Für meinen lieben Mann Ulf
Blut! Es dürstet ihr nach frischem Blut. Sie braucht es - jetzt! Ein schwarz gekleidetes Wesen schlich sich über den Platz. Hektisch schaute sie sich zu allen Seiten um. Sie hörte hier und da die Schnarchgeräusche im Lager aus den Planwagen und den Zelten. Sonst war es still und die Frühlingsnacht erschien ihr unschuldig. Die Tiere schliefen fest in ihren Käfigen, ein paar von ihnen im Gras. Auf einem Platz, vor einer Stadtmauer ließ sich eine kleine Gruppe nieder. Es waren Schausteller, die durch die Lande zogen. Fauchend kletterte das durstige Wesen in eine Behausung. Sie fand ein Mädchen von etwa fünf Jahren vor, das auf ihrem Stroh lag. Schlaftrunken öffnete das Kind die Augen. „Wer ist da?“, wisperte sie, denn der weite Umhang des Eindringlings wirkte auf sie wie ein Schatten. Die große Kapuze, welche den Kopf verdeckte, ließ sie bei dem Anblick zusammen zucken. Sie atmete hektischer und wimmerte.
„Sch …. Ruhig, ich tue dir nichts Böses“, versuchte das Wesen sie zu beruhigen und drückte es mit der linken Hand sanft tiefer ins Heu und grummelte kaum hörbar, „bleib liegen.“
Gier kam in dem schwarzen Geschöpf auf. Unter der Kapuze versteckte sich ein diabolisches Grinsen. Eine Messerklinge blitzte auf - zack! Ein grober Schnitt. Blut floss!
„Aua! Mama! Hilf mir!“, jammerte das Kind und starrte mit riesigen Augen auf die Klinge. Ihr rechter Unterarm brannte und warmes Nass ergoss sich.
„Sei still oder ich töte dich, dummes Balg“, drohte das Wesen gereizt und presste ihrem Opfer die Hand auf den Mund. Dann hörte das Mädchen schmatzende Laute. Sie biss in die Handfläche ihres Peinigers. Die Hand schnellte in die Luft. Auf der Stelle reckte das Kind ihren Kopf nach oben und sah, wie das gierige Geschöpf das Blut aus ihren Adern sog.
„Nein! Hilfe!“, japste die Kleine. Augenblicklich spürte sie wieder die pressende Hand des Wesens auf dem Mund. Gedämpfte Laute erfüllten den engen Raum.
Nebenan wurde ein Mann wach, der in seinem Heu lag. Fester Schlaf war ihm fremd. Er richtete sich auf und lauschte. Es polterte - ein Kind schluchzte und ein Geräusch war ihm vertraut - das gierige Grunzen des schwarzen Ungeheuers. Angst kam in ihm auf. In einem Satz sprang er auf und eilte los.
Er zog stürmisch den Vorhang zur Seite und traute seinen Augen nicht. „Nein!“, flüsterte er ungläubig. Er schluckte und als er sich wieder fasste, schrie er panisch: „Du Monster, lass sie in Ruhe!“
Das Wesen erstarrte. Glotzend sah sie zu, wie der Mann zügig in den Planwagen stieg. „Raus!“, brüllte sie ihn an und ließ von dem Mädchen ab. Knurrend verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse und stellte sich ihm in den Weg. Es krachte. Sie sprang ihren Gegner an, dieser stolperte und fiel zu Boden. Der Wagen schaukelte hin und her, drohte zu kippen.
Das Biest fauchte sarkastisch auf ihm liegend: „Was ist schwacher Mann? Willst du mich etwa stoppen?“
Das verletzte Kind kroch in eine Ecke. Wimmernd zitterte sie am ganzen Körper. Was um sie herum geschah, bekam das Kind ein wenig später nicht mehr mit. Die Ohnmacht überkam sie. Die Menschen und Tiere aus dem nahen Umfeld wurden in der Zwischenzeit von dem Lärm wach. In Windeseile versammelten sich viele Schausteller ratlos um den Wagen, aus dem der Krach kam.
„Was ist los?“, rief eine junge Männerstimme.
„Was ist das für ein Radau?“, kreischte eine Frau.
Eine kleine Herde Maultiere schnaubte nervös und tänzelte auf der Stelle. Hunde rannten bellend durch das Lager.
Der Mann im Planwagen sammelte all seine Kräfte zusammen, atmete kurz intensiv ein und aus. Sein Gegner lachte höhnisch mit tiefer Stimme. Er rappelte sich auf und stieß das schwarze Wesen mit aller Gewalt von sich weg. Sie knallte gegen einige Holzkisten und fiel auf den Rücken. Außer sich vor Zorn schüttelte sie sich und fing hysterisch an zu schreien. Der Mann sah seine Gelegenheit und riss das bewusstlose Mädchen an sich. Er sprang vom Planwagen. Mit dem Kind auf den Arm floh der Mann panisch durch die ratlosen Schausteller. „Wo willst du hin?“, rief ihm eine Frau nach, „Matthias!“
Das schwarze Biest sprang aus dem Wagen und folgte ihm. In der Eile rempelte sie grob einige Menschen um und rannte kreischend hinterher in den Wald.
„Was war das? War das ein Mann oder eine Frau?“, fragte eine andere Frau mit zitternder Stimme.
„Wen meinst du?“, antwortete ein Mann und glotzte sie an.
„Das schwarze Wesen“, wisperte die Frau, „und dann dieses grässliche Gekreische“, bebend vor Angst zog die Frau die Schultern hoch und legte ihre Arme um sich selbst.
„Es war eine verfluchte Kreatur“, flüsterte der Mann ehrfurchtsvoll sich zu ihr geneigt. „Da bin ich mir sicher“, bekräftigte er.
Die Frau starrte mit glotzenden Augen ins Nichts und nickte. „Was will diese Bestie in Menschengestalt hier bei uns?“
Matthias hetzte durch den Wald, als seien Bluthunde hinter ihm her. Getrieben drehte er sich zunehmend um. Er hörte sie. Sträucher und Äste zerrten an seinen Kleidern. Trotz allem kam er zügig vorwärts. Gevatter Mond meinte es gut mit ihm und zeigte ein volles Gesicht. Sein weiterer Vorteil, er kannte sich aus. Als Kind verbrachte er hier eine glückliche Zeit. Sein Ziel war die Kräuter-Jule. Sie würde ihm helfen, das wusste er. Keuchend und außer Atem erreichte er ihre Behausung und stürzte hinein. Die Kräuter-Jule wärmte sich an der Feuerstelle. Kreisende Gedanken raubten ihr den Schlaf. Sie zuckte zusammen. „Wer ist da?“, und ließ vor Schreck fast ihren Becher mit heißem Tee fallen.
„Pass´ auf sie auf! Du musst sie retten!“, polterte es ihr entgegen.
„Wen bringst du mir da?“, fragte die Kräuter-Jule entsetzt ihren späten Gast. „Was ist geschehen?“
„Dieses Monster hat es schon wieder getan“, sagte Matthias erschöpft, „wo darf ich das Mädchen hinlegen?“
Jule zeigte auf eine mit Fellen bedeckte Holzliege. Er nickte. Der Kräuterfrau fiel sofort die Armverletzung auf.
„Als Erstes schaue ich mir das verwundete Kind an“, entschied sie. Sie füllte eine Schale mit Wasser aus dem kniehohen Wassereimer, der in einer Ecke stand. Aus einer Holztruhe entnahm sie reine Tücher und Salbe. Fürsorglich kümmerte sich die alte Kräuterfrau um die Verletzte. Matthias schloss die Augen und schluckte hart. Seine Gedanken quälten ihn wie einzelne Messerstiche.
„Es wird schlimmer mit ihr. Ich habe das Monster kaum noch unter Kontrolle“, hauchte er. Kummerfalten zeichneten sich auf seinem Gesicht ab.
„Es griff nun das unschuldige Kind an“, Matthias deutete mit einer zarten Geste auf das ohnmächtig liegende Mädchen. Er ließ die Schultern hängen und setzte sich seufzend an den Tisch, der in der Mitte des Raumes seinen Platz fand.
„Meine Kräuter versagen“, flüsterte Jule mit geschlossenen Augen zu sich selbst. Sie hielt einen kurzen Moment inne und atmete tief durch. Mit sanftem Druck wickelte sie das Tuch um das zierliche Ärmchen des kleinen Mädchens.
„Fertig!“, ihr Blick ruhte jetzt auf ihren späten Gast. „Verstärke den Kräutersud, indem die Heilpflanzen länger im Wermut durchziehen.“
Er nickte. „Das tat ich bereits, wie du es mir schon empfohlen hattest. Die Abstände ihrer Ausbrüche verkürzen sich trotzdem“, verzweifelt stützte Matthias den Kopf in seine Hände. „Was soll ich denn noch machen, Jule? Die Gemeinschaft! Ich bin verpflichtet, alle zu schützen. Ich bin verantwortlich für das Monster“, sagte er aufgeregt.
