ihr das Buch, Rangfolge hin oder her. „Du gemeine Kuh!“, zischte sie und fauchte aufgebracht. Doch Laurie musste zu sehr lachen, um sich darum zu scheren, dass Nathy sie trotz ihres niedrigen Ranges angefeindet hatte.
Hoch erhobenen Hauptes stolzierte Nathalie mitsamt ihrem Buch aus dem Raum und verschwand zutiefst gekränkt in ihrem eigenen Zimmer.
„Und ? Was machen wir jetzt?“, fragte ich, als Laurie sich wieder beruhigt hatte. „Wir könnten in den Wald gehen.“, schlug Laurie vor.
„Nein, dazu habe ich keine Lust!“, wehrte ich ab, „Lass uns besser zeichnen oder so etwas.“
„Du weißt, dass ich nicht zeichnen kann und es auch nicht möchte!“, erwiderte Laurie verstimmt.
„Aber im Wald waren wir erst gestern!“, erinnerte ich sie.
Laurie funkelte mich verärgert an, sagte aber nichts.
„Du brauchst jetzt auch gar nicht beleidigt zu spielen!“, schnauzte ich unfreundlich.
Meine Schwester sprang auf und ballte ihre Hände zu Fäusten. In ihren Augen blitzte es zornig. Sie leuchteten wie die einer Katze in der Nacht, im Scheinwerferlicht eines sich nähernden Autos. „Was soll das? Denkst du etwa, du hättest mir etwas zu sagen?! Immer geht es nur nach deiner Nase, nie gehst du mal auf meine Ideen ein!“
„Heul doch!“, war mein einziger Kommentar. Im Nachhinein gebe ich zu – es war gemein von mir, das zu sagen.
Wutentbrannt schrie Laurie: „Meinst du vielleicht, ich lasse alles mit mir machen?! Immer willst du bestimmen, was wir machen, und es interessiert dich überhaupt nicht, wenn ich keine Lust dazu habe! Du bist so verdammt egoistisch!“
Verletzt musste ich mir eingestehen, dass Laurie die Wahrheit sagte – in den letzten Wochen hatte ich tatsächlich immer alles bestimmt, was wir machten. Die Tatsache, dass meine Schwester im Recht war, machte mich wütend auf mich selbst.
Und diese Wut ließ ich nun ungerechterweise an Laurie aus: „Achja?! Ich bin also egoistisch?! Na bitte, wenn du meinst – dann verschwinde doch und geh jemand anderem auf die Nerven! Später kannst du von dem dann ja auch behaupten, er wäre egoistisch, nur weil du nicht die ganze Zeit deinen Willen bekommst!“
Laurie schluckte. Ihr Kinn bebte und sie stieß mit brüchiger Stimme hervor: „Meinetwegen! Anscheinend ist es das, was du mit deiner Ego-Nummer bezwecken wolltest – mich hier rausekeln! Aber was habe ich dir denn getan?“ Tränen traten ihr in die Augen.
„Laurie…“ Jetzt tat es mir wahnsinnig leid, was ich ihr in meinem Zorn an den Kopf geworfen hatte. „Ich meinte doch bloß, dass…“
„Ach, lass mich einfach in Ruhe.“ Laurie schüttelte schwach den Kopf und ihr Blick wurde trübsinnig.
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und sagte leise: „Ich gehe ja schon! Dann hast du deinen Willen wieder mal durchgesetzt!“
„Verdammt, Laurie!“ Bestürzt hielt ich ihren Arm fest, als sie sich abwandte, um aus dem Zimmer zu gehen. „So habe ich das nicht gemeint!“
Laurie riss sich von mir los und bleckte ihre Zähne. Ein leises Zischen kam aus ihrer Kehle und sie sagte beinahe tonlos: „Lass mich in Ruhe! Und fass mich nie wieder an! Ich werde jetzt von hier verschwinden. Du kannst Mom und Dad ja erklären, weshalb ich weg bin, wenn sie nach Hause kommen!“
Sie drehte sich zur Tür und wollte gerade hinausgehen, als ich wieder ihren Arm packte. „Bitte, Laurie! Bleib hier!“, flehte ich panisch, „Es tut mir leid!“
„Vergiss es. Für deine Entschuldigungen ist es zu spät!“ Laurie’s Blick wurde eiskalt, als sie weitersprach. „Ich werde die Vampire aufsuchen und mich ihnen anschließen. Überall ist es besser als hier bei dir! Du wirst nie wieder etwas von mir hören.“
Sie lachte so voller Spott, dass es mir einen Stich versetzte, als sie mit einem sarkastischen Unterton ergänzte: „Herzlichen Glückwunsch, Sharona. Du hast es geschafft! Du bist deine eigene Schwester für immer losgeworden…“
Und ehe ich reagieren konnte, war Laurie zur Tür hinaus.

