„Wofür brauchst du bitte Sekundenkleber, Gracie?“ Amanda schaut mich perplex an und wedelt mit dem kleinen Fläschchen, das auf meiner Fensterbank gestanden hatte. Ich seufze. „Es ist wegen Tante Maude“, erkläre ich dann zähneknirschend. „Sie hat mir doch letztes Jahr zum Geburtstag diese scheußliche Vase geschenkt. Und ausgerechnet gestern, am Tag vor meiner Hochzeit, musste dieses Mistding doch zu Bruch gehen.“. Amanda hat nicht ganz verstanden und zieht fragend die Augenbrauen hoch. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass sich deine Tante gerade heute nach ihrer Vase erkundigt.“ „Oh, da kennst du Maude aber schlecht. Sie vergisst nie eines ihrer Geschenke und fragt stets, ob ich mich auch wirklich gefreut habe und wo ich die Präsente denn hingestellt habe. Das war letztes Jahr genauso, als ich extra wegen ihr diese Skulptur mit den drei Köpfen aus dem Keller holen musste.“ „Das Gruselding?“ Amanda kichert und ich stimme in ihr Lachen ein. „Ja genau, das Gruselding.“ „Die Familie kann wirklich anstrengend sein.“
„Aber jetzt wollen wir nicht länger palavern. Du musst endlich dein Kleid anziehen!“ Vergnügt klatscht Amanda in ihre Hände und strahlt mich an. „Ich sag’s dir, Gracie. Du wirst aussehen wie eine Prinzessin!“ Ich spüre, wie ein angenehmes Gefühl der Vorfreude sich in mir breit macht. Heute ist meine Hochzeit. Monatelang habe ich diesem einen Ereignis entgegen gefiebert und nun ist es endlich so weit. All die Vorbereitungen, Pläne und Einladungen münden in diesem einen Tag. Strahlend stimme ich ihr zu: „Ich kann es kaum erwarten.“
„Brandon hat doch hoffentlich noch nicht dein Kleid gesehen.“ In Amandas Stimme kämpfen Ermahnung und Belustigung um die Vorherrschaft. „Ich bitte dich. Natürlich hat er es nicht gesehen! Wir wollen doch kein schlechtes Omen heraufbeschwören.“ „Du weißt aber, was er trägt, oder?“ „Natürlich. Das ist ja auch was ganz anderes. Man darf dem Geschmack der Männer nie blind vertrauen!“ Erneut albern wir herum.
„Was ist denn jetzt mit der Vase?“, greift dann Amanda erneut das vorangegangene Thema auf. „Wenn du sie wirklich noch kleben willst, dann jetzt, wo du noch nicht umgezogen bist.“ Doch ich winke ab. „Ist mir jetzt auch egal. Vielleicht hat Tante Maude ja doch einmal einen guten Tag.“ Ehrlich gesagt glaube ich nicht daran. Aber noch weniger habe ich Lust, nun kreativ tätig zu werden und gefühlte zwanzig Scherben aneinanderzukleben, nur um dann feststellen zu müssen, dass ein jeder sofort merken würde, dass es sich nicht mehr um die ursprüngliche Vase handelt.
„Oh mein Gott, du siehst einfach bezaubernd aus!“ Es kommt nicht oft vor, dass Amanda beinahe sprachlos ist und deshalb genieße ich diesen Moment umso mehr. Ein kleines Lächeln legt sich auf meine leicht roséroten Lippen, als ich an mir hinunterblicke. Eigentlich hatte ich nie geglaubt, das eine, perfekte Hochzeitskleid zu finden, aber als ich es vor einem Monat in einer Pariser Boutique entdeckt hatte, wusste ich instinktiv, dass es das richtige war. Es ist bodenlang, mit weiter, ausfallender Schleppe, hat einen geraden Ausschnitt, ist in der Hüfte etwas enger geschnitten und mit tausenden Perlen verziert. Was mir aber besonders an ihm gefällt, ist der leichte Stich ins Rosafarbene.
„Meinst du wirklich, das geht so?“
„Du hast Nerven, das zu fragen! Stell dich mal vor einen Spiegel und schau dich richtig an! Ein jeder würde erblassen vor Neid, wenn er dich so sieht! Und dann erst die Haare: Ich habe keine Ahnung, wie Lauren es geschafft hat, deine Wolle zu bändigen und sie dann auch noch in Locken zu legen.“ Sie kichert. „Aber nun mal ernsthaft: Hast du etwas Blaues, etwas Altes, etwas Neues und etwas Geliehenes?“ Amanda legt den Kopf schief, als ich nicke. „Ja. Dieses Armband hier,“, mit einer umständlichen Handbewegung deute ich auf das weiße mit Rosen verzierte Schmuckstück, „hat meiner Großmutter gehört. Sie hat es damals zu ihrem 16. Geburtstag bekommen und seitdem ist es in der Familie.“ Einen Moment überlege ich. „Etwas Blaues war nicht leicht zu finden, aber…“ Neckisch hebe ich mein Kleid ein wenig und beobachte wohlwollend, wie Amandas Augen groß werden. „Du Miststück!“, jauchzt sie. „Brandon wird sich nicht mehr einkriegen können vor Freude!“ Verschmitzt schaue ich sie an und lasse schließlich den Traum aus Tüll wieder fallen. Ja, das glaube ich auch. „Etwas Neues?“, hilft Amanda meinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge. „Das Brautkleid müsste doch eigentlich neu genug sein, oder?“ Halb hoffend, halb abwartend schaue ich sie an, aber Amanda nickt. „Und dann noch das Geliehene.“ Ich seufze. „Das wären dann wohl die Schuhe. Egal, wo ich hingegangen bin, in keinem einzigen Geschäft hatten sie Schuhe, die sowohl zum Kleid passen, als auch meinen Geschmack treffen. Also… hatte ich eigentlich Glück, als ich diese hier bei Pamela im Schrank entdeckt habe.“ „Wenigstens sind sie nicht hässlich.“, versucht Amanda, mich aufzubauen. „Und wenn sie dann noch gut passen, ist doch alles wunderbar.“ Ich nicke.
In meinen Kindheitsträumen habe ich es mir wohl eine Millionen Mal ausgemalt, wie es sein würde, von meinem Vater am Tag meiner Hochzeit zum Altar geführt zu werden. Hunderte Möglichkeiten war ich durchgegangen, hatte jedes Detail akribisch geplant und mir die schönsten Szenerien ausgemalt. Einmal heiratete ich im Winter, früh am Morgen. Eiszapfen hingen vor dem Fenster und Nachtfrost verlieh der Luft eine nebelige Atmosphäre. Ein anderes Mal fand die Hochzeit im Sommer statt, auf einer riesigen, wunderschönen Blumenwiese. Ein Glas Champagner hebend, wünschten mir die Gäste alles Gute. Damals, in meinen kindlichen Träumen – sah auch mein Bräutigam immer anders aus – eine Zeit lang war er ein Ritter, manchmal ein Prinz und in einem besonders schwierigen Zeitalter sogar mal ein Obdachloser. Wen er auch darstellte: Er war immer meine einzige und wahre Liebe, hatte ein Herz aus Gold und machte mich ein ganzes Menschenleben lang glücklich.
Als ich Brandon damals traf, wusste ich, ihn gefunden zu haben. Zwar entspricht er mit seinen braunen, kurzen Haaren, der eher schmächtigen Statur und seiner vielleicht etwas zu großen Nase nicht einer klassischen Schönheit, doch immer, wenn ich ihn sehe, weiß ich, dass ich angekommen bin und mein Leben nun ein Ziel hat.
Ich hatte mir unzählige Male ausgemalt, wie ich zum Altar schreiten würde – aber nun, wo es tatsächlich geschieht, ist es doch ganz anders. Da ist kein Schnee – und schon gar keine Blumenwiese. Stattdessen findet unsere Hochzeit in einer kleinen Kapelle in Hammersmith, einem Stadtteil von London, statt. Es sind nicht viele Gäste gekommen, weil ich irgendwann gelernt habe, dass man seine wahren Freunde meistens an einer Hand abzählen kann, aber die, die gekommen sind, strahlen mir entgegen. Obwohl die Kapelle keine große Kapazität und pompösen Verzierungen vorweisen kann, weiß ich, als ich in Brandons Augen sehe, dass diese Realität schöner ist als all meine kindlichen Vorstellungen zusammen. Ich ergreife den Arm meines Vaters etwas fester und schreite mit zitternden Beinen immer weiter zum Altar. Amanda, meine Trauzeugin, hat sich bereits vorne eingefunden. Am Anfang hatte sie nicht gewollt, dass ich ihr Kleid aussuche, da sie, was meinen Geschmack betrifft, immer lieber etwas skeptisch eingestellt ist, aber nun, wo ein Traum von Lila ihre schlanke Statur umhüllt und die schwarzen, langen Haare nur umso mehr zu Geltung bringt, kann jeder sehen, dass dies das beste Kleid ist, das man hätte wählen können. Schnell zwinkere ich ihr zu.
„Ich, Brandon James Howley, nehme dich, Grace Elizabeth Manilow, zu meiner angetrauten Ehefrau, werde dich lieben, schützen und immer zu dir stehen, bis dass er Tod uns scheidet.“ Sein Blick ruht verlässlich auf mir und doch klopft mein Herz unbeständig und schnell. Als er mir den Ring an den Finger steckt, sind aber auch seine Finger unsicher und zittern. Dann gelobe ich den Schwur und bin insgeheim erleichtert darüber, mich nicht verhaspelt zu haben.
„Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut nun…“
Er lässt den Priester nicht ausreden, sondern umarmt mich stürmisch und presst seine warmen Lippen an meinen überraschten Mund. Dies ist kein Kuss, wie er in einem Gotteshaus stattfinden soll, dafür ist er zu stürmisch, zu wild und viel zu leidenschaftlich. Aber all das kümmert mich in diesem Moment wenig. Ebenso gierig und ungehalten erwidere ich seine mir dargebotene Liebe. Aus den Augenwinkeln erkenne ich Amandas belustigten Ausdruck.
Nun bin ich verheiratet.
Draußen werfen die Gäste Reis, als Brandon und ich den langen Gang passieren. Die Hand meines Ehemannes umschließt fest die meine und ich schwöre mir in diesem Augenblick, sie nie mehr loszulassen. Ich werde bei ihm bleiben, bis einer von uns diese Welt verlassen muss.
„Ich liebe dich, Brandon.“, flüstere ich.
„Du bist alles für mich.“, erwidert er.
Das erste Mal in meinem Leben weiß ich, dass ich glücklich bin.
Heute ist der Anfang meines Lebens.
„Mrs. Howley? Sind sie fertig? In zehn Minuten müssen wir los!“
Verwirrt drehe ich mich um und sehe die kleine, rundliche Frau, die energisch auf mich einredet. Es dauert einen Moment, bis meine Gedanken sich geordnet haben und ich wieder weiß, wo ich bin. Mit der Erkenntnis kommt der Schmerz, der meine Brust wie ein Messer durchzuckt.
Ich schaue an mir herunter, beinahe so, wie ich es eben in meinen Erinnerungen getan habe. Aber das Kleid, das ich nun trage, ist nicht das zartrosa Gewand, welches ich für meine Hochzeit ausgewählt habe. Nein, das Kleid ist schwarz und es sieht genauso trostlos aus wie das, was nun auf mich zukommt.
„Ich helfe Ihnen, Ihre Schuhe anzuziehen. Dann wird sie Mr. Lloyd in die Leichenhalle bringen. Es sind bestimmt schon die ersten Gäste da.“
Ich nicke, als stimme ich zu. Aber genau das will ich nicht tun. Ich will nicht diesen letzten, finalen Gang antreten und mich von ihm verabschieden. Ich will meinen Mann nicht unter die Erde bringen.
„Nun kommen Sie schon, setzen Sie sich auf das Bett. Dann sind sie schnell fertig.“ Ihr Lächeln ist traurig, obwohl sie nicht ansatzweise versteht, wie es in mir aussieht. Das weiß sowieso niemand. Weil niemand Brandon so geliebt hat wie ich. Wenn wenigstens Amanda nun bei mir wäre. Aber auch sie ist vor zwei Jahren aus dem Leben geschieden. Ich bin die Einzige von uns, die immer noch übrig ist und weiß selbst nicht so genau, warum.
Noch heute ist meine Hochzeit der Tag, an dem ich am glücklichsten war. Und auch wenn es mir vielleicht nicht gut tut, denke ich ständig daran zurück. Wie ich mit nur 17 Jahren Brandom Howleys Frau wurde.
Und nun, mit 87 Jahren, bin ich seine Witwe.
Texte: Alle Rechte an den Texten liegen bei mir.
Bildmaterialien: Alle Rechte an den Bildern liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Weil das Leben Anfang und Ende hat.