Cover

Irrfahrt auf dem Heimweg

Die Sonne ging bereits unter und kündigte den Abend an. Charlotte hatte endlich Feierabend und fuhr mit dem Bus nach Hause – so, wie viele andere Menschen mit ihr. Sie freute sich still, noch einen Sitzplatz ergattert zu haben, und holte ihr Taschenbuch aus dem Rucksack. Einfach ein wenig entspannen und vor allem vom Arbeitsalltag abschalten. Oh ja, im Buch lesen und in eine andere Welt eintauchen. Dann kam die nächste Haltestelle, einige Menschen stiegen aus. Leises Gemurmel eines Paares raunte durch den Bus.

Charlotte nahm laute Gitarrentöne und Trommeln wahr und sah schnell die Ursache.

Ein junger Mann trug kleine Kopfhörer, aus denen es dröhnte, er wippte rhythmisch sein rechtes Bein zur Musik. Sein Kopf schwang mit.

„Seine armen Ohren“, murmelte sie seufzend, „ob er mal irgendwann ein Hörgerät braucht?“, und las weiter.

Ein Lüftchen von Parfüm wehte an ihr vorbei. Charlotte rümpfte die Nase, reflexartig hielt sie die Hand vor das Gesicht. Es roch nach Süßigkeiten. Unfassbar, mit was sich die Leute so einschmieren, schoss ihr durch den Kopf. Eine schrill geschminkte blonde Frau erweckte ihre Aufmerksamkeit.

Ups ... Was ist das denn? Sie duscht also in Gummibärchen. Sie runzelte die Stirn und presste die Lippen aufeinander. Die hochtoupierten Haare wirkten auf Charlotte wie Zuckerwatte. Hektisch kramte und buddelte die Blondine laut in ihrer Handtasche.

„Die Dame sucht entweder ihre Puderdose oder das Haarspray“, wisperte Charlotte in sich hinein, „die Frau ist der reinste Farbtopf“.

Ihren Blick richtete sie wieder in ihr Buch und hielt inne. „Komisch, bis zur nächsten Haltestelle dauert es aber ungewöhnlich lange“, sie sah auf ihre Uhr. „Mist, stehen geblieben“, die Uhrzeiger regten sich auch nicht, nachdem sie das Handgelenk kurz schüttelte. „Mal sehen, wo sind wir denn?“, und schaute aus dem Fenster.

 

Den ganzen Tag schon regnete es sanft vor sich hin. Feiner Sprühregen kroch in alle Ecken und überzog die Flächen. Das Laternenlicht spiegelte sich auf der Straße. Die Umgebung erschien im gelb-bräunlichen Licht.

„Draußen sieht es aus, wie auf den alten vergilbten Schwarz-Weiß-Bildern meiner Oma“, fiel es Charlotte ein und lächelte verträumt.

Tief in ihren Gedanken versunken, schreckte sie auf. Den Grund bot die Beleuchtung im Bus, die mit einem Male flackerte.

Ein kleiner Schrei entwich ihr, denn zusätzlich fing der Bus an, zu schaukeln. „Wieso fährt der Bus über unebenen Boden? Wo sind die Laternen und die Straße?“, entfuhr es ihr.

Eine rothaarige Frau fuhr ebenfalls hoch und sah sich hektisch um. Charlotte richtete ihre Augen wieder hinaus. Ihr Gesicht spiegelte sich im Fenster. Sie näherte sich dem Glas, bis ihre Nase an der Scheibe klebte, die Hände dienten zur Abschirmung. Alles düster! Aber nein! Sie sah leichte Umrisse von Bäumen und Feldern. Doch dann erlosch die Beleuchtung auch im Bus. „Wir sind ja gar nicht mehr in der Stadt!“

Ein großer hagerer Mann stolperte durch den schmalen Gang im Bus. Fast blind rempelte er den einen oder anderen Gast an. „Tut mir leid!“, sagte er immer wieder. Sein Ziel erreichte er beim Busfahrer. „Wohin fahren wir man?“

Keine Antwort! Der hagere Mann schnaubte und sah sich hektisch um.

„Das ist doch nicht zu fassen! Hey, lassen Sie mich hier raus“, brüllte er. Seine knochigen Finger trommelten wild auf den Oberschenkeln.