Wo ist Laurie?


„Laurie, wo bist du?“
-
„Laurie, verdammt! Komm schon, antworte mir bitte! Laurie?“
Es war die erste Nacht nach Laurie’s Verschwinden. Ich hatte die ganze Zeit über gehofft, Laurie würde zur Vernunft kommen und zu uns zurückkehren. Doch eigentlich hätte ich wissen müssen, dass sie viel zu stolz war, um mir diesen Gefallen zu tun. Sie ließ sich nicht mehr blicken. Kate und Richard hatten Laurie’s Abwesenheit noch nicht bemerkt, da sie gestern nicht mehr in unsere Zimmer gekommen waren.
„Laurie? Laurie!!!“ Ich stand kurz davor, hysterisch zu schreien.
Das Schweigen auf meine verzweifelten Rufe machte mich wahnsinnig! Nervös ging ich im Wohnzimmer auf und ab.
„Laurie! Verdammt, wo bist du?!“
Aber da war einfach nichts. Ich spürte nicht wie sonst Laurie’s „Aura“ in meinem Kopf. Sie war weg. Ich konnte sie nirgends spüren, und hatte deshalb keine Ahnung, wo sie sich gerade befand.
Aber das hieß, Laurie hatte den Vampirclan gefunden und sich ihm bereits angeschlossen!
Ich wollte es einfach nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben!
„Das…das würde Laurie mir nie antun!“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Aber wenn sie sich nicht dem anderen Rudel angeschlossen hatte, und ich sie trotzdem nicht spüren konnte, dann war die einzige noch offene Möglichkeit, dass sie tot war.
Und das war jetzt nicht gerade eine wirklich beruhigende Alternative.
Ich rannte die Treppe hoch und stürzte nach rechts, zum Zimmer meiner Eltern, dessen Tür der von Laurie schräg gegenüber lag. Mom und Dad waren wie immer den ganzen Tag wach gewesen, statt zu schlafen. Das war für uns kein Problem – wenn wir Lust hatten, konnten wir zwar wie normale Menschen schlafen, mussten es aber nicht zwingend.
„Dad!“, rief ich aufgebracht und riss die hölzerne Zimmertür etwas zu schwungvoll auf. Du dunkelbraunen, schweren Vorhänge vor dem Balkon waren aufgezogen, da es draußen dunkel war und keine Gefahr durch die Sonne drohte.
Dad’s Kopf schnellte in meine Richtung und alarmiert schaute er mir in die Augen, ohne die abgerissene Türklinke zu beachten, die ich nun verwirrt in meiner bebenden, linken Hand hielt.
Bis auf ein Paar schwarze Boxershorts war Richard nackt, und er wandte mir seinen breitschultrigen und muskelbepackten Oberkörper zu, als ich jetzt ins Zimmer trat. Durch die schnelle Kopfbewegung fielen ihm seine langen Stirnlocken ins Gesicht, doch er beachtete es gar nicht. Er wusste, wenn ich ihn so ansah wie jetzt, war etwas Schreckliches geschehen.
Ich warf die rostige Klinke der Schlafzimmertür zu Boden und schilderte hektisch und so schnell es ging, was geschehen war. Dad war so schockiert, dass er mich nur mit offenem Mund anstarrte, während ich alles so hastig herunter spulte, dass sich meine Worte überschlugen. Ich berichtete von dem Streit, von dem, was Laurie gesagt hatte, und von ihrem spurlosen Verschwinden, sowie von dem fremden Clan.
Als ich geendet hatte, schoss Richard von einem alten, harten Kiefernholzstuhl, auf dem er gesessen hatte, hoch.
„Das gibt’s doch nicht!“, entsetzte er sich. Innerhalb weniger Sekunden hatte er sich angezogen, während ich ununterbrochen von einem Bein aufs andere trat. „Sie muss sich den Vampiren angeschlossen haben!“, jammerte ich schuldbewusst. Warum hatte ich sie auch nur so provoziert? Nur wegen mir war sie gegangen! Ich war total verzweifelt und begann, wie eine nervöse Katze von rechts nach links durch den Raum zu laufen.
„Keine Panik!“, versuchte Kate mich zu beruhigen, „Wir… wir kriegen das schon wieder hin!“ Aber dann zögerte sie doch. „Ich hoffe es zumindest…“
Jetzt tauchte auch Nathalie im Türrahmen auf. „Was ist los? Und wo ist Laurie?“
Ich wiederholte, was geschehen war und Nathy flitzte nach unten in ihr Zimmer, um sich umzuziehen.
