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Das Gold der Inka

Philipp Miller hatte eine kurze, unruhige Nacht hinter sich und ließ seinen Blick über die trügerisch glatte Oberfläche des dunklen Wassers schweifen, das ihn gleich verschlingen würde.

Seine euphorische Nervosität hatte ihn zu früh aufbrechen lassen, und der Sonne Vorboten eroberten sich gerade erst den Horizont.

Bis es für sein Vorhaben hell genug sein würde, hatte er noch Zeit, einen Müsliriegel zu knabbern. Der war etwas gegen den Hunger vor der Anstrengung und doch nicht zuviel im Bauch, um ins Wasser zu gehen. Auf einem Baumstumpf sitzend hing er eine Weile seinen Gedanken nach und beobachtete, wie die Natur um ihn herum langsam erwachte.

So idyllisch wie dieses Gewässer vor ihm lag, verbarg es, wie viele Opfer es schon gefordert haben mochte. Es war beileibe nicht sein erster Tauchgang, aber es fühlte sich genau so an. Philipp lächelte leicht. Sein erster Tauchgang hatte in der heimatlichen Badewanne stattgefunden. Wie lange das jetzt schon her war und es war ihm, als sei es erst gestern gewesen. Damals hatte er zu seinem 6. Geburtstag die erste Ausrüstung bekommen: Maske, Schnorchel und Flossen. Mit diesem Geschenk hatte er nicht nur das Tauchfieber, sondern auch die erste Schulung von seinem Vater erhalten.

„Gewässer sind ebenso schwer einzuschätzen wie die Menschen. Stille Wasser können nicht nur tief, sondern auch heimtückisch sein, mein Junge!“ Später war er zudem unter die Fittiche seines Onkels geraten, dem er seine wasserdichte Taschenlampe zu verdanken hatte, die heute noch funktionierte. Sie steckte in seinem Gürtel, neben dem Tauchermesser, dass Philipp aus Prinzip bei jedem noch so kleinen Dive bei sich hatte, wie es sich für einen echten Tiefseeforscher eben gehörte.

Ausrüstung ... Hatte er an alles gedacht? Überstürzte Handlungen sind in keiner Sportart gut, aber beim Tauchen endete so etwas nicht selten tödlich. Man hatte ihn vor dem Schatzfieber gewarnt und er bemühte sich um einen klaren Kopf, aber das fiel ihm sehr schwer.

Es war aber auch alles holterdipolter gegangen in den letzten Tagen. Vor zwei Tagen erst hatte er mit seiner Familie das kleine Ferienhaus bezogen, um hier und heute seinen runden Geburtstag zu feiern. Und dann hatte er gestern von dem Inka-Gold erfahren. Mit einem Mal war es um ihn geschehen gewesen. Er wollte den Triumph des Findens erleben. Wie groß der Jubel wäre, würde er mit dem Gold an die Oberfläche kommen! Der Erfolg würde dann vielleicht auch den Ärger mit der Regierung schmälern, schließlich ging er ohne die Genehmigung runter, die er vermutlich sowieso nie bekommen hätte.

Er nahm die Thermoskanne mit dem warmen Zitronentee aus dem Rucksack und stellte ihn auf die Picknickdecke. Den würde er gleich dringend brauchen, vorausgesetzt, er schaffte es wieder zurück ans Land. Handtuch und Bademantel legte er dazu. Dann begann er das mitgebrachte Seil um einen nahen Baum zu binden und festzuzurren. In gewissen Abständen waren Knoten darin, um ihm besseren Halt zu geben, wenn er gleich mit nassen Händen danach greifen würde. Dann zog er die Turnschuh von den Füßen, streifte die kurze Jeans von der Badehose, schickte sich an das T-Shirt auszuziehen und hielt plötzlich inne. Er hatte ein Geräusch in der Nähe gehört. Hatte man von seinem Vorhaben Wind bekommen? Sandte man bereits eine Einheit nach ihm aus? Unter dem Zeitdruck warf er jegliche Sorgfalt zusammen mit seinem Shirt fort, legte die Ausrüstung an, klemmte sich die Halteriemen der Flossen zwischen die Zähne und hätte beinahe den Käscher vergessen. Mit einem beherzten Wurf beförderte er diesen ins Wasser und griff nach dem Seil, um den Abstieg über die kleine, steile Klippe zu wagen.

Schon riss ihm der Algenschmierfilm die Füße weg. Philipp verlor den Halt, prellte sich fürchterlich das Schienbein und tauchte ungewollt schnell in die kalten Fluten. Zwar war hier der Ozean flach genug sich hinzustellen und nach Luft zu schnappen, doch die Kälte des Wassers war schneidender als gedacht. Er schaute rasch nach seinem Bein. Gott sei Dank hatte er sich die Haut nicht verletzt, denn hungrige Haie konnte er heute nicht auch noch gebrauchen. Diese kleinen Schrecksekunden halfen ihm wieder konzentrierter ans Werk zu gehen. Er angelte nach seinen Flossen, setzte die Maske und das Mundstück zurecht und suchte erfolgreich nach dem Käscher.

Der schlammige Boden hatte ihm sein plötzliches Eindringen übel genommen und vernebelte ihm die Sicht, dass er kaum die Hand vor den Augen erkennen konnte. Taucher Philipp beleuchtete das Ziffernblatt seiner Uhr. Es war halb sieben. Da hatte er noch Zeit. Bis acht wollte er sich das Zeitlimit setzen, denn die Geburtstagsgäste wollten bestimmt pünktlich frühstücken. Ob er es bei den Themperaturen so lange aushalten würde stand auf einem anderen Blatt.

Ein Riesenbarsch tauchte unmittelbar vor ihm aus der morastigen Wolke auf und passierte ihn links. Ihm folgten zwei weitere und würdigten den Tiefseeforscher keines Blickes. Gut dass es hier keine Schnappschildkröten gab, denn vor denen hatte Philipp gehörigen Respekt. Nun begann er systematisch den Boden abzusuchen. Er leuchtete und zog einmal das feine Netz von rechts nach links, was den Boden zusätzlich aufwühlte. Plötzlich bewegte sich etwas im Tang. Wie eine goldene Seeschlange nur viel feiner und filigraner tanzte zwei Armlängen vor ihm, eine Halskette in den Wasserpflanzen hängend. Er wollte gerade den Käscher einsetzen, da streifte etwas sein rechtes Bein. „Blöder Barsch!“, dachte er noch, als er im Augenwinkel die Silhouette einer dreieckigen Rückenflosse ausmachte. Der Hai drehte bei und kam frontal auf den Abenteurer zu geschwommen. „Ruhig bleiben, und dann eins auf die Nase geben!“, befahl sich der Tauchprofi und in letzter Sekunde wendete der personifizierte Schrecken ab. Jetzt griff der Schatzsucher rasch nach der Kette und konnte sein Glück kaum fassen. Der Anhänger - ein unförmiges, pferdeartiges Gebilde - hing noch daran und entpuppte sich in der Tat als das Goldstück der Inka. Das war ja schneller gegangen als gedacht.

Glückselig legte er sich die Kette an. Nur noch heile ans Ufer gelangen, dann konnte nicht mehr viel schief gehen. Auf dem Rückweg begegnete er wieder den drei Barschen, der Hai ließ sich nicht mehr blicken und im Schein seiner Lampe tauchte auch bald das Kletterseil auf. Diesmal würde er riskieren die Flossen, den Käscher und auch schon einen Großteil seiner Ausrüstung ans Ufer zu werfen, damit er weniger Ballast für die anstehende Kletterpartie hatte. Plötzlich vernahm er ein Brummen und Pfeifen, das er nicht direkt zuordnen konnte. Kam da ein Ozeanriese über ihn hinweg? Das würde auch die Schatten erklären, die seinen Tauchabschnitt verdunkelten. Dann brach ungefähr an der Stelle, an der er den Schatz geborgen hatte, ein Geysir aus.

„Höchste Zeit, dass ich hier rauskomme!“, murmelte er, als er sich das Mundstück heraus nahm.

„Das finden wir auch, Flip!“, kam eine streng wirkende Männerstimme von oben. Dort hatten sich die Damen und Herren der „Regierung“ am Ufer versammelt und schauten mit verschränkten Armen auf Herrn Miller Junior herab.

„Er scheint ja wohlauf! Dann gehen wir schnell wieder rein, den Tisch zu Ende decken.“, stellte die ältere der beiden Damen fest, und ging den anderen voraus. Lediglich der Kopf der Delegation blieb zurück und hielt Philipp die Hand hin, um ihm aus dem Wasser zu helfen. Dieser nahm die gebotene Hilfe dankbar an. Allzu groß würde der Ärger wohl nicht werden.

„Papa, ich habe Inkas Kette wieder gefunden!“, strahlte der fröstelnde Schatztaucher und wickelte sich in den Bademantel, während das Familienoberhaupt eine Tasse Tee eingoss und sie ihm reichte.

„Da wird sich Deine Schwester freuen, wenn sie gleich mit den Brötchen vom Bäcker kommt!“

„Kriege ich dann nicht so großen Ärger?“, bibberte Philipp. Seine Lippen hatten sich doch noch blau verfärbt.

„Du weißt, was Opa vom Betreten seiner Teichanlage hält!“

„Ich sag' ihm gleich, dass es mir Leid tut.“ Philipp nahm noch einen Schluck Tee. „Der Wels sieht echt fast aus wie ein Hai und die drei Goldies sind von nah noch größer als ich dachte! Vielleicht tröstet das den Opa ein wenig, wenn ich ihm liebe Grüße von denen bestelle.“

„Ja, vielleicht besänftigt ihn das. Außerdem haben die Mama und ich uns Sorgen gemacht! Da wäre nachher eine Entschuldigung fällig. Aber du scheinst dich ja gut vorbereitet zu haben...“, Herr Miller zeigte vage über die Picknickdecke, auf der sich sein Sohn inzwischen abtrocknete und anzog.

„Ich habe versucht an alles zu denken. Nur die Zeitschaltuhr vom Springbrunnen habe ich vergessen. Da hab’ ich mich zum Schluss etwas erschreckt. Und beim Abseilen habe ich den Halt verloren und mir das Bein geprellt.“, berichtete Philipp und griff nach Schnorchel und Maske. Sein Vater nahm die Flossen und den Rucksack.

„Das kann passieren, wenn man Abenteuer erleben will. Nun gehen wir erstmal rein, um deiner Schwester von deinem Fund zu berichten und deinen Geburtstag zu feiern!“

„Meinen runden Geburtstag!“, strahlte Philipp fröhlich und hüpfte voraus.

„Nur weil die Acht eine sehr rundliche Zahl ist, ist es noch lange kein runder Geburtstag!“, rief Jeff Miller vergnügt hinter seinem Spross her und stimmte in das traditionelle „Happy Birthday!“ der Familie mit ein.

Impressum

Texte: S. Bult
Bildmaterialien: Slakje B.
Lektorat: Grundschul - Lehrerin a. D.
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen kleinen und großen Abenteurern!

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