„Sie haben die Endstation noch nicht erreicht“, sagte der Fahrer in aller Ruhe.

„Was soll denn das heißen? Wissen Sie, wohin ich möchte oder gar, wo ich wohne?“, rief der hagere Mann entrüstet.

„Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß aber, wo Ihr zukünftiges Zuhause sein wird“, antwortete der Busfahrer mit einem höhnischen Grinsen und knipste kurz das Licht in der Fahrerkabine an. Der hagere Mann wich japsend mit einem Satz zurück. Er riss die Augen auf und konnte den Anblick nicht fassen. Er sah in ein fratzenhaftes Gesicht und dieses glotzte ihn an.

„Was oder wer sind Sie?“, hauchte der hagere Mann, seine Stimme drohte zu brechen. Der Fahrer lachte. „Das werden Sie alleine herausfinden, glauben Sie mir“, antwortete er.

„Ich soll Ihnen glauben?“, brüllte der hagere Mann. „Wie komme ich dazu? Ich will hier raus, aber sofort!“

Unter den Fahrgästen breitete sich Hektik aus. Sie sahen sich um und stellten ebenfalls fest, dass der Busfahrer vom Weg abkam.

„Lassen Sie uns raus. Wir wollen nach Hause“, riefen sie. Doch einige fingen an zu weinen.

Charlotte sah sich um und packte langsam ihr Buch ein. Sie schluckte hart, ihr Herz pochte bis zum Hals. Sie biss sich auf die Unterlippe. Ein paar Mal atmete sie tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht, sie rutschte auf dem Platz hin und her. Jetzt wippte ihr Bein, allerdings nicht zu einer Musik. Sie massierte den Bauch, um den wabernden Nebel zu vertreiben, der in ihr pulsierte. Ein kleines Knurren wurde hörbar. Ihr Mittagessen bestand aus einem Salat und dies war schon einige Stunden her. Charlotte seufzte.

 

Der Bus stoppte neben einem Grundstück! Auf dem Gelände stand ein kleines Haus im Licht des Vollmondes. „Herr Anton Marowski. Für Sie ist hier Endstation! Bitte aussteigen“, rief der Busfahrer und öffnete die Tür.

Der große hagere Mann fuhr zusammen und brüllte: „Das wurde aber auch Zeit!“

Er hielt sich noch immer beim Fahrer auf und schnappte nach Luft, als er sein Ziel erblickte. Der Mann starrte ungläubig zu der geöffneten Bustür hinaus.

„Das Haus meiner Eltern? Aber das ist ganz unmöglich“, hauchte er stotternd. Anton stand der Mund offen. „Das Haus wurde vor zwanzig Jahren abgerissen!“

Der Fahrer grinste und deutete mit dem Kopf auf die Tür. „Sie sind angekommen. Bitte aussteigen!“

Mit einem Schlag war es mucksmäuschenstill im Fahrzeug. Sie sahen sich um. Wer steht auf, wer verlässt den Bus?

Anton Marowski, der hagere Mann verließ zögerlich den Bus. Er atmete schwer. Leicht geduckt setzte er einen Fuß vor den anderen auf das Grundstück seiner Kindheit.

Charlotte sah, wie er ganz langsam auf das Haus seiner Eltern zuging. Plötzlich schrie Anton Marowski, als gehe es ihm an den Kragen. „Nein! Ihr seid tot ...! Hilfe! Helft mir doch! Nein, ich will nicht!“

Sie zuckte zusammen und erstarrte. Der Busfahrer lachte markerschütternd auf und schloss die Tür. Der Bus setzte sich in Bewegung und rumpelte weiter über das Land.

 

Charlotte drehte sich zu allen Seiten um. Sie presste die Lippe aufeinander und hob die Stirn. Seltsam! Jeder Gast beschäftigte sich oder saß ruhig auf dem Sitz. Der grell geschminkte Farbtopf buddelte wieder in der Handtasche. Der junge Mann schaltete seine Musik an und wippte weiter rhythmisch mit dem rechten Bein. Der Bus stoppte an der nächsten Station, vor einer großen Villa.

