Cover

Kapitel 1 - Seltsame Begegnung

Charlotte lehnte den Kopf gegen die Scheibe des Wagons. Sie fühlte sich unendlich müde, nicht weil sie zu wenig geschlafen hatte, sondern weil das Leben sie erschöpfte. Ausgebrannt, mutlos, das passte besser. Seufzend suchte sie auf ihrer Playlist, die auf ihrem Handy gespeichert war, einen Song, der ihre Stimmung aufheiterte. Sie musste schnellstens aus diesem Tief herauskommen, sonst würde sie ihren Job verlieren.
Fast hätte sie spöttisch aufgelacht, es war nur eine Frage der Zeit, wann der Direktor ihr die Kündigung auf den Tisch legte.
Aktuell war sie auf dem Weg in das drittklassige Varieté am Rande von Paris, wo sie als Tänzerin und Sängerin ein Engagement hatte. Es war ein Wunder, dass sie mit Mitte vierzig überhaupt noch dort auftreten durfte. Wahrscheinlich lag es daran, dass die Gäste sich weniger für die Aufführungen interessierten, sondern extrem dem Alkohol zusprachen, darüber hinaus besserten viele ihrer jüngeren Kolleginnen ihr Gehalt auf eine gewisse Weise auf.
Für sie war das nichts, bisher hatte sie es vermeiden können, ihren Körper zu verkaufen, das sollte bitte schön auch so bleiben.
Als sie an ihre Arbeitskolleginnen dachte, erinnerte sie sich an ihre Anfänge. Sie war so dumm gewesen! Nach dem Abitur hatte sie Gesang und Tanz am berühmten Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris, kurz Pariser Konservatorium, studiert. Damals hatte sie die Hoffnung, Opernsängerin oder Musicaldarstellerin zu werden. Charlotte schloss die Augen, als die Erinnerungen sie überwältigten.
Sie meinte erneut den Geruch von Hoffnungslosigkeit und Erfolg wahrzunehmen, der in den Gängen hing, hörte die Stimme ihrer Ballettlehrerin, die mit dem Stock auf den Boden klopfte. Diese Dame war niemals müde geworden, ihnen zu sagen, wie schlecht sie tanzten. Trotzdem gaben sich dort alle Lehrer Mühe, damit etwas aus ihren Eleven wurde. Im Grunde war es eine glückliche Zeit, in der sie große Pläne gehabt hatte. Ihre Ziele hatte sie damals deutlich vor Augen, fest davon überzeugt, dass sie es schaffen konnte. Leider hatte sie sich extrem dumm verhalten, wie sie heute sehr genau wusste.
Noch ehe sie ihre Ausbildung beendete, bekam sie ein Angebot vom Lido de Paris, dem berühmten Varieté-Theater, das mittlerweile geschlossen war. Begeistert, dass man sie für ein so bekanntes Haus haben wollte, sagte sie zu, dabei störte die Nacktheit der Tänzerinnen sie zwar, trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt. Außerdem glaubte sie, alles unter einen Hut zu bekommen. Jetzt lachte sie doch bitter auf. Natürlich, jeden Abend auf der Bühne stehen, neue Choreografien einstudieren, nebenbei das Konservatorium besuchen war ja auch so gar kein Problem.
Zuerst klappte es hervorragend, sie verdiente mehr, als sie jemals gedacht hatte, zog in eine schicke kleine Wohnung, die sie eine Stange Geld kostete, und ließ ihr Studium schleifen. Besonders ihre Ballettlehrerin versuchte, ihr Vernunft einzubläuen, leider auf eine Art, die ihren Widerstand weckte. Immer wieder führte sie Charlotte vor, rief sie gerade dann auf, um vorzutanzen, wenn sie unausgeschlafen war oder von einer Probe im Lido kam. Mit hämischen Worten sorgte sie dafür, dass die gesamte Klasse sie auslachte.
Heute verstand Charlie, was die Frau damit bezwecken wollte, damals war sie zu dumm gewesen, einzusehen, dass sie den falschen Weg gewählt hatte. Sie meldete sich am Konservatorium ab, um sich ganz ihrer Karriere zu widmen. Ein verdammt blödsinniger Fehler, denn mit einer abgebrochenen Ausbildung im Lebenslauf war an eine Rolle in einem Musical oder gar einer Oper nicht mehr zu denken. Vielleicht hatte sie sich mit den Auftritten im Lido von Anfang an ihren Weg verbaut. Wer wusste das schon?
Ärgerlich schob sie die Erinnerungen zur Seite, man konnte die Vergangenheit nun mal nicht ändern.
Die Metro hielt, sodass sie eilig ausstieg, jetzt musste sie sich auch noch beeilen, damit sie das Theater pünktlich erreichte. In ihrem Alter durfte sie sich keine Fehler erlauben, ein weiteres Etablissement, das ihr einen Job gab, würde sie kaum finden.
Sie betrat das Haus durch den Hintereingang, lief einen engen, schlecht beleuchteten Gang hinunter, bis sie in der Sammelumkleide ankam. Hier hingen schon ihre Kostüme bereit, die sie an dem Abend zu tragen hatte.
Angewidert verzog sie das Gesicht, als sie die fast durchsichtigen Stoffe betrachtete. Ihr Körper war immer noch in Bestform, straff und muskulös, wie es von einer Tänzerin verlangt wurde. Charlotte hätte am liebsten geschrien, weil sie nur auf ihr Aussehen reduziert wurde. Wie sehr sie das Glitterzeug, den angeblichen Glamour, hasste. Sie war gezwungen, enorm auf ihre Fitness sowie ihr Gewicht zu achten. Jedes Gramm mehr sah man, was sie ihren Job kosten konnte. Die Falten auf ihrer Stirn stellten kein Problem dar, sie überschminkte sie einfach. Oft trug sie auch eine Maske, nur ihren Leib durfte sie nicht verdecken.
Eilig streifte sie ihre schäbige Winterjacke, ihre Sneakers, die Jeans und den dicken Pullover ab, anschließend hüllte sie sich in einen Bademantel. Auf keinen Fall wollte sie ihre Alltagskleider mit dem Glitzerpuder einstäuben. Die Socken ließ sie an, weil sie ständig kalte Füße hatte.
Wie gerne würde sie sich mal satt essen oder noch besser, soviel in sich hineinstopfen, wie irgendwie möglich. Sich gehen lassen, einen Tag lang ihr Aussehen völlig ignorieren.
Sie zog ihr erstes Kostüm an, ein durchsichtiges Kleidchen mit Federn in rosa und weiß. Es handelte sich mehr um einen Body, der viel zu viel von ihrem Körper zeigte, allerdings ihre Brüste sowie die Scham bedeckte. Eilig streifte sie sich wieder ihren Morgenmantel über, bevor sie daran ging, sich zu schminken.
„Hey, Charlie, bereit für deinen großen Auftritt?“ Der Conférencier, Pierre Duval, lehnte sich mit der Hüfte an ihren Schminktisch.
Sie drehte sich mit einem aufgesetzten Lächeln zu ihm um. „Machst du Witze? Bei der Darbietung kann man wohl kaum von einem großen Auftritt sprechen.“ Sie unterdrückte mit aller Macht den bitteren Unterton in ihrer Stimme. „Ich bin keine Diva, darüber hinaus sind wir nicht das Moulin Rouge.“
Pierre lachte leise, gleichzeitig betrachtete er sie. „Du bist immer noch eine schöne Frau, weshalb angelst du dir keinen reichen Ehemann?“
„Ich liebe meine Selbstständigkeit, außerdem lasse ich mich niemals aushalten, genauso wenig verkaufe ich mich.“ Sie drehte sich zum Spiegel, einerseits musste sie sich langsam beeilen, andererseits war das Gespräch für sie beendet. Sie pflegte nur einen losen Kontakt zu ihren Kollegen, hauptsächlich wegen der Oberflächlichkeit, die alle an den Tag legten.
„Tut mir leid, ich habe es nicht böse gemeint.“ Pierre suchte ihren Blick im Spiegelglas. „Ich sehe doch, wie schwer es dir fällt, jeden Tag in diese geschmacklosen Kostüme zu steigen.“
Traurig nickte sie. „Du hast recht, aber ich habe meinen Weg vor langer Zeit selbst gewählt. Es ist meine eigene Schuld.“ Energisch widmete sie sich jetzt dem Make-up, bei dem zum Schluss das Glitzerpuder aufgetragen wurde. Die Illusion von Reichtum und Schönheit.
Die Eingangsmusik erklang, ein paar Momente später hörte sie Pierres Stimme, der die Tänzerinnen gekonnt ankündigte. Mit einem falschen Lächeln reihte sie sich zwischen ihren Kolleginnen ein, die alle noch Hoffnung in den Augen hatten.
Auf der Bühne ging die Show ihren gewohnten Gang, bis sie auf einen Gast aufmerksam wurde, der sie eindringlich musterte. Die Iriden schimmerten schwarz, wobei sie bemerkte, dass er sie auf magische Weise in seinen Bann zog. Sie kam aus dem Takt, etwas, das ihr schon seit Jahren nicht mehr passiert war. Zum Glück war sie Profi genug, um den Patzer sofort auszugleichen. Ihr Lächeln saß in ihrem Gesicht wie aufgemalt, doch als sie wieder zu dem Platz sah, saß niemand dort. Fast hätte sie sich nach dem Mann, der sie so irritierte, umgesehen, aber was sollte ihr das bringen?
Die Show zog sich in die Länge und Charlotte stellte fest, dass ihre Knie anfingen zu schmerzen. Verdammt, sie hatte vergessen, vorher Schmerzmittel einzunehmen. Jetzt musste sie die Zähne zusammenbeißen, auf keinen Fall durfte sie ihren Part hinwerfen, sonst war sie den Job sofort los.
In einer kurzen Pause ließ sie sich auf den Stuhl vor ihrem Schminkspiegel sinken, wo sie eine Packung Ibuprofen aus der Schublade holte. Mittlerweile konnte sie das Mittel ohne Wasser schlucken. Wie gerne hätte sie sich über die Augen gerieben, doch dann verschmierte sie das gesamte Make-up. Für einen Moment schloss sie die Lider, gleichzeitig dachte sie daran, dass sie sich nach einer anderen Anstellung umsehen musste. Lange würde sie nicht mehr durchhalten.
Nur, was sollte sie tun? Als Verkäuferin im Backladen stehen? Mit Kusshand nähme sie einen solchen Arbeitsplatz an, nur war sie auch hier bereits zu alt. Die jüngeren Arbeitnehmer zog man natürlich vor. Darüber hinaus hatte sie keine Ausbildung in der Richtung, sie konnte lediglich singen und tanzen.
Eine ihrer Kolleginnen berührte sie vorsichtig an der Schulter. „Alles in Ordnung, Charlie?“
Sofort zauberte sie ein beruhigendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Aber ja, Liebes. Ich bin nur ein wenig müde. Die letzten Tage waren anstrengend.“
Babette war eine Seele von Mensch, immer darauf bedacht, dass es jedem gut ging. Sie musste unbedingt lernen, ihre Ellenbogen einzusetzen, falls sie in dem Beruf weiterkommen wollte.
„Ich hatte den Eindruck, dass dir etwas zu schaffen macht“, gab sie leise zu, während sie Charlotte eindringlich betrachtete.
„Mach dir keine Sorgen, ich bin okay.“ Charlie stand auf, dabei biss sie die Zähne aufeinander. Noch wirkte das Schmerzmittel nicht, sodass ihre Knie und auch ihre Füße protestierten, allerdings nutzte es nichts, the Show must go on. High Heels und Glitzer, das war die Devise.
Ihre beiden Solos bekam sie an dem Abend nur mit Mühe hin, doch es fiel niemandem auf. Die Gäste beschäftigten sich lieber damit, den leichtbekleideten Mädchen auf die Hintern zu glotzen. Normalerweise interessierte es sie nicht, nur im Moment war sie offensichtlich ziemlich dünnhäutig. Wie gerne hätte sie den Kerlen ihre Verachtung ins Gesicht geschrien.
Endlich hatte sie auch den letzten Auftritt überstanden und sie atmete heimlich auf. Sie wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