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Berlin 03. Februar 1945

„Bis nachher mein Schatz.“ Anika drückte einen letzten leidenschaftlichen Kuss auf Jacobs Mund und verschwand in der U-Bahn.
Jacob schaute seiner zukünftigen Frau noch lange nach. Es gefiel ihm gar nicht, sie allein fahren zu lassen. Die Bahnhöfe waren überfüllt, seid Autos und Busse eingezogen wurden und die Menschen auf die U-Bahn angewiesen waren. Der Bahnhof „Memeler Straße“ glich einem Flüchtlingslager. Die Menschen drängten sich auf den Gängen und Jacob wurde ständig hin und her gestoßen.
In zwei Stunden würde er seine Anika ja wieder sehen. Bis dahin wollte er nicht länger in diesem Gedränge warten.

Zwei Stunden später detonierten mehrere Bomben gleichzeitig im Bahnhof „Memeler Straße“. Riesige Rauch- und Aschewolken stiegen am Eingang empor.
Jacob lag ausgestreckt wenige Meter entfernt auf dem Boden und hielt schützend seine Arme über dem Kopf.
Anika! Schoß es ihm immer wieder durch den Kopf. Anika! Liebste!
Jacob versuchte den Eingang des Bahnhofes zu erreichen, doch er wurde von mehreren Männern daran gehindert.
Zu gefährlich - hieß es. Die Decke sei eingestürzt. Niemand kommt da mehr lebend raus.
Solche und ähnliche Nachrichten erreichten Jacob nur bruchstückhaft. Seine Anika. Er hatte doch versprochen sie abzuholen. Auf sie zu warten.
Jacob sah Anika nie wieder.

Berlin 03. Februar 2008

63 Jahre waren seit der Tragödie nun vergangen. Der Bahnhof – nun Weberwiese genannt – beherbergte immer noch geschäftige Menschen. Leute die gehetzt von A nach B fuhren. Die Handys an ihre Ohren hielten und ständig auf die Uhr schauten.
Nichts erinnerte mehr an die Trümmer und Tränen, die hier vergossen wurden.
Jacob rieb sich seine schmerzenden Hände. Es war kalt und die Gicht machte ihm arg zu schaffen. Dennoch würde er jedes Jahr, solang er lebte, an diesen Ort zurückkehren. Hier fühlte er sich Anika am nächsten. Hier war sein Leben und seine Liebe gestorben. Hier hätte auch er den Tod finden sollen.
An seinen faltigen Augen rannen einige Tränen hinab, die er langsam entfernte. So lang war es nun her, das liebliche Gesicht seiner Verlobten verblasste aber nur langsam. Er hatte nie geheiratet. Keine Kinder und lebte auch sonst sehr zurückgezogen. Immer wieder überwältige ihn die Trauer, und er fand einfach keinen Frieden. Er zog ein verblichenes Foto aus seiner Tasche. Die einzige Erinnerung an die Zeit mit Anika. Sie lächelte im verträumt entgegen. Versprach eine glückliche und gemeinsame Zukunft.
Nichts von alldem was Jacob sich erhofft hatte war eingetreten. Selbst sein Beruf hatte ihm nicht viel Freude gebracht. Er beschloss nach der Katastrophe in den Dienst der Bahn zu gehen. Um Anika hier nah zu sein. Er verdiente gutes Geld, fand aber nie die Gelegenheit es auszugeben. Es machte ihn nicht glücklich. Was hätte er ihr doch alles bieten können. Ein eigenes Heim. Ein Auto. Alles was Anikas Herz begehrte, hätte er erfüllen können.
Leise seufzte Jacob und unterdrückte die erneut aufsteigenden Tränen. Er war ein gebeugter alter Mann, der vergebens seinem Glück hinterher lief.
„Entschuldigen Sie, wissen Sie ob der „Elfer“ schon gefahren ist?“ Eine abgehetzte junge Frau Mitte zwanzig, stand mit ihrem Koffer neben Jacob.
„Der ist vor ein paar Minuten abgefahren“, erwiderte Jacob ruhig. Diese jungen Leute. Nie hatten sie Zeit.
„Verfluchter Mist. Jetzt komme ich wirklich zu spät.“ Niedergeschlagen plumste die Frau neben Jacob auf die Bank. Und kramte in ihrer Handtasche.
„Sie sollten nicht fluchen Kindchen. Besser zu spät als nie ankommen.“
„Ich weiß, entschuldigen Sie. Meine Mutter hat mir als Kind immer wieder gepredigt, dass ich ein vorlautes Mundwerk habe. Was rede ich, selbst heute erhebt sie noch den Zeigefinger, wenn ich den Mund aufmache.“
Jacob lächelte schwach. Anika hatte ihn auch immer ermahnt, seine Ausdrucksweise zu verbessern. Sie war sehr gebildet und legte großen Wert auf gute Umgangsformen. Er hob seinen Blick und musterte die junge Frau. Sein Herz hüpfte schlagartig gegen seine Brust. Er glaubte, dem entscheidenden Herzinfarkt nahe zu sein. Die junge Frau sah Anika sehr ähnlich. Sie trug ihr braunes Haar hochgesteckt und hatte dieselben ebenmäßigen Züge wie seine Liebste.
„Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Arzt rufen? Sie sind so blass.“ Die junge Frau beugte sich zu Jacob und fasste ihn bei den Schultern.
Jacob wehrte sie schwach ab. „Nein Kindchen. Mir geht es gut. Sie haben mich nur an jemanden erinnert.“
„Oh. Ich weiß nicht ob es mir jetzt leid tun soll, oder ob ich mich geehrt fühlen soll.“
„Schon gut. Sie erinnern mich an meine Verlobte. So ähnlich sah sie aus, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe.“ Jacob wusste nicht, warum er begann, der fremden Frau sein Herz auszuschütten. Vermutlich, weil er selten mit Menschen ins Gespräch kam, die er auf Anhieb sympathisch fand.
„Das tut mir leid“, entgegnete sie, „das muss sehr lange her sein.“
„Heute 63 Jahre, um genau zu sein.“
„Erstaunlich“, murmelte die junge Frau.
„Ja, ich weiß. Niemand sollte so lange zurückblicken.“ Jacob atmete tief durch.
„Nein, das meine ich nicht. Es ist die 63 die mich nachdenklich stimmt. Der heutige Tag ist für meine Großmutter ein sehr bedeutender Tag. Deshalb bin ich so in Eile. Mein Großvater ist heute vor 63 Jahren gestorben. Na ja, ich habe ihn nie kennen gelernt, aber für meine Großmutter ist es sehr wichtig, dass wir diesen Tag gemeinsam verbringen und an ihn denken.“
Jacob nickte verständlich. „Es ist schön eine Familie zu haben, glaube ich. Ich selbst hatte nie eine.“
„Wollen sie mir erzählen, was damals geschah? Meiner Oma Anika hilft es, wenn sie über das schreckliche U-Bahnunglück erzählt, das ihr den Mann nahm.“
Jacob zitterte am ganzen Leib. Gab es so viele Zufälle auf einmal? Konnte diese junge Frau eine Familie haben, der es genauso erging? Deren Angehörige dieselben Namen trugen? „Anika?, erwiderte er schwach. „Deine Oma heißt Anika? Anika Fischer?“
„Ja, woher wissen sie das. Kennen Sie sie?“
Jacob stiegen erneut die Tränen in die Augen, und ein heftiges Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Seine Stimme glich einem Krächzen, als er die entscheidende Frage stellte: „Hieß dein Großvater zufällig Jacob Meißner?“
Die junge Frau schluckte. „Ja, aber… Wieso…“
Jacob legte seine zitternde Hand auf ihren Arm und schaute mit Freudentränen zu ihr auf. „Liebes Kind. Es mag unglaublich klingen, aber ich bin Jacob Meißner. Ich glaubte meine Anika bei den Bombenangriffen verloren zu haben. Ich sah sie nie wieder.“
Die junge Frau schüttelte langsam den Kopf. „Nein, Oma Anika war nicht in dem Zug. Sie sagte immer, wenn sie den Zug nicht verpasst hätte, dann wäre sie mit ihrem Geliebten gemeinsam gestorben. Er wollte sie am Bahnsteig abholen, daher glaubte sie ihn tot.“
Jacob schluchzte und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Anika wollte zu einer Schneiderin fahren und sich ein Hochzeitskleid nähen lassen. Wir haben lange dafür gespart. Ich durfte sie nicht begleiten, weil ich das Kleid nicht vor der Hochzeit sehen sollte.“ Bei dieser Erinnerung lachte er leise vor sich hin.
Die junge Frau runzelte die Stirn. „Mein Gott. Das weißt du ja gar nicht!“
„Was?“
„Es sollte eine Überraschung werden. Oma sagt immer, dass sie es bereut hat, nichts gesagt zu haben. Sie wollte dich überraschen. Die Sache mit der Schneiderin war nur eine Ausrede. Das Kleid war bereits fertig. Es hängt immer noch oben auf dem Dachboden. Sie wollte zu einem Arzt, weil sie glaubte schwanger zu sein. Sie wollte Gewissheit haben, bevor sie es erzählt.“
„Anika schwanger? Dann…. Dann bin ich Vater?“ Jacob glaubte sich bereits im Himmel. Soviel konnte sein Herz doch nicht mehr tragen. Er war Vater? All die Jahre lebten er und Anika getrennt voneinander, ohne zu ahnen, dass der Andere damals gar nicht starb?
Die junge Frau lächelte. „Nicht nur das, du bist auch Opa einer überaus reizenden Enkelin.“
Jacob verstand die Welt nicht mehr. In seiner Tasche brannte eine kleine Dose förmlich ein Loch hinein. Er zog sie hervor und zeigte seiner Enkelin den Ring, den er Anika bei ihrer Rückkehr geben wollte.
„Ich glaube es wird Zeit, dass deine Anika endlich ihren Ring bekommt, Opa. Komm, die Bahn ist da.“

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2009

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