Der Busfahrer rief: „Frau Charlotte Pierce. Hier ist für Sie Endstation! Bitte aussteigen!“

Charlotte schaute sich erneut um und schlich dann aber zum Fahrer. „Entschuldigung, warum ...“, sie wich zurück. Was war das? Der Körper vor ihr verweste. Die Augen lagen tief in den Höhlen eingesunken. In dem abgemagerten Gesicht breiteten sich kleine Löcher in der Haut durch das Fleisch aus. Der Schädelknochen blitzte zum Teil hervor.

„Was ist mit Ihnen passiert?“, japste sie und riss die Augen auf. Sie drehte sich zu den anderen Fahrgästen. „Oh nein! Ihr alle seid tot!“

Frau ‚Farbtopf‘ lächelte und richtete ihre gewaltig hohe toupierte Perücke. „Aber Liebchen, wieso sollten wir denn tot sein?“, sie quietschte schrill auf. „Wir fahren doch alle hier gemeinsam im Bus, oder etwa nicht?“, sie gab sich Mühe, ihren Mund ordentlich zu schminken. Ihr Lippenstift suchte zum Teil vergebens nach Fleisch, grau-gelbliche Zähne zeigten sich stattdessen. Ein Geruch von Fäulnis stieß Charlotte entgegen. „Das stinkt ja hier süßsauer. Wo ist das Parfüm von Gummibärchen?“, sie hielt schützend die Hand vor die Nase und wagte, kaum zu atmen. Schnell schlüpfte sie durch die offene Bustür und sog die frische Luft ein.

 

„Ich träume, das kann nur ein Albtraum sein. Es gibt keine ... ja, was eigentlich? Zombies?“, sie schwankte und schnaubte auf. „Es gibt keine Zombies“, sagte Charlotte laut zu sich selbst. Panik kam in ihr auf, sie keuchte und ihre Hände zitterten. Sie öffnete ihren Rucksack und zog einen Taschenhandspiegel heraus.

„Bitte, lass es ein Traum sein“, flüsterte sie. Den Spiegel hielt sie dicht an ihre Brust, dann holte sie noch einmal tief Luft. Und wagte einen Blick hinein. „Puh!“, ihre Gesichtsmuskeln entspannten sich und sie lachte hysterisch auf. Sie fand ein gesund aussehendes Gesicht darin. Ihre schwarzen Haare wehten sanft zur Seite. „Ok, ok, alles ist in Ordnung. Ich bin bis jetzt noch jung und hübsch.“

Den Spiegel packte sie hektisch wieder in den Rucksack. Über dem Tor zur Villa stand ‚zum Totenhaus der kaputten Seelen‘.

„Oh, na toll, soll ich hier etwa Therapeut spielen?“, fragte sie entrüstet und zog einen Flunsch. Um sie herum nahm sie durch die Dunkelheit nur Schatten wahr. Sie drehte sich hastig um. Der Bus war weg. Ihr ganzer Körper erschauderte. Sie schlang die Arme um sich und zog den Kopf ein. Langsam schlich Charlotte weiter auf das Gebäude zu. Mit großen Augen schaute sie sich zu allen vorsichtig um. Vor der schmalen Veranda der Villa blieb sie stehen und atmete durch. Rechts und links neben der Treppe stützten zwei wuchtige Säulen das Haus über der Veranda. Bedächtig betrachtete Charlotte die massive Flügeltür der Villa. Ihre Augen glitten von unten nach oben. Sie schätzte die Höhe auf etwa vier Meter. Das dunkle Holz zierte verschnörkelte Schnitzereien.

„Wow, und was soll ich hier?“, hauchte sie. In diesem Moment knurrte ihr Magen. Wie von selbst legte sie ihre rechte Hand massierend auf die Magengegend. Sie bearbeitete mit der Zunge ihre trockene Mundhöhle und sehnte sich nach einem kräftigen Schluck Wasser. Die Tür der Villa stand einen kleinen Spalt offen.

„In Ordnung, ich gehe hinein. So schlimm wird´s ja hoffentlich nicht werden.“

Charlotte drückte langsam und vorsichtig die Haustür auf. Laut hallte die knarrende Tür durch das Haus.

