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Unsichtbar

Keine Ahnung wo ich anfangen soll!

Am Besten damit, dass es mich gibt ... Nein!

Das braucht sich eigentlich keiner merken.

Überhaupt braucht mich niemand zu bemerken. Das tun die Leute um mich herum auch nicht und das ist gut so!

In meiner früheren Schule hat man mich bemerkt.

 

Leider - und sie merkten nicht nur, dass ich da war, sondern auch, dass man ganz wunderbar auf mir herum trampeln konnte. Egal was ich tat, mit allem eckte ich bei ihnen an. Meine Klamotten aus dem Secondhand-Laden, meine abgegriffene Brille, die Tatsache dass ich nur knapp einen Meter sechzig groß war. Ihnen passte nicht wie ich mich kleidete, wie ich sprach oder wenn ich auf dem Weg zur Sporthalle vor ihnen her lief.

„Opfer“ nannten sie mich und manchmal saß ich die ganze Pause hindurch auf dem Mädchenklo und versteckte mich vor ihnen. Selbst nach der Schule wartete ich oft, bis alle verschwunden waren und fuhr lieber eine halbe Stunde später mit dem Bus nach Hause.

Ich war so erleichtert, als meine Mutter ihren Job wechselte und wir zum Ende des Schuljahres umziehen mussten. Raus aus dem alten Umfeld.

Endlich wagte ich es, mich ihr anzuvertrauen. Okay, sie war geschockt, aber ich lief wenigstens nicht mehr Gefahr, dass sie mit der Schulleitung sprach und mein Leben zu einer noch größeren Hölle wurde. Stattdessen schickte sie mich während der Ferien in Therapie. Klar war ich nicht angetan davon, aber die Psychologin war wirklich nett und ich konnte einfach mal alles raus lassen. So sah ich dem Ende der Ferien und dem Beginn eines weiteren Schuljahres in neuer Umgebung relativ entspannt entgegen.

 

Hier duldete man mich am Rande und die bisherigen Reaktionen auf meine Anwesenheit waren unverbindlich freundlich, wenn ich mich dann zwischendurch doch traute ein oder zwei Sätze von mir zu geben. Sie lächelten, nickten und wandten sich wieder den wichtigen Themen und Leuten zu. Das war eine echte Erleichterung.

Klar, ich zog mich auch heute noch in meine Kopfwelt zurück. War zwar anwesend, aber nicht immer bei der Sache. Trotzdem tat ich es nicht mehr so exzessiv wie früher, so dass ich das Fortgehen der Mitschüler oder das Pausen-Ende verpasste.

Dienstags in der ersten Pause und freitags auf dem Weg zum Bus, zwang ich mich wenigstens so weit an der Realität teilzunehmen, dass ich die Klamotten und Frisuren der anderen Schüler studierte, um nicht völlig die Trends zu verschlafen.

So schaffte ich es mit der Zeit in der breiten Masse unterzugehen und nur ein nichts sagendes Gesicht unter vielen zu sein. Eigentlich gelang mir das mit solcher Bravour, dass selbst der ein oder andere Lehrer fragend aufblickte, wenn er beim Verlesen einer Liste oder der Rückgabe von Arbeiten auf meinen Namen stieß. Ich war angekommen im angenehmen Strom der Gleichgültigkeit und Ruhe der Unsichtbaren, jenen die niemand bemerkte.

 

Dann kam der Tag, dessen Folgen mich in meinem neu gewonnenen Kokon empfindlich treffen sollten. Jener Freitag schien so unspektakulär zu sein wie jeder andere der letzten Wochen. Am Ende der Unterrichtsstunden gab es meist nur kleinere Hausaufgaben, aber der Deutschlehrer zog sein Programm diesmal voll durch und verursachte damit lautstarkes Gestöhne unter meinen Mitschülern: „Schreibe eine zeitnahe, realistische Kurzgeschichte in der keine Haustiere vorkommen.“

Na klasse!

Alle Themen, die ich mir aus dem Ärmel hätte schütteln können, waren mir verwehrt. Nix war mit Elfen, Drachen, Zauberern oder dem Leben im 12. Jahrhundert.

Was zum Teufel blieb mir da noch?

In dem Moment, als mir anhand der um mich herum lauter werdenden Verabschiedungen in ein schönes Wochenende klar wurde, dass ich meine Freitagnachmittags-Studien völlig aus den Augen verloren hatte, wurde Monty in mein Sichtfeld geschubst. Ob der wirklich so genannt wurde - und wenn ja, warum - wusste ich nicht. Er war der Klassenclown und Mädchenschwarm. Groß, immer ein bisschen gebräunt, grüne Strahleaugen und wildes, braunes Haar.

Übeltäterin dieser Szene war Elsa. Groß und blond, ungekrönte Anführerin der beliebtesten Mädel-Clique der Schule und außerdem noch Sprecherin unserer Stufe. Sie hieß eigentlich Elisabeth-Marie und man sah ihren Klamotten schon an, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte als ich.

Er grabschte nach ihr, verpasste ihr eine Kopfnuss und eine Minute später wälzten die beiden sich kichernd und gackernd wie zwei Sumo-Ringer über den Boden.

Wenn es an unserer Schule so etwas gäbe, wie diese Wahlen zu König und Königin des Abschlussballes, die ich aus amerikanischen Teenager-Filmen kannte, wären die Beiden auf alle Fälle die absoluten Favoriten für diesen Titel.

Beide waren in meiner Klasse, sahen gut aus, waren witzig und nett. Sie gingen so locker miteinander um. Sie zickelten und zankten sich auf halb ernste, halb liebevolle Weise, dass ich mich wunderte, wieso sie kein Paar waren.

Tja, wenn ich mit einem von ihnen befreundet gewesen wäre – haha, guter Witz! – hätte ich garantiert schon einen Kuppelversuch gestartet, obwohl ich davon eigentlich gar nichts hielt.

Wieder in Gedanken bei der geforderten Kurzgeschichte schlenderte ich heim und war immer noch vergnügt über die kleine, lustige Szene, die sich mir unerwartet geboten hatte. Ich aß zu Mittag, machte die ersten Hausaufgaben und rettete anschließend unser Katerchen aus dem Nachbarzaun.

Es war bereits Mitte März, aber die feuchte Kälte erinnerte fast schon an November und zog durch Mantel und Jeans bis auf meine Haut. Von meinen kalten Hausschuhen ganz zu schweigen.

Zurück an der Tür, musste ich feststellen, dass der Schlüssel brav neben dem Handy auf dem Sideboard im Flur lag. Tja, und ich stand hier draußen rum.

Blöd gelaufen.

Zu meinem Glück kam meine Mutter keine zwei Minuten später um die Ecke gebogen. Sie hatte unerwartet früh Feierabend machen können und ich entkam erleichtert dem drohenden Gefrierbrand.

Abends im Bett huschten meine Gedanken noch einmal zu dem Schlüssel auf dem Sideboard zurück. Wenn meine Mutter nicht so früh heim gekommen wäre, hätte ich mir ganz schön einen abgefroren. Da kam mir plötzlich die Idee für eine Geschichte, in der sich jemand aussperrte und zum ungeliebten Nachbarn musste, um von dort aus zu telefonieren und auf den Schlüsseldienst zu warten. Natürlich war es ein purer Zufall, dass vor meinem geistigen Auge die Hauptfiguren aussahen wie Monty und Elsa. Mit vielen dummen Sprüchen und Missverständnissen würde aus ihnen wenigstens dort noch ein Paar.

 

Gedacht, notiert und pünktlich abgeliefert. Ich fand die Story gar nicht schlecht, dafür dass es eben nicht um meine sonst üblichen Verdächtigen ging.

Einen Monat nach Abgabetermin bekamen wir unsere Arbeiten zurück. Das heißt, alle bekamen den Aufsatz zurück, bis auf mich. Der Deutschlehrer sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an, erklärte mir, dass meine Note nicht schlecht gewesen sei und ich meinen Text so bald wie möglich zurückbekäme. Ich zuckte mit den Schultern. Wenn es schon mal keine fünf oder schlimmeres war, war ich zufrieden. Wahrscheinlich hatte er meinem Namen kein Gesicht zuordnen können und die Arbeit lag jetzt in irgendeiner Ecke auf einem Stapel vergilbter Hefte anderer unbedeutender Schüler.

Ein weiterer Monat zog sich hin und ich hatte meine Geschichte schon fast aus meinem Gedächtnis verbannt. Genau wie mein Lehrer, der sie mit keiner Silbe mehr erwähnte. Nur beim Verlassen des Musikraumes kam sie mir flüchtig in den Sinn, als ich ein ähnliches Heft wie meines, auf dem Klavier liegen sah.

Zwei Tage später war meine Schonfrist an dieser Schule dann scheinbar vorbei. Während ich gedankenverloren den sich leerenden Flur entlang ging und gerade die Tür zum Hauptkorridor hinter mich gebracht hatte, trat mir plötzlich jemand in den Weg.

Kein Geringerer als Monty baute sich vor mir auf. Er zeigte zwei Reihen perfekter, weißer Zähne und fuchtelte mit den Händen vor mir herum. Nur zögernd nahm ich die Stöpsel meines mp3-Players aus den Ohren und versuchte zu ignorieren, dass mein Gesicht sich heiß anfühlte.

„Hi ... äh ...?“ Sein Gruß klang fragend.

Ich glotzte ihn nur wortlos an.

„... Lisa! Richtig?“, wollte er wissen.

Ich machte eine Kopfbewegung die irgendwo zwischen einem Nicken und einem Schütteln lag, dann korrigierte ich ihn knapp: „Lina!“

Wie dämlich musste ich auf ihn wirken? Aber ich konnte einfach nicht klar denken. Möglichst unauffällig hielt ich nach einem Fluchtweg Ausschau.

Was führte der im Schilde?

Um uns herum waren keine Zuschauer auszumachen, nur am Ende des Ganges lief eine kleine Gruppe Schüler die Treppe hinunter. Er folgte kurz meinem Blick und meinte dann:

„Kannst du kurz mit in die Raucherecke kommen?“

„Ich rauche nicht!“, gab ich barsch zur Antwort. Da also warteten sie auf mich. Leicht versteckt vor den Lehrern.

„Wir wollten nur kurz mit dir reden!“ Sein Grinsen wurde breiter. In meinen Ohren rauschte es, da hörte ich ihn sagen, wenn ich keine Zeit hätte, könnten wir auch kurz auf dem Weg zum Hauptausgang quatschen. Ich latschte sofort los.

Meine Gedanken überschlugen sich. Die Therapeutin hatte mich ausdrücklich ermutigt, den neuen Leuten eine Chance zu geben. Aber gebranntes Kind scheut nun einmal das Feuer und es fiel mir schwer hier Vertrauen zu jemandem zu fassen. Als Feigling gelten wollte ich wiederum auch nicht. Möglicherweise war es ja nichts Schlimmes? Ich war so in meinem Für und Wider gefangen, dass ich nur noch das Ende dessen mitbekam, was er zu mir sagte:

„... Theatergruppe. Hättest du was dagegen?“

„... Was? Äh ... nein! Äh ... doch!“, stammelte ich und platzte dann heraus: „Ich will auf keinen Fall auf die Bühne!“

Monty sah aus als wüsste er nicht, wie er auf mich reagieren sollte. Er entschied sich für ein weiteres Lächeln, allerdings wirkte es verhalten.

„Aber wenn du nicht auf die Bühne musst, dürfen wir dann dein Stück haben?“ Mittlerweile waren wir am Haupteingang angekommen. Stück? Was für ein Stück?

„Äh, klar!“ Nichts wie raus hier! Egal was er meinte, ich fühlte mich wie eine Antilope auf der Flucht vor den Löwen.

„Oh, prima. Danke! Na, dann bis morgen!“ Er klang richtiggehend erfreut.

„Äh ... ja, bis morgen“, nuschelte ich mit hochroter Birne und entschwand eilends.

Aus der Ferne nahm ich ein vergnügtes Kreischen und jede Menge Gelächter wahr. Ich hätte es mir denken können. Die gesamte Raucherecke schien sich über mich zu amüsieren.

 

Am Folgetag musste ich mich wirklich anstrengen, um nicht wieder in die mir so lang eigene „Mobbt-mich-ich-bin-nichts-wert“-Haltung zu versinken. Nachdem ich jedoch sowohl im Bus als auch auf dem Weg zur Schule bemerkte, dass man mich genauso wenig beachtete wie sonst und Elsas Mädel-Clique sich mir gegenüber weiterhin unauffällig benahm, begann ich mich wieder zu entspannen.

Dann kam in der zweiten Pause Elsa auf mich zugeschritten.

An ihre Brust gepresst hielt sie mein Heft mit der Kurzgeschichte. Mir rutschte das Herz in die Hose und ich stellte mir noch nicht einmal ernsthaft die Frage, wie sie wohl da heran gekommen war. Hinter meiner Stirn leuchtete in großen Lettern ein einzelnes Wort:

Panik!

Es verblasste jedoch in dem Moment, da sie mich anlächelte. Kein zynisches, boshaftes Entblößen eines Gebisses voller scharfer, spitzer Zähne. Ein nettes, herzliches Lächeln und dazu der ehrliche Blick aus großen, blauen Augen.

Ob es stimme, dass ich das geschrieben habe, wollte sie wissen und verkniff sich nicht die Bemerkung, dass sie mir das nicht zugetraut hätte. Mein Herz rutschte bis in die Schuhe runter. Wahrscheinlich war sie mit dieser Ansicht nicht allein. Sie lächelte immer noch, meinte ich wäre so still und in mich gekehrt, das sei nicht böse gemeint.

Dann wollte sie wissen, ob man mein Stück wirklich für die Theatergruppe haben dürfe und ob ich nicht Lust hätte, das Drehbuch dafür zu schreiben. Ob ich wirklich nicht die Hauptprotagonistin spielen wolle? Ich starrte sie einen Augenblick lang an. Fragte sie mich das allen Ernstes? Meine undefinierbare Kopfbewegung lag erneut zwischen Nicken und Schütteln.

Mit einem entzückenden Lächeln bat sie mich zum morgigen Termin der Theater-AG zu kommen, drückte mir mein Heft in die Hand und entschwand mit einem lässigen „Bis dann!“ aus meinem Sichtfeld.

Mir war bewusst, dass ich während des ganzen Gespräches garantiert genauso ein dämliches Gesicht gezogen und mich ebenso wortgewandt gegeben hatte, wie am Vortag bei meiner „Unterhaltung“ mit Monty.

Ich fühlte mich seltsam.

Passierte das wirklich mir?

Abends fiel ich mit leichten Kopfschmerzen und wirren Gedanken ins Bett. Während ich mich tatsächlich daran machte aus meiner Kurzgeschichte ein Drehbuch zu fabrizieren, nickte ich irgendwann ein.

 

Ich hatte verschlafen! Mein Schädel brummte immer noch und ein Lockenwickler klebte mir am Kopf.

Wieso klebte mir ein Lockenwickler am Kopf?

Im Bad wusch ich mich, putzte mir die Zähne und brauchte geschlagene zwanzig Minuten, um diesen blöden Wickler aus meinen Haaren zu entfernen. Als ich mit den Fingern über die Stirn strich, konnte ich immer noch die tiefen Rillen spüren, die er hinterlassen hatte. Mit einem resignierten Seufzer machte ich mich auf den Weg zur Schule.

Die Blicke im Bus versuchte ich zu ignorieren, während sie meine Stirn anglotzen. Irgendwann würden die blöden Abdrücke schon wieder verschwinden, Narben wären schlimmer gewesen.

Ich betrachtete das Heft in meinen Händen und erschrak. Die Schrift war völlig unleserlich geworden, als wäre Wasser darüber gelaufen. Mein Drehbuch war so gut wie ruiniert! Hatte ich im Schlaf geweint? Was war los mit mir?

Als ich später die Aula betrat, blieb ich einen Moment stehen und sah mich überrascht um. Wieso sah es hier plötzlich aus wie in einem echten Theater? Ich schüttelte den Kopf und ging zur Bühne hinunter. Keine dreißig Sekunden später trat ich zu den Anderen, um wie abgesprochen am Bühnenbild mitzuwirken. Hinter mir hob sich der Vorhang mit einem lauten Rascheln und als ich den Kopf drehte, sah ich, dass der Saal zur Hälfte mit Leuten besetzt war.

Mir wurde schwindelig.

Monty stürmte über die Bühne auf mich zu. Stirnrunzelnd starrte ich ihn an. Er hatte sich eine zerschnittene Mülltüte wie einen Römerumhang über seine Kleidung gezogen und brüllte laut:

„Ach, wie schön, dass sich unsere kleine Möchtegern-Künstlerin auch mal blicken lässt.“

Das Publikum hinter mir erhob sich von seinen Plätzen und ein einstimmiges und eindeutig ungeduldiges: „Guten Morgen!“ erklang.

„Jetzt ist noch nicht einmal der Text da!“, posaunte Monty. „Dann müssen wir halt unser altes Stück improvisieren, das war sowieso besser!“

Ich zuckte zusammen als habe er mich geschlagen.

Was sollte das?

Ich hatte nie behauptet, dass meine Geschichte gut sei oder für ein Theaterstück tauge. Sie waren doch erst mit dieser kuriosen Idee um die Ecke gekommen! Für einen kleinen Moment hatte ich schon geglaubt, dass meine Pechsträhne endlich vorbei sei und es Menschen gab, die mich einfach so akzeptierten wie ich war. Ein bisschen anders, ein bisschen verschroben, aber trotzdem ein ganz normales Mädchen. Ich wollte doch bloß meine Ruhe und vielleicht auch wissen wie es sich anfühlte, Freunde zu haben.

Ich schluckte an dem Kloß in meinem Hals und setzte schon zu einer Entschuldigung an, als Elsa hämisch lachend an Drahtseilen hinunter auf die Bühne schwebte. Ihre Stimme klang höhnisch, als sie verkündete, dass es besser für mich sei, wenn man mein Stück ignorieren würde. Auf diese Weise bräuchte ich mich nicht grämen, weil ich ja doch nicht gut genug sei um die Hauptrolle und den Hauptdarsteller zu bekommen.

Was zum ...?

Drei oder vier Mitschüler liefen an mir vorbei, schauten mich fragend an, als hätten sie Elsas Worte nicht gehört und meinten, ob ich denn wenigstens die Zeit des Auftrittes nutzen wolle, um das Bild weiter zu bearbeiten.

Dankbar griff ich nach den Farben, um die Schattierungen an den Eiszapfen zu zeichnen, die immer mehr wie Mohrüben aussahen und im Publikum ein lauter werdendes Gelächter hervorriefen.

„Ich wollte es eigentlich plastisch darstellen“, verteidigte ich mich mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. Ich griff nach dem Sekundenkleber, den Monty mir reichte. Er grinste, drückte mir einen Klecks auf die Nase und tippte mir mehrmals mit seinem lederigen Zeigefinger auf den rechten Mundwinkel.

Dann ahmte er plötzlich das Schnurren und Maunzen von unserem Katerchen naturgetreu nach. Ich wusste nicht mehr, ob ich weinen oder seine Stimmkunst bewundern sollte. Unerwartet steckte Elsa ihren Kopf über Montys Schulter, gelbe Katzenaugen mit Schlitzen starrten mich an. Sie riss den Mund mit den feinen, spitzen Zähnen auf und ließ einen noch realeren Klagelaut los.

 

Erschrocken zuckte ich zusammen und schlug die Augen auf. Mit lautem Geheul saß Katerchen auf dem Kopfkissen neben mir und forderte ungehalten sein Frühstück. Maunzend und maulend hockte er auf dem Spiralblock, in dem ich gestern noch voller Elan eine Kulissen-Skizze gezeichnet und das Drehbuch ein letztes Mal überarbeitet hatte.

Leise lachend schüttelte ich den Kopf und drückte erleichtert das Gesicht in mein Kissen. Zwei Monate waren vergangen seit Elsa und Monty mich gefragt hatten, ob ich Lust hätte bei ihrer Theater-Gruppe mitzumachen. Ich war hingegangen, zu dem Treffen. Ich war über meinen Schatten gesprungen, hatte die Angst zurück gedrängt und fremde Menschen in mein Leben gelassen.

Ich hatte ihnen eine Chance gegeben – und meine eigene genutzt. Es war eine gute Entscheidung gewesen, denn ich wusste jetzt was es bedeutete Freunde zu haben und das nicht alle Menschen gemein und niederträchtig waren.

