-eins-
Als ich aus dem Fenster blicke, ballen sich meine Hände zu Fäusten. Verwirrend erkenne ich, wie die einzelnen Adern blau und ungesund hervorstechen und meine ohnehin schon raue Haut langsam, aber sicher aufreißt und in kleinen, erleichternden Blutrinnsalen auf die Erde tropft. Mein Körper ist bis zum Zerreißen gespannt, das Herz klopft drei Mal schneller als gewöhnlich. Mit jeder Faser meines verfluchten Körpers nehme ich das wahr, was die Menschen da draußen schon lange wissen: Es ist wieder Frühling. Er ist gekommen mit seinen Klauen des Grauens. Er ist wieder da mit seiner Luft, an der man ersticken kann. Er ist gekommen und so schnell wird er nicht mehr gehen. Der Himmel ist viel klarer. Die dunklen Gewitterwolken der letzten Tage sind verschwunden. Unbarmherzig grell strahlt die Sonne auf mich herab. Wütend wende ich den Blick. Ich hasse diese Jahreszeit mit ihrer vorgegaukelten Freude, den pastellen Farben und all den Menschen, die denken, dass man erst richtig leben kann, wenn es draußen warm ist. Oh, wie hasse ich all das, was kommt, wenn Frühling ist.
„Mr. Jacobs? Was machen Sie denn da schon wieder am Fenster?! Ich habe Ihnen das Frühstück gebracht.“
Ich antworte nicht, drehe mich noch nicht einmal um. Zu genau weiß ich, was gerade passiert, weil es jeden Tag so abläuft, weil es immer und immer das Gleiche ist und das schon seit über 350 Tagen. Die gleichen Abläufe, die gleichen Bewegungen, Routine durch und durch. Vor meinem inneren Auge sehe ich die junge Frau mit den unheimlich langen, braunen Haaren, wie sie, ein Tablett in der Hand, sich langsam bückt, um den Tisch zu decken. Früher einmal hätten mich ihre scheuen Rehaugen und die schlanke Taille vielleicht berührt, aber heute ist das alles zu einer Nebensache für mich geworden.
„Mr. Jacobs, ich habe das Frühstück aufgetragen. Schauen Sie es sich doch vielleicht einmal an, es sieht wirklich gut aus heute. Vielleicht schaffen Sie es ja sogar, etwas zu essen. „
Diese säuselnde, ruhige Stimme. Wie einen fahrenden Zug lasse ich ihre Worte an mir vorbeiziehen.
„Um 14 Uhr haben Sie einen Termin bei Dr. Jenkins.“
Mit diesen Sätzen verschwindet sie, leise die Tür hinter sich zu ziehend. Und ich bin mal wieder allein. Während die Schwester da war, habe ich das Fenster nicht einen Moment außer Augen gelassen. Nun zwitschert ein Vogel. Auch den dürfte es eigentlich gar nicht geben. Und immer wieder diese Sonne. Mir scheint, als macht sie sich lustig über mich. Es kommt mir vor, als lacht sie mich aus und ist schadenfroh darüber, dass ich verloren habe. Ein zweites Mal.
Am Rande der psychiatrischen Anstalt blühen die ersten Schneeglocken. Gestern habe ich schon einen Krokus gesehen. Aber so schlimm mir all das auch vorkommt, weiß ich doch, dass es erst der Anfang ist und ich wohl alle meine Kräfte brauche, um den Rest zu überstehen. Im Sommer bin ich dann lahmgelegt. Eine Jahreszeit später wird es langsam besser, vorausgesetzt, dass ich so weit komme. Letztes Jahr habe ich es geschafft. Und wurde reich dafür belohnt. Denn nach dem Herbst kommt der Winter. Und da kann ich wieder leben.
Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie sich ein Eichhörnchen über die Straße stiehlt. Hoffentlich wird es überfahren, schießt da ein Gedanke durch meinen Kopf. Doch die Autos sind alle zu langsam, ein Fahrer geht sogar in die Bremsen, um das Wesen zu schützen. Weichei. Wahrscheinlich freut er sich auch über die schwindenden Wolken und die Tatsache, dass es abends jetzt noch länger hell ist. Dabei kann ich ja kaum in der Dunkelheit schlafen.
-zwei-
Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Wer stört schon wieder? Auch ohne meine Zustimmung merke ich, wie sich die Klinke langsam nach unten biegt und ein Paar Füße, gefolgt von einem mächtigen Oberkörper mit Rubensfigur, den Raum betritt. Bertha. Meine Frau.
„Hallo Henry.“, sagt sie, vorsichtig.
Halbherzig drehe ich mich um. „Hallo.“
Zaghaft setzt sie sich auf einen der Stühle, welche das Personal für Besuche wie diesen hergerichtet hat. Ich bleibe, wo ich bin und werfe noch schnell einen letzten, prüfenden Blick in die Natur. Das Eichhörnchen ist weg und auch die Vögel sind ruhig. Diese Tatsache lässt mich aufatmen.
„Wie geht es dir, Henry?“
Die schwülstigen Lippen und ihr Doppelkinn, welches bei jedem Wort auf und abschwingt wie ein Stück Fleisch, ekeln mich an. Penetrant starre ich auf ihre Wurstfinger, die vor Aufregung schwitzten. Innerlich schüttelt es mich und ich habe schon lange aufgehört, ihr etwas vorzuspielen.
„Wie immer.“
Auch habe ich schon lange aufgehört, wirklich mit ihr zu reden. Tatsächlich weiß ich noch nicht einmal mehr, wieso ich Bertha damals geheiratet habe. Ihr Aussehen kann es nicht gewesen sein, auch ist sie nicht unbedingt weltgewandt oder klug. Trotz allem gab ich ihr damals das Ja-Wort. Wahrscheinlich, weil ich es noch nicht besser wusste.
„Es ist so schönes Wetter heute, Henry. Willst du nicht einen der Pfleger bitten, auf dem Balkon frische Luft zu schnappen?“
Alles in mir versteift sich. Da ist es wieder. Das Thema Frühling. Die verhasste Jahreszeit. Widerwillig schüttele ich den Kopf. Warum können sie nicht verstehen? Warum sind sie so blind und sehen in der Sonne die Erfüllung all ihrer Träume und negieren dabei vehement die Tatsache, dass Hitze ganze Häuser niederbrennen kann? Dass es Menschen gibt, die gegen die Sonne allergisch sind? Dass zu Zeiten der permanenten Bestrahlung eine gute Ernte gar nicht möglich ist? Es gibt so viele Gründe, die Sonne zu hassen. Und doch sehen sie nur den einen: Dass sich der Himmel gelichtet hat und man nach draußen gehen kann, um ….Ja, um was dann eigentlich zu tun? Diesen Teil habe ich nie verstanden.
„Simon hat heute eine Zusage für seinen Praktikumsplatz bekommen. Er arbeitet bald in einem Labor.“
Desinteressiert nicke ich. Mein Sohn scheint mir so fern wie das kurze Glück, das ich verspüre, wenn Winter ist. Ich weiß, dass es ihn irgendwann einmal gegeben hat und dass er mal ein Teil meines Lebens war, aber darüber hinaus empfinde ich nichts.
„Gerald hatte gestern einen Schlaganfall. Sie haben ihn sofort ins Krankenhaus gebracht.“
Aha.
Sie bleibt noch eine Zeit und es entstehen Minuten, die mit nichts gefüllt sind, als mit Schweigen. Doch wiegen sie schwerer als gesprochene Worte. Irgendwann beschließt Bertha, sich selbst zu erlösen.
„Ich denke, ich gehe mal wieder. Es…wird Zeit. Ich muss noch einkaufen. Ich komme dann…“, sie seufzt leise, aber ich höre es, „morgen wieder.“ Damit erhebt Bertha Jacobs sich, schenkt mir einen letzten, verzweifelten Blick und geht ebenso laut, wie sie gekommen ist. Wie immer hat ihr Besuch nicht länger als fünf Minuten gedauert.
-drei-
Als ich erneut aus dem Fenster schaue, sehe ich einen Vater, der mit seinem Sohn auf einem Tandem den Berg hinuntersaust. Vor Freude hebt der Kleine seine sehnigen Arme, den Mund zu einer grotesken Fratze des Frohsinns verzerrt. Wenn sie sich doch nur überschlagen würden. Dann gäbe es zwei weniger. Oder wenn man sie wenigstens wegsperren könnte.
Mein Blick verdüstert sich.
So wie man mich weggesperrt hat.
Ich denke nicht gern an die Bilder, die ich in mir verborgen halte, aber manchmal tu ich es dennoch. Vielleicht, weil irgendwann die Qual zur Erinnerung wird. Oder weil ich zu den Menschen gehöre, die nur mit Schmerz funktionieren. Fakt ist, ich weiß es nicht. Aber wissen wir immer warum wir tun, was wir tun?
Und dann denke ich an den Winter. An seine weiße Pracht, die mich umgibt wie ein Mantel des Schutzes. An seine weitläufigen Gefilde. An die rauen Tage und Nächte. An die sternklare Dunkelheit. An den Mond, der majestätisch über der Szenerie thront. Ich denke an die verschneiten Wälder, die Eiszapfen an den Häusern und die wohlige Wärme, die einen automatisch umgibt, wenn man eine Wohnung betritt.
Doch vor allem denke ich an sie.
An die Schneekönigin, die Majestät des Winters. An die, bei der alles möglich, aber nichts nötig ist.
Ich habe mich in sie verliebt, in diese stolze Frau. Und auch wenn ich es immer noch nicht glauben kann, hat sie meine Zuneigung erwidert. Glasklar erinnere ich mich an die Abende, die ich an ihrer Seite verbrachte, Hand in Hand durchquerten wir endlose Weiten und wussten, dass das, was wir haben, uns nur retten kann. Leise seufze ich. Ihr Gesicht offenbart sich vor mir, erst verschwommen, doch schon bald kann ich jeden einzelnen Winkel erkennen. Die alabasterfarbene, makellose Haut, die unglaublich eisblauen Augen, tiefer als jeder Ozean, die vollen Lippen, die zwar niemals lächeln und dennoch jeden Mann verwirren, der sie nur erblickt. Oh ja, sie ist begehrt, die Königin des Winters. Viele Freier werben jede Saison um ihre Gunst.
Aber entschieden hat sie sich für mich.
In meinem Leben voller Unsicherheiten weiß ich wenigstens das gewiss.
Im letzten Winter konnten wir uns nicht sehen. Sooft man mir im Sommer Teile meiner Freiheit zurückgibt, so wenig lässt man mich in der kalten Jahreszeit vor die Tür. Nur durch die milchigen Fensterscheiben konnte ich ihr perfektes Antlitz erspähen. Nur im Traum taten wir das, was ein Jahr vorher noch Realität gewesen war. Dennoch erwies sich diese Zeit als weitaus ruhiger und entspannter als Frühling, Sommer und Herbst zusammen. Auch wenn ich sie nicht berühren kann, würde ich den Rest des Jahres sofort gegen diese gestohlenen Minuten tauschen. Und auch jetzt verzehre ich mich nach ihrer Perfektion, die aus jeder Bewegung strahlt und ihresgleichen sucht.
Der Frühling macht mir jedes Mal aufs Neue genau das bewusst, an das ich nicht denken will. Dass ich es wieder nicht geschafft habe, meine Liebe mit ins nächste Jahr zu tragen. Dass die Schneekönigin wieder dort geblieben ist, im Winter, wo sie hingehört.
Man glaubte mir nicht, damals. Niemand sah sie, die perfekte Frau. Sie alle sagten, sie sei nur ein Gespinst meiner Fantasie, ein Bildnis meiner Träume, eine Person, die ich selbst erschaffen habe, weil Bertha mich nicht mehr verführt. Nun gut, zumindest Letztes stimmt. Bertha ekelt mich an.
Doch so etwas Vollkommenes wie die Schneekönigin könnte ich nie und nimmer erfinden. Tatsächlich wären noch die Worte des besten Autors zu schwach, um ihrer Schönheit gerecht zu werden.
In Wahrheit sind sie doch nur neidisch. Die Männer, weil die Wahl der Schneekönigin auf mich fiel und die Frauen, weil sie beliebig sind und nicht im Entferntesten an das herankommen, was monatelang in meinen Armen lag.
Umarmt dich der Frühling, sind es nur seine Klauen, die du spürst.
Umarmt dich der Winter, weißt du, dass du zu Hause bist.
-vier-
„Dr. Jenkins?“
Eilig läuft die dunkelhaarige Krankenschwester hinter dem behandelnden Arzt her. Dieser dreht sich um.
„Ms Lovelyn?“
„Sie haben gleich einen Termin bei Mr. Jacobs. Zimmer 204.“
„Ich weiß. Gretchen hat mir eben meine Arbeitszeiten durchgegeben.“ Er lächelt sie von der Seite aus an.
„Ich wollte nur sicher gehen. In den letzten Monaten geht uns hier so vieles durch die Lappen.“ Entschuldigend schaut sie ihn an, doch der Arzt fragt nur: „Wie geht es Mr. Jacobs heute?“
Sie zuckt mit den Schultern. Was soll sie schon sagen? In diesem Teil der Geschlossenen änderte sich selten etwas.
„Sein Zustand scheint stabil zu sein.“ Mehr sagt sie nie.
Bemitleidend schüttelt Dr. Jenkins den Kopf. „Ich kann einfach die Geschichte nicht vergessen. Als er damals, klirrend vor Kälte, nackt im Schnee gefunden wurde.“
Zustimmend nickt die Schwester. „Er hat sich doch wirklich eingebildet, er habe eine Beziehung mit…wie nennt er sie?“
„Die Schneekönigin.“ Die beiden schauen sich an.
„Glauben Sie, es bessert sich noch, Doktor?“
Er gibt keine Antwort. Stattdessen sagt er: „Ich wünschte, es gäbe eine Erklärung dafür, woher diese Einbildungen kommen. Manchmal frage ich mich, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit daran ist.“
Obwohl sie es nicht will, lacht die Schwester auf. „An der Schneekönigin? Passen Sie auf, Doktor. Wir müssen schließlich rational bleiben.“ Er nickt leicht. „Dann mach ich mich mal auf dem Weg zu Mr. Jacobs. Wer weiß, vielleicht geschieht dieses Mal ja ein Wunder.“ Das Lachen, das er ausstößt, klingt aufgesetzt und unmenschlich.
-fünf-
„Liebster, ich habe einen Weg gefunden, auch im Frühling zu dir zu kommen. Warte ab! Schon bald bin ich da.“
Texte: Der Text gehört allein mir. Jede Verbreitung ist illegal und wird strafrechtlich verfolgt!
Bildmaterialien: mein Eigentum
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2013
Alle Rechte vorbehalten