Das Märchen „Dornröschen“ taucht in beinahe allen Ländern und Kulturen auf. Jeder kennt die Geschichte des wohlbehütenden Königskindes, das sich aufgrund des Fluches einer bösartigen Hexe an seinem 15. Geburtstag an einer Spindel sticht und in einen 100-jährigen Schlaf fällt, aus dem es nur durch der wahren Liebe Kuss erweckt werden kann. Ein stolzer Prinz trotzt zahlreichen Hindernissen, kämpft sich den Weg zum schönen Dornröschen frei, und befreit es aus dem Schlummerzustand. In einer einzigen, fließenden Bewegung presst er seine unglaublich warmen Lippen auf die erkaltete Haut der Prinzessin und schenkt ihr auf diese Weise viele, noch kommende, Jahre.
In vielerlei Hinsicht glich mein Leben dem der Königstochter. Schon seit meiner Geburt lastete eine dunkle Prophezeiung auf mir, der ich nicht entgehen konnte, da eine Frau ihren Kampf gegen die Eifersucht kläglich verlor und Rachen nehmen musste.
Zwar stach ich mich nicht an einer Spindel und schlief schon gar keine 100 Jahre wie eine Tote, doch wie im Märchen wurde ich wachgeküsst. Nach vielen Monaten holte mich die Berührung eines Adligen wieder in das Reich der Lebendigen.
Dornröschen hatte damals seinen Prinzen geheiratet und mit ihm ein Leben voller Glück und Zweisamkeit geführt.
Aber genau in diesem Punkt lag der Unterschied.
Was war, wenn man sich nicht in den Mann verliebte, der den Fluch brach und das Leben der Prinzessin rettete? Was war, wenn es einen anderen gab?
Nun, dann ging es wohl nicht mehr um Dornröschen, sondern um mich.
„Was denkst du, wie es sein wird? Ewig zu schlafen und nicht zu wissen, ob man noch mal aufwacht…“ Nachdenklich richtete ich meinen Blick durch das weiße Fenster.
„Denkst du schon wieder darüber nach? Eines Tages wirst du noch verrückt!“ Mit einer mahnenden Handbewegung trat meine Amme auf mich zu und legte mir den dunkelgrünen Mantel um die Schultern. Schnell schlüpfte ich in die weiten Ärmel und zog das Band an der Taille zu.
„Als ob ich eine andere Wahl hätte.“ Resigniert schaute ich die alte Frau an, die nun tief seufzte. „Du darfst dir von diesem Fluch nicht dein Leben zerstören lassen. Wer weiß, ob er überhaupt kommt…“
„Ob er überhaupt kommt? Natürlich kommt er. Flüche täuschen sich nicht!“ Auffordernd stellte ich mich vor sie, musste aber gleich meine Augen wenden, da die Trauer, die in ihrem Blick lag, mich überwältigte.
„Tut mir Leid“, sagte ich schulbewusst. „Ich weiß ja auch nicht, wieso ich die letzten Tage dauernd davon spreche und kein anderes Thema kenne. Mich macht es nur schrecklich nervös, dass es nun jede Sekunde so weit sein kann und….“ Erschöpft gab ich auf.
Wie immer, wenn ich Trost brauchte, legten sich die Arme der alten Frau auf meine Schulter. Leise seufzte ich.
„Kind, ganz gleich, wann es geschieht, du kannst nichts dagegen tun. Versuche, ruhig zu bleiben und Hoffnung zu haben.“
Entmutigend schüttelte ich den Kopf und ließ meine braunen lockigen Haare hin und her schwingen. „Worauf soll ich denn hoffen?“.
Die Amme drückte mich fest an sich heran, bevor sie sprach: „Jeder Fluch kann gebrochen werden! Irgendwo gibt es ein Gegenmittel.“
Ihre Worte brachten mich dazu, mich aus der Umarmung zu schütteln. Normalerweise konnte ich gut mit Trost umgehen, aber immer, wenn es um die Prophezeiung ging, fühlte ich mich hilflos.
„Als ob wir das Gegenmittel finden würden! Es kann überall sein. Die Hexe wird uns sicher nicht sagen, wo es ist.“ Freudlos lachte ich auf, mied zum erneuten Mal den Blick der Amme.
„Gib die Hoffnung nicht auf. Wir werden es schon schaffen.“
„Das hast du auch schon vor drei Monaten gesagt und nichts hat sich daran geändert.“
Statt zu antworten, seufzte sie nur. Was konnte sie auch schon machen? Genau wie ich war sie nur eine Figur in dem Spiel, das sich eine höhere Macht ausgedacht hatte. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt konnten wir zwar entscheiden, welchen Weg wir einschlugen, aber letztlich waren wir alle Opfer und wurden in unser Schicksal gedrängt.
„Vielleicht weiß ja der König etwas Neues.“
Ich merkte, dass sie nur Konversation machte. Natürlich wusste Vater nichts Neues. Auch wenn seine Boten seit Jahren das Land und die angrenzenden Provinzen durchkämmten, hatten sie selten etwas herausgefunden, das uns weiter bringen konnte. Ihre niedergeschlagenen Gesichter, die sie immer dann hatten, wenn sie von einer erneuten Reise ergebnislos heimkehrten, verfolgten mich in meine Träume und brannten sich auf meine Netzhaut, sodass ich sie nie vergessen konnte. Hätte es wirklich etwas Neues gegeben, wäre es mir bekannt.
„Lass uns nicht mehr davon reden, Amme“, bat ich sie.