„Hallo? Ist hier jemand?“, rief sie zaghaft und erntete ein Echo. Sie trat ein. Vor ihr lag eine breite Treppe. Sie schaute sich zu allen Seiten um und sah in der Halle nichts als Wände. Sie hatte keine Wahl, ihr Weg führte nach oben. Das Holz der Trittflächen zeigte rissige Stellen, der Lack eingerissen und zum Teil abgeplatzt. Das Treppengeländer schlängelte an den Stufen vorbei. Sie wagte einen Schritt auf die Treppe und ein kräftiges Knarren ließ sie erstarren. Zum Schutz griff sie nach dem Handlauf, dieser wackelte und bot keinen Halt.

„Na super! Das weckt ja mein Vertrauen“, japste sie. Langsam und schwer atmend stieg Charlotte Stufe um Stufe nach oben. Immer wieder blieb sie stehen und schaute sich vorsichtig um. Alles ruhig! Einige entzündete Kerzen schmückten die Wände.

Als Charlotte die erste Etage erreichte, verharrte sie. „Was zum Teufel ist denn hier los?“, flüsterte sie. Der Mund blieb ihr offen stehen. Mit weit geöffneten Augen versuchte sie zu erfassen, was sich vor ihr abspielte. Ihr bot sich ein geisterhaftes Bild. Diese Leute trugen die Kleidung aus unterschiedlichen Epochen. Sie bewegten sich wie in Trance. Einige glotzten den neuen Gast an. Andere liefen murmelnd umher, ohne sie zu beachten.

„Entschuldigung, wo bin ich hier?“, fragte Charlotte eine Frau aus dem 18. Jahrhundert. Die Dame trug einen gelben Rock und ein offenes grünes Überkleid. Sie richtete ihre Perücke und schlenderte den Gang hinunter. Keine Antwort, kein Blick!

„Ok, vielen Dank für nichts!“, giftete Charlotte leise und zuckte zusammen. Eine betagte Frau in zerschlissenen Kleidern schlurfte auf sie zu. Die Alte glotzte und verzog ihren Mund breit, ohne einen Muckser von sich zu geben. Ihr Gesicht glich einer Fratze. Ihre knochigen Finger glitten über den Arm des neuen Gastes. Sie zog vorsichtig und langsam am Ärmel ihres Pullovers. Verwundert schielte die junge Frau auf die glotzende Greisin herunter und ließ sich von ihr durch die Flure führen, von dem viele Badezimmer abgingen. Sie betraten eines der Räume und Charlotte schrie auf.

In der Badewanne wälzte sich eine nackte Frau mit blonden Haaren in Würmern und Schlangen und bewegte sich wie ein Hampelmann.

Ekel kam in Charlotte auf. Würgend, die Hand vor den Mund haltend, sah sie auf die Frau in der Wanne und wunderte sich, dass die Blondine sonst nichts weiter mitzubekommen schien. Der neue Gast musterte entsetzt ihre Begleitung, die noch immer grinsend glotzte.

„Du merkst auch nichts mehr, oder Mütterchen?“, sagte Charlotte und räusperte sich. Ihre Blicke wanderten durch das Badezimmer.

Die Schränke und Teppiche wirkten zusammengewürfelt. „Wie die Kleidung der Leute hier. Eine Reise durch die Jahrhunderte“, stellte sie fest. „Ob das alles hier auch aus der Zeit stammt und wirklich so alt ist?“

In diesem Raum gab es an jeder Wand eine Tür und eine Sanitäranlage.

Die linke Seite war in weißer Farbe gehalten und schmückte Schränke, ein Waschtisch und eine Toilette mit goldenen Verzierungen. Flauschige Matten lagen dort aus.

Eine graue Staubschicht und Spinnweben überzogen die rechte Seite. An der Wand stand ein zerschlissener Bauernschrank. Charlotte strich mit dem Zeigefinger über das Holz. Zum Vorschein kam die Farbe Blau. Sie zog die Stirn hoch und spitzte den Mund. „Aha!“, bemerkte sie und vermied es, sich genauer in diesem Bad umzusehen. Sie überflog etliche bunte Flickenteppiche, die wild herum lagen.

„Das ist skurril!“, platzte es aus Charlotte heraus. Mittig im Raum thronte auf einem Podest eine rote Toilettenschüssel und davor ein kleines Waschbecken. Daneben fand ein Regal aus Plastik in Schwarz seinen Platz.