Das waren die besten acht Wochen meines Lebens und sie machten all den Kummer wett, der mir früher widerfahren war. Plötzlich war ich Teil von Elsas Clique und inmitten einer Gruppe von Mädchen, die sich mit ganz alltäglichen Dingen beschäftigten und wo jeder seine eigenen Sorgen und Nöte hatte. Niemand hackte auf mir herum, niemand hänselte mich, weil meine Klamotten aus dem Secondhand-Shop kamen. Niemand sah mich noch als Opfer. Ich war stark, ich war anders und genau das war gut so. Endlich mochte ich mich.

Rasch sprang ich aus dem Bett und lief ins Bad hinüber um zu duschen und mir die Zähne zu putzen. Nachdem ich Katerchen versorgt hatte, schlang ich rasch meinen Toast mit Marmelade hinunter, schulterte meine Tasche mit den Utensilien und rief meiner Mutter noch einen Gruß zu, ehe ich mich an einem Samstagmorgen auf den Weg zur Schule machte.

Es war der Tag der Generalprobe und schon Morgen würde das Theaterstück zum ersten Mal aufgeführt. Pünktlich zum Schulfest vor den Sommerferien.

Jede Karte war verkauft und die ganze Schule hatte sich samt Familien angekündigt. Wir hatten umdenken müssen und unser Bühnenbild samt Aufführung war nach draußen in den Pausenhof gewandert.

Ich grinste während ich zur Haltestelle lief.

Die Sonne des Juli-Morgens schien mir ins Gesicht und das Thermometer vor der Sparkasse zeigte jetzt schon achtzehn Grad. Der Sommer war auf dem Vormarsch und in einer Woche begannen die Ferien. Dem letzten Schuljahr sah ich positiv und mit Vorfreude entgegen.

Mein Grinsen wurde breiter, während mir ein Gedanke durch den Kopf ging: „Ich bin Lina, ich bin stark und ich bin hier. Ich bin nicht länger unsichtbar.“

 

Titelstory der Grafwalzer Schülerzeitung:

„Immer noch voller Begeisterung über das wohl beste Schulfest der letzten zehn Jahre, möchte die Redaktion unserer Schülerzeitung nicht unerwähnt lassen, dass wir natürlich auch der Ur-Aufführung von Lina Steffens Theaterstück „Nachtfrost“ beigewohnt haben. Was anfangs nur als Kurzgeschichte in der Deutschstunde geplant gewesen war, landete durch die Lehrer Hampel (Deutsch) und Pankwitz (Musik) schließlich in der Theatergruppe unserer Schule, wo die Geschichte einschlug wie eine Bombe und sich die erste Begeisterung Bahn brach, als Lina ihr Okay für die Aufführung gab.

Bei Kaffee und Kuchen, Cola und Würstchen und im Beisein wirklich sämtlicher Schüler, des Lehrerkollegiums und aller Familienangehörigen ging so richtig die Post ab. Obwohl der Titel „Nachtfrost“ bei 27°C im Schatten eher unpassend schien, lieferten die beiden Hauptdarsteller und ihre zehn Statisten eine mitreißende, witzige und wortgewaltige Liebeskomödie ab, die kein Auge trocken ließ und schließlich damit endete, dass Elisabeth-Marie „Elsa“ Richartz und Moritz „Monty“ Krappwinkel sich in der Schlussszene in den Armen lagen und gar nicht mehr los lassen wollten :-)

Wer nach diesem Hollywoodreifen Kuss noch meint, bei denen habe es nicht gefunkt, der muss schon Fleischtomaten auf den Augen haben. Die künftige Abschlussklasse unserer Schule wird sich für die letzte Aufführung ihrer Theater-AG im nächsten Jahr noch ein weiteres Highlight einfallen lassen und wir hoffen, dass uns Lina Steffens auch nach ihrem Abschluss als Drehbuchautorin erhalten bleibt.

Allen schöne Ferien.“

Impressum

Texte: Slakje Bult
Bildmaterialien: privat
Lektorat: ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen WIRKLICH guten FREUNDEN dieser Welt.

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