Im Gegensatz zu Kate und Richard hatte sie den ganzen Tag über geschlafen und trug einen alten, gelb-grünen Jogginganzug. Wenn wir nichts anderes zu tun hatten, schliefen wir tagsüber meistens, aber es war wie gesagt nicht unbedingt notwendig.
„Wir teilen uns bei der Suche auf!“, befahl Dad, als meine kleine Schwester wieder da war, „Kate, du suchst in Richtung Süden nach Laurie! Nathalie – du kommst mit mir. Wir suchen Norden und Westen ab! Sharona…“
„Ich such im Osten, schon klar!“, fiel ich ihm ins Wort. Dad nickte und griff nach Nathalie’s Hand. Gemeinsam rannten sie die Treppe hinunter nach draußen.
Auch ich lief sofort hinaus, dem Osten zu.
Ich rannte immer weiter, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben. Hochkonzentriert lauschte ich auf jedes Geräusch, achtete auf jeden Geruch. Doch Laurie war und blieb verschwunden.
„Wo könnte sie bloß stecken?“, grübelte ich, „Sie kann doch nicht einfach weg sein!“
Plötzlich stutzte ich – etwas knackte leise, kaum hörbar im Unterholz und ich zuckte zusammen. Laurie?
Es roch nicht nach ihr. Eher nach Holz, Laub…und Weihrauch. Zwischen den Bäumen erschien eine Gestalt, so lautlos wie ein Schatten.
Doch es war keiner.
Es war der braunhaarige Rudelsführer, der sich als Visar vorgestellt hatte.
Er trug ein schwarzes, an der linken Schulter von Krallen zerfetztes T-shirt, das eng an seinem durchtrainierten Oberkörper anlag.
Sein muskulöses Aussehen schüchterte mich ein, doch ich hütete mich davor, meine Angst zu zeigen. Es war der größte Fehler, den man nur machen konnte, wenn man vor einem Unbekannten Schwäche oder gar Furcht zeigte.
Ein solcher Fehler wurde zumeist gnadenlos ausgenutzt.
„Deine Schwester ist nun eine von uns!“, sagte Visar ohne Einleitung und schien mich mit seinem kalten Blick durchbohren zu wollen, „Hört auf, nach ihr zu suchen! Es ist sinnlos, sie wird nicht zu euch zurückkehren. Sie hat sich unter vollem Bewusstsein dazu entschlossen, nun zu uns zu gehören. Durch meinen Biss ist sie zu einer Vampirin geworden und gehört deshalb auch rechtlich zu meinem Rudel. Im Übrigen haben wir ihr einen neuen Namen gegeben – sie heißt von nun an Valeria. Geh jetzt nach Hause! Sie wird keinen von euch vermissen, denn sie hat eine neue Familie. Valeria ist schnell, geschickt und klug. Wir können sie gut gebrauchen und werden sie euch nicht mehr kampflos überlassen!“
„Dann kämpfen wir! Ich werde Laurie nicht aufgeben!“, schrie ich hysterisch. Meine Stimme brach, so hoch war sie bei den letzten Wörtern geworden. „Sie ist meine Schwester! Hast du das verstanden?! Meine Schwester! Und ich lasse nicht zu, dass ihr irgendetwas daran ändert!“
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und hoffte, meine Worte hätten bei Visar Eindruck gemacht, doch der herzlose Vampir hatte für mich nur ein spöttisches Lachen übrig. Noch ein leises Knacken, ein kurzes Rascheln, dann war er im Unterholz des dichten Waldes verschwunden. Meine Wut war auf einmal wie weggeblasen und wich dem Entsetzen über die Erkenntnis, dass ich Laurie vielleicht wirklich niemals wiedersehen würde.
Wie betäubt stand ich da und starrte einfach nur in den dichten Wald.
Er kam mir auf einmal so einsam und leer vor wie nie zuvor.
Nirgends sah ich auch nur ein einziges Tier.
Alles war still.
„Nein!“, dachte ich.
Es blieb still.
„Nein!“, schrie ich.
Zwei Vögel flogen auf.
Vor meinen Augen verschwammen die sonst so scharfen Konturen.
„Laurie!“, dachte ich, „Warum hast du das getan?“
Ich wusste, sie konnte mich nicht hören – nur Mitglieder eines Rudels können sich untereinander verständigen, und Laurie lebte nun in einem anderen Rudel als ich.
Durch den Biss von Visar gehörte sie jetzt endgültig zu den Anderen.
Am liebsten hätte ich geschrien. Einfach immer weiter geschrien, bis mein Hals so rau war, dass ich keinen Ton mehr hervorbrachte.
Doch ich war wie gelähmt vor Entsetzen, nicht fähig, den Mund auch nur zu öffnen.
„Jetzt ist alles vorbei!“, dachte ich, „Es ist zu spät! Ich sehe Laurie niemals wieder! Wieso habe ich das auch zu ihr gesagt? Warum habe ich nicht einfach meine Klappe gehalten? Sie hatte ja recht! Sie hatte so verdammt recht!“
Ich fiel auf die Knie und schlug die Hände vor mein Gesicht.
„Du hattest ja recht!“, wiederholte ich schluchzend, „Und es tut mir so leid!“
Zitternd nahm ich die Hände herunter und hob den Kopf.
Für einige Sekunden saß ich einfach wie erstarrt da, dann löste sich ein Knoten in meinem Hals, und ich konnte wieder schreien.
„Es tut mir doch leid!“, brüllte ich in die Stille des Waldes, „Verdammt noch mal, es tut mir leid! Also lass deinen Scheiß-Stolz da, wo er ist, und komm endlich wieder zu uns zurück, Laurie!“
Doch die einzige Antwort war die weiterhin anhaltende Stille, die mich einhüllte wie in ein kaltes Tuch.
„Es ist alles aus!“, dachte ich und verlor für einen Moment das Gefühl in meinem Körper, „Laurie wird nicht mehr zurückkehren! Nie mehr! Und das ist meine Schuld! Allein meine Schuld!“
Nachdem ich einige Male tief durchgeatmet hatte, glaubte ich, mich wieder in der Gewalt zu haben. Selbstvorwürfe waren hier absolut fehl am Platz.
Ich musste handeln. Und zwar sofort!
Mühsam erhob ich mich aus der weichen Erde. Meine nackten Knie waren dreckig, doch ich achtete kaum darauf. Ich rannte los, schneller als je zuvor.
Zurück nach Hause.

Probleme


„Ich drehe durch!“, dachte ich, „Wie konnte Laurie uns das bloß antun? Wie konnte sie mir das antun?!“
Unruhig lief ich im Zimmer von einer Seite auf die andere. Ich hatte den anderen bereits durch Gedankenübertragen erzählt, dass ich jetzt eindeutig wusste, was mit Laurie geschehen war und dass sie wieder nach Hause kommen sollten. „Wir machen uns sofort auf den Weg!“, hatte Dad versprochen. Das war schon fünfzehn Minuten her. Fünfzehn Minuten, in denen ich fast verrückt vor Sorge um Laurie wurde.
Was tat das andere Rudel gerade mit ihr? War Laurie schon auf der Jagd?
Wenn ja, wo? Ich hoffte verzweifelt, dass sie jetzt nicht absichtlich in der Öffentlichkeit jagte – in ihrem Trotz und Zorn traute ich ihr eine solche Reaktion zu. Ich musste mir Gewissheit verschaffen, sonst hatte ich keine ruhige Minute mehr.
„Dad!“, rief ich also, „Ich warte nicht mehr auf euch! Ich gehe…“
„Wir sind schon da!“, grinste Dad.
„Oh!“ Ich drehte mich um. „Hi Dad, hi Nathy! Hi Mom!“
„Also nochmal bitte. Du hast gesagt ‚Ich gehe…‘!“, erinnerte mich Richard. „Achja…ich wollte runter in die Stadt, weil ich Angst hatte, dass Laurie vielleicht…also…du weißt schon!“
Richard nickte zustimmend, doch seine Miene verfinsterte sich bei dem Gedanken, dass Laurie vielleicht gerade jemanden in aller Öffentlichkeit umbrachte. „Mach nur!“
„Darf ich mit?“, fragte Nathy.
„Nein, ganz bestimmt nicht!“, wehrte ich ab und spielte für einen Moment große Schwester: „Dafür bist du noch zu klein!“
Nathalie fauchte grimmig, aber ich grinste nur und schnappte mir meine Kapuzenjacke, die im Flur an einem brüchigen Kleiderständer aus Metall hing.
Eigentlich brauchte ich ja keine, da es noch nicht so kalt war, dass es mir etwas ausmachte, aber ohne Jacke würden die Menschen mich bei den momentanen Temperaturen für verrückt halten.
Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Nur wenige Autos fuhren an mir vorbei. In einem saßen grölende Jugendliche, die ihre Schnapsflaschen aus den offenen Fenstern hielten und mir hinterherpfiffen. Sie waren alle komplett betrunken, es roch bis hierhin nach Alkohol. Ihr Blut stank widerlich, weil der Alkohol den Geruch bitter und scharf werden ließ. Vor allem fuhr das Auto in ziemlich gewöhnungsbedürftigen Schlangenlinien.
Ich bog genervt in eine Gasse ein. Hoffentlich hielten diese Idioten nicht auch noch an!
Zwei Männer kamen mir entgegen, beide etwa Mitte dreißig. Langsam und betont unauffällig schlenderte ich die schmale Straße entlang. Plötzlich stutzte ich. Auf dem Boden vor mir zeichnete sich ein ungewöhnlicher Schatten ab und ich schaute reflexartig nach oben. Am Rand eines flachen Hausdaches, die schwarz lackierten Zehen und Finger um die die Dachrinne geklammert, hockte Laurie und starrte auf die beiden sich nähernden Männer herab. Sie rührte sich nicht. Nur ihre Schultern hoben und senkten sich, wenn sie atmete.
„Laurie!“, zischte ich. Als ich mich verbesserte, weil sie nicht reagierte, spürte ich einen leichten Stich. Ich wollte diesen Namen nicht aussprechen. „Va…Valeria!“ Meine Unterlippe zitterte.
Langsam, ganz langsam drehte Laurie ihr Gesicht in meine Richtung. Ihre Augen waren pechschwarz geschminkt, stachen aus ihrem farblosen Gesicht hervor.
Ihr eiskalter Blick musterte mich emotionslos. Nur für einen kurzen Moment flackerte Unsicherheit in ihren seit der Verwandlung in eine Vampirin dunkelgrünen Augen auf, doch dann schien sie sich endlich daran zu erinnern, wer ich war. „Hau ab!“, fauchte sie, beide Wörter einzeln betonend. Hochkonzentriert wandte sie sich wieder ihrer Beute, den zwei Männern, zu.
Ein leichtes Beben ging durch ihren Körper.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Visar hatte sie tatsächlich gebissen! Laurie besaß wieder die Augenfarbe, die sie als Mensch gehabt hatte, und ihre oberen Schneidezähne hatten eine normale Form. Nur die Eckzähne waren weiterhin lang und spitz.
Wie hatte Visar es wagen können, meine eigene Schwester dem Risiko einer Verwandlung in eine Vampirin zu unterziehen?! War die Dosis des Giftes zu niedrig, konnte es passieren, dass das Opfer für immer in dem Verwandlungszustand blieb, was vergleichbar mit dem menschlichen Koma war. War die Dosis jedoch zu hoch, konnte das Opfer – egal ob Mensch oder Venar – sterben.
Mein Körper bebte vor Zorn. Visar hätte Laurie versehentlich töten können!
Lachend und herumalbernd kamen die zwei jungen Männer, die weder meine Schwester noch mich bemerkten, immer näher. Laurie spannte ihre Muskeln an. Hilflos stand ich da, wusste nicht, wie ich die beiden vor der tödlichen Gefahr warnen könnte, ohne zu verraten, was für ein Wesen sie da angreifen wollte.
Dann war es schon zu spät.
Laurie sprang katzengleich von ihrem Posten und landete auf allen vieren nur wenige Meter vor den Männern. Sie gestattete sich ein kurzes Grinsen, als sie ihre erschrockenen Gesichter sah, und riss dem linken von ihnen in einer fließenden Bewegung einfach den Kopf ab.
Mit offenem Mund starrte ich meine Schwester an.
Blut ergoss sich über den Boden, kaum dass der tote Körper auf den kalten Asphalt gesackt war. Es roch gut, fast zu gut, obwohl die Szene, die sich mir bot, einfach nur abstoßend war.
Es war unmenschlich.
Als Monster denkend würde ich sagen, reine Blutverschwendung.
Der andere Mann schrie auf, stolperte einige Schritte zurück und floh panisch. Laurie schenkte ihm jedoch keinerlei Beachtung, sondern ließ den abgetrennten Kopf zu Boden fallen und begann seelenruhig, das aus dem Körper fließende Blut ihres Opfers zu trinken. Wie versteinert stand ich hinter ihr, unfähig mich zu bewegen. Laurie wandte sich kurz zu mir um und stieß ein kurzes, drohendes Fauchen aus, das deutlich sagen sollte: Nimm mir nicht meine Beute weg!
Notgedrungen musste ich dem flüchtenden Mann folgen und ihn töten – er durfte einfach niemandem von dieser Begegnung erzählen!
„Tut mir wirklich leid!“, murmelte ich entschuldigend in sein Ohr, bevor ich zubiss und mein Gift sich blitzschnell in seinem Körper ausbreitete. Es war schnell vorbei.
Als ich ihn verbrannt hatte und zurückkehrte, war Laurie gerade fertig mit ihrer Mahlzeit. Genau wie ich es mir gedacht hatte, schenkte sie ihrer Beute keinerlei Beachtung mehr, sondern ließ sie einfach liegen und verschwand lautlos über die Dächer.
Ich lud mir den Toten auf die Schulter und nahm seinen Kopf unter den Arm. Die aufgerissenen Augen schienen mich entgeistert anzustarren.
Tiefrotes Blut tropfte von den kurzen, blonden Haaren und lief warm und dickflüssig an meiner Hand herunter.
Mir wurde allein deshalb bei diesem Anblick nicht übel, weil der süße Duft des Blutes mir die Sinne vernebelte, und ich genug damit zu tun hatte, gegen meinen Hunger anzukämpfen.
Fassungslos schüttelte ich den Kopf.
War Laurie verrückt geworden?
Sie konnte doch nicht einfach vor den Augen eines Anderen jemanden umbringen, und ihr Opfer dann auch noch mitten auf der Straße liegen lassen!
Wäre ich nicht gewesen, hätte der Mann, den ich töten musste, der Polizei davon erzählt und man würde Jagd auf uns alle machen!
Ich schlich lautlos den Weg entlang, um erstmal außerhalb der Sichtweite zu sein, falls jemand einen Blick in die Gasse werfen sollte, und verbrannte auch diesen Toten am Ende einer Straße, die sich als Sackgasse entpuppte.
„Laurie!“, murmelte ich vor mich hin, „Du bringst uns alle in Schwierigkeiten!“

Jetzt reicht´s


Seit dem Vorfall war genau eine Woche vergangen.
Mom, Dad, Nathy und ich hatten uns fast komplett geändert – Kate war ernst und still geworden. Sie lachte nicht mehr und manchmal trat ein ungläubiger und trauriger Ausdruck in ihre Augen.
Richard war ständig schlecht gelaunt und meckerte herum.
Nathalie schrieb depressive Dinge in ihr Tagebuch und zog sich komplett zurück.
Nicht, dass ich ihr hinterher spionierte, aber vor zwei Tagen hatte es offen auf dem Boden gelegen, während Nathy auf der Jagd war.
Ich konnte nicht widerstehen.

„Sonntagabend“, las ich,
„Laurie ist weg. Sie hat sich einem fremden Rudel angeschlossen, sagt Sharona. Weil sie Angst hat, dass Laurie jagen geht, ist sie eben zur Stadt gelaufen. Als sie wiederkam, wollte erzählte sie nur, es sei zu spät gewesen: Laurie hätte schon einen jmdn. getötet und sie hätte in letzter Sekunde verhindert, dass es die Polizei erfuhr. Was jetzt? Ob ich Laurie wiedersehe? Hoffentlich!“

Auf der nächsten Seite hatte gestanden:

„Dienstagmittag
Laurie ist noch immer weg. Ich hasse sie dafür! Die ganze Familie hat sich wegen ihr verändert! Alle sind voll total traurig, nicht zuletzt ich. Ich will nicht mehr in diesem Haus wohnen. Hier ist die Stimmung so düster wie in einer Gruft!!! Ich Das ist schrecklich. Versteht mich überhaupt jemand? Ich will hier nur noch raus!“

Noch drei weitere Einträge waren gefolgt – in ihnen ging es mehr oder weniger um das gleiche. Musste ich mir Sorgen um meine Schwester machen? Dass sie vielleicht fortlaufen würde?
Ich schüttelte den Gedanken daran ab und schaute aus dem Küchenfenster. Es war fast komplett dunkel draußen. Das alte Thermometer zeigte 3°C an. Wenn ich jetzt noch hinunter in die Stadt wollte – und das wollte ich – , musste ich mir also wieder eine Jacke anziehen, um nicht negativ aufzufallen. Ich schlüpfte aus meiner grauen Strechhose und meinem schwarzen T-shirt, um mir eine Jeans und einen roten, nur ein wenig mit Erde verdreckten Pullover anzuziehen. Mit einer ebenfalls roten Winterjacke unter dem Arm verließ ich im Laufschritt das Haus. Meine Jacken, die ich so gut wie nur in der Öffentlichkeit trug, waren so ziemlich meine einzigen Kleidungsstücke ohne Blutflecken.
Bis zum Stadtrand brauchte ich kaum zehn Minuten. Ich war mir nicht sicher, was ich hier wollte. Ich glaube, es war einfach nur so ein komisches Gefühl, das mir gesagt hatte: „Pass auf, heute geschieht vielleicht etwas!“
Ich war kaum auf dem Marktplatz angekommen, als es plötzlich völlig unerwartet zu schneien begann.
Schnee?
Hallo?!!
Wir hatten gerade mal Mitte November!
Der erste Schnee fiel hier für gewöhnlich erst kurz vor Jahresende, um die Weihnachtstage herum. Die große Uhr am Kirchturm zeigte zehn vor neun an. Irgendjemand vom Jugendverein hatte für Kinder eine Rundfahrt durch die Stadt organisiert und etwa fünfzehn zwölf- bis fünfzehnjährige Jungen und Mädchen tobten jetzt laut lärmend über den ansonsten menschenleeren Platz. Bis auf zwei Pommesbuden, einem Würstchenstand und ähnlichem war hier kaum etwas geboten.
„Hey, Kinder!“, brüllte der Betreuer der Gruppe. Auf seinem Namensschild stand in einem dunklen Blau der Name „Martin“. Ich schätzte sein Alter auf Mitte zwanzig. Er legte seine Hände trichterförmig um seinen Mund und rief: „Bleibt bitte alle in Gruppen zusammen! Alle zusammenbleiben! Hallo?! Hört mir überhaupt einer von euch zu?“
Scheinbar war das nicht der Fall. Die Kinder rannten weiterhin schreiend und lachend durcheinander. Einige hatten sich an die Frittenbude gestellt und brachten den Mann hinter dem Tresen mit ihren durcheinander gerufenen Bestellungen zur Verzweiflung.
Ich überlegte gerade, ob ich die Kinder mit einem animalischen Geräusch vertreiben sollte, damit der Verkäufer Zeit hatte, das Schild „Ausverkauft“ an den Tresen zu hängen, als mir diese Entscheidung auch schon abgenommen wurde – allerdings auf andere Art, als ich gehofft hatte.
Aus der Straße zwischen einer der Pommesbuden und dem Crépestand schoss eine Gestalt mit glattem, rotem Haar, das im Wind um ihren Kopf wirbelte. Laurie.
Ihre kindlichen Gesichtszüge waren einer Maske reiner Mordlust gewichen. Mir stockte der Atem, während ihr blutdurstiger Blick zwischen den Kindern hin und her wanderte. „Wen von euch…?“, schienen ihre Augen stumm zu fragen. Ich stieß reflexartig einen leisen Schrei aus, als sie sich nach einigen Sekunden des Nachdenkens auf Martin stürzte. Überrascht riss er seine Arme nach oben, um sich zu schützen.
„Nein!“, stieß er panisch hervor. Die Wucht von Laurie‘s Angriff stieß Martin zu Boden. Sie grub ihre scharfen, spitzen Eckzähne in die dünne Haut seines Halses und riss mit einer ruckartigen Seitwärtsbewegung ihres Kopfes einen Fetzen blutiges Fleisch heraus. Ich war diesen erschreckenden Anblick zwar gewöhnt, aber ich bezweifelte stark, dass eines der entsetzten Kinder so etwas auch nur in einem Horrorfilm jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Martin zuckte noch ein paar Mal gequält und versuchte sich aufzurichten. Doch Laurie hatte seine Halsschlagader völlig durchtrennt, und das Blut spritzte fontänengleich aus der Arterie. Es sah aus wie in einem schlecht gemachten Film.
Laurie drückte ihn zurück auf den kalten Asphalt und ließ sich durch seine kraftlosen Abwehrversuche nicht im Geringsten bei ihrer Tat stören. Sie setzte ihre Lippen an die Wunde und trank gierig. Das Blut schien überall zu sein – an ihren Händen, in ihrem Gesicht, auf ihrer Kleidung.
Wie gelähmt schauten die Kinder zu. Die Augen weit aufgerissen, die Münder ungläubig geöffnet, starrten sie Laurie an.
Kaum eine Minute später war es vorbei. Meine Schwester sprang ohne große Mühe auf ein Hausdach und verschwand in der Dunkelheit.
Es herrschte Totenstille. Martin’s Gesicht war im Schreck erstarrt, Ungläubigkeit und Schmerz zeichneten seine Züge. Schneeflocken fielen auf ihn herab und schmolzen auf seinem noch warmen Körper. Nur auf der Kleidung blieben sie zurück. Eisiger Wind wehte über den Platz, und die Blutlache um Martin‘s Kopf herum breitete sich in alle Richtungen langsam über den Asphaltboden aus. Noch war es vollkommen ruhig.
Aber das hielt nur für wenige Sekunden an, dann begann ein Mädchen laut und schrill zu kreischen. Als der Pommesverkäufer, durch die Stille und den plötzlichen, darauffolgenden Lärm irritiert, aus seiner Bude schaute, traf ihn fast der Schlag.
„Oh!“, machte er, „Äh…oh!“
Mit zitternden Fingern zog er ein Handy aus seiner Hosentasche und rief die Polizei. Die ganze Gruppe stand so unter Schock, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden musste.
„Bitte, Laurie!“, flehte ich, „Bring das wieder in Ordnung!“
Doch Laurie tat es nicht. Sie konnte mich nicht einmal hören! Es kam mir so vor, als würde ich versuchen, sie anzurufen, aber sie hatte eine neue Nummer. „Diese Rufnummer ist zurzeit nicht vergeben…“
Niedergeschlagen, aber auch voller Wut im Bauch, wollte ich den Marktplatz verlassen.
In mir tobte das Chaos.
Neben der entstellten Leiche, die gerade von der Spurensicherung untersucht wurde, standen einige Polizisten, die mich argwöhnisch beobachteten.
„Du siehst überhaupt nicht geschockt aus!“, stellte einer von ihnen fest, „Eher wütend!“
„Gut beobachtet, Sherlock Holmes!“, knurrte ich giftig und schob mich an ihm vorbei.
„Einen Moment mal!“ Der Mann griff nach meinem Arm. Doch ich wich ihm blitzschnell aus. „Fassen Sie mich nicht an!“, fauchte ich. Viel hätte nicht gefehlt und ich hätte ihn angeknurrt. Ich biss meine Zähne zusammen und zwang mich, dem Drang zu widerstehen. Der Polizist betrachtete mich mit einer Mischung aus Ärger und Misstrauen und fragte: „Wie heißt du?“
„Sharona!“, antwortete ich widerwillig, wobei ich mich bemühte, meine scharfen Schneidezähne hinter der Oberlippe zu verbergen.
„Und weiter?“
Beinahe hätte ich ihm eine gescheuert.
Aber dann hätte er mich hundertprozentig sofort verhaften lassen. Also keifte ich bloß: „Was wollen Sie überhaupt?“
„Ganz ruhig, okay? Mach mal halblang!“, forderte der Polizist, „Man kann schließlich nie wissen!“
Seine Stimme wurde von Wort zu Wort schroffer, als er sagte: „Und wenn du uns deinen Nachnamen jetzt nicht sagst, sehen wir uns leider gezwungen, dich mit auf die Wache zu nehmen!“
Meine Unterlippe zitterte gefährlich. Ich war jetzt tatsächlich kurz davor, ihm eine zu kleben, dass sein Kopf eine 180°-Drehung machen würde. Doch ich beherrschte mich weiterhin eisern und behauptete: „Williams, Sharona Williams! Und jetzt lassen Sie mich gefälligst zufrieden, ja?!“ Eigentlich hatten wir keinen Nachnamen, deshalb hatte ich mir blitzschnell einen ausdenken müssen. Ich drückte mich zwischen den Polizisten hindurch und rauschte hoch erhobenen Hauptes vom Marktplatz. Die Männer sahen mir nachdenklich hinterher.
„Vollidioten!“, knurrte ich wütend, als ich außer Hörweite war.
Ich sprintete los und brauchte kaum fünf Minuten, bis ich unser morsches Gartentor erreicht hatte und darüber hinweg sprang.
„Sharona!“ Mom stürzte aus der Tür und drückte mich erleichtert an sich.
„Was soll das denn? Drehen denn jetzt alle durch?“, dachte ich, „Ich war doch nicht lange weggewesen!“
„Du bist wieder da!“, seufzte Kate glücklich.
„Nein, ich stehe in Alaska und ernte Wassermelonen!“, brummte ich und machte mich los. Kate runzelte ihre blasse Stirn. Sie mochte keine Witze mehr, konnte über nichts mehr lachen. „Erzähl mal – was war denn los? Wieso hast du dich nicht gemeldet?“
„Lass mich doch erstmal rein!“, schlug ich vor.
Im Wohnzimmer berichtete ich Nathy, Dad und Mom von Laurie’s Attacke.
„Es sieht nicht gut aus!“, befürchtete Dad, nachdem ich geendet hatte, „Überhaupt nicht. Wir müssen unbedingt handeln, bevor es zu spät ist!“

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Tag der Veröffentlichung: 17.12.2011

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