„Mütterchen, sag was!“, flehte sie die Greisin an und packte sie sanft an den Schultern. Doch die Alte glotzte und grinste nur. Dann sah sie in der Tür eine große, kräftige, dunkelhäutige Frau mittleren Alters stehen.

„Herr Gott, wo kommen Sie denn jetzt her? Wo bin ich? Was ist das hier?“, fragte Charlotte aufgeregt und ließ die Greisin los.

„Herzlich willkommen! Mein Name ist Lerenn. Ich bin Krankenschwester und betreue die Gäste. Das Haus bietet Schutz für Damen, die verlernt haben zu lernen“, sagte sie und legte die Hände ineinander vor dem Bauch. Sie trug das klassische schwarze Gewand einer Nonne.

„Aha, ich verstehe! Alzheimer“, Charlotte nickte fleißig und spitzte den Mund, „und was mache ich hier? Ist das eine Art Pflegeheim oder Krankenhaus?“

Die Schwester lächelte und bat um Begleitung in die Küche.

„In diesem Teil der Villa wird gekocht und geputzt. Das Tratschen war ein wichtiger Lebensinhalt dieser Gäste. Diese Damen haben nichts mehr zum Klatschen. Wenige von ihnen konnten bis vor kurzem wundervoll Meckern. Selbst wenn es nur über die Krankheiten war, die sie plagten. Das Schimpfen versiegte. Einige Murmeln unverständlich noch vor sich hin. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dies verstummt.“

„Ok, ok, aber was soll ich hier?“, fragte Charlotte ungeduldig und zappelte von einem Bein auf das andere.

„Für die Damen geht es um Abwechslung und Zeitvertreib. All das brauchen die leeren Köpfe hier“, erklärte die Schwester mit einer strengen Stimme. „Jeder Neuankömmling muss diese Aufgabe erfüllen, solange das möglich ist und sie es können.“

„Ich soll hier in der Küche den Clown spielen?“, platzte es aus Charlotte heraus. „Hey Lady, die Fahrt hierher war schon bekloppt genug. Ich befand mich in einem Bus voller Zombies und habe eigentlich Feierabend. Ich habe Kohldampf und könnte einen ganzen See austrinken“, japsend zeigte sie mit schräg erhobenen Arm nach draußen. „Die Zombies verwesten, verstehen sie? Dann komme ich in dieses Haus und sehe glotzende seelenlose Leute, die aus etlichen Jahrhunderten zu stammen scheinen“, sie holte tief und geräuschvoll Luft. „Na ja, wenigstens verwesen die Damen nicht, oder ist mir da was entgangen?“

Sie erhielt auf die letzte Frage keine Antwort! Stattdessen lächelte Lerenn. „Ja, gut bemerkt. Die Villa und die Menschen hier sind schon sehr alt. Du hast in diesem Haus viel Zeit, mein liebes Kind!“

Von Panik ergriffen rannte Charlotte zur Treppe zurück. Blitzschnell erfasste sie im Rundblick die Wandbeleuchtung aus der Halle. Und die Ausgangstür! Diese schien zum Greifen nah zu sein. Weg! Verschwunden! Die Treppe war einfach weg! Wie kann das sein? Keine Stufen – unter ihr befand sich der Abgrund.

Hektisch drehte sie sich zu allen Seiten um. Angst kam in ihr auf. Mit weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht lehnte sie sich gegen eine Mauer.

Das Atmen fiel ihr schwer und sie rang nach Luft. Schließlich ließ sie sich an der Wand langsam zu Boden gleiten und fing verzweifelt an zu weinen. Es verging eine ganze Weile, bis Charlotte sich endlich beruhigte. Wie lange sie an der Mauer kauerte, konnte sie nicht sagen. Ihr Zeitgefühl verschwand wie die Treppe.

 

Die Schwester ging vor Charlotte in die Hocke, tippte ihr sanft auf die Schulter und reichte der Aufblickenden ein Taschentuch. Lerenn lächelte, schon fast verständnisvoll, schwieg jedoch.

„Dann werde ich mich mal umschauen“, beschloss der neue Gast, putzte sich geräuschvoll die Nase und stand ungeschickt auf.

 

Das Haus schien nur aus Badezimmern und einer einzigen Küche zu bestehen. Bei dem Gedanken an die Küche knurrte ihr der Magen. Sie seufzte. Wie gern wäre sie jetzt bei ihrem Mann zu Hause. Sie würde ein köstliches Abendessen für sie beide kochen.