„Beruhige dich“, tröstend stand sie in diesem Augenblick neben ihm und umarmte ihn sanft wie eine Mutter ihr Kind.
„Du kannst doch nichts dafür. Matthias! Du musst sie finden“, flüsterte Jule zu ihm heruntergebeugt, „du bist in einer Zwangslage. Ich gebe dir etwas mit, damit du eine Aussicht auf Erfolg hast, mit dem Monster fertig zu werden.“
Schwer atmend verfolgte er, wie sie aus einer morschen alten Holztruhe einige handgroße Dinge entnahm. „Was holst du denn da hervor? Gift?“, entfuhr es ihm und sackte in sich zusammen. Mit Tonkrug und leeren Leinensäckchen kehrte sie an den Tisch zurück.
Sie nickte. „Wie viele Menschen sollen weiter ihr Leben lassen?“,schmollte Jule. „Es bleibt jetzt nur diese Lösung.“
„Gibt es keinen anderen Weg? Das ist Mord! Ich ermorde mein Kind“, protestierte Matthias schluchzend. Behutsam fuhr die Kräuterfrau ihm über die Schulter. Er umschloss mit der Hand die ihrige, sah zu Jule rauf und nickte ihr seufzend zu. „Du hast ja recht. Einverstanden, ich werde es tun.“
Sie wandte sich wieder dem Tonkrug zu und gab eine Hand voll der Pilze in das Leinensäckchen. „Das wirst du ihr in ihre Suppe geben. Lass die Pilze vorher ein wenig in Wasser quellen!“
„Wecke ich nicht ihr Misstrauen?“, skeptisch verzog Matthias den Mund.
Lächelnd schüttelte die alte Kräuter-Jule den Kopf. „Nein, dieser Pilz ist zwar hochgiftig und führt zum Tode, aber er ist wohlschmeckend.“
„Woher weißt du vom Wohlgeschmack, wenn die Leute kurz danach starben?“, fragte Matthias und runzelte die Stirn.
„Ab und zu brauchten die Bewohner aus der Stadt meine Kräuterkünste. Der Leidende zeigte mir die Speisen und erzählte dabei, wie lecker dies gewesen sei. Nach dem Essen quälten sie heftiges Bauchweh und Übelkeit. Übelriechende Säfte schied der Körper aus. Innerhalb kurzer Zeit trat die Ohnmacht ein und endete mit dem Tod. Selbst der Medikus vermochte nicht mehr zu helfen.“
„Ich werde ihr Morgen die Pilze in die Suppe geben“, nickte Matthias und band das Säckchen an seinen Gürtel. „Hoffentlich handle ich richtig …“, jammerte er.
„Du versündigst dich, wenn du jetzt nichts unternimmst“, bestärkte Jule ihn.
„Rechtfertigt ihre Krankheit mein Handeln?“, er biss sich auf die Unterlippe und zog die Stirn kraus.
„Bestimmt ist es das, glaube mir, Matthias“, betonte sie nochmals eindringlich und ergriff seine Hände. Er nickte, die Lippen fest eingezogen. Sie begleitete ihn vor die Tür.
„Nimm mein Maultier und begebe dich auf den Weg“, sie zeigte auf den Unterstand neben ihrer Hütte, in dem das Tier untergebracht war. „Er ist zwar alt, aber er trägt dich zügig und sicher in dein Lager.“
Dankbar lächelte Matthias sie an. „Hab vielen Dank, Jule. Ich bringe ihn dir bei Tag wieder nach Hause“, er stieg auf das Maultier, „eines noch, das Kind … “
„Mach´ dir keine Sorgen. Sie wird gesund, das verspreche ich. Wir sehen uns Morgen und sei vorsichtig“, sagte Jule.
Es vergingen ein paar Tage, bis das Kind halbwegs bei Kräften war. Auf der Flucht durch den Wald verlor die Kleine sehr viel Blut. Die tiefe Wunde war entzündet und und es drohte eine Vergiftung. Eines Abends benetzte Jule mit einem feuchten Tuch sanft die Stirn und die Wangen des Mädchens. Langsam öffnete das Kind ihre Augen und versuchte sich mühsam aufzurichten. Es gelang ihr nicht. Sie stöhnte vor Schmerzen erschöpft auf. Wieder und wieder knickten ihre Arme ein, sie blieb liegen. „Wach´ auf! Komm´ wach´ auf Kind!“
Die Stimme schien weit weg zu sein. „Wach´ auf! Wach´ auf!“
Mit Mühe raffte sich das Mädchen erneut auf, wobei helfende Hände sie unterstützten.
„Wach´ auf!“
15 Jahre später im Jahre 1450
Heftig trieb der Reiter sein Pferd an. Schnell zogen die Bäume zu beiden Seiten an ihm vorbei. Donnernde Hufe wirbelten auf dem festen Sandboden eine lange Staubwolke auf.
Jagd! Ja, er war auf der Jagd nach einem gefährlichen Mörder. Solange er ihn nicht am Galgen sah, würde er keine Ruhe finden. Er erreichte offenes Gelände.
Die Spuren des Mörders führten Sebastian in die am Horizont erkennbare Stadt. Er war sich sicher. In der Ferne nahm er mehrere entzündete Fackeln, Umrisse von einigen Planwagen und Zelte wahr. Eine kleine Gruppe Schausteller ließ sich vor den Stadtmauern nieder. Eine Feuerstelle brannte. Dampf stieg aus einem Kessel auf, der darüber hing. Ein paar Menschen vergnügten sich und lachten. Sie saßen auf Strohballen um das Feuer herum. Mit einem Male wurde Sebastian bewusst, dass er selbst außer Atem war. Er zügelte sein Tier, um auf seinen Diener zu warten. Dieser reiste ebenfalls auf einem Pferd, aber das Maultier mit den Reisetaschen bremste ihn.
Sebastian wartete, wobei seine Nervosität sich auf sein Pferd zu übertragen schien. Schnaubend fing es an, zu tänzeln. Als die Nachzügler zum Greifen nahe waren, rief er: „In der nächsten Stadt brauchen wir eine Unterkunft für die Nacht.“
„Ja, Herr! Das Stadttor ist bereits in Sichtweite“, antwortete sein Diener Jakob. „Ich empfehle, unser Tempo zu verringern. Wir sind seit dem frühen Morgen unterwegs und die Tiere sind müde. Das Tor erreichen wir trotzdem.“
Sebastian atmete tief durch. Zähneknirschend stimmte er zu. Langsam ritten sie weiter und näherten sich ihrem Ziel. Das Tor stand noch offen. Zwei Wachen verrichteten an diesem Tage ihren Dienst. Der jüngere Wachmann schlurfte auf die Reisenden zu, als würde ihm eine lästige Arbeit bevorstehen. Er musterte die Pferde und das Maultier. Sofort erkannte er das fürstliche Wappen auf dem Reisegepäck. Er grinste verächtlich. Erhaben schlenderte er auf Sebastian zu. „Absteigen!“, forderte er mit erhobenem Kopf. „Wo stammt das Zeug her? Geklaut?“, er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf das Gepäck. Schweigend stieg Sebastian ab. Aus einer Tasche zog er eine Pergamentrolle heraus und gab sie dem Wächter. Er rollte diese auf und glotzte mit immer größer werdenden Augen darauf. „Das Siegel … auch … das Siegel …“, stotterte er.
„Ich bin der Schwager unseres Fürsten Pankratius und die Tiere mit samt der Ladung, sind mein Eigentum! Was erlaubst du dir, Wächter!“
Im gleichen Augenblick kam der ältere Wachmann auf die Männer zu. „Gibt es Scherereien?“, seufzte der erfahrene Wachmann genervt und verdrehte knapp die Augen. Er ahnte, dass sein Kamerad wieder Ärger verursachte. Der junge Wachmann stotterte weiter und senkte zitternd sein Haupt.
„Dieser Strolch beschuldigt mich des Diebstahls!“, sagte Sebastian ernst und schüttelte den Kopf. Der ältere Wachmann forderte von dem jüngeren: „Lass sehen! Gib die Rolle her!“, und starrte auf das Dokument. Er schloss die Augen und atmete tief durch. „Verzeiht, Herr!“, nuschelte er und erklärte weiter, „der Junge ist unerfahren und muss noch viel lernen.“
„Dieses eine Mal sehe ich darüber hinweg“, sagte Sebastian und verlangte: „Lasst uns passieren!“
„Aber gewiss doch, Herr. Habt Dank, mein Herr“, der ältere Wachmann verbeugte sich und gab ihm die Pergamentrolle zurück. Der Doktor stieg wieder auf sein Pferd und ritt mit seinem Diener samt Maultier durch das Tor. Ihnen zeigte sich ein Bild des Entsetzens. Die Menschen bewegten sich zum Teil wie geschlagene Hunde durch die Gassen. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich Misstrauen und Furcht ab. Einige von den Bewohnern zogen den Kopf ein und eilten davon. Sie waren auf der Hut. Die Neuankömmlinge ernteten verstohlene Blicke, die flehten ‚lass mich in Ruhe, sprich mich nicht an, tu mir nichts‘.
