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Prolog

September 1775

 

„Deine Handlungen haben mich enttäuscht, Roy. Du hast mich dazu benutzt, deine egoistischen Ziele durchzusetzen, ganz ohne Rücksicht auf Verluste. Ich habe einst gedacht, dass du mich liebst.“

Schmerzverzogenen Gesichtes trat sie näher auf ihn zu. Ihre dunkelblauen Augen funkelten im Licht des Kerzenscheins, da wallende, weiß-graue Kleid, schleifte mit jedem Schritt, den sie tat, über den Boden.

„So versuche doch, mich zu verstehen, Serine! Bitte!“ Dringlichkeit lag in seiner Stimme, die, gewürzt mit einer Prise Verzweiflung und Angst, ihn Schweißperlen auf die gepuderte Stirn trieb. „Ich hatte keine andere Wahl. Ich habe mich für diesen Weg entschieden und musste ihn zu Ende gehen. Manchmal muss man das tun, was richtig ist, auch wenn es schwerfällt.“ Scheu blickte er auf den Boden mit Schachbrettmuster. So weit er sich zurückerinnern konnte, war seine Frau immer der dominante Teil in ihrer Beziehung gewesen. Zu jedem anderen Zeitpunkt störte ihn ein bisschen Führung nicht, doch heute erzitterte er beim alleinigen Gedanken, Serines Launen ausgesetzt zu sein.

„Das Richtige?“, ahmte sie ihn kreischend nach. „Du meinst also, du hast das Richtige getan?“ Drohend richtete sie sich vor ihm auf. Ihr Gesicht war dem seinen so nahe, dass die beiden ebenso gut vor einem Kuss hätten stünden können. Doch Serines aufeinandergepresste Lippen sprachen eine andere Sprache. Kalt und unnachgiebig starrte sie ihn an. Ihm war, als könne sie bis zum Grund seiner Seele durchdringen und dort noch mehr herausfinden, als das, was sie ohnehin schon wusste. Manchmal genügte ein einziger Fehltritt, um ein ganzes Leben zu zerstören.

In seiner Verzweiflung wollte er nach ihrer Hand greifen, sie irgendwie beruhigen. Doch noch während er den Arm hob, drehte sie sich energisch um und ging Richtung Fenster. Wie Krallen bohrten sich ihre Finger gegen das kalte Glas. Zitternd verharrte Roy in der Mitte des Raumes. Er war ihr ausgeliefert, konnte nicht abschätzen, was als Nächstes geschehen würde.

„S…Serine, bitte…“, stotterte er unzusammenhängend.

„Schweig still!“, schrie sie da und drehte sich wieder um. Umständlich wischte sie sich über die Augen. Roys Herz setzte für einen Moment aus. Konnte das tatsächlich sein?

„W…weinst du?“, hauchte er, trat automatisch wieder näher auf sie zu. Für einen kurzen Moment sah es aus, als ließe Serine es geschehen. Sie unternahm nichts und erlaubte ihm, näher zu treten. Genau diese fehlende Reaktion machte Roy Mut. Innerlich wachsend, wurden seine Schritte schneller. Ein erneutes Mal hob er die Hand…

„Fass mich ja nicht an!“, brüllte Serine. Ihre Stimme drang Roy durch Mark und Bein, da sie nicht von Verletzlichkeit oder Schmerz, sondern einzig und allein von Hass berichtete. „Wage es ja nicht, mir noch einmal zu nahe zu kommen! Du hast es einmal getan und mir beinahe das Herz gebrochen! Das lasse ich nie wieder zu. Hörst du? NIE WIEDER!“

Von Angst beflügelt, gab Roy nicht nach. Unkontrolliert fuchtelte er mit den Händen in der Luft. Es musste doch eine Möglichkeit existieren, sich zu erklären. Irgendetwas.

„Wenn du mir nur einen Moment zuhören würdest, dann kannst du mich verstehen. Da bin ich mir sicher. Aber bitte lass mich reden. Es dauert nicht lange. Gib mir diese letzte Chance.“ Unabsichtlich hatte er die Hände wie zu einem Gebet ineinander verschränkt. Beinahe kindisch stand er ringend vor ihr und wartete auf sein Urteil. Serines Gesicht war noch immer unbewegt, wenngleich auch nicht mehr so kalt wie eben. Dennoch schüttelte sie entschlossen den Kopf.

„Du hattest deine Chance. Das Leben mit mir war deine Chance, die du nicht nutzen wolltest.“

„Ich werde aus meinen Fehlern lernen, Serine. So etwas wird nie wieder vorkommen.“ In diesem Moment sank er vor ihr auf die Knie. Er wusste, dass alle Männlichkeit von ihm abfiel und er sich einer Frau unterstellte, doch war seine Verzweiflung so groß, dass ihm keine andere Möglichkeit blieb. Genüsslich schaute Serine auf ihn herab. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihn getreten wie einen Hund.

Drohend entschlüpften die Worte ihren Lippen: „Deine Reue hilft uns nicht, Roy. Sie hilft weder dir, noch mir, weil sie deine Tat nicht ungeschehen macht. Sieh es ein: Es ist vorbei.“

Tränen rannen heiß über seine Wangen, Schluchzer erschütterten seinen Körper, während er es nicht wagte, aufzuschauen. Während er still die Kästchen auf dem Boden zählte. Es dauerte länger als drei Minuten, bis er sich seiner Stimme hinreichend sicher war.

„Bitte…verlass mich nicht“, flüsterte Roy Macavory. „Ich liebe dich doch. Ein Leben ohne dich ist unvorstellbar für mich. Das mit ihr…das war nur ein…Fehltritt.“

„EIN FEHLTRITT?“ Kreischend stand sie über ihm. Unsanft trat sie ihm gegen die Rippen, hörte erst auf, als sie seinen quälenden Schmerzensschrei vernahm.

„Du bezeichnest es also als Fehltritt“, sprach sie unheilverkündend. Ihre Stimme schwankte zwischen Wut und Belustigung. Roy wusste nicht, welche der beiden Charaktereigenschaften gewinnen würde.

„Du bist mit einer Hure ins Bett gestiegen, verdammt!“

Ängstlich hob er den Blick. Während seine Rippen unangenehm pochten, studierte er jede Regung auf ihrem Gesicht, das sie abgewandt hatte. Als er glaubte, Tränen in ihren Augen zu sehen, versucht er es ein erneutes Mal.

„Es war nicht meine freie Wahl. Das weißt du, Serine. Du weißt, dass ich nicht Schuld daran war. Ich hätte dich nie betrogen. Du bist mir das Wichtigste im ganzen Leben. Das werde ich dir fortan jede Sekunde beweisen!“

„Verdammt, Roy!“, heulte Serine. „Deine Beweggründe kümmern mich nicht, weil sie nichts daran ändern. Die Fakten sind klar ersichtlich. Du hast mich hintergangen.“ Sie reckte ihren Kopf ein wenig höher, sodass sie noch besser über ihn hinwegschauen konnte. „Einst bot ich dir meine Liebe, meine Seele und meine Gefühle, doch du hattest nichts anderes zu tun, als alle Geborgenheit bei einer anderen Frau zu suchen!“ Obgleich Serine stolz vor Roy stand, wusste er, dass in ihr auch etwas gebrochen war. Wieder und wieder äußerte er seine Reue, aber kam es ihm vor, als hörte Serine nur noch das, was sie hören wollte. Unruhig wanderte seine Frau im Raum auf und ab. In diesem Moment wollte Roy nicht wissen, was in ihrem Kopf vorging. Die Zeit stand still, als er kauernd auf dem Boden auf sein Urteil wartete. Ab und an sah er ängstlich zu ihr hinauf. Ja, in gewisser Weise war es seine Schuld. Er hätte die Gegebenheiten verhindern können. Wahrscheinlich wären sie dann noch immer glücklich. Aber Roy wusste, so seine Pflichten lagen. Und manchmal musste man sich gegen den entscheiden, den man liebte.

Ihre Stimme kam plötzlich, ohne Ankündigung. Sie hallte von den alten Wänden wider und traf genau sein Herz.

„Roy Macavory“, verkündete Serine dunkel. „Ich kann dir nicht verzeihen. Das werde ich nie können. Dein Fehler ist nicht wieder gutzumachen. Du hast auf niveaulose Art mit mir und meinen Gefühlen gespielt.“ Mit jedem Wort wurde Roy kälter. Vergeblich versuchte er, die Ärmelenden seines blauen Hemdes weiter nach unten zu ziehen. Schützend schlang er die Arme um seinen Körper. Wie ein Sturm drang Serines Missfallen zu ihm herüber.

„Du wirst für deine Tat bezahlen, Roy“, offenbarte sie ihm. „Ich habe innig gehofft, dass dieser Moment nie kommen würde, aber nun bist du es, der mir keine Wahl lässt. Roy, ich möchte dich verfluchen.“

„Verfluchen?“ Die nackte Angst stand in seinen Augen, als er scheu den Blick hob.

„Ja.“ Serine nickte kalt, doch dann blickte sie mit einer Spur Wehmut auf ihn herab. „Ich möchte dich verfluchen, aber ich kann es nicht. Ein Teil meines Herzens spürt dich noch immer, auch wenn ich mich dafür hasse.“

Roy schloss die Augen. Stumm weinte er, die Arme um die angewinkelten Knie geschlungen. Er wollte nichts mehr hören. Er wollte, dass es endlich aufhörte. Doch Serine sprach weiter.

„Roy Macavory, dies muss dir eine Lehre sein. Aber vor allem wird es der Hure, die dich verführte, eine Lehre sein. Ich will die Frau bestrafen, die du einen grausamen Moment lang mehr geliebt hast als mich. Du weißt es nicht, aber in ihrem befleckten Leib wächst ein Sohn heran, aus dem, durch deine Blutlinie gestärkt, eines Tages mal ein stattlicher Mann werden kann. Anscheinend ist den grausamer Plan aufgegangen. Du hast es geschafft, mich auszutauschen…“

„Serry, ich wollte dich niemals austauschen. Du weißt doch…“ Hadernd kämpfte er nun auch mit sich selbst.

„Habe ich gesagt, dass du sprechen darfst!“ Furiengleich stürmte sie auf ihn zu, bückte sich, und verpasste ihm mit der rechten Hand eine Ohrfeige. Roy winselte vor Schmerz und begab sich in Schutzstellung. Abfällig spuckte Serine auf ihn.

„Obgleich du es mehr als verdient hast, werde ich nicht dich verfluchen. Nein, mein Hass wird auf ihn gehen: auf deinen Erstgeborenen, deinen leiblichen Nachkommen, den ich dir nie schenken konnte. Fynn Macavory wird aufwachsen wie ein normales Kind. Wahrscheinlich…“ Sie hielt einen Moment inne, um das Zittern zu kontrollieren, das von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte. „Wahrscheinlich wird er geliebt werden, eine erlebnisreiche Kindheit haben. In den ersten Jahren wird es ihm an nichts fehlen, sofern du für ihn sorgst. Doch an seinem 26. Geburtstag…“ Erneut stoppte sie. Angewidert schaute sie auf das Häufchen Elend, das sich in körperlichen und seelischen Schmerzen am Boden wand.

„An seinem 26. Geburtstag“, wiederholte sie, „werden sich die Dinge ändern. Fynn Macavory wird…“

„Bitte, bitte töte ihn nicht. Ich…brauche ihn“, stotterte Roy, der Kraft gefunden hatte, sich aufzusetzen. Sternen tanzten vor seinen Augen, ihm war schlecht und nach wie vor fror er.

„Töten?“ Serine blickte ihn eiskalt an. „Oh nein, töten werde ich ihn nicht. Ich habe in der Tat etwas viel, viel Besseres für ihn!“ Purer Hass trat in ihr Gesicht, als sie das Urteil des Ungeborenen verkündete. „Fynn Macavory wird mit 26 Jahren aufhören, zu altern. Fortan muss er jeden Tag zu jeder Zeit in jedem Jahrhundert als der Mann verbringen, der er schon immer war. Keines seiner Haare wird je grau werden. Er wird die ewige Jugend spüren, bis sie ihn von innen zerstört. Roy, für deinen Sohn wird es niemals Erlösung geben. Er wird das Leben einer verlorenen Seele führen und das FÜR IMMER! Niemand kann ihn je von diesem Schicksal befreien. Keine Macht ist größer als mein dunkler Zauber.“

„Zauber?“, hauchte Roy und sah sie verständnislos an. „Was bist du für eine Hexe?“ Die plötzlich aufkommende Wut hatte ihm ungeahnte Kräfte verliehen. „Du hast kein Recht, so mit meinem Sohn umzugehen! Kein Recht! Ich…“ Mühsam hatte er sich aufgerichtet, doch Serine hob nur ihren rechten Zeigefinger und Roy wurde mit solch einer Macht gegen die hintere Wand geschleudert, dass man seine Knochen einzeln knacken hören konnte.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du nun schweigst!“, flüsterte sie bedrohlich. Einen Augenblick lang schaute sie ihn noch zornig an, dann änderte sich ihr Ausdruck.

„Du hast mich nie wirklich gekannt, Roy, aber das ist nicht deine Schuld. Ich hätte dir so viel mehr geben und zeigen können, als wir hatten. Ich hätte die Macht gehabt, Zeit und Raum für uns anzuhalten. Irgendwann würdest du in mir die Frau sehen, die ich seit meiner Geburt bin.“

Mit angehaltenem Atem erkannte Roy, wie der Raum plötzlich von einem dunklen Licht, ähnlich leuchtendem Nebels, dominiert wurde. Eine helle Flamme umgab Serines Körper. Ihre langen, blonden Haare wurden beinahe weiß, als ihre Füße den Boden verließen.

„Du hast so vieles nicht gewusst“, beteuerte sie noch einmal. „Und nun musst du sehen, wie du mit dem Fluch leben kannst.“ Serine verharrte reglos in der Luft.

„Was…was bist du?“, stotterte Roy. Seine Zähne klapperten, Gänsehaut breitete sich auf seinem gesamten Körper aus.

„Ich bin mächtiger, als du dir vorstellen kannst. Die dunkle Magie ernährt mich wie Sonnenlicht die Blumen.“

„Aber…“

Barsch unterbrach sie ihn. „Du wirst mich von heute an nie wiedersehen, Roy. Aber die Erinnerung an mich wird in deinem Sohn weiterleben. Jedes Mal, wenn du ihn sein perfektes Gesicht schaust, werde ich es sein, die hasserfüllt deinen Blick erwidert.“

Ein grollender Donner durchbrach die gespenstische Szenerie. Als hätte sie ihn heraufbeschworen, prasselten dicke Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Noch immer voller Angst starrte Roy nach draußen. Ungewöhnlich viele, kleine Blitze durchbrachen die dunkle Nacht. Sein Herz schlug dreimal so schnell, den Kiefer hatte er kaum mehr unter Kontrolle. Ängstlich blickte er wieder zu Serine…und stutzte. Blitzschnell suchten seine Augen das Zimmer ab, doch seine Ehefrau war verschwunden. Doch nicht nur das. Plötzlich wirkte auch der Raum wie leer, beinahe ausgestorben. Nichts erinnerte mehr an das, was vor wenigen Momenten vor seinen Augen stattgefunden hatte. Das Unwetter ebbte so schnell ab, wie es gekommen war. Beruhigend setzte die Stille der Nacht wieder ein. Hell leuchtete der Mond am Himmel, als hätte er nie etwas anderes getan.

Mit letzter Kraft robbte Roy sich über den Boden. Umständlich zog er sich an dem roten Brokatsessel hoch. Seine Hüfte schmerzte, als er sich hinzusetzen versuchte. Mehrere Male zwang er sich, ruhig zu atmen. Noch immer konnte er nicht fassen, was geschehen war. Wie war es möglich, dass seine Frau jahrelang verbergen konnte, wer sie wirklich war? Oder lag es an ihm und seiner Blindheit? Besaß er keinen beschulten Blick?

Noch einmal schaute er an die Stelle, an der sie gestanden hatte. Nichts deutete mehr auf ihre Zauberkraft hin…Irritiert kniff Roy die Augen enger zusammen. Lag dort nicht etwas auf dem Boden? Er musste sich die lädierte Hüfte an beiden Seiten halten, trotzdem waren seine Schritte klein und unsicher. Mühsam kämpfte er sich den Weg zur Mitte des Schlafzimmers. Kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte, brach er zusammen. Den Arm in Richtung Zentrum ausgestreckt, fiel er in eine tiefe Ohnmacht.

Das Letzte, das Roy Macavory in dieser stürmischen Novembernacht sah, war die kleine, schwarze Krähenfeder, die scheinbar nichtssagend auf dem kalten Schachbrettboden lag.

 

 

Kapitel 1

17. März 2011, St. Patrick’s Day

 

Mit Mühe bahnte ich mich durch die gigantischen Menschenmassen, die sie sich an Irlands Nationalfeiertag auf dem Marktplatz versammelt hatten. Grün bekleidete Personen begegneten mir, wohin ich auch sah. Sie hielten Kleeblätter in der Hand und sangen Lieder, deren Melodien älter waren als Leona O’Mercy, die am Ende meiner Straße wohnte. Eine Kapelle hatte sich auf der provisorischen Bühne versammelt und untermalte das Gegröle der Besucher, die sogar am frühen Nachmittag sich schon dem Alkohol hingegeben hatten. Sofort bereute ich es, nicht den Umweg durch den Wald genommen zu haben. Schon wieder drängte sich eine Gruppe grüner Vertreter an mir vorbei. Unsanft stieß ein Mann, das Bierglas in der rechten Hand, die Zigarette in der linken, mir gegen die Rippen. Innerlich äußerte ich wüste Beschimpfungen, doch hütete ich mich davor, diese auch verbal zu artikulieren. Bereits viele Ereignisse hatten mir gezeigt, dass es besser war, nicht mit Feiernden zu streiten, schon gar nicht, wenn diese nicht mehr sie selbst waren. Außerdem wollte ich so schnell wie möglich von hier verschwinden. Umständlich stellte ich mich auf die Zehenspitzen und sprang aus dem Stand nach oben. In all dem Durcheinander wusste ich nicht mehr, wo mein Weg lang führte.

„Kann ich dir helfen, schöne Frau?“, grölte ein Mann von links, den ich geflissentlich ignorierte. Stattdessen kniff ich die Augen enger zusammen. Eben war ich nach links abgebogen, also musste ich nun das Gegenteil tun, oder?

„Warum bist du eigentlich nicht grün angezogen?“, schrie er weiter. Böse funkelte ich ihn an, sah dann aber selbst an mir herunter. Ich trug einen schwarz-grau-karierten Rock mit Stiefeletten. Obwohl es unangenehm warm war, hatte ich mich heute Morgen noch nicht von meinem Mantel trennen können. Mit seinen großen, ausladenden Taschen, in denen ich allerlei unnütze Dinge versteckte, überzeugte er mich jedes Mal von seiner Nützlichkeit. In einem Großteil der Fälle hüllte ich mich in gedeckte Farben. Aufzufallen war mir unangenehm. Doch leider war genau dies nun der Fall. Wohin ich auch sah, alle Facetten von Grün leuchteten zu mir herüber. Hellgrün, dunkelgrün, mintgrün, lindgrün… Für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Würde ich dieser Masse denn niemals entkommen können?

„Wenn du so eine Volksverräterin bist, solltest du das Land vielleicht verlassen“, murmelte er in sich hinein, aber ich hatte ihn gedanklich längst aus meinem Kopf gestrichen. Ein kleiner Funken Hoffnung machte sich in mir breit, als ich mehr durch Zufall eine Nebenstraße ausmachen konnte. Vielleicht führte sie mich nicht nach Hause, aber zumindest würde ich so ein paar Minuten zum Luftholen bekommen. Die Füße in die Hände nehmend, schob ich mich durch die feiernden Menschen, wobei ich darauf verzichtete, mich zu entschuldigen, wenn ich versehentlich einem Trunkenbold das Guinness über die Hose kippte. Sollten sie doch alle an ihrem dummen Alkohol ersticken! Ich lief so weit in die Straße, wie ich konnte. Jeder Zentimeter, der mich von der Musik entfernte, war ein Erfolg. Seufzend ließ ich mich auf eine leere Bank sinken. Zwar klang St. Patrick’s Day noch immer in meinen Ohren, aber glich die Kulisse eher einem Hintergrundgeräusch. Über eine Woche hatte ich versucht, an diesem Tag Urlaub zu bekommen, gerade weil ich den Gang durch die Stadt vermeiden wollte. Schließlich hatten sie meine Schicht auf einen halben Tag verkürzt, was mir unter dem Strich nur noch mehr Schaden brachte. Gerade wenn ich Feierband hatte, schienen die Massen zu Hochformen aufzulaufen.

Gierig trank ich einen Schluck Wasser aus der Flasche, die ich aus meiner schwarzen Tasche holte. Schließlich beschloss ich aufgrund der Temperaturen, den Mantel doch auszuziehen. Die Schweißperlen in meinem Gesicht wurden immer größer, da war es mir lieber, stattdessen die Jacke zu tragen. Mit dem Auto hätte man von meinem Cottage bis zur Bibliothek nicht mehr als zehn Minuten gebraucht, doch ich war jeden Tag  für eine Strecke eine gute halbe Stunde unterwegs, manchmal sogar länger, wenn ich die Stadt mied und durch den Wald spazierte. Ich liebte die Ruhe, die zwischen den dichten Bäumen herrschte. Dort konnte man sich auf das Wesentliche zurückbesinnen und sich selbst genügen. Noch etwa zehn Minuten blieb ich auf der Bank sitzen, bevor ich mich auf den Heimweg machte. In Städten war mein Orientierungssinn nicht der beste – dabei schien es keinen Unterschied zu machen, ob es sich um meine eigene handelte oder nicht. Jedenfalls verhedderte ich mich zweimal in Seitenstraßen, bevor ich endlich den Weg durch die Fußgängerpassage fand, der mich zu meinem Cottage brachte. Als ich vor drei Jahren von zu Hause ausgezogen war, hatte ich darauf geachtet, einen Immobilie zu finden, die abgeschieden von all dem Trubel lag. Meine Freundin Brianna meinte, ich würde mich immer mehr aus dem alltäglichen Leben zurückziehen, aber so sah ich es nicht. Zwar befand sich mein Haus nicht mitten in der Innenstadt, aber lag es auch nicht so weit entfernt, dass man mich als eigenbrötlerisch oder weltfremd hätte bezeichnen können.

Obwohl sie winzig warm liebte ich meine einfache Behausung. Vielleicht lag es daran, dass ich sie mir vollkommen von meinem eigenen Geld bezahlt hatte und zum ersten Mal etwas besaß, das nur mir allein gehörte. Schon für eine zweite Person wäre es in den Innenräumen zu eng geworden, aber ich beklagte mich nicht. Jedes Mal, wenn ich das schmucke Cottage mit den aufgeklappten, braunen Fensterläden und den weißgestrichenen Wänden sah, wurde mir warm ums Herz. Mein Zuhause war mehr als nur ein Gebäude für mich. Es stellte einen Rückzugsort dar, einen Platz, an dem ich mich erholen konnte und meinen Gedanken nachhing. Schnell hatte ich für mich entschieden, dass ich nicht für das gemeinsame Leben geschaffen war. Während meine Schulfreunde sich umorientierten, in Großstädte zogen und sich den ohnehin kaum vorhandenen Platz noch mit drei weiteren Personen teilten, genoss ich meine gewollte Einsamkeit.

Automatisch ging ich schneller, als das Cottage am Hügel zu sehen war. Hatte mich der Berg anfangs noch gestört, nahm ich seine Steigung nun gar nicht mehr richtig wahr. Zielsicher bahnte ich mir meinen Weg durch die lange Straße, die nur hie und da von einem Haus gesäumt wurde. Noch bevor ich durch das Gartentor auf mein Grundstück trat, suchte ich in meiner Handtasche nach dem Haustürschlüssel. Ein prüfender Blick auf meine Fensterbank verriet mir, dass sämtliche Samen, die ich in den Tagen vorher eingepflanzt hatte, noch nicht aufgegangen waren. Allerdings entwickelte sich die Erde gut. Sie bot meinen Pflanzen einen feuchten, aber nicht zu nassen, Untergrund.

Das kleine Fleckchen Gras, das ich mein Eigen nannte, konnte man kaum als Garten bezeichnen. Für ein Beet war es zu groß, für eine Wiese definitiv zu klein. Dennoch mochte ich den Rasen, der mein Cottage umgab. Erstens sorgte er für einen idyllischeren Eindruck, zweitens würden spätestens im Sommer überall wilde Lupinen wuchern. In ein paar Jahren wollte ich mir ein Gewächshaus bauen lassen, da meine finanzielle Lage momentan keine Extrawünsche zuließ.

Ich lächelte leicht, als ich auf die Bank blickte, die vor meinem Haus stand. Über die Jahre hatte ich mir einen Ort geschaffen, den ich liebte. Fremden würde es vielleicht nicht auffallen, doch es steckte eine Menge Arbeit in dem, was auf den ersten Blick so nichtssagend aussah.

Noch bevor ich den Schlüssel im Schloss umdrehte, war aufgeregtes Bellen zu vernehmen. Das Lächeln auf meinen Lippen vergrößerte sich. Umso schneller schloss ich die Tür auf und trat in den kleinen Flur. Mit mir mittlerweile gut bekannter Wucht sprang Jemmy an mir hoch. Lachend ließ ich mich von ihm begrüßen. Wild wedelte sein Schwanz in alle Richtungen und symbolisierte mir so, dass er mich vermisst hatte.

„Ist ja gut!“, quiekte ich vergnügt. Meine Hände wanderten über das flauschige Fell des Mischlingsrüden. Bevor man ihn nicht gestreichelt hatte, beruhigte er sich nur selten. Jemmy wich nicht von meiner Seite, als ich den Mantel an die Garderobe hing und meine Tasche abstellte. Er wich auch nicht von meiner Seite, als ich das winzige Badezimmer betrat, um mir die Hände zu waschen. Ganz gleich, was ich tat, Jemmy war an meiner Seite. Belustigt schaute ich auf den schwarzen Hund hinab, der mich mit kreisrunden Augen interessiert musterte. Auch wenn man ihn nicht als hübsch bezeichnen konnte, hatte er sich mit seinem langen Fell, den großen, kreisrunden Augen und dem Schwanz, dem die Spitze fehlte, in mein Herz gestohlen. Seit gut einem Jahr war Jemmy nun ein fester Bestandteil meines Lebens. Eher zufällig stieß ich damals in einem Tierheim auf ihn. Eigentlich befand ich mich auf den Weg zur Arbeit, als mir Jemmy im Auslaufzentrum ausgefallen war. Im Gegensatz zu den anderen Hunden musterte er mich nicht nur aufmerksam, sondern sprintete auf mich zu mit einer Geschwindigkeit, die mir teilweise heute noch Angst machte. Eigentlich hatte ich nie vorgehabt, mir einen Hund zu kaufen. Tiere waren eng mit Verantwortung verbunden. Ich glaubte, nicht genügend Zeit zu haben, um den Bedürfnissen eines Hundes nachzukommen und begrub den Gedanken an ein Haustier relativ schnell. Zum Glück hatte ich die Rechnung ohne Jemmy gemacht. Niemals würde ich den Tag vergessen, an dem er mit fliegenden Ohren auf mich zugelaufen kam und mitgenommen werden wollte. Im Tierheim hatte man mich vor seiner Wildheit gewarnt, aber erstaunlicherweise kam ich gut damit klar. Jemmy war nicht bösartig oder mutwillig, er war einfach ein wenig ungestüm. Sämtliche Versuche, ihn zu erziehen, scheiterten, aber irgendwann kümmerte mich sein Temperament nicht mehr. Ich mochte es, stürmisch begrüßt zu werden, wenn ich nach Hause kam. Ich mochte es, dass er versuchte, Wachhund zu spielen, obgleich er niemals in der Lage wäre, einen Einbrecher zu überwältigen.

In der Küche füllte ich Jemmys gelben Napf mit etwas Nassfutter. Gierig stürzte er sich auf die feste Masse, kaum hatte ich die Dose geschlossen. Es gab so viele verschiedene Arten von Hunden, aber wild auf Essen waren sie wohl alle. Amüsiert beobachtete ich, wie der Mischlingsrüde binnen Sekunden die gesamte Schale leerte und seinen Durst anschließend mit Wasser stillte. Im blank polierten Napf spiegelte sich mein Gesicht. Wie immer, wenn ich den Nachhauseweg etwas zu schnell antrat, waren meine Wangen gerötet. Auch die Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Der Zopf von heute Morgen hatte sich längst aufgelöst. Seufzend griff ich nach dem Haargummi, das sich irgendwo in meinem Wildwuchs befand und glättete das haarige Unterfangen. Ungelenk versuchte ich, alles im Gummi zu verstauen. In Gedanken konnte ich Briannas pikierte Stimme hören. „Du bist selbst Schuld, dass du dir nicht endlich ein Auto anlegst und den Führerschein machst“, keifte sie in meine Überlegungen. Oberflächlich gesehen hatte sie natürlich Recht. Es gab viele Gründe, weshalb man sich dazu entschloss, fortan mobil zu sein. Das Problem war nur, dass mich kein einziger davon wirklich überzeugte. Seit über vier Jahren weigerte ich mich nun schon, eine Fahrschule zu betreten, mich hinter das Steuer eines Gefährts zu setzen, das ich nur viel zu sporadisch kannte, um es wirklich bedienen zu können. Meine Abneigung fußte allerdings nicht in finanziellen Problemen, obwohl es momentan schwierig gewesen wäre, den Führerschein zu bezahlen. Nein, der Grund für mein Verhalten bestand darin, dass ich es einfach nicht wollte. Ich wollte keinen Führerschein machen, ich wollte kein Autofahren lernen, weil sich beim alleinigen Gedanken an dieses Unterfangen alles in mir sträubte. Ich hasste es, im Innenraum eines Gefährts sitzen zu müssen. Dabei war es gleich, ob es sich um ein Auto, den Bus oder auch einen Zug handelte. Ich mied öffentliche Verkehrsmittel, wo es nur ging. Geflogen war ich selbstverständlich noch nie. Was neugierige Beobachter mit Ökosucht oder Dummheit begründeten, war für mich zum Alltag geworden. Die Vorstellung, als eigenständiger Mensch auf etwas angewiesen zu sein, das weder denken, noch fühlen konnte, machte mir Angst. Ich wollte mich dieser Illusion nicht hingeben, wollte nicht mein leben auf etwas ausrichten, ohne das dieselbe Spezies vor hunderten Jahren auch überlebt hatte. Aus demselben Grund besaß ich kein Handy, der Computer in meinem Wohnzimmer war Dekoration und hatte schon vor Monaten seinen Geist aufgegeben. Man konnte sagen, dass ich das einfache Leben genoss und nicht nach mehr verlangte. Zumindest nicht nach etwas, das die materielle Seite betraf.

Nicht vielen Menschen war mein Name überhaupt ein Begriff, doch ein Großteil derer, die mich kannten, hatte mich bereits als Freak abgestempelt. Mit dieser Prägung lief ich schon mehrere Jahre herum, anfangs hatte sie mich verletzt, heute nahm ich sie kaum noch wahr. Irgendwann im Leben gab es eine Zeit, in der dich die Worte anderer nur noch am Rande berührten und in der man lernte, den Fokus auf die wichtigen Dinge zu setzen.

Obwohl ich heute nicht mehr als einen Joghurt und zwei Äpfel gegessen hatte, fühlte ich mich satt. Statt erneut aufzutischen, goss ich mir ein Glas Organgensaft ein, wobei ich bedauernd feststellen musste, dass ich die letzte Flasche geleert hatte. Durch mein Wohnzimmer ging ich auf eine Tür zu, die mich in den hinteren Teil des Gartens führte. Vor ein paar Wochen hatte ich mir hier eine Art Terrasse aufgebaut, die bisher aus zwei Stühlen und einem maroden Tisch bestand, den ich auf einem Flohmarkt für nicht mehr als fünf Euro erstanden hatte. Umständlich befreite ich mich von meinem grauen Pullover und förderte das Jersey-T-Shirt zutage, das ich darunter trug. Für einen Tag im März war es heute wirklich unangenehm warm, aber nun störte mich die Sonne nicht länger. Seufzend setzte ich mich auf einen der beiden Stühle, rückte das Kissen gerade, legte die Beine auf den Tisch, und schloss genießerisch die Augen. Die warmen Strahlen der Sonne trafen mich genau auf meiner Nasenspitze. Vielleicht würde es dieses Jahr mit den Sommersprossen klappen. Von fern hörte ich den Gesang eines Vogels. Als Kind hatte ich mir immer eingebildet, mit den gefiederten Freunden kommunizieren zu können. Indem ich ihre Lieder nachahmte und sie erneut zwitschern hörte, dachte ich, dass sie mir antworten würden. Nach einer Weile zog ich mir die Schuhe aus. Einen Moment dachte ich darüber nach, auch die Strumpfhose abzulegen, entschied mich aber dagegen. Die Sonne konnte trügerisch sein und ihr Gesicht schnell verändern. Entspannt blickte ich einem freien Nachmittag und einem ungestörten Abend entgegen, bevor mich morgen die städtische Bibliothek wieder empfangen würde. Vor einigen Jahren hatte man mich dort als Archivarin eingestellt. Damals wusste ich das Glück gar nicht zu schätzen, heute erkannte ich, dass es das Beste war, was mir hätte passieren können. Dass die kleine Bücherei überhaupt jemanden einstellte, war schon Grund genug zur Verwunderung. Dass dann auch noch ich die Auserwählte war, setzte dem Ganzen die Krone auf. Meine Zensuren waren zwar nicht schlecht, doch im direkten Vergleich mit anderen fiel ich durch. Bis heute erstaunte es mich, dass ich Arbeit in dem Ort gefunden hatte, an dem ich für immer bleiben wollte. Zumindest musste ich nie ein Fahrzeug benutzen, um meinen Verdienst aufzusuchen. Trotz meines Berufes als Archivarin war ich weniger im Archiv tätig, was daran lag, dass der unterirdische Teil der Bibliothek eher mittelmäßig bestückt war. Meistens wurde ich an der Ausleihe oder in Punkto Kundenberatung eingesetzt. Trotz allen Abwechslungen, die mir geboten wurden, zog ich die Stille im Archiv der Arbeit einer Bibliothekarin vor. Das Klischee, das in einer Bücherei Angestellte, den ganzen Tag lasen, traf auf mich zu. Zwar hütete ich mich davor, während meiner Arbeitsstunden ein Buch zum Vergnügen zu öffnen, doch verlor ich mich leidenschaftlich gern in fremden Welten, sobald ich zu Hause war. Manchmal dauerten meine Ausflüge in die Vergangenheit nur wenige Stunden, dann konnte es aber auch einmal der Fall sein, dass ich einen ganzen Tag nichts anderes tat, als mich von den Worten eines Autors schläfrig machen zu lassen. Bücher hatten eine große Kraft. Sie verstanden dich, wenn niemand sonst es tat, ließen dir Freiraum, wenn du zu ersticken drohtest und trösteten dich, wenn du mich missverstanden fühltest. Doch vor allem vermittelten sie das Gefühl, dass man nicht allein war. Gleich, wie verrückt und außergewöhnlich sich ein Mensch verhielt, da draußen gab es jemanden, der ihn verstand. Und manchmal war genau das meine einzige Hoffnung.

Vor allem die Bücher der englischen Weltliteratur hatten es mir angetan, von Jane Austen über Charlotte Bronte bis hin zu Elizabeth Gaskell verschlang ich alles, was mir unter die Finger kam. Keine Geschichte war sicher vor mir, bis ich sie nicht mindestens zweimal gelesen hatte. Das erste Mal glich einem Erlebnis, einer völlig neuen Welt und war in mehr als einer Hinsicht aufregend. Das zweite Mal aber lenkte deinen Fokus auf die Details, welche du bisher übersehen hattest.

Ich kannte Austens Romane auswendig, jeden hatte ich mindestens zehnmal gelesen und doch litt ich jedes Mal wieder, wenn Elizabeth Bennett den Antrag von Fitzwilliam Darcy ablehnte oder Anne Elliot sich ihrer grenzenlosen Schuld bewusst wurde, die nicht nur sie, sondern auch Captain Wentworth in die Verzweiflung getrieben hatte. Ich gruselte mich von Neuem, immer wenn Catherine Northanger Abbey zum Ersten Mal sah, hoffte inständig auf ein gutes Ende für Marianne Dashwood und übersprang die letzten Zeilen bei Lady Susan. Vielleicht war ich wirklich ein Freak, vielleicht hatten alle Recht, aber dann sollte es eben so sein. Niemand würde sich je in der Lage sehen, mich aus meiner Traumwelt zu reißen, dafür war ich zu fest in ihr verwoben.

Gerade wollte ich mir „Sinn und Sinnlichkeit“ aus dem Schlafzimmer hören, als ein unangenehmes Geräusch das Innere meiner Ohren erreichte. Stöhnend schloss ich für einige Momente die Augen, versuchte das Klingeln des Telefons auszublenden, doch der Mensch am Ende der Leitung blieb hartnäckig. Selbst nach dem zwanzigsten Läuten gab er nicht auf. Da mich eine ungute Vermutung beschlich, stand ich auf. Ich konnte mir zu gut vorstellen, wer meine Ruhe stören wollte. Widerwillig setzte ich mich neben das Telefon, verschränkte die Beine ineinander und atmete tief durch, bevor ich mich so neutral wie möglich meldete.

„Alana O’Brien.“

„Was ein Wunder! Die Prinzessin beantwortet ihre Anrufe!“, schrie mir Brianna ins Ohr. Natürlich. Meine Vermutung hatte sich bestätigt. Panisch wanderte mein Blick auf die roséfarbene Uhr über der Tür. Vielleicht würde ich es schaffen, Brianna in einer halben Stunde abzuspeisen, dann blieben mir bis morgen früh noch immer…Meine Finger als Zählhilfe in die Luft haltend, wurde ich von meiner Freundin unterbrochen.

„Ich kann gar nicht verstehen, wo du dich immer aufhältst. Du hast doch gar keinen Keller, aus dem ich dich holen kann. Aber selbst wenn dem so wäre, dann braucht man für den Weg nicht geschlagene drei Minuten.“

„Du hast es drei Minuten klingeln lassen?“, hakte ich nach. „Wow, Brianna, das ist sogar für dich ein neuer Rekord.“

„Um ehrlich zu sein, finde ich es ein bisschen frech, dass du…Ach, egal. Ich habe ja eigentlich beschlossen, mich deshalb nicht mehr aufzuregen. Du bist eben ein bisschen weltfremd und…“

„Brianna, wir hatten dieses Thema bereits“, tadelte ich sie. Wenn ich in diesem Moment auf etwas keine Lust hatte, waren es sinnlose Diskussionen über meinen Lebensstil, in denen mich Brianna lediglich rügen und ich mich verteidigen würde. Früchte trugen sie keineswegs.

„Was gibt es denn?“, fragte ich. Je früher ich sie auf das eigentliche Thema brachte, desto besser. Zeit war kostbar. Und ich wollte meine mit „Sinn und Sinnlichkeit“ verbringen.

„Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute Abend bei Ian im Pub bin. 20 Uhr.“

Absichtlich stellte ich mich ahnungslos. Innerlich ahnte ich jedoch schon, zu was sie mich gleich zwingen würde.

„Grüße Ian von mir.“

„Haha, Alana, sehr lustig!“, witzelte Brianna. Ich konnte mir ihr erbostes Gesicht in diesem Moment sehr gut vorstellen.

„Du wirst natürlich mit mir da hingehen. Wir haben schon so lange nichts mehr gemacht. Ich vermisse deine kultivierte Art…“ Bestimmt zog sie nun einen Schmollmund. Oder sie las von Karteikärtchen weitere Adjektive ab, die sie blindlings meinem Charakter zuschrieb.

„Das stimmt doch gar nicht“, fiel ich ihr ins Wort. Nervös fuhr meine rechte Hand über die Tischplatte. „Wir haben in den letzten zwei Wochen sechs Mal telefoniert!“

„Es ehrt dich, dass du meine Anrufe mittlerweile zählst, aber das meine ich nicht. Telefonieren ist doch nichts wert. Freundinnen müssen sich ab und zu mal sehen, sonst drehen sie durch. Oder?“

„Klar…“, sagte ich gedehnt. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wie konnte ich Brianna am besten verdeutlichen, dass ich heute Abend keine Zeit für sie hatte? Welche Entschuldigung würde sie akzeptieren? Würde sie überhaupt eine akzeptieren?

„Hör mal, ich bin wirklich froh, dass du mich einlädst, aber gerade heute…“

„…immer ist etwas gerade heute“, beschwerte sich Brianna. „Das Lustige ist, dass ich irgendwie ein Gespür dafür habe, die Tage herauszufischen, an denen du beschäftigt bist. Was ein lustiger Zufall! Oder?“ Ihre drohende Stimme wurde durch den Lautsprecher des Telefons verstärkt.

„Es tut mir ja auch sehr leid, Bree“, beteuerte ich. Meine Nervosität stieg. Beim besten Willen fiel mir keine plausible Ausrede ein, außer der, dass ich morgen früh arbeiten musste, doch diese Begründung ließ Brianna aus Prinzip nicht gelten. Arbeiten muss jeder, lautete ihre galante Antwort. Dann dürfte man ja nie mehr feiern, wenn man alles immer der Arbeit wegen verlegen würde.

„Was hast du denn so Wichtiges vor? Lesen?“

Ja, genau. Ich möchte lesen. Ist die Menschheit so engstirnig geworden, dass sie das Studieren eines Buches nicht mehr als vollwertige Beschäftigung ansieht?

„Ich habe viel im Haushalt zu tun. Ich muss mit Jemmy Gassi gehen. Ein bisschen aufräumen. Saugen.“

„All das, bis auf den Hund, müsste ich auch längst mal wieder tun. Aber ich verrate dir nun ein Geheimnis: Die Hausarbeit läuft nicht weg. Ganz im Gegenteil: Sie wartet sogar auf dich, Du kannst das dreckige Geschirr so lange stehen lassen, wie du willst, es wird sich definitiv nicht von allein spülen.“ Ich hasste es, wenn Brianna gehässig wurde. In letzter Zeit verhielt sie sich oft so, was nicht zuletzt an mir lag.

Beharrlich schwieg ich. Sie würde ohnehin gleich weiterreden.

„Wenn dir der Weg zu lang ist, kann ich dich gern abholen.“ Ein Knurren formte sich in meiner Kehle. Immer wieder musste Brianna Kritik an meiner Einstellung üben, immer wieder ritt sie darauf herum, dass ich keine Autos fuhr oder öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Sie konnte es einfach nicht lassen.

„DARAN liegt es ganz gewiss nicht!“, antwortete ich verbissen.

„Kannst du mir wenigstens sagen, warum wir uns gerade heute Abend treffen müssen? Reicht morgen nicht auch?“

„Ich habe, nun ja, wie soll ich es sagen, Neuigkeiten“, gab Bree nach einer Pause zu. Kurz überlegte ich, worin dieses Neuerungen bestanden, gab aber schnell auf. Brianna war in mehr als einer Hinsicht ein Überraschungspaket. Wahrscheinlich konnte ich unmöglich darauf kommen, was sie mir zu berichten hatte.

„Neuigkeiten, die nicht bis morgen warten können?“, hakte ich nach. Gedanklich sah ich mich schon am kleinen Tisch vor dem Fenster sitzen und einen Cocktail trinken.

„Genau. Alana, bitte!“ Die Sprechmuschel zuhaltend, stöhnte ich.

„Naaaa gut“, erwiderte ich gedehnt und unterbrach Briannas Freudenschrei „aber nur eine Stunde!“

„Perfekt!“, meinte sie. „Ich sehe dich um zwanzig Uhr bei Ian. Den Weg kennst du ja noch, oder?“

„Haha. Auch wenn du mich weltfremd findest, funktioniert mein Gedächtnis tadellos.“

„Na dann. Bis heute Abend, Ale!“

Seufzend legte ich auf. Innerlich verabschiedete ich mich bereits von „Sinn und Sinnlichkeit“.

Impressum

Texte: Regina Meißner
Bildmaterialien: Wie immer spreche ich meinen herzlichsten Dank an Rica aus
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch geht an all die Männer, in die ich mich verliebt habe, bevor der Richtige kam.

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