Lustlos schlurfte sie durch die Zimmer und häufig war ihr unklar, wohin die Flure führten. „Bäder! Warum gibt es hier so viele Bäder? Es fehlen Badewannen.“

Oh, wie gern würde sie jetzt lieber in der Wanne liegen und in einem Schaumbad bei Kerzenschein entspannen.

Unweigerlich musste sie an die blonde Frau in dem ‚Wurm-Bad‘ denken, schluckend legte sie die Hand an ihre Kehle und verscheuchte den Wunsch sofort.

Die Flure waren leer – ohne Schränke, Bücher, Fernseher – nichts! Sie lief durch einen nackten Schlauch, an dem Sanitärräume abzweigten.

„Oh je, ich werde den Rest meines Lebens die Badezimmer putzen und in der Küche am Herd stehen“, seufzte Charlotte verzweifelt und sackte resigniert ein. Sie ließ die Schultern hängen.

„Ach! Ich vergaß die alten Damen. Sie müssen unterhalten werden, solange ich es kann. Neuankömmlinge ... ich bin ein Neuankömmling! Ich soll der Krankenschwester gar nicht helfen. Es gibt nichts Neues zu erleben. Oh, mein Gott! Ich werde auch verlernen und den Clown spielen, solange ich es kann.“

Wie von der Tarantel gestochen sauste Charlotte durch die Räume.

„Schwester Lerenn! Wo sind sie? Halloooooo!“, rief sie laut und fand sie in der Küche bei einer Tasse Tee. Völlig außer Atem stand Charlotte in der Küchentür. „Ich muss nach Hause! Ich hab doch noch so viel vor!“, polterte sie los.

Lerenn schaute nachdenklich zu ihr auf, setzte die Tasse ab und fragte: „Aha ja? Warum sollte ich dich gehen lassen? Was hast du denn für die Gegenwart alles vor?“

„Oh, da gibt es eine Menge. Ich wollte seit Langem lernen, Aquarelle zu malen. Und dann möchten mein Mann und ich die französische Sprache erlernen. Wir haben auch schon damit begonnen“, antwortete sie hoffnungsvoll.

All das überzeugte die Schwester nicht, sie hob eine Augenbraue. Sonst regte sich kein einziger Muskel in ihrem Gesicht.

„Na ja! Ich weiß, alles nichts Halbes und nichts Ganzes. Oder es ist vielleicht unwichtig“, peinlich berührt senkte Charlotte den Kopf und malte mit dem Fuß einen kleinen Kreis auf dem Boden ohne Ende.

„Ich verdiene mein eigenes Geld und habe eine feste Arbeitsstelle“, fuhr Charlotte leise fort, „das ist heutzutage nicht selbstverständlich!“

„Das ist schön“, bemerkte Lerenn monoton, ohne Regung, „und gehst du mit Freude an all die Aufgaben heran?“

„Na ja ... Ich bin bei einer Versicherung angestellt und manchmal ist es richtig ätzend, nicht so mein Ding. Ich interessiere mich für ‚Spielzeug aller Art‘. Das würde ich lieber verkaufen.“

„Was hindert dich daran, es zu tun?“, fragte die Schwester und runzelte die Stirn, als sie die Erklärung von ihrem Gegenüber hörte. „Meine Familie fordert dies von mir. Es ist bei uns eine Art ‚Tradition‘ seit Generationen.“

„Was machst du zu Hause? Weißt du, wie es deinem Mann geht? Wann hast du das letzte Mal etwas mit deinem Mann oder deinen Freunden unternommen?“

Charlotte senkte den Kopf und schielte verstohlen nach oben zur Schwester und seufzte. Ihre Antwort kam zäh, ja kleinlaut und zog die Mundwinkel runter.

„Darüber habe ich bisher nicht nachgedacht. Wir erledigen unsere Pflichten und das Tag für Tag. Sonst leben wir in den Tag hinein.“

Bedrückende Stille beherrschte für einige Minuten den Raum. Dann sprudelte es aus Charlotte heraus. „Schwester! Ich werde mich informieren und bewerben. In meiner Straße gibt es ein Geschäft für allerlei Spielzeug, dort wird eine Verkaufsaushilfe gesucht! Ich frage nach, ob sie mich einstellen, und kann lernen. Ich möchte nicht in der Versicherung versauern. Ich breche mit der Tradition! Schwester Lerenn, bitte geben sie mir eine Chance“, flehte Charlotte, „ich ändere mich, versprochen!“

Die Schwester stand auf und führte sie in das Badezimmer, in dem die blonde Frau in der Wanne mit den Würmern und Schlangen wie ein Hampelmann strampelte.

Die junge Frau unterdrückte ein leichtes Würgen. Die bloße Erinnerung an das Gesehene ließ eine dezente Übelkeit in ihr hochkommen. Doch nanu? Wo ist sie ...? Nichts! Da war gar nichts, keine Wanne, keine blonde Frau. Die glotzende Frau verschwand ebenfalls.

Charlotte sah sich um, das Bad hatte sich verändert. Es lagen nur einige Perserteppiche auf dem Boden und der weiße Schrank füllte den Raum. Die drei Türen wurden durch eine Wand ersetzt. „Was um Himmelswillen ist hier passiert?“, sie verstand gar nichts mehr und schüttelte achselzuckend den Kopf.

„Carpe diem, kleine Charlotte, nutze den Tag! ... nutzte den Tag“, sagte die Krankenschwester eindringlich. „Nutze den Tag ...“, murmelte Charlotte.

„Hallo? Fräulein? Hallo? Hier ist Endstation! Sie müssen hier aussteigen!“, forderte eine männliche Stimme sie auf.

Charlotte fing an zu schreien: „Nein! Ich will nicht .... nein!“

Es war der Busfahrer, der neben ihr im Gang stand und nickte fleißig. „Doch junge Frau! Ich habe jetzt Pause! Hier ist Endstation. Aussteigen, bitte!“

Charlotte schreckte hoch! Sie sah sich um, schwer atmend legte sie sich die Hand an den Hals. Schluckend sah sie in das rundliche Gesicht eines älteren Busfahrers.

„Oh, ist mir das unangenehm“, sie schloss kurz die Augen und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg und errötete. „Entschuldigung, ich muss eingeschlafen sein“, murmelte sie. „Wo ist mein Buch?“

Es lag unter dem Sitz vor ihr. „Hier“, der Busfahrer hob es auf, „das ist Ihnen runtergefallen, Lady!“

„Ich danke Ihnen“, sagte sie und packte es schnell in ihren Rucksack.

Der Fahrer lächelte und erwiderte mit tiefer Stimme: „Gern geschehen“, und trollte sich gemütlich nach vorne zum Fahrersitz.

Verwirrt stieg Charlotte aus dem Bus und stellte fest, dass sie drei Stationen zu weit gefahren war.

Luft! Oh, wie tat das gut! Es hatte zu regnen aufgehört und die Luft roch wie frisch gewaschen.

„Au weia, was für eine Fahrt! Ich werde nach Hause laufen“, sagte Charlotte erleichtert zu sich selbst, holte ihr Handy aus ihrer Jackentasche und rief ihren Mann an.

„Hallo Schatz? Ja, ich bin noch unterwegs. Ich schlief im Bus ein und fuhr bis zur Endstation. Wie war es auf Arbeit? Ruhiger? Ja, das hört sich stressfrei an. Wie? Auf den nächsten Bus warten? Nein, ich gehe Stückchen zu Fuß. Ich habe einen Alptraum gehabt, träumte von einer Krankenschwester Lerenn, einer Horror-Villa, ach und die Leute erst im Bus. Ich werde laufen, die Luft wird mir jetzt gut tun. Der Traum lag bestimmt an dem Horrorfilm von gestern. Was? Nein, ich lese nichts Schlimmes. Zurzeit lese ich in einem Liebes-Schmöker. Ach, nein, sag das nicht. Das ist romantisch. Weißt du, ob der Spielzeugladen noch eine Aushilfe sucht? Echt? Die Anzeige hängt an der Türscheibe? Na prima. Ach, Schatz? Ich liebe dich!“

 

Impressum

Texte: Bianca Pautsch
Bildmaterialien: Bookrix
Cover: Bookrix
Lektorat: Bianca Pautsch
Korrektorat: Bianca Pautsch
Satz: Mai 2022
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2022

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /