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"Ich liebe Sie, Herr Lehrer"



"Nun bitte alle abgeben!“
Ächzend und stöhnend schlenderten die Schüler zum Lehrerpult und im gleichen Gang wieder zurück. Nur Mia blieb sitzen.
"Mia, Sie auch. Sonst wäre das unfair anderen gegenüber.“
Doch sie rührte sich nicht, immer noch übers Papier beugend, eifrig schreibend.
Müde erhob ich mich und musste mich bemühen mich nirgendwo zu stützen.
Wäre eine Blamage wenn den Schülern bestätigt wird, dass sich der Lehrer doch vor Schmerzen am Boden krümmen muss, nachdem er am Wochenende beim Fussballspielen auf dem nassen Rasen ausgerutscht war.
Angekommen tat ich so, als würde ich mich am Tisch halten, um Blickkontakt mit Mia aufnehmen zu können, damit ich ihr tüchtig meine Meinung sagen könnte, dabei wollte ich nur mein Fussgelenk entlasten.
Mia blickte zu mir hinauf.
Sie hatte schöne Augen.
Ein Farbton wie flüssiges Gold.
"Herr Mertens?“
Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
"Ja Mia. Ich hoffe, ich konnte Ihnen zu verstehen geben, was Sie jetzt zu tun haben?“
"Ich soll meinen Text abgeben, Herr Mertens?“
"So ist es Mia.“
Sie reichte mir das Blatt ohne unseren Blickkontakt zu brechen und lächelte.
Das Blatt rutschte mir beinahe aus den Händen.
Mia schaute mich immer noch an. Prüfend.
Ich wich ihrem Blick aus.

*


Herbsttage sind bekannt für regnerisches Wetter.
Ebenfalls für bunte Blätter und vielleicht auch für niedrige Motivation sowie launische Tage?
Mir war bewusst, dass ich den Herbst hasste.
Ich durchquerte den Schulhof.
Beim Vorbeigehen begrüsste ich einen Kollegen, der drauf und dran war seinen nächsten Zug zu schnappen.
Und worauf warte ich?
Ich musterte die Hintertürklinke der Schule.
Meine Uhr sagte mir, dass ich sowieso zu früh war und ich es mir ruhig leisten konnte, ein wenig länger diese frische Luft einzuatmen.
Für diesen Moment jedenfalls.
In meinen jungen 25 Jahren hatte ich noch nicht viel erreicht, was?
Es schien, als würde die Zeit einfach so vorbeirasen, während ich immer noch hier auf dem gleichen Fleck sass und ratlos dem Herbst hinterher träumte.
"Wissen Sie, dass Sie sehr friedlich aussehen wenn Sie so vor sich hin träumen?“
Ich zuckte zusammen und traf goldige Augen.
"Mia, was machen Sie hier?“
Ich strich meinen Mantel glatt.
"Vielleicht das Gleiche wie Sie, Herr Mertens?“
Ich erwiderte dazu nichts.
"Fragen Sie sich auch manchmal, dass die Zeit zu schnell vergeht?“
Ich war überrascht. Weil ich mich gerade vorhin dasselbe gefragt hatte oder weil diese Frage von einem meiner Schüler kam? Ich weiss es nicht.
Langsam senkte ich meinen Kopf und schielte leicht zu ihr hinüber.
Mia schien beschäftigt zu sein farbige Blätter einzusammeln und sie wieder fallen zu lassen.
"Ab und zu mal. Wieso fragen Sie?“
"Weil es mir auch so ergeht. Sehen Sie dieses Blatt hier?“
"Ja, ich sehe es.“
"Finden Sie es schön?“
Ich dachte nach. Was für eine Frage. Soll ich jetzt antworten, wie die Mehrheit antworten würde; "Ja herrlich! Die Farben! Hach!“ oder lieber wie eine selbstdenkende unabhängige Spezies?
"Ich finde es scheusslich.“
"Wieso denn, Herr Mertens?“
"Weil es leblos ist. Ein Wesen ohne Leben ist nicht schön.“
"Ach tun Sie nicht so Herr Mertens, ich finde diese Antwort unfair. Es kann nichts dafür. Jedes Wesen wird irgendwann seine Zeit gehabt haben. Wollen Sie damit sagen, dass jedes Wesen früher oder später hässlich ist?“
"Ah nein. Das nicht. Für mich hat es den Anschein, als wäre das Blatt nicht zufrieden mit dem was es bis jetzt erreicht hat. Nun ist es nicht mehr. Ein unerfülltes Leben ist nicht schön.
Ist meine Antwort für Sie jetzt nachvollziehbarer?“
"Eine Antwort, die ich von Ihnen erwartet habe, Herr Mertens. Danke.“
Sie erhob sich langsam von der Bank und liess die restlichen Blätter fallen.
Stimmt, es war bald Zeit.
Die Schule würde jeden Moment anfangen.
"Also, bis gleich Mia.“
Auch ich stand auf und hob meine Hand zum Abschied.

*


Schulschluss 18:00 Uhr


Nennt man es Pech oder Glück, wenn einem vorm Schultor einfällt, dass man etwas vergessen hatte? Ich weiss es nicht.
Oh Mann. Ich drehte mich um und machte mich wieder auf dem Weg zurück.
Ich kramte in meinem Fach herum. Das Licht ging aus.
Jetzt noch das Licht. Toll. Wo habe ich die Aufsätze schon wieder verlegt?


"Herr Mertens?“
Die Wände warfen ein feines Flüstern. Es unterbrach die schwere Stille, die in der Schule herrschte. Ich horchte auf.
Einbildung?


Ich spürte etwas. Jemand stand hinter mir. Hände schlangen sich um meinen Körper.
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Ich könnte mich wehren.
Ich könnte es, wenn es ein Mörder oder Einbrecher wäre.
Aber das waren junge Mädchenhände. Kaum zu fassen, dass ich das noch in dieser Dunkelheit erkennen konnte.
"Bitte entschuldigen Sie mich, aber wer sind Sie? Schülern ist es verwehrt sich zu dieser Zeit in der Schule noch herumzutreiben.“
Die Griffe wurden fester und ich spürte wie ein Gesicht sich in meinen Mantel vergrub.
Mir wurde kribbelig. Ich wusste nicht was ich machen sollte.
Man. Komm ich mir kindisch vor. Handle wie ein Erwachsener!


Ich berührte ihre Hände um sie jeden Moment von mir zu stossen.
"Bitte, Herr Mertens. Gehen Sie nicht weg.“
Die Stimme traf mich wie ein Blitz.
"Mia, was machen Sie hier?“
Meine Hände lasteten auf den ihren.
"Herr Mertens, ich liebe Sie.“
Diese Worte sassen. Mein Hirn benötigte eine gewisse Menge an Zeit um diese Information zu bearbeiten. Ich schluckte. Es folgte eine Reaktion.
Ich riss sie von mir und hielt sie fest bei den Schultern.
"Mia, ist Ihnen bewusst, was Sie gerade gesagt haben?“
Ich erblickte ihre Augen. Obwohl es dunkel war sah ich jede Träne, die ihr die Wangen hinab kullerten. Wieso weinte sie?
"Ja. Es ist mir bewusst. Und ich hoffe Ihnen auch.“
"Mia. Jetzt hören Sie mir gut zu. Wenn das ein Scherz sein soll, ist es nicht witzig. Und wenn nein, dann ..dann hör auf damit.“ Ich liess sie los. Oh mann. Mir kam nichts Besseres in den Sinn.
"Das ist alles? Denken Sie es ist so einfach? Ich soll Sie wie durch Zauberei nicht mehr lieben?“
Verdammt, das tönt ernst. Kein Streich.


"Mia verstehen Sie doch. Auch wenn Sie mich lieben, hat das keinen Zweck. Ich würde mich damit strafbar machen und Sie würden Ihr ganzes Leben darunter leiden müssen.“
"Das ist es mir wert!“
"Was redest du da Mia!“
"Aber lieben Sie m- “
"Nein Mia. Ich liebe Sie nicht! Jetzt geh nach Hause Mia.“
Wie verhält man sich, verdammt noch mal, als Lehrer in einer solchen Situation?
"Ich bin dieses Jahr siebzehn geworden, Herr Mertens. Es ist kein Streich. Meine Gefühle sind echt. Bitte lassen Sie mich.“
Ich vermied Blickkontakt. Wieso kann ich nicht bodenständig sagen, dass sie damit aufhören soll? Was hält mich auf?
"Mia, versuchen Sie bitte zu verstehen. Das Gesetz- “
"Lassen Sie mich die Frage anders formulieren: würden Sie mich lieben oder nicht?“
"Mia! Ich bin Ihr Lehrer! So was kann nicht existieren. Verstehen Sie nicht?!“
Habe ich es geschafft? Konnte ich sie umstimmen?
Ich erlaubte mir einen kurzen Blick.
Mia war still. Sie weinte immer noch. Man muss mit Schmerzen und Enttäuschungen zu leben lernen. Tut mir leid Mia.


Ich schloss die Augen als ihre Schritte sich immer weiter von mir entfernten.
Nur wusste ich zu dieser Zeit nicht, wie weit diese Schritte gingen.

*


"So. Hier eure Aufsätze. Schaut sie gut an und lernt was draus!“
Aufsätze mag ich nicht. So was erinnert mich immer an sie. An Mia.
Sie fehlte schon seit einer Woche. Ich hatte mir erlaubt, ihren Aufsatz erst zurückzugeben, wenn sie wieder da sein würde.
Doch am nächsten Morgen kam sie nicht.
Und die Woche darauf auch nicht.

*


Ich fiel schon beinahe ins Zimmer, als hineinzutreten, wie es sich für einen Lehrer eigentlich gehörte und wurde in den Mittelpunkt verweinter Augen gezogen.
Rot und müde waren sie.
"Danke, dass Sie gekommen sind, Herr Mertens.“
Mias Mutter war am Ende, sie konnte kein weiteres Wort hinausbringen, auch wenn sie es gewollt hätte. Ich sah es ihr an.
"Kein Problem“, würgte ich hervor.
Sie verliess den Raum. Das Krankenzimmer.
Ich lief schwer atmend zum Bett hinüber, worin Mia lag.
Ich war sofort herbeigeeilt, nachdem ich von Mias Mutter erfahren hatte, dass Mia im Krankenhaus lag. Es traf mich wie ein Stein, als mir gesagt wurde, dass sie schon lange an Leukämie litt und nicht mehr lange hätte.
"Herr Mertens, sind Sie da?“ Sie hob ihre rechte Hand.
Ich blickte in ihre Augen, sie waren trüb.
"Ja Mia. Hier bin ich.“ Was für eine tolle Konversation, die ich hier führen konnte.
Ich hatte es wieder mal ganz toll hingekriegt.
Ich bückte mich näher zu ihr, damit sie mich erreichen konnte.
Ihre Hand streifte mein Gesicht. Sie war kalt.
"Herr Mertens, ich bin froh, dass Sie gekommen sind“, sagte sie matt.
"Das ist das Mindeste was ich tun kann, Mia.“
Ich kämpfte mit den Tränen.
"Ich liebe Sie, Herr Mertens.“
Verdammt. Verdammt. Ich weinte.
"Mia. Ich Sie auch, meine Schülerin.“
"Danke.“
Ich spürte wie die Kraft aus ihrer Hand wich und ich hielt sie fest.
Oh man. Ich heulte wie ein Kleinkind.
"Keine Sorge Herr Mertens. Ich werde nicht wie jenes Herbstblatt enden, von dem wir gesprochen haben. Denn nun ist mein Leben erfüllt. Finden Sie nicht auch?“
Sie lächelte.
Ich schluchzte.
Ihr Augen leuchteten. Ein Farbton wie flüssiges Gold.
Wie Herbstblätter im Wind.


Impressum

Texte: Copyright by Anna Nguyen
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Familie und alle, die mich unterstützt haben..

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