„Geht weg!“, grollte ihnen ein älterer Mann im Vorbeigehen zu. Eine Frau flüsterte: „Ihr seid in der Stadt des Todes. Lauft so schnell Ihr könnt“, und huschte eilig weiter, ehe Sebastian zu einer Reaktion fähig war.
„Seltsam“, ratlos glotzte Sebastian der Frau hinterher. Er suchte den Blick seines. Dieners, der die Schultern zuckte und vorschlug: „Schaut, Herr. Ein Wirtshaus. Dort bekommen wir bestimmt eine Kammer. Wir führen die Tiere besser von der Hauptstraße.“
In der mit Kopfstein gepflasterten Hauptstraße lag die Gaststätte 'Zur Sonne'. Der Doktor nickte und deutete auf einen schmalen Seitenweg, der in den Innenhof führte. Die beiden Reisenden schauten sich um und fanden dort nicht nur die Stallungen vor.
„Sogar eine Schmiede gibt es hier“, stellte Jakob fest und entdeckte das daneben stehende Schmiedhäuschen.
„Ob da noch Wasser zu holen ist?“, sagte Sebastian lächelnd und deutete auf den zierlichen Brunnen in der Hofmitte.
„Keine Ahnung“, Jakob löste bei seinem Tier die Schnallen für die beiden Ledertaschen hinter dem Sattel. Der junge Medikus unternahm das Gleiche bei seinem Pferd. Jakob nahm ihm die Arzttasche ab und klemmte sich diese unter dem Arm. Die Taschen trug er vor dem Bauch in den Händen.
„Gehen wir in das Gasthaus!“, entschied Sebastian. Beim Eintreten stellten sie fest, dass die Stimmung erdrückend auf sie wirkte. Sie sahen sich an und pusteten beide ein wenig durch. Enttäuschung machte sich auf ihren Gesichtern breit. Die anwesenden Gäste regten sich nicht. Jakob schluckte. Er sah glotzende Augenpaare auf ihn gerichtet. Ihm kam es vor, als saugten sie jede ihrer Bewegungen auf. Die Reisenden schauten sich verhalten um und gingen langsam auf den Schanktisch zu. Der dicke Wirt beobachtete wie ein Luchs die Fremden, während er schwerfällig einen Becher füllte.
Sebastian war ein feiner, großer Mann von schlanker Gestalt. Seine dunklen Haare fielen ihm gewellt auf die Schultern. Er trug einen schwarzen Gewandrock, darunter ein Wams aus weinrotem Samt. Er zog sich die Handschuhe aus und fragte mit tiefer wohlklingender Stimme: „Bist du der Wirt?“, dieser nickte brummend. „Wir sind soeben in der Stadt angekommen und benötigen eine Unterkunft. Hast du eine Kammer für uns frei?“
„Ja, Herr, das ließe sich einrichten“, bei der Antwort zuckte Jakob zusammen, der Wirt klang wie ein grummelnder Bär. „Und wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Doktor Sebastian und der Herr neben mir ist mein Diener Jakob. Draußen bei der Schmiede, hinter dem Haus, stehen zwei Pferde und ein mit Gepäck beladenes Maultier. Bitte kümmere dich darum!“
Zögerlich versprach Karl: „Der Knecht wird das Gepäck auf die Kammer bringen und die Tiere versorgen, Herr.“
Die Neuankömmlinge nicht aus den Augen lassend, rief er nach seiner Frau. Diese kam sofort um sich schauend aus der Küche geflitzt und begrüßte Sebastian und Jakob.
„Bitte folgt mir, die Herren. Ich zeige Euch die Unterkunft“, zwitscherte die beleibte Hilde. Sie schnappte sich eine entzündete Talglampe und steckte Zunder und Schlagring in ihre Schürzentasche ein. Sie gingen die Treppe hinauf. Munter plapperte die lachende Hilde drauf los.
Jakob ächzte kurz auf, denn er schleppte das unhandliche Gepäck. Doch die lebhafte Wirtin strapazierte sein Gemüt zusätzlich. Er war für diesen Tag völlig erschöpft.
„… es wird Euch gefallen. Ihr werdet Euch hier sicher wohlfühlen und die Nacht gut schlafen. Es ist die beste Kammer des Hauses.“
Jakob rollte mit den Augen und schnaubte ein wenig vor Anstrengung auf.
Mit einem gedehnten „Soooo“, grinste Hilde zuckersüß, „wir sind da“, sie schloss die Tür auf und betraten die Kammer.
Das Zentrum im Raum bildete ein runder mittelgroßer Tisch umringt mit Stühlen. In der Ecke, neben einer weiteren Tür stand ein breites Bett. Hilde öffnete die Tür und leuchtete mit der Lampe hinein. „Hier hinten ist die Schlafkammer für den Herrn Jakob.“
Anschließend zündete sie mit Zunder und Schlagring die Talglampe auf dem Tisch an. Das Werkzeug ließ sie daneben liegen. Erleichtert legte Jakob die unhandlichen Taschen auf dem Tisch ab. Dabei entglitten diese ihm um Haaresbreite aus den Händen. Trotz der Müdigkeit gelang es ihm, das Unheil abzuwenden. Er atmete auf.
„Kann ich für die Herrschaften noch dienlich sein?“, zwitscherte Hilde.
„Nein, hab vielen Dank, meine Liebe“, entgegnete Sebastian. „Die Reise war beschwerlich. Wir erfrischen uns ein wenig und kommen anschließend zum Speisen in den Schankraum.“
Sie gluckste leicht den Kopf einziehend auf. „Nun, ich lass die Herren mal allein.“
Damit marschierte Hilde hinaus und stampfte die Treppe hinunter. Jakob schloss die Augen und atmete tief ein. Er sehnte sich nach Ruhe und der Hunger quälte ihn. Müde blickte er auf und nahm wahr, wie sein Herr sich das Hemd auszog und Wasser in eine Schüssel goss. Jacob raffte sich auf. Er tat es dem Doktor gleich und erfrischte sich ebenso mit kühlem Nass. Sebastian zog sich gerade frische Kleidung an, als der Knecht ihr restliches Gepäck auf das Zimmer brachte.
„Das ist alles. Nichts weiter da“, knurrte der schwer atmende Knecht, lächelte jedoch zufrieden, als er eine Münze von Sebastian auffing.
Im Schankraum herrschte nicht mehr so viel Betrieb. Die Hälfte der Plätze standen frei zur Auswahl. Die beiden Reisenden setzten sich an einen freien Tisch. Dies bemerkte die Wirtin sofort. Aufgeregt, ja, bis zum Platzen gespannt, kam Hilde auf sie zugelaufen. „Nun, die Herren? Ist das Zimmer zu ihrer Zufriedenheit?“
„Sicher, es ist alles in Ordnung, meine Liebe“, antwortete Sebastian freundlich lächelnd. „Doch nach der langen Reise sind wir sehr hungrig und durstig.“
„Oh, ich verstehe. Was darf ich bringen?“, flötete Hilde, merkte sich die Bestellung der beiden Herren und verschwand in der Küche.
Sebastian saß mit dem Rücken zur Wand. Vor ihm lag der Schankraum und ließ seine Blicke durch den Raum gleiten. Er bemerkte, wie die Leute ihre Köpfe zusammen steckten und tuschelnd zu ihnen herüberschauten. Wie viel Zeit verging, vermochte Sebastian nicht zu sagen. Die Wirtin riss ihn aus den Gedanken, als sie lächelnd mit einem Tablett zurückkehrte. Während sie Wein, Käse, saftige Fleischstücke, dunkles Brot und Haferbrei servierte, fragte sie von ihrer Klatschsucht getrieben: „Wohin führt Euch die Reise, Herr? Wird sie noch lang sein?“
Die Holzschüssel mit dem Fleisch stellte sie in die Mitte des Tisches und das Brett mit dem Brot direkt daneben.
„Wir sind auf der Durchreise ohne Ziel“, ruhig schaute Sebastian zu, wie Hilde die Haferbreischüsseln auf den Tisch stellte.
Glotzend richtete Jakob seinen Blick auf die dicke Wirtin und begann: „Wir jagen …“
„Jakob, bitte!“, unterbrach Sebastian leise, aber es war zu spät.
„Ach? Wen oder was jagen denn die Herren? Wie Jäger seht ihr beide nicht aus. Ihr seid doch ein Medikus“, sagte Hilde direkt und hielt inne.
„Nein, Jäger sind wir nicht“, Sebastian legte sein allerliebstes Lächeln auf und hoffte, dass die Wirtin nicht weiter bohrte. Sein Charme verfehlte zunächst seine Wirkung nicht. Sie gluckste kurz auf und nickte.
Doch ihre Neugier schien dennoch unersättlich und fragte: „Haben die Herren heute noch etwas vor?“, sie beugte sich ein Stück zu den Männern hinunter.
„Nein, warum?“, Sebastian kräuselte die Stirn, ihre Frage irritierte ihn.
„Ihr solltet bei Dunkelheit nicht mehr vor die Tür gehen“, riet sie flüsternd.
„Seltsam! Was ist geschehen? Wir erhielten schon mehrfach den Rat, wieder zu verschwinden, wenn uns unser Leben lieb ist“, wunderte sich Jakob.
Zu beiden Seiten sich wachsam umschauend, flüsterte Hilde weiter. „Vorletzte Nacht wurde hier ein Vagabund überfallen und getötet. Bei ihm fehlte der rechte Unterarm, abgehackt. Er verblutete. Ist das nicht furchtbar? Stellt Euch vor, im Gerberviertel passierte es. Nun ja, dies ist ja auch keine gute Gegend, der Gestank dort. Der Bluthacker war hier und wer weiß, möglicherweise ist er noch in der Nähe oder gar in unserer Stadt. Also, seit auf der Hut“, riet sie und lief zurück an den Schanktisch.
„Wir sind wieder zu spät“, stöhnte der Arzt auf und zog einen Flunsch. Sein Diener stimmte seufzend zu. Der Doktor atmete tief durch. Er sah an einem Tisch tuschelnde Männer, die in ihre Richtung schauten. Ein junger kräftiger Mann stand auf, kam direkt auf Sebastian und Jakob zu. Er stützte sich mit beiden Händen am Tischrand ab.
„Wer seid ihr, wo wollt ihr hin, wie lange bleibt ihr, was habt ihr in unserer Stadt vor?“, donnerte es ihnen entgegen.
Gemächlich stellte der Doktor den Weinbecher auf den Tisch und antwortete: „Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Sebastian. Ich bin Medikus und mich begleitet mein Diener Jakob“, er deutete knapp mit seiner Hand auf ihn. „Wir verweilen in dieser Stadt für eine Nacht. Morgen setzen wir unsere Reise fort. Doch wer seit Ihr, mein neugieriger, junger Herr?“, schmunzelte Sebastian.
„Ihr seit ein Medikus?“, peinlich berührt rieb sich der kräftige Mann den Nacken. „Oh … ich sah Euer Gepäck auf dem Maultier, ein schönes Tier und so feine Pferde.“
Bestätigend nickte der Arzt. Der kräftige Mann ließ sich nicht beirren und bohrte weiter.
„Ihr führt das Wappen unseres Fürsten Pankratius mit Euch. Warum?“
Sebastian und Jakob tauschten amüsierte Blicke aus.
„Ihr habt ein wachsames Auge“, entgegnete der Doktor, „ich bin nicht nur Arzt, sondern ich bin auch der Schwager unseres Fürsten.“
Der Mann richtete sich auf und erstarrte. „Unter diesen Umständen bitte ich um Verzeihung“, stotterte er. Mit der unschuldigen Miene eines Kindes fügte er kleinlaut hinzu: „Entschuldigt mein Benehmen, Herr. Ich bin Fred, der Sohn des Bürgermeisters dieser Stadt.“
„Ich verzeihe Euch, Fred. Verratet mir nur eines, mein junger Freund. Wozu der dramatische Auftritt? Was ist geschehen?“, fragte der Doktor.
Fred verzog die Mundwinkel breit und sog die Luft durch die Zähne ein. Verschwörerisch beugte er sich zu den Reisenden hinunter und flüsterte: „Fremde sind in unserer Stadt zur Zeit nicht gern gesehen. Vorletzte Nacht wurde ein Vagabund getötet. Der rechte ...“
„ ... Unterarm fehlte und er lag in seinem Blut“, vollendete Diener Jakob den Satz trocken. Die Überraschung stand Fred ins Gesicht geschrieben, ihm blieb der Mund offen stehen. „Woher wisst Ihr das?“
„Die Wirtin erzählte uns von dem Verbrechen“, erklärte Sebastian.
Mit einer Handbewegung winkte Fred ab. „Ach, die Hilde! Sie kann doch nichts für sich behalten.“
„Ihr bewahrt aber auch keine Sachen für Euch“, stellte Jakob erheitert fest und lachte kurz auf. Der Doktor fiel in das Lachen ein, trotz alledem brauchte er noch eine Antwort von Fred. „Wer untersuchte den Toten?“
„Das war unser Stadtarzt Julius, mein Herr“, antwortete er artig.
„Wir suchen ihn morgen auf. Für heute ist es schon recht spät“, beschloss Sebastian.
„Dann verabschiede ich mich, Doktor“, Fred nickte den beiden Männern zu und begab sich an den Stammtisch zurück. Dort stürmten seine Tischgenossen mit Fragen auf ihn ein.
In einer Ecke saß er. Das Volk nannte ihn den Bluthacker. Er schlürfte sein Bier und beobachtete still. „Was macht der Schwager unseres Fürsten hier? Ich verwischte alle Spuren doch so gut. Niemand sah oder hörte etwas. Ich lief den Weg nach den vorgezeichneten Regeln. Wie fand er mich hier?“, fragte er sich. Langsam verzog er sein Gesicht zu einem diabolischen Grinsen, denn es schoss ihm die Lösung durch den Kopf. „Ha!“, triumphierend stellte seinen Becher auf den Tisch. „Ich weiß es. Hast du etwa meinen Weg zur Erlösung gefunden? Nein, nichts weißt du! Du denkst, ich bin ein Mörder, Doktorchen“, dachte er bei sich und kicherte kaum hörbar in sich hinein. „Ich werde mir etwas Schönes für dich überlegen, Doktorchen. Du wirst qualvoll sterben, wenn du mich nicht in Ruhe lässt“, er ließ die Gedanken wandern und verfiel in Träumerei.
Der Bluthacker schloss die Augen und wie so oft träumte er von ihr. Seiner Lehrmeisterin! Er war ihr zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Sie hatte ihm die Kindheit versüßt, so wurde sein armseliges Dasein etwas erträglicher für ihn. All sein Wissen, lernte er von ihr. Direkt vor sich sah er sie lachen. „Trink! Es wird dir zu Kraft und Macht verhelfen“, und willig gehorchte er.
In dem Haus des Schmieds saß die Familie zusammen bei Tisch und aß zu Abend.
Heftig rührte die Mutter den Haferbrei in der Schüssel. Ihre Blicke richtete sie dabei auf ihre jüngste Tochter.
„Dein Schädel ist von Dummheiten benebelt. Solche Dinge darf ein Mädchen nicht denken und lernen schon gar nicht“, blaffte Patrizia und starrte ihre kleine Schwester Florentine, kurz Flo genannt, fassungslos an.
„Mir missfällt dein Benehmen, Florentine“, rügte Maria und fuhr fort, „es schickt sich nicht, dass du dich in Männerröcke zeigst. Geschweige denn, wie ein Mann kämpfst. Du musst dich mit weiblichen Dingen beschäftigen, damit du deinem späteren Mann eine gute Ehefrau sein kannst. Mit zwanzig Jahren solltest du längst verheiratet sein und Kinder haben.“
„Ich weiß, Mutter“, säuselte Flo zart lächelnd, „das möchte ich doch gar nicht“, sie geriet ins Schwärmen. „Ich möchte viel lieber mit Philipp in der Schmiede arbeiten oder ich werde vielleicht Schwertschluckerin. Ich möchte frei wie ein Mann sein.“
Maria ließ den Löffel in den Haferbrei plumpsen und keifte: „Aber Kind! Du weißt nicht, was du da redest. Lass das niemanden hören, sonst droht dir harte Strafe.“
Nach Luft schnappend schlug sich Patrizia die Hände ins Gesicht. „Willst du zu diesen Betrügern etwa dazu gehören? Das sind Lügner und Diebe. Die haben keine Ehre im Leib.“
„Das ist nicht wahr! Was weißt du schon davon?“, protestierte Flo drohend mit ihrem Messer und reckte schnaubend ihr Kinn vor.
Maria zuckte zusammen. „Florentine! Bedrohe niemals einen Menschen mit dem Messer! Das ist verboten!“
Reumütig ließ Flo es sinken. Wandte sich sodann wieder knurrend an Patrizia. „Und? Woher willst du das also wissen?“
„Pah! Das weiß doch nun wirklich jeder, Schwesterchen. Jeder warnt vor diesen Spitzbuben“, sagte sie und schluckte übertrieben artig ihre Mahlzeit.
„Du!“, Flo bleckte die Zähne.
„Genug!“, rief Maria. Die Schwestern zuckten zusammen und waren still.
„Ich bitte Vater, dass er mit dem Bürgermeister erneut spricht. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dich mit Walters Sohn Fred zu verheiraten!“, entschied Maria und duldete keinen Widerspruch.
Doch Flo dachte nicht einmal im Traum daran, sich zu fügen. Sie schmetterte ihrer Mutter heftigen Ungehorsam entgegen. „Ich will aber nicht“, schrie Flo aufgebracht und stand auf, „ich liebe ihn nicht!“
„Hinsetzen!“, befahl die Mutter und presste hart ihre Lippen zusammen. Flo gehorchte.
„Du wirst dich an ihn gewöhnen und lernen, ihn zu lieben. Ich werde nicht zulassen, dass du ihn noch einmal beleidigst. Du wirst dich wie eine Frau kleiden und dich auch so benehmen. Keine Waffen mehr!“
Maria dachte ungern an die letzte Begegnung der beiden Familien zurück. Deutlich sah sie jenen Tag des Unglücks vor Augen, der im Streit endete. Flo zeigte mit aller Kraft ihre Abneigung und ging mit dem Schwert auf die zwei Männer los. Maria seufzte und zweifelte an einer Versöhnung mit dem Bürgermeister und seinem Sohn. Ihr fiel eine Alternative ein und unterbrach Flo.
„Wenn du nicht heiraten willst, dann gehst du ins Kloster“, zischte sie, „dort lernst du, ein nützliches Leben unter Nonnen zu führen!“
„Leben? Bei Nonnen? Philipp, hilf mir!“, sie glotzte schwer atmend zu ihrem Bruder. Von ihrem Vater Siegfried konnte Flo kaum Unterstützung erwarten. Er litt an einer hartnäckigen Krankheit, die ihn an das Bett fesselte. Tag für Tag quälte er sich und aß nur unter Schmerzen ein wenig Suppe. Obwohl er alle familiären Entscheidungen traf, schonte die Familie ihn.
Bisher hörte Philipp gelassen zu und löffelte den Haferbrei mit dunklem Brot aus. Er ließ dabei die Augen zwischen den drei Frauen hin und her gleiten.
„Mutter“, ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Mit weicher Stimme fuhr er fort, „Flo ist wirklich geschickt. Warum sollte sie nicht das Schwert führen oder lernen, eines herzustellen? Vater hat dies immer unterstützt.“
„Die Gesetze müssen wir einhalten. Es ist böse, wenn ein Mädchen nicht verheiratet ist“, Maria stach heftig auf eine Scheibe Käse ein und platzierte es auf ihre Brotscheibe. „Weitere Zeit darf nicht vergehen. Sonst findet sich kein Ehemann mehr, der für sie sorgt.“
Die Unterhaltung bei Tisch geriet für Flo zunehmend in den Hintergrund. Sie gab sich ihrer Träumerei hin und lächelte sehnsüchtig vor sich hin. Das fahrende Volk, das war Freiheit für sie …
Sie stellte sich vor, wie ein Schwertschlucker zu leben und mit den Schaustellern durch das Land zu ziehen.Vor ihren Augen sah sie, wie erstaunte Blicke auf sie gerichtet waren. Sie hörte den Trommelwirbel. Langsam ließ sie das lange Schwert in ihre Kehle gleiten. Das Publikum wagte kaum, Luft zu holen. Nachdem die Klinge wieder zum Vorschein kam, erntete Flo tosenden Beifall. Sie genoss die Bewunderung jubelnder Zuschauer.
In ihrer Fantasie beherrschte Flo diese Kunst. In der Realität wusste sie nicht, wie die Kehle des Künstlers unverletzt blieb. Das wollte sie herausfinden und lernen. Nur wie und bei wem?
Das Poltern ihrer Schwester riss sie grob aus ihren Träumen. Sie zuckte zusammen, nachdem Patrizia aufstand, und sagte: „Ich muss wieder rüber in die Küche. Philipp, treib ihr die Dummheiten aus dem Kopf! Was wohl Vater dazu sagen würde? Seine jüngste Tochter arbeitet in der Schmiede“, kopfschüttelnd verließ sie das Haus.
Vor einigen Jahren lebte Patrizia mit ihrem Ehemann in einem Dorf bei einem wohlhabenden Bauern. Ihr Mann half auf dem Feld bei der Arbeit. Auf dem Hof machte sich Patrizia als Magd nützlich. Das Dorf umfasste vier Bauernhöfe und darum liegende Lehmhäuser. Doch an dem Ort wütete zu jener Zeit die Pest und der Hof blieb nicht verschont. Patrizia musste mit ansehen, wie die Menschen um sie herum erkrankten und in kurzer Zeit den Tod fanden. Die Pest holte auch ihren Ehemann. Mit unbändiger Angst wurde sie Zeuge, wie ihre Heimat zum Verfall verdammt wurde. Sie war allein! Sie hatte keine andere Wahl, wenn sie nicht als Ehrlose enden wollte und floh in die Stadt. Sie kehrte zurück in das Haus ihrer Eltern. Damals hatten sie und ihr Mann auf Söhne gehofft, doch Patrizia konnte ihm keine Kinder schenken, was ihrem Unglück die Krone aufsetzte.
„Nebenbei bemerkt Mutter, Patrizia ist auch nicht wieder verheiratet. Ist das besser? Ist das nicht böse?“, schimpfte Flo gereizt und verließ fluchtartig das Haus. Vor der Tür zuckte sie zusammen, als sie einen Schatten davon huschen sah. „Ein Tier …“, beruhigte sie sich und rannte zum Brunnen am Marktplatz.
Langsam kam er wieder aus seinem Versteck und schaute ihr nach. „Das will also Flo, frei wie ein Mann sein“, dachte der Bluthacker bei sich und kicherte verstohlen, wobei sein Gesicht fratzenhafte Züge annahm. Er schielte durch das Fenster. „Was für ein böses Mädchen“, wisperte er und schlich sich davon.
Philipp stand auf und ging zu seiner Mutter. Er umarmte sie liebevoll.
„Sei nachsichtiger mit ihr. Vater hat sie wie einen Jungen erzogen. Sie braucht nur den richtigen Mann an ihrer Seite. Wenn Vater erstmal gesund ist, dann wird alles wieder gut.“
Maria sah ihn dankbar an. „Ich hoffe, du behältst recht“, damit löste sie sich sanft aus der Umarmung und lächelte ihn mit müden Augen zärtlich an. Sie stand auf, um den Tisch abzuräumen. Er blieb eine Weile stehen und beobachtete für einen Augenblick seine zierliche Mutter. Glaubte er denn an die Genesung? Wie lange würde der Vater noch leben? Nachdenklich kehrte Philipp an die Arbeit in der Schmiede zurück.
Für Siegfried schien keine Verbesserung in Sicht. Jede Woche sah sein alter Freund, der Stadtdoktor Julius, nach ihm. Er riet, den Bader zu holen. Das Gift im Körper hielt dem regelmäßigen Aderlass leider stand. Maria hoffte auf Besserung. Sie sehnte sich nach Schlaf, denn die Krankheit ihres Mannes zehrte auch an ihr. Sie bereitete für ihn eine Gemüsesuppe vor und betrat die Schlafstube. Schwerfällig öffnete Siegfried die Augen und lächelte. Sie stellte das Tablett auf einem Holzschemel ab und legte behutsam ein weiteres Kissen unter seinen Kopf. Ihre Hände schmerzten, das Spinnen von Wolle mit der Handspindel fiel ihr im Laufe der Zeit immer schwerer. Sie griff nach der Suppenschüssel, den kurzen Holzlöffel und fütterte ihn. Er verzog das Gesicht. Von Schmerzen gequält, stöhnte er auf, als er den ersten Bissen hinunter schluckte.
„So schlimm?“, von ihren Sorgen gepeinigt, streichelte sie seufzend seine Wange.
„Ja, oh Frau, es wird einfach nicht besser. Der Magen zerreißt mich“, jammerte Siegfried.
„Ich werde den Medikus bemühen. Aber vielleicht weiß die alte Kräuter-Jule noch ein Kraut. Oder ist es nicht besser, wenn der Bader dir das kranke Stück vom Bauch entfernt?“
„Nein! Nicht der Bader! Lass das nicht zu“, hauchte er aufgeregt, „er darf mich nicht aufschneiden.“
„Julius und auch die Kräuter-Jule fanden ein festes Ding in deinem Bauch. Es ist die Ursache für deine Pein. Siegfried! Lass dir helfen! Soll Philipp den Bader holen?“
Er schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. Statt einer Antwort, grinste er schelmisch und fragte neugierig: „Ich hörte, wie die Mädchen polternd das Haus verließen. Was war passiert?“
„Ich möchte dich nicht beunruhigen“, sie senkte ihren Blick.
Doch er blieb hartnäckig und drängte: „Das hast du längst, Frau. Nun sag schon.“
„Es ist Flo, die mir Kummer bereitet. Sie arbeitet bei Philipp in der Schmiede. Den Schwertkampf fördert er und trainiert mit ihr“, fauchte Maria gedämpft und flößte ihm langsam weiter die heiße Suppe ein, die er mit schmerzverzerrtem Gesicht hinunterschluckte. Bei dem Gedanken an seine Tochter Flo, die sich wie ein Junge benahm, lächelte er schwach - trotz der quälenden Pein. „Sie ist ein starkes Mädchen. Früher habe ich die beiden unterrichtet. Weißt du noch Frau?“
„Ja, ja, wenn das nur kein Fehler war. Flo kleidet sich wie ein Mann“, fuhr sie empört fort. „Sie schnappt sich Philipps abgetragenen Kleider. Diese sind ihr viel zu groß.“
Siegfried lachte kurz auf, um sich sogleich schmerzerfüllt zu krümmen. „Das sieht ihr ähnlich!“
Maria schmunzelte. „Immerhin überragt Philipp sie um einen Kopf und sie ist körperlich grade die Hälfte von ihm.“
Sie senkte ihren Kopf und hielt sich den Handrücken vor dem Mund. „Das verrückte Ding kürzt und ändert die Kleidung, bis diese sitzen. Geschickt mit Nadel und Faden ist sie ja“, ihre Augen blitzten auf. „Sie könnte zum Schneider Eberhard in die Lehre. Er hat nur leider keinen Erben.“
Sie stellte die Suppenschüssel auf das Tablett zurück.
„Ach Frau“, jammerte er, „lass sie in der Schmiede. Philipp hat ja nichts dagegen und Hilfe kann er gut gebrauchen.“
„Siegfried“, flehte Maria eindringlich und ergriff sanft seine Hände, „Flo muss heiraten oder ins Kloster. Bitte, sprich´ mit Walter. Soll Philipp ihn holen?“
Doch Siegfried hörte nicht mehr zu. Er war eingeschlafen. Seufzend, mit gequältem Blick verließ sie das Zimmer.
Die Kirchturmglocke schlug die zehnte Stunde des Abends. Erschrocken zuckte er zusammen. „Ich schaffe es nicht … Das Tor“, hauchte er. Schweißgebadet blieb er breitbeinig stehen und sah sich um. Verzerrte Bilder von Häusern nahm er wahr. Sie zogen sich zu beiden Seiten grau in die Höhe. Zwischen den Häusern klafften die Gassen wie schwarze Löcher in einem maroden Gebiss. Träge legte er seinen zunehmend schwerer werdenden Kopf in den Nacken. Hell wies ihm der Mond den Weg durch die dunkle, enge Gasse. Weit kam er bisher nicht, seit er sich in der Sackgasse noch einmal erleichterte. Er hatte den Eindruck, als würde die Zeit wie im Schneckentempo vergehen. Er schwankte. „Luft … die Häuser … ich schaffe es nicht.“
Klaus senkte den Kopf wieder und schloss die Augen. Er riss sich mit der linken Hand das Hemd auf, legte diese auf die Brust und torkelte zwei oder drei Schritte. Er schlurfte mehr, als dass er ging. Seine hämmernden Gedanken sollten ihn als einzige begleiten. Weit und breit war kein Mensch, weder zu hören, noch zu sehen. Es war totenstill - in den Häusern herrschte die Dunkelheit. Klaus schleppte sich durch die näher kommende Nacht. Doch er kam nicht vorwärts. „Was ist bloß passiert?“, flüsterte Klaus und blieb wieder breitbeinig stehen. Schwer nach Luft atmend, glotzte er auf den rechten Arm. Sein halber Unterarm fehlte - einfach abgehackt.
Es floss Blut - sein Blut! Geschockt torkelte er zwei Schritte zurück.
Er wollte schreien, riss den Mund auf, aber es folgte kein Mucks.
Der Kopf pochte, als würde jemand an die Tür hämmern. Am Hinterkopf verspürte er einen stechenden Schmerz. Prüfend wanderte die linke Hand zu der Ursache und glitt in etwas Nasses. „Was zum Teufel … Aua!“
Wieder starrte er auf beide Arme. Unaufhaltsam pulsierte das Blut aus seinem rechten Arm. Mit der intakten Hand versuchte er, die Wunde zu umschließen, um die Blutung zu stoppen. Der Erfolg war gering, wenn nicht sogar aussichtslos. Im Mondlicht sah die Flüssigkeit schwarz aus, er roch daran. „Verdammt! Blut! Ich bin … gefährlich verletzt.“
Ihm wurde schwindlig, er taumelte. Klaus hatte das Gefühl, als schwollen seine Augen ins Unermessliche an. Der Druck in den Augenhöhlen ertrug er nicht. Übelkeit kam in ihm auf. Kaum vernehmlich keuchend und stöhnend stützte er sich am Mauerwerk ab. Was hatte er nicht alles an Bier getrunken … sein Magen rebellierte und er kotzte gegen die Hauswand.
Langsam fiel sein schwerer Körper auf die Knie. Er schaute auf die Erde. Unaufhörlich breitete sich eine Pfütze aus. Panik ergriff ihn. Blut … ich verblute … ich… Er rang röchelnd nach Luft. „Zu Hilfe …“, hauchte Klaus, „ich brauche einen Medikus.“
Wie vom Blitz getroffen kippte er auf den Bauch und blieb regungslos am Boden liegen. Der kräftige Mann war zu keinem Wort mehr fähig.
Am nächsten Morgen sorgte eine Leiche in einer Gasse für Aufregung. Eine Traube von etwa zwei Dutzend Menschen hatte sich gebildet. Sie glotzten auf den Toten und den daneben knienden Schneider Eberhard. Er verzog angeekelt sein Gesicht, aber riss sich für den Augenblick zusammen. Überall das ganze Blut … Übelkeit kam in ihm auf. Er drehte den Kopf zur Seite. Seine Gedanken kreisten um Flucht. Warum kann er sich nicht einfach abwenden und davonrennen?
„Oh, bitte nicht! Lass mich nicht über den armen Kerl kotzen!“, dachte er und hielt sich den Mund zu.
„He, Schneider! Was ist mit dir?“, rief ein dicker Mann. Eberhard schreckte auf.
„Ich muss einen klaren Kopf behalten“, zwang sich der Schneider zur Ruhe und verdrängte den Ekel für einen Augenblick. „Ich bin verpflichtet, etwas zu tun. Nur was?“
Er bemerkte bei seinen Überlegungen, wie langsam das Frühstück den Weg in die Kehle suchte und schluckte hart. „Ich muss hier weg!“
Es fiel dem Schneider schwer, klar zu denken. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich für einen Moment die Ohren zu. Das Durcheinander in der Menschenmenge steigerte sich zu einem Gedröhne.
„Das ist Klaus, der Schwertschlucker“, rief eine Frau. „Holt den Doktor Julius“, kreischte eine andere. Eberhard atmete auf. „Das ist es! Ich hole Julius!“, beschloss er, sprang auf und eilte los.
An der Ecke der Schneidergasse blieben Eberhard und Julius stehen. Sie wechselten einen Blick und pusteten die Luft aus den Backen. Vor ihnen lag die Gasse mit der Leiche, in der eine Menschentraube sich einem lautstarken Wortgefecht hingab.
„Auf geht´s!“, sagte der Schneider und drängelte sich mit dem rundlichen Stadtdoktor durch die Menge. „Lasst den Doktor durch … Leute ... Platz machen!“, forderte Eberhard gereizt und erreichte zuerst das Ziel. Er rief nach dem Stadtarzt und zeigte auf den am Boden liegenden Schwertschlucker. „Julius hier!“.
Der Arzt kämpfte sich schwitzend und keuchend durch und kniete sich zur näheren Betrachtung zu dem Leichnam hinunter. In seinem Alter war er kaum zu schockieren. Zu viele Leichen hatte er bereits gesehen und untersucht, denn die letzten Kriege prägten sein Leben. Er strich sich die grauen Haare aus dem Gesicht.
Er hob den verstümmelten Arm an und sah den glatten Schnitt. „Wieder mit einem Hieb getrennt. Das arme Schwein ist verblutet!“, stellte Julius fest.
In der Menge ertönten Worte wie ‚Mord‘ und ‚der Bluthacker‘.
Doktor Julius wandte sich an den Schneider: „Wir bringen ihn ins Spital. Er kann hier nicht liegen bleiben.“
Eine Hand voll Schausteller, die als fahrendes Volk durch die Lande zogen, lachten und tranken Bier. Sie saßen auf Ballen von Stroh um ein Lagerfeuer herum.
„Matthias! Matthias!“, schrie Oskar, der Puppenspieler und rannte ziellos durch das Lager. „Matthias! Er ist tot! Er wurde ermordet!“, er blieb atemlos beim Feuer stehen.
Der Anführer Matthias blickte auf und fragte ohne Regung: „Wer ist tot?“
„Klaus! Er wurde in der Stadt umgebracht. Das Monster ist zurück, es wird uns alle umbringen. Das Totenreich hat es ausgespuckt“, jammerte Oskar und zappelte mit dem ganzen Körper.
„Hat dich in der Stadt jemand gesehen?“, wollte Matthias wissen.
Heftig schüttelte Oskar den Kopf. „Nein! Aber der Schwager des Fürsten sucht nach dem Bluthacker! Wir sollten schnell von hier verschwinden.“
„Warum? Wir haben keinen Grund und nichts zu verbergen“, er hielt inne, starrte ins Leere und fragte: „Der Schwager des Fürsten, was ist das für ein Mann?“
„Er ist ein Medikus und reist mit seinem Diener. Im Gasthaus erzählte Hilde ihm von dem Mord an den Vagabunden“, berichtete Oskar.
Langsam stützte Matthias den rechten Ellenbogen auf den vor dem Bauch ruhenden Arm und knetete sein Kinn. „Seltsam! Warum hegt ein Mann von Adel ein Interesse an einem Mörder von Ehrlosen?“
Die Fahrenden schauten sich an und zuckten mit den Schultern. Sie schüttelten ratlos die Köpfe, denn ihnen fiel keine Antwort ein. Ein leises Lächeln huschte über das Gesicht des Anführers. „Ich erwarte ihn. Er kommt mit Sicherheit bald zu uns, um Fragen zu stellen. Ich bin gespannt, was er für ein Mensch ist.“
An diesem Morgen standen der Doktor und sein Diener früh auf. Sie begaben sich in den Schankraum. Die Wirtin Hilde servierte ihnen ein kräftiges Frühstück. Schlingend schaufelte Jakob den Haferbrei in sich hinein, als wäre es die letzte Mahlzeit des Tages. Er wandte den Blick zu seinem Herrn. „Möglich, dass der Bluthacker noch in der Stadt ist. Meint Ihr nicht?“, und futterte weiter. Er bemerkte nicht, dass Sebastian ihn beim Essen beobachtete und jede Bewegung mit offenem Mund registrierte. Der Doktor schmunzelte. Er legte sein Kinn auf die Hände und stützte die Arme auf den Tisch ab. „Nachdem, was wir von der bezaubernden Hilde gehört haben, ist das gut möglich.“
„Nicht wahr?“, Jakob schaute für einen Moment auf und mampfte anschließend weiter.
„Ich gebe zu Bedenken, dass er überall sein dürfte. Wegen der letzten Leiche sprechen wir an erster Stelle mit dem Stadtarzt Julius, wenn wir hier fertig sind.“
„Ich bin satt, Herr!“, zufrieden wischte sich Jakob mit dem Ärmel den Mund ab.
Der Doktor lachte und staunte. Mit weiten Augen stimmte er dem grinsenden Diener zu. „Ja, du musst wirklich hungrig gewesen sein.“
Ein dicker, älterer Mann polterte in das Gasthaus und rannte auf den Wirt zu. Sie wechselten einige Worte. Anschließend stürzte er auf Sebastian und Jakob zu. Es war der Stadtarzt. In fliegender Hast stellte sich Julius vor und kam direkt zur Sache. Es gehe das Gerücht um, dass sie den berüchtigten Bluthacker jagen.
„Ich bin erstaunt, werter Kollege“, fing Sebastian an, hielt inne und nickte dem Stadtarzt zu.
„Jemand muss uns belauscht haben, Herr“, flüsterte Jakob seinem Herrn zu.
Noch außer Atem ließ Julius den Blick zwischen den beiden Männern hin und her gleiten. Er nutzte eine kleine Pause.
„Du musst in der Stadt bleiben“, aufgeregt tupfte er sich mit einem Tuch das Gesicht trocken. „Letzte Nacht wurde wieder ein Mensch getötet. In der Schneidergasse lag der Schwertschlucker Klaus von den Fahrenden.“
„Was sagst du da?“, überrascht legte Sebastian die Stirn in Falten und fragte weiter: „Wer fand den Toten?“
„Der Schneider Eberhard holte mich. Es war zu spät. Ich konnte nichts mehr für den armen Kerl tun. Er verblutete qualvoll. Der rechte Unterarm wurde ihm abgehackt“, bedauerte Julius und senkte erschöpft seinen Kopf.
„Das ist er! Der Bluthacker“, flüsterte Sebastian und starrte auf die Tischplatte.
„Komisch! Die Stadt hat doch einen Nachtwächter, nicht wahr?“, kam es Jakob schlagartig in den Sinn. „Wieso wurde der Tote so spät gefunden?“
„Stimmt, eine gute Frage. Wir haben zwei Nachtwächter. Das sind Gerold und sein Sohn Hans“, fiel es Julius ein, „ihnen hätte auf jeden Fall die Leiche auffallen müssen“.
„Ich schlage vor“, sagte Sebastian entschlossen, „dass wir uns zuerst in der Schneidergasse umsehen und nach Spuren suchen.“
Auf ihrer Liste stand der Besuch der Nachtwächter an und zuletzt das Spital. Julius nickte und war einverstanden.
„Nun? Habt Ihr noch einen Wunsch?“, flötete es ihnen entgegen. Grinsend gaffte die Wirtin die drei Männer begierig an. Ihre Hände ruhten in einandergelegt vor ihrem Bauch. Julius verdrehte die Augen und zog einen Flunsch.
„Ja, meine Liebe“, Sebastian richtete seinen Blick auf Hilde. „Wir werden für unbestimmte Zeit in dieser Stadt verweilen. Die Kammer …“
„Aber natürlich“, unterbrach sie ihn und winkte ab. „Ihr dürft bleiben, so lange es Euch beliebt.“
„Danke, das ist sehr freundlich, Hilde“, antwortete der junge Medikus.
„Wisst Ihr schon, wer der Mörder ist, Doktor?“, bohrte sie weiter. Er schüttelte den Kopf. Insgeheim hoffte Sebastian, sie würde Ruhe geben, wenn er ihr Einzelheiten schuldig blieb. Allerdings wurde er eines Besseren belehrt.
„Ist der Mörder in unserer Stadt?“, erschrocken hielt sie sich mit beiden Händen den Mund zu.
„Nein, nein, meine Liebe“, Sebastian bemühte sich um ein sanftes Lächeln und schüttelte den Kopf. „Von hier aus sind wir in der günstigen Lage, die nähere Umgebung zu beobachten. Wenn die Bewohner vorsichtig sind, wird nichts passieren.“
„Ach“, atmete Hilde erleichtert auf, „dem Himmel sei Dank. Ich dachte, ich müsse mich vor meinen Nachbarn in Acht nehmen.“
„Sei unbesorgt. Du gehst einfach deiner Arbeit nach“, er nickte ihr auffordernd zu.
„Aber sicher doch“, flötete sie und machte sich peinlich berührt auf den Weg in die Küche. Er atmete auf und sah zu seinem Diener.
„Auf Euren Charme ist immer wieder verlass“, schmunzelte Jakob.
„Hauptsache dieses Tratschweib hält den Mund und verbreitet kein dummes Zeug“, brummte Julius.
Sebastian nickte. „Das hoffe ich auch. Sag uns Julius, wo wohnen die Nachtwächter Gerold und Hans?“
„Er lebt mit seinem Sohn im Turm neben dem Wachhäuschen an der westlichen Stadtmauer. Gar nicht zu verfehlen. Folge der Hauptstraße runter zum Haupttor.“
„Das werden wir sicher schnell finden“, da war Sebastian überzeugt. Doch die Schneidergasse? Welcher Weg führte sie dort hin?
„Das ist rasch beschrieben“, winkte Julius zuversichtlich ab, „lauft über die Hauptstraße geradeaus weiter. Das ist die Schneidergasse. Diese ist nicht lang. An der Ecke liegt die Apotheke von Markus.“
„Vielen Dank, Julius“, Sebastian wandte sich an den treuen Diener, der ebenfalls aufstand. „Komm Jakob, wir wollen uns auf den Weg machen.“
Langsam hob ein stummer Zeuge den Kopf und fletschte die Zähne. Er saß einige Tische von ihnen entfernt. Verstohlen schielte er unbemerkt, ja unauffällig zu seinem Feind.
„Oh nein, Doktorchen. Ich muss dich zwingen, zu verschwinden. Ich werde nicht zulassen, dass du meine Pläne durchkreuzt“, flüsterte er kaum hörbar zu sich selbst. Er ließ eine Münze neben dem leeren Becher liegen. Anschließend stand er auf und verließ die Gaststätte 'Zur Sonne'.
Die Richtlinien für eine reinliche Stadt hielt der Stadtrat in einer Vorschrift fest. So auch die Strafen bei Missachtung. Die Vergehen kontrollierte der Rat nur ab und zu, da oft die Zeit und Leute fehlten. Der Schmutz und Gestank war allgegenwärtig. Unrat und Abfall verschlang der Fluss. Schweine, Ziegen und Hühner spazierten frei herum und entkamen wie der Blitz dem Stall. Schweine fraßen vieles auf und durchwühlten alles, was ihnen vor die Schnauze kam. In der Nacht mochte niemand das Bett verlassen, um in den Latrinen hinter dem Haus ihre Notdurft zu verrichten. Die Bewohner entleerten ihre Nachttöpfe vor der Tür auf der Straße. In gleichem Maße verhielt es sich mit der Entsorgung der Abfälle. Es war ratsam, in der Straßenmitte zu gehen.
Auf dem Weg in die Schneidergasse schlug den beiden Männern ein saurer Geruch ins Gesicht. Die Luft war erfüllt von menschlichen Ausscheidungen und Dreck. Aus der Ferne sahen sie am Fundort der Leiche die mittlerweile braun gewordene Blutpfütze. Zum größten Teil war das Blut in den Boden gesickert, gut sichtbar war die Stelle aber dennoch.
„Hier Jakob, er konnte sich noch fortbewegen“, Sebastian zeigte auf eine Blutspur.
„Ja und er hat sich hier an dem Mauerwerk übergeben“, stellte Jakob angeekelt mit rümpfender Nase fest. „Hier war sein Ende. Er brach zusammen!“
Sebastian betrachtete die Wand und nickte. „Komm! Wir wollen sehen, wohin uns die Spur am Boden führt.“
Jeweils drei mit vier Geschoss hohe Häuser zogen sich zu beiden Seiten in der Schneidergasse in die Luft. Zwischen ihnen führte je eine schmale Gasse zu einem Hinterhof, welche dort auch endete. In einer dieser Sackgassen fing die Blutspur an.
„Eine Sackgasse! Was bezweckte Klaus denn hier zu später Stunde? Er war verpflichtet, die Stadt rechtzeitig zu verlassen, bevor die Stadttore schließen. Er hatte ja kein Dach über den Kopf und verschwand am besten zu seinesgleichen“, bemerkte Jakob.
„Das stimmt. Das Wirtshaus ist gleich in der Nähe. Er brauchte nur der Hauptstraße rechts zu folgen und wäre zügig am Haupttor“, schelmisch lächelnd hob Sebastian kurz seinen Zeigefinger. „Möglicherweise besuchte er in einem dieser Häuser ein Weib, bevor er die Stadt verlassen wollte. Ich wage die Vermutung, dass Klaus zuvor im Gasthaus war und jede Menge Bier trank. Er hatte dadurch das Bedürfnis, sich hier noch einmal zu erleichtern.“
„Nachdem er vorher ein Weib beglückte? Das muss ja ein flotter Hirsch gewesen sein“, ätzte Jakob und sah sich um. Er zog die Mundwinkel runter. „Hier ist aber nichts weiter! Bis auf die Blutpfütze.“
„Irrtum, mein lieber Freund“, sagte der Doktor und betrachtete eine Wand genauer. „An dieser Hauswand hatte sich Klaus vielleicht erleichtert und dabei streckte ihn jemand nieder. Auf Kopfhöhe ist Blut. Er hat sich umgedreht und angelehnt. Da entstand der Blutfleck.“
Sein Diener näherte sich der Wand. „Ja, Ihr könntet … ja das ist wahrscheinlich Blut …“
Nachdem der Doktor sich in der Umgebung weiter umsah, entdeckte er eine enge Ecke, in der sich ein Mann gut verborgen halten konnte.
„Schau hier Jakob!“, und lief flott in das vermutete Versteck. „Der Bluthacker wartete in dieser Ecke“, er marschierte zu der mit Blut verschmierten Wand, „erschlug ihn vermutlich hier hinterrücks. Klaus drehte sich um, taumelte, lehnte sich an die Hauswand, torkelte weiter. Der Bluthacker überwältigte ihn hier bei der Blutpfütze, wo er ihm den rechten Unterarm abhackte“, aufgeregt suchte er nach dem fehlenden Körperteil. „Nur, wo ist der Arm?“
„Den steckte der Mörder ein. Hier ist sonst nichts“, schlussfolgerte Jakob, nachdem auch er nicht das Geringste fand.
„Er war nur ein paar Schritte von der Schneidergasse entfernt. Der arme Kerl verblutete. Ich vermute, er war ein kräftiger Mann. Das würde erklären, warum er überhaupt so weit mit den Wunden kam und nicht gleich hier in der Sackgasse starb. Wir werden die Leiche ja nachher im Spital begutachten.“
„Mehrere Verletzungen?“, fragte Jakob nach. Das viele Blut ließ ihn schwanken.
„Ja, das zeigt das Blut an der Wand in Kopfhöhe. Er hatte eine Kopfverletzung und der rechte Unterarm wurde ihm abgehackt. Mindestens zwei schwere Verwundungen kosteten ihm das Leben.“
„Mmh, stimmt, Herr“, er legte seinen Kopf minimal schief und nickte.
„Wir fragen die Menschen hier in der Umgebung. Es wäre möglich, dass jemand etwas gehört hat“, schlug Sebastian vor.
„Ja, Herr, besser hilft uns ein Augenzeuge“, ergänzte Jakob.
Die beiden Männer liefen von Tür zu Tür. Oft blieben sie verschlossen. Doch im Fall, dass geöffnet wurde, knallten die Bewohner ihnen die Tür vor der Nase zu. Die nackte Angst ließ die Städter verstummen. Teilweise zischten mutige Leute: „Seht zu, dass Ihr diesen Ort verlasst, wenn Euch Euer Leben lieb ist. Hier treibt der Bluthacker sein Unwesen“, und ehe Sebastian reagieren konnte, war die Tür wieder geschlossen. Die gewünschten Ergebnisse erfüllten sich nicht.
„Das gibt es doch nicht!“, knurrte der Doktor. Jakob stand müde daneben und ließ die Schultern hängen. „Ich fühle mich wie vor die Rübe gestoßen“, flüsterte er. Ratlos sahen sie sich an.
„Die Leute haben alle Angst, aber lassen sich auch nicht helfen“, Sebastian schüttelte heftig seinen Kopf und zog einen Flunsch.
„Wir erreichen hier nichts. Suchen wir die Nachtwächter auf“, riet Jakob.
Als sie an dem Turm ankamen und kräftig an der Tür klopften, dauerte es eine ganze Weile, bis der Nachtwächter die Tür öffnete. Vor ihnen stand ein mürrischer Mann von bulliger Gestalt. Sein Gesicht war gezeichnet. Er trug eine längliche Narbe unterhalb des rechten Auges.
„Was habt ihr hier zu suchen?“, grollte es ihnen entgegen. Seine Mundwinkel sanken in Richtung Erde. Er wirkte auf sie wie ein Gorilla, der sein Revier verteidigte.
„Wir verfolgen den Bluthacker, der hier sein Unwesen treibt. Es tauchen ein paar Fragen auf, die wir gern mit dir …“, setzte Sebastian an.
„Schert euch weg! Ich habe dazu nichts zu sagen“, brüllte Gerold und ballte die Hand zur Faust. Sein Sohn Hans kam verschlafen zur Tür geschlurft, rieb sich kurz seine Augen und fuhr sich mit der Hand durch die struppigen dunkelblonden Haare. „Vater, was ist denn los?“
Als der junge Mann neben seinem Vater stand, zog dieser ihn grob zur Seite und knallte die Tür zu. Jakob zog die Schultern hoch und schielte zu Sebastian.
„Ich glaube, Gerold war extrem wütend“, wisperte er eingeschüchtert.
„Ja, du hast recht. Ich fürchte, wir vergaßen, dass die Nachtwächter bei Tag schlafen. Sie waren schließlich die ganze Nacht unterwegs. Wir kommen gegen Abend noch einmal her.“
Bei dem Klang der Kirchturmglocke, welche die elfte Stunde des Tages schlug, zuckten sie zusammen.
„Der Türmer!“, platzte es aus Sebastian heraus. „Er hilft uns weiter!“
„Richtig“, nickte Jakob engagiert, „wir suchen ihn sofort auf. Begeben wir uns gleich auf den Weg zur Kirche!“
Doch der Türmer schüttelte den Kopf, der Blick über der Stadt der letzten Nächte war unauffällig. Des Abends schlich mancher Mann durch die Gasse, der sich mit einer Hure vergnügte, bevor er zu seinem Weib müde ins Bett kroch. Er brachte zum Ausdruck, dass er durch die Stille der Dunkelheit bis in den Wald hören könne. Unbekümmert lausche er den tierischen Geräuschen, auch ein Knurren berühre ihn nicht. Der Türmer genoss zwar eine großzügige Sicht über die Stadt, der tiefere Blick in die Gassen bliebe ihm durch die Dächer verwehrt. Mit gesenkten Häuptern verließen sie den Turmwächter. Für einen Moment ruhten sie sich am Brunnen auf dem Marktplatz aus. Sebastian schüttelte den Kopf und starrte auf den Boden. „Julius wartet auf uns, Herr“, erinnerte ihn Jakob. Er nickte und raffte sich auf.
Voller Hoffnung kamen der Doktor und sein Diener im
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Bianca Pautsch
Lektorat: Bianca Pautsch
Satz: Originalausgabe Mai 2020
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4015-5
Alle Rechte vorbehalten