Die alte Frau nickte. „Es ist ohnehin an der Zeit, dass du dich fertig machst. Calissa wird sich schon auf einen Ausritt freuen.“
Dankend lächelte ich sie an. Manchmal war es gut, dass sie keine weiteren Fragen stellte und alles für bare Münze nahm, was ich ihr erzählte. Es kam mir gerade recht, dass ihre Naivität andere Charakterzüge wie Skepsis oder Vorsicht überdeckte.
„Bleib nicht so lange weg, Kind. Der Himmel verdunkelt sich schon.“
„Nur eine Stunde. Wie immer.“
60 Minuten gestohlene Zeit. Und doch war es mir die wertvollsten Augenblicke des ganzen Tages.
Zum Abschied küsste ich die alte Frau auf die Wange.
„Wenn du Vater siehst, grüße ihn von mir“, rief ich noch und verschwand dann schnell und beinahe heimlich aus meinen Gemächern.
Ich wollte wirklich ausreiten, das war nicht gelogen. Doch nicht, wie meine Amme dachte, mit meiner Gesellschafterin Estrine. Genauso wenig würde ich auf den festen, breiten Wegen bleiben. Ich würde in den Teil das Waldes preschen, der der dunkelste und geheimnisvollste des ganzen Königreiches war. Weil er den einzigen Platz darstellte, an dem ich ihn treffen konnte, ohne mich ständig umsehen zu müssen. Weil er wahrscheinlich schon auf mich wartete. Und ich den Ausdruck in seinem Gesicht vermisste, wenn er mich sah.
Estrine begab sich ein jedes Mal in Gefahr. Als Einzige wusste sie, was wirklich vor sich ging. Nach einer Weile drosselte sie gewöhnlich das Tempo ihres Hengstes und verharrte lesend auf einer Lichtung. Schenkte mir jeden Tag erneut diese eine Stunde, obwohl es ihr leicht die Anstellung hätte kosten können. Estrine war meine einzige und beste Freundin. Ich schuldete ihr mehr, als ich fähig war, zurückzuzahlen.
Hätte es sie nicht gegeben, würden die geheimen Treffen mit ihm nie stattfinden.
Unsere Lichtung sah aus, als wäre sie in pures Gold getaucht. Von überall her schienen Strahlen der untergehenden Sonne und verliehen dem Gefilde ein romantisches, beinahe sehnsüchtiges Licht. Ein Lächeln zog sich auf meine Lippen, wie immer, wenn ich kurz davor war, ihn zu treffen. Man konnte das schönste Leben führen, ohne Entbehrungen und Leid, doch all das war nichts im Gegensatz zu dem, was er mir schenkte. Jedes Mal, wenn wir uns heimlich sahen, versprach er mir mehr als nur Sicherheit. Wir gaben uns einander hin und ich war ganz die Seine.
„Nur ein Stunde, Genevieve“, warnte mich meine Gesellschafterin. Schnell tat ich ihre Bemerkung mit einem Nicken ab. Ich hörte sie noch seufzen, als ich fliegenden Schrittes auf die geheimnisvolle Lichtung zutrat, sicher in dem Glauben, dass die schönsten Minuten des Tages genau vor mir lagen.
Ich spürte seine Schritte, noch bevor er da war.
Ich hörte seinen Atem an meinem Hals, noch bevor er nah genug war.
Als sich seine starken Hände über meine Augen legten, lachte ich. Überschwänglich drehte ich mich um und sah den Mann, der mir zum wichtigsten Menschen auf der ganzen Welt geworden war und das binnen lächerlicher 45 Tage.
„Aiden!“, rief ich und umarmte ihn stürmisch. Zum wiederholten Male überraschte es mich, wie gut unsere Körper zueinanderpassten, wie schnell und sicher ein jeder seine Mulde fand, um dann mit dem anderen vollkommen zu verschmelzen.
„Nicht so stürmisch, Prinzessin. Das gehört sich nicht“, neckte er mich. Ich stoppte seine Worte mit einem kurzen Kuss. „Das ist mir egal, Aiden. Ich habe mich schon den ganzen Tag nach dir gesehnt, jede einzelne Minute habe ich abgewartet und…“ Dieses Mal war er es, der seine Lippen auf meine presste. Sehnsuchtsvoll umschlang Aidens rechte Hand meine Hüfte, während er mich immer näher an sich heranzog. So nah, dass nicht einmal der Hauch eines Flüsterns noch zwischen uns passte. Nachdem die Überschwänglichkeit des Wiedersehens in uns abgeklungen war, ließen wir uns, zugegeben ein wenig außer Atem, auf das warme Herbstgras sinken.
„Wie war dein Tag?“
Er tat unbestimmt. „Wie immer. Wir haben viel zu tun in der Mine, jetzt, wo Diamanten gefunden wurden.“ Unsicher zuckte er mit den Achseln. Aiden war kein Mann großer Worte.
Nachdenklich nickte ich.
„Das ganze Schloss ist in Aufruhr. Niemand hätte gedacht, dass in den Minen etwas anderes zu finden ist als Staub. Als meinem Vater die frohe Kunde überbracht wurde, sah er endlich das Ende unserer finanziellen Sorgen kommen. Es wäre so schön, wenn wir einfach mal ein paar Monate über nichts nachdenken müssten, wenn für eine Zeit die Regierungsgeschäfte ruhen könnten und jeder genug zu essen hätte.“
Sehnsuchtsvoll schaute ich gen Himmel. Nur wenige, kleine Wolken zogen über das Firmament.
„So einfach ist es nicht, Genevieve. Ich glaube kaum, dass die Diamanten die Schulden tilgen können. Mehr als eine Handvoll wurde ja noch nicht gefunden“, erinnerte er mich vorsichtig.
„Es gibt sicher noch viele Schätze in der alten Mine.“
„Wenn dem so ist, werden wir sie auf jeden Fall finden!“
Den Himmel nicht mehr länger betrachtend, wandte ich mich Aiden zu, der auf dem Gras lag und die Augen geschlossen hatte. In warmen Strahlen schien die Sonne auf sein Gesicht, welches völlig entspannt schien. Unfassbar zart strich ich ihm über die Haare und ließ meine Finger weiter über Stirn und Mundpartie wanderten. Aidens Aussehen war einfach. Wahrscheinlich würde er in der Masse eher untergehen als auffallen, doch das war mir recht so. Ich hatte ihn für mich allein und nur das zählte.
„An was denkst du“, fragte er mich dann und öffnete seine Augen. Meine Finger schnellten zurück, obwohl sie ihn schon tausendfach berührt hatten.
„Dass du perfekt bist.“ Ein Kloß hatte sich in meiner Kehle gebildet.
„Nun ja, perfekt würde ich es nicht gerade nennen.“
Doch ich schüttelte vehement den Kopf. „Du bist der, nach dem ich jede Sekunde meines Lebens gesucht habe und ich kann es noch immer nicht fassen, dass es dich tatsächlich gibt.“
„Die Prinzessin und der Minenarbeiter.“
Ich hasste es, wenn er über unseren gesellschaftlichen Stand sprach. Verstand er denn nicht, dass sich Staatsräson und Etikette auflösten, wenn wir beieinander waren? Dass es keine Hochwohlgeborene mehr gab, wenn ich in seinen Armen einschlief?
„Du bist mein Prinz.“
Nun lachte Aiden. Ein langer, kehliger Ton entschlüpfte seinem Mund.
„Einen schönen Prinzen gebe ich ab, mit der verschmutzten Arbeitsuniform.“
Wir tauschten ein Lächeln, klein und scheu.
„Mir ist es egal, wo du arbeitest. Mir ist es egal, wie du dich kleidest. Ich will dich und daran wird sich nichts ändern.“
Sichtlich zufrieden mit meinen Worten schloss er erneut die Augen.
„Tage wie diese dürften niemals enden, Ginny.“
Ich nickte, obwohl ich wusste, dass er es nicht sehen konnte.
Und so lagen wir nebeneinander, eine gefühlte Ewigkeit. Nichts durchbrach die Stille, die wir uns selbst aufgebaut hatten und sich wie ein Schleier des Glücks über uns breitete. Mit jeder Faser meines Körpers spürte ich den Menschen, der neben mir lag.
Ich sah den Mann mit den blauen Augen und dunklen Haaren überall.
Es gab nur eine Stunde am Tag, in der ich mich fallen ließ. Es gab nur eine Stunde, in der ich wusste, warum ich den Rest des Lebens auf mich nahm.
„Ginny, komm schnell!“
Unsanft rüttelte mich etwas an der Schulter. Nein, nicht etwas. Jemand.
„Estrine?“ Ungläubig blinzelnd sah ich mich um. Zwar befand ich mich noch immer auf der Lichtung, doch sah sie nun viel dunkler aus. Wie aus Reflex blickte ich neben mich, doch Aiden war nicht mehr da.
„Wo…wo ist er? Was ist los?“
„Du bist eingeschlafen. Ich denke, er ist schon weg. Und nun komm, wir müssen uns beeilen!“ Ohne weitere Erklärungen packte mich Estrine am Arm und zog mich mit sich. Perplex folgte ich ihr, obwohl meine Schritte unsicher und laut auf dem Boden widerhallten.
War ich wirklich eingeschlafen? Wenn ja, dann konnte ich Estrines Zorn verstehen. Auch wenn die Lichtung verborgen in einem tiefen Wald lag, so konnte sie doch jeder nach einer Zeit des Suchens finden. Zwar begegnete mir auf meinen Ausritten selten ein Wanderer, aber ab und zu wurden sie doch gesehen. Urplötzlich wurde mir klar, dass ich nicht vorsichtig genug gewesen war. In der Tat hätte es mehr als nur einen Skandal gegeben, wenn man mich, Genevieve Daneka Eleazar, Thronfolgerin Auras, schlafend neben einem Minenarbeiter gefunden hatte. In weniger als einer Sekunde wäre mein Ruf für immer zerstört.
„Ich habe dir doch schon tausend Mal gesagt, du musst vorsichtig sein! Ich kann nicht immer ein Auge auf euch haben, das ist einfach nicht möglich! Du bringst damit nicht nur mich, sondern vor allem ihn in Gefahr. Stell dir vor, was gewesen wäre, wenn sie ihn gefunden hätten!“
Ich schauderte. Nein, das wollte ich mir nicht ausmalen.
„Es ist ein Glück, dass wenigstens Aiden genug Verstand hatte und die Lichtung verließ.“
„Es tut mir Leid, Estrine, wirklich. Ich werde besser aufpassen. Ich weiß ja selbst nicht, wie es passiert ist. Das Gras war so warm und einladend und…“
„Das ist mir egal, Genevieve. Wir bewegen uns hier ohnehin schon auf sehr dünnem Eis. Jeder Fehler kann dir das Leben als Prinzessin kosten.“
„Ich weiß. Estrine, ich verspreche dir, es wird nicht mehr vorkommen….“
„Vielleicht solltest du diese Treffen einstellen“, schlug sie vor und sah mir dabei fest in die Augen. „Letztlich, früher oder später, musst du dich von Aiden trennen. Dein Vater würde niemals einem Schwiegersohn zustimmen, der unter deinem Stand steht. Außerdem braucht das Königreich Geld, ein Luxus, den dir Aiden nicht bieten kann.“
Mittlerweile hatten wir die Pferde erreicht, die an einem Stamm angebunden waren.
„Estrine, ich bin schwach. Ich kann es einfach nicht.“
„Eines Tages wirst du Königin sein. Da darfst du dir keine Schwäche mehr erlauben.“
Betreten schaute ich zu Boden.
„Ich weiß. Und ich weiß auch, dass ich bis zu diesem Tag noch eine Menge zu lernen habe. Wahrscheinlich werde ich nie so gut sein wie meine Mutter. Trotzdem…diese eine Stunde ist mir das wichtigste in meinem ganzen Leben. Aiden ist mir das Wichtigste. Ich kann ihn nicht aufgeben. Nicht jetzt.“
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein klitzekleines Lächeln auf Estrines Lippen erschien, das sich aber sogleich wieder verzog.
„Ich wünschte ja auch, ihr könntet glücklich werden. Aber…“
„Es geht nicht“, beendete ich seufzend ihren Satz. „Natürlich geht es nicht, Estrine. Aber sag das mal meinem Herzen.“
Vor dreizehn Jahren beging mein Vater einen folgenschweren Fehler. Eine einzige Entscheidung hatte sein Leben für immer verändert und er war machtlos, etwas an ihr zu ändern. Wenn schon nicht das Wort eines Königs gelten sollte, wessen dann? Vor dreizehn Jahren versprach mein Vater einer Frau etwas, das er nicht halten konnte und wurde dafür bestraft. Unzählige Male hatte er versucht, seine Aussage ungeschehen zu machen, doch gleich was er tat, es reichte nicht. Kein Gold, kein Besitz und auch keine Ländereien konnten den Zorn der Frau zügeln, den er heraufbeschworen hatte. Mit gefährlicher Stimme hatte sie ihm damals prophezeit, sein Leben zu zerstören und Wort gehalten. Anscheinend schien sie sehr gut zu wissen, dass man meinen Vater nur auf eine Art und Weise verletzen konnte, dass es nur etwas gab, dessen Verlust er nicht würde überwinden können. Mich. Hätte er sich damals nicht mit der Unbekannten eingelassen, hätte es auch den Fluch nie gegeben, doch es war zu spät, die Vergangenheit für etwas zu brandmarken, an dem man nichts mehr ändern konnte. Vielmehr sollte man sich auf das konzentrieren, das man fähig war, zu beeinflussen. Das Jetzt und Hier, die Gegenwart.
Ich seufzte tief und blickte auf die sorgfältig zubereitete Suppe vor mir. Noch immer war es mir ein Rätsel, wie unser Koch es schaffte, mit wenigen Zutaten solch aufwändige Speisen zuzubereiten. Obwohl wir finanziell an allen Ecken und Enden kürzer treten mussten, kam mir dies nun, da ich den Löffel in die dickflüssige Masse tauchte, nicht so vor.
„An was denkst du, Genevieve? Du siehst heute Abend so bedrückt aus und bist seltsam still.“
Um meinen Vater nicht zu beunruhigen, schenkte ich ihm schnell ein Lächeln. Er hatte schon genügend eigene Sorgen, da sollte er sich nicht noch um meine kümmern müssen.
„Es ist alles in Ordnung, Vater. Ich habe nur ein wenig nachgedacht.“
Die Art, wie er mich anblickte, wie sich seine faltigen Mundwinkel zu einem Schmunzeln verzogen und die alten, treuen Augen mich stolz taxierten, verursachte mir einen Kloß.
„Deine Amme hat mir schon berichtet, dass du in letzter Zeit gar nicht richtig bei der Sache bist.“
Wahrscheinlich hätte der Tonfall eines Anderen seine Bemerkung zu einem Tadel werden lassen, doch Vaters Tonfall klang sanft und sogar etwas amüsiert.
„Also, was ist es, das dich so beschäftigt?“
Ich habe Angst, wollte ich ihm sagen. Ich habe Angst, weil es jede Minute so weit sein könnte. Weil der Fluch sich bald über das ganze Schloss senken wird und keiner von uns in der Lage ist, etwas dagegen zu tun. Es ist schrecklich, sich so hilflos zu fühlen. Hier sitzen zu müssen und sich einzugestehen, dass man nichts gegen die Tatsachen ausrichten kann. Dass die Prophezeiung bald wahr werden wird. Und weil ich nicht weiß, was dann aus mir wird. Wo ich hingehe. Wie lange ich weg bleibe. Und außerdem weiß ich nicht, was mit euch geschieht. Ich will nicht, dass ihr meinetwegen weint und das alltägliche Leben beendet. Ich will nicht, dass ihr mit weinenden Augen an mich zurückdenkt und den Rhythmus des Tages verliert. Außerdem habe ich keine Ahnung, was aus Aiden werden soll. Ich liebe ihn, Vater. Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben fühle ich mich lebendig. Er kann mich zum Lachen bringen und auch wenn ich ein schlechtes Gewissen haben sollte, wenn ich bei ihm bin, habe ich es nicht. Beinahe ist es so, als hätten unsere Seelen sich schon eine Ewigkeit gesucht, doch nun, da sie einander gefunden haben, sind sie schon zum Abschied verdammt. Ich werde verrückt, wenn ich an den Fluch denke. Überhaupt gibt es da in mir drin gar keine anderen Gedanken mehr. Alles dreht sich um das große schwarze Nichts, in das ich bald fallen werde. Und keiner weiß, wie lange.
Es gab so viel, das ich ihm sagen wollte, doch alles, das meinen Lippen entschlüpfte, war:
„Die Tage sind einfach anstrengend. Don Fresenius erwartet viel von mir, nicht nur in den Sprachen, sondern auch in Mathematik und Astrologie. Das ständige Lernen ermüdet mich,“
Selten zuvor hatte ich so glatt gelogen. Beinahe schockierte es mich, wie selbstverständlich und sicher die Lüge über meine Lippen kam. Und ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte, als Vater sie für bare Münze nahm.
„Das verstehe ich gut, Genevieve. Don Fresenius ist ein angesehener, gebildeter Mann und er erwartet viel von seinen Schülerinnen. Aber du solltest nicht nur die Mühe sehen: In wenigen Jahren wird dich seine Anstrengung in eine kultivierte, junge Dame verwandeln, die ihren Vater sehr stolz macht.“
Mein Blick war auf die Tischplatte gerichtet, als ich nickte.
Als mein noch halb voller Teller Cremesuppe abgeräumt wurde und ein Diener im Begriff war, den zweiten Gang aufzutragen, stoppte ich seinen Fleiß mit einer Handbewegung.
„Ich habe genug.“
Doch war es nicht der Diener, sondern mein Vater, der antwortete.
„Du solltest noch etwas zu dir nehmen, Genevieve. Tatsächlich hat dich Don Fresenius Unterricht dünn werden lassen. Zu dünn.“
„Mir geht es gut, Vater“, erwiderte ich sogleich „Ich habe heute Mittag einfach etwas zu viel gegessen und nun keinen Appetit mehr. Würdest du mich bitte entschuldigen?“
Obwohl es sich nicht gehörte, vor dem Dessert den Raum zu verlassen, genehmigte mir der König mein Anliegen. Francis, unser Page, zog, nachdem ich aufgestanden war, meinen Stuhl vom Tisch weg und wünschte mir eine geruhsame Nacht.
Ich war erleichtert, als ich den großen Saal hinter mir lassen durfte.
Ich wollte meinen Vater nicht ständig anlügen müssen, aber zum momentanen Zeitpunkt war es einfach unmöglich, ihn mit all dem zu konfrontieren, das mich bewegte. Für Gespräche solcher Art hatte ich Estrine. Oder mein Tagebuch. Das musste genügen.
„Bitte setzen Sie sich etwas aufrechter hin, den Rücken gestreckt. Ja, genau so…Und nun recken Sie den Hals und schauen ein wenig nach links. Nein, nein, das ist zu viel. Nur ein Hauch. Stopp! Bleiben Sie so. Das ist gut. Bemühen Sie sich nun noch um einen sanfteren Ausdruck im Gesicht, nicht lächeln, aber bemühen Sie sich um einen freundlichen Ausdruck in den Augen. So als…“
Nachdenklich kratzte sich der Hofmaler am Kinn. „So als würden Sie jemanden sehen, der ihnen sehr viel bedeutet, von dem Ihr Vater aber nicht wissen darf, dass Sie ihn mögen. Dennoch wollen Sie ihm irgendwie verdeutlichen, dass er Ihnen nicht ganz egal ist. Und das gelingt nur, wenn Sie Ihre Augen zum Strahlen bringen, während Ihr Mund der gerade Strich bleibt, der er nun ist. Nun schauen Sie mich verwirrt an? Nun ja, wie soll ich es anders ausdrücken? Versuchen wir es einmal so: Ihr Vater kommt von einer langen Reise nach Hause und….“
„Paoblo, ich glaube, Sie hat es verstanden!“ Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Estrines zu Anfang noch neutraler Gesichtsausdruck in eine genervte Farce verwandelte.
„Überhaupt sollten wir uns etwas beeilen! In zwei Stunden muss die Prinzessin bereits bei Ihrer Handarbeitsstunde sein und bis dahin möchte Eure Hoheit zumindest die ersten Konturen des Bildes erkennen.“
„Sie haben leicht reden, Miss! Sie wissen ja nicht, was es heißt, ein Künstler zu sein!“ Wild fuchtelte Paoblo hinter der Leinwand mit seinem noch unbenutzten Pinsel hin und her. „Kunst bedeutet Zeit. Hingabe und Leidenschaft. Unmöglich kann man sie in wenige Augenblicke pressen und dennoch ein perfektes Ergebnis erwarten. Das geht einfach nicht!“ Ein verschmitztes, verbotenes Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als Estrine laut aufseufzte und zu ihrem nächsten Konterpart ansetzte. Tatsächlich war der einzige Grund, aus dem ich mich noch immer malen ließ, die ständigen Auseinandersetzungen zwischen meiner Gesellschafterin und dem Hofmaler. Für jene hitzigen Diskussionen ließ ich mich freiwillig stundenlang zurecht biegen. Wenn es in meinem Leben auch momentan nicht viel gab, über das ich, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, lachen konnte, genoss ich die Augenblicke, in denen sich Paoblo wieder einmal ein wenig zu viel Zeit ließ und Estrine nach gestaffelten Momenten des Hinnehmens letztlich die Contenance verlor.
„Sie werden nicht nur für Ihre Zeit bezahlt, Paoblo, sondern auch für Ihre Arbeit. Wir sitzen hier bereits seit einer geschlagenen Stunde und alles, was Sie getan haben, ist Ihre Malutensilien herauszuholen, die Leinwand aufzustellen und Genevieve…die Prinzessin in eine Position zu setzen, die Ihnen mittlerweile auch nicht mehr gefallen würde, weil sie sich soeben wieder völlig anders drapiert hat.“
Ein schneller Blick an mir herunter zeigte die Wahrheit in Estrines Augen. Während des kleinen Disputs hatte ich völlig vergessen, in meiner Haltung zu verharren, mich stattdessen an die Lehne des gemütlichen, braunen Sessels gedrückt, sodass mein Rücken keine Linie, sondern viel mehr eine Kurve darstellte. Bestimmt schaute ich auch nicht mehr, als würde ich einen geheimen Freund wiedersehen und niemand dürfte es wissen, sondern angesichts des Streites einfach amüsiert.
„Oh nein!“ Unglaubhaft zog Paoblo die Worte in die Länge und hastete zu mir herüber. „Prinzessin, was haben Sie gemacht? Nur einen kleinen Augenblick habe ich nicht auf Sie geachtet und schon sehen sie schlimmer aus als am Anfang. Ich frage mich immer, wie man überhaupt so krumm sitzen kann. Das sieht nicht nur schrecklich aus, es macht auch krank! Sie sind schließlich kein Bauerntölpel, sondern eine Hochwohlgeborene. Doch so, wie Sie nun den Sessel missbrauchen, sieht es aus, als haben Sie keinerlei Ahnung, welchem Stand Ihr Vater innewohnt.“
„Paoblo“, zischte Estrine, „zügeln Sie sich in Ihrem Temperament. Sie reden mit der Kronprinzessin!“
„Sagen Sie mir gefälligst nicht, wie ich meine Arbeit machen soll! Einzig und allein Sie sind doch Schuld daran, dass die Prinzessin nun wieder so falsch sitzt.“
„Ich?“ Estrine stieß ein glockenhelles Lachen aus, das nur so vor Sarkasmus triefte. „Und was soll ich bitte gemacht haben?“
„Mit Ihren ständigen Bemerkungen haben Sie nicht nur mich, sondern auch die Prinzessin völlig aus dem Konzept gebracht. Stimmt es nicht, euer Hoheit?“
Verzweifelt biss ich mir auf die Lippen, um nicht ungezügelt lachen zu müssen. In der Tat waren Paoblos verzweifelter und Estrines böser Gesichtsausdruck aber zu viel für mein Zwerchfell. Leise kicherte ich in mich hinein.
„Sehen Sie sich an, was Sie angerichtet haben! Die Prinzessin ist ja völlig euphorisch!“
Paoblos Worte machten es nicht besser. Kläglich verlor ich den Kampf und gluckste, dieses Mal leider etwas zu laut.
Sowohl Estrine, als auch der Maler taxierten mich, wenngleich nur die erste verstand, um was es hier wirklich ging.
„Möchten Sie, dass Miss Estrine den Salon verlässt“, fragte Paoblo zögernd, da er anscheinend nicht wusste, wie er mich am besten handhaben sollte.
Schnell schüttelte ich den Kopf.
„Es ist alles in Ordnung, wirklich. Können wir nun weitermachen?“
„Solange Miss Estrine nichts dagegen hat….“ Er konnte einfach nicht mit dem Sticheln aufhören.
„Ich sagte ja nur, dass sie sich besser beeilen, sonst bezahlt der König dieses Mal bestimmt kein Vermögen mehr.“
Schon holte Paoblo Luft und wollte gerade eine bissige Bemerkung entgegensetzten, als ich die beiden Streithähne stoppte.
„Estrine“, bittend blickte ich meine Gesellschafterin an. „Lass Paoblo doch einfach seine Arbeit machen. Früher oder später wird er schon anfangen.“
Bevor mir der Ausdruck auf Paoblos Gesicht zu selbstgefällig wurde, fügte ich aber noch hinzu: „Und ich hoffe, dass es wirklich bald mal anfängt, sonst sitzen wir übermorgen noch hier.“
Glücklicherweise verfehlte meine Bemerkung ihre Absicht nicht. Estrine ließ sich, wenn auch etwas zu theatralisch, auf das brokatrote Chaiselongue zu meiner Rechten sinken und Paoblo trat auf mich zu.
„Soll ich Ihnen noch einmal erklären, wie Sie sich hinsetzen müssen?“
Mit jedem Meter, den er mir näher kam, steigerte sich auch der ungute Geruch, welcher Paoblo ausstrahlte. Sobald er den Mund öffnete, begegnete mir ein Schwall von toten Fischen und sonstigen Schweinereien, die ich nicht aufzuzählen vermochte. Als er nun mein Gesicht zwischen seine schwitzenden Hände nahm, wünschte ich, mir mit einem Taschentuch die Hand vor die Nase pressen zu dürfen, doch ein solches Verhalten wäre angesichts der Umstände natürlich unangebracht gewesen. Also presste ich die Zähne zusammen. Paoblos Anblick lag mir schon schwer genug im Magen, da wollte ich nicht auch noch seinen Duft in voller Gänze in mir aufnehmen. In der Tat war ich mir nicht einmal sicher, ob der fremdländische Maler seine Haare schon mehr als einmal in seinem Leben gewaschen hatte, denn eine verräterische, fettige Schicht legte sich nicht nur auf den Ansatz. Ein unreines, pickeliges Gesicht schaute mich an, während die eine haarige Hand meinen Hals ein wenig zu vorsichtig nach links drehte.
„Sie sind sehr schön, Prinzessin, wissen Sie das?“
Erst glaubte ich, mir die geflüsterten Worte eingebildet zu haben, doch als ich in Paoblos erwartungsvolles Gesicht schaute, wurde mir bewusst, dass er, der Hofmaler, mir gerade tatsächlich dies unschickliche Kompliment gemacht hatte. Mit Mühe versuchte ich, mich nicht übergeben zu müssen. Ganz gleich, welchen Teil ich fokussierte, er ekelte mich an.
Estrines schneidende Stimme bedeutet Erlösung.
„Ich glaube, dass die Prinzessin sehr gut in der Lage ist, Ihren Anweisungen Folge zu leisten, ohne dass sie gleich selbst Hand anlegen müssen. Oder, Genevieve?“
Erleichtert nickte ich, immer und immer wieder.
Noch einmal traf mich eine Wolke aus totem Fisch, als sich Paoblo seufzend abwandte.
„Na schön“, gab er sich geschlagen. „Ich wollte nur, dass es schneller geht.“ Dieses Mal ging Estrine nicht auf seine Stichelei ein.
Zum dritten Mal an diesem Tag wiederholte der Maler seine Anweisungen und dieses Mal gab ich mir auch Mühe, sie schnellst möglich umsetzen zu können, da ich Paoblos einengenden Atem nicht mehr so schnell spüren wollte. Irgendwie schaffte ich es schließlich auch, den vom Künstler geforderten Ausdruck auf mein Gesicht zu zaubern und war unheimlich froh, als er endlich seinen Pinsel in die Palette tauchte und mein Antlitz auf die Leinwand zauberte.
Hätte mein Vater nicht auf ein neues Bild von mir bestanden, säße ich wohl kaum hier. Allerdings lag die letzte Malerei, auf der ich zu sehen war, schon mehrere Monate zurück. Außerdem bestand der König darauf, jede meiner Veränderungen, sowohl äußerlich als auch innerlich, dokumentiert zu sehen. Paoblos Dienste waren kostspielig. Trotz all der Nachteile, die er mit sich brachte, konnte man nicht leugnen, dass er sich auf sein Fach verstand. Die fertigen Bilder waren Kunstwerke und zeigten mehr als nur das oberflächliche Antlitz, das jeder Fremde erkennen konnte. Früher als Kind war mir das stundenlange Stillsitzen unheimlich schwer gefallen und auch heute merkte ich, wie die Finger meiner linken Hand ungeduldig auf die Sessellehne klopften. Entweder fiel es Paoblo nicht auf, oder er hatte zu viel Ehrgefühl, um mich darauf hinzuweisen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erkundigte sich Estrine nach dem Bild.
„Ich bin weiter gekommen, als ich dachte. Allerdings gibt es viele, kleine Details, die ich heute unmöglich vervollständigen kann und…“
In der folgenden Sekunde geschahen drei Dinge auf einmal. Während Paoblo seelenruhig weiterhin über seine Fortschritte philosophierte, wurde mit einem Ruck die Tür zum Salon aufgerissen und ein uniformierter Mann trat hinein.
„Wir dachten, wir müssten die Prinzessin informieren“, brachte er, wenn auch leicht stotternd hervor.
Skeptisch wandte ich mich ihm zu. Paoblos genervte Bemerkung, dass er nun wieder von vorn anfangen müsste, überging ich geflissentlich.
„Was ist passiert“, fragte Estrine an meiner Stelle und erhob sich von der roten Chaiselongue.
„Der König ist auf dem Weg zu Zephyra. Ein Wanderer hat sie gestern ausmachen können.“
In stummem Entsetzen presste ich meine Hand vor den Mund.
„Er glaubt, sie vielleicht überzeugen zu können…“
Nein, das war unmöglich. Man konnte mit dem Bösen nicht verhandeln. Und wenn man nicht aufpasste, wurde man selbst auf die dunkle Seite gezogen.
„Wann ist er aufgebrochen?“ Meine Stimme arbeitete schneller als mein Verstand.
„Das wissen wir nicht genau, Prinzessin. Wir erhielten Kunde von einem Wanderer, der den König sah, als er in eine Waldhöhle stieg. Laut Angaben ist dies die momentane Residenz der Hexe.“
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass alles verloren war. Dass jegliche Hoffnung, die ich mir still und heimlich noch immer gemacht hatte, sinnlos war. Wenn sich Vater in die Hände Zephyras gab, war es vorbei.
„Vielleicht wird ja doch alles gut, Ginny. Möglicherweise ist die Hexe zu einem Kompromiss bereit und…“
„Ich bitte dich. HEXEN sind niemals zu Kompromissen bereit.“
Das Gesicht auf die Knie gedrückt, saß ich neben Aiden auf einer Bank. Kalte Luft umgab mich wie ein Mantel aus Hass. Gänsehaut legte sich auf meine bloßen Arme und vertrieb jedes Gefühl der Wärme. Obwohl Aiden mich fest umschlungen hielt, drang die Zärtlichkeit, die in seiner Geste lag, nicht zu mir durch. Beinahe war es so, als wäre ich zu Eis erstarrt.
„Der König wird sich sicher vorsehen. Er war schon immer ein vorsichtiger Mensch…“
Ich wusste, dass seine Worte mich beruhigen sollten, dass er verzweifelt nach etwas suchte, das mich meinen Gram vergessen ließ, aber verfehlten die Formulierungen ihre Wirkung.
„Was ist, wenn er nicht mehr zurückkommt?“
Meine Stimme glich einem Flüstern.
„Er kommt wieder, Ginny. Wenn die Hexe ihm wirklich schaden will….“
Bedeutungsschwanger hallten Aidens ungesprochene Worte in der Dunkelheit wider.
Ja, wenn Zephyra dem König auf die schlimmste Art und Weise Pein bereiten wollte, dann nur durch mich. Denn nichts war meinem Vater wichtiger als ich.
Aiden nahm mein von Tränen entstelltes Gesicht in seine Hände und zwang mich so, ihn anzusehen.
„Genevieve…Wir haben geahnt, dass dieser Tag kommen wird. Zwar sind die Diener des Königs unermüdlich nach einem Gegenmittel auf der Suche, aber blieben ihre Bemühungen bisher fruchtlos. Dein Vater will dir helfen. Und dafür nimmt er jede Möglichkeit, die sich ihm bietet.“
„Du kennst Zephyra nicht. Du hast keine Ahnung, wer sie ist.“
„Aber du doch auch nicht, Genevieve. Du hast diese Frau nie gesehen.“
„Ich weiß aber, was man sich über sie erzählt.“ Allein der Gedanke ließ mich schaudern.
Als Aiden nichts erwiderte, fuhr ich fort.
„Man sagt, dass Zephyra schon älter ist als Menschengedenken. Sie kann verschiedene Gestalten annehmen, deshalb weiß man nie, wann sie da ist und wann nicht. Sie ist keine gewöhnliche Hexe; manche Zungen behaupten sogar, sie war einmal eine schöne Frau, die mit den dunklen Künsten in Kontakt gekommen ist. Zephyra beherrscht jeglichen Zauberspruch und niemand ist stark genug, ihren Fluch zu brechen. Sie hat mehr Macht über uns, als wir zugeben wollen. Die Nacht ist ihre Zeit. Manchmal, wenn ich abends aus dem Fenster schaue und die Wölfe heulen höre, muss ich an sie denken.“
Meine Stimme versagte.
Stattdessen blickte ich auf die kreisrunde Silhouette des Vollmondes, der sich wie ein drohende Macht am Firmament zeigte. Das Kreischen einer Eule durchbrach die gespenstische Stille.
„Was ist, wenn sie ihn getötet hat“, formulierte ich stockend die eine Frage, die mich beschäftigte, seit meines Vaters Bote Paoblos Malerei unterbrochen und uns die grausame Kunde mitgeteilt hatte.
Ein erneutes Mal zog Aiden sich an mich heran und schenkte mir den Hauch eines Kusses.
„Er ist nicht tot, Ginny. So darfst du nicht denken.“
„Mit jeder Stunde, die er länger weg ist, wächst meine Angst.“
„Er muss die Hexe doch erst einmal finden. Falls es sie wirklich in vielen Gestalten gibt, kann es dauern, bis er die wahre ausmacht.“
„Die Boten haben gesagt, Vater wurde mitgeteilt, wo sie sich aufhält. Er müsste schon längst da sein und…“
„Ssssschhh…. Alles wird gut….“
„Ein Bauer hat erzählt, er hätte Zephyra in der Gestalt eines Rabens gesehen. Sie hat sich auf seinem Feld niedergelassen und die Ernte für ein ganzes Jahr zerstört…“
„Ginny, das sind doch alles Gerüchte. Woher will dieser Mann denn gewusst haben, dass die Hexe in einem beliebigen Vogel steckt? Du solltest nichts auf das Geschwätz der Leute geben. Meistens wollen sie nur ein bisschen Aufmerksamkeit und sich interessant machen. Mehr steckt nicht dahinter.“
„Ich weiß…“, gab ich seufzend zu und kuschelte mich enger an Aiden.
„Aber ich denke mir…All diese Geschichte müssen doch irgendwo ihren Ursprung haben. Ist nicht an jedem Gerücht etwas Wahres?“
Fragend blickte ich ihn an und erwartete zum ersten Mal an diesem Abend wirklich eine Antwort.
„Nicht an Hexen, die sich in Raben verwandeln und die Ernte vergiften. Bestimmt nicht…“
War es ein Lachen, das verräterisch um seine Mundwinkel zuckte?
„Aber glaubst du denn nicht an Magie, Aiden?“
Mir fiel erst später auf, dass es anscheinend für ihn keine eindeutige Antwort auf die Frage gab.
„Ich glaube an das, was ich sehe. An das, was passiert. Ich glaube an das Königreich und an den König als seinen stolzen Herrscher. Und ich glaube an dich, Genevieve. Ich glaube, dass du alles erreichen kannst.“
Beinahe vorsichtig griff ich nach seiner Hand und drückte sie. Die Innenflächen waren von Schwielen übersät.
„Du arbeitest zu hart, Aiden.“
„Aber was soll ich denn machen? Es ist die einzige Möglichkeit, wie ich mein Geld verdiene.“
„Pass nur immer gut auf dich auf.“
Vielleicht verstand er es so, wie es gemeint war. Mit diesem schlichten Satz wollte ich Aiden so viel mehr sagen. Dass ich ihn liebte. Dass er mir mehr bedeutete, als ich in meinem ganzen Leben aufzählen konnte. Dass ich damals, als ich ihn das erste Mal sah, wohl vom Schicksal geküsst wurde. Dass ich ihn nicht mehr loslassen würde. Und dass, wenn wir uns doch einmal verlören, unsere Seelen verbunden blieben.
„Stets zu Diensten, Prinzessin!“
Angesichts des ungewohnten Tonfalls musste ich kichern.
„Ich glaube, du musst nun wieder zurück, Ginny. Man wird dich vermissen, wenn du noch länger bleibst und du willst doch nicht, dass Estrine uns unser morgiges Treffen streicht.“
Ich musste stöhnen, weil er Recht hatte.
Schwerfällig erhob ich mich.
„Gute Nacht, Aiden.“
„Gute Nacht, Prinzessin.“
Mit wallenden Röcken eilte ich zum Schloss zurück. In der Tat fühlte ich mich nicht mehr ganz so niedergeschlagen wie noch vor einigen Stunden, aber konnte auch Aiden den Klumpen Angst in meinem Herzen nicht völlig verschwinden lassen. Falls ich Schlaf fand, würden heute Nach meine Träume nicht von ihm, sondern ausschließlich von Zephyra handeln.
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2013
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Widmung:
Once Upon a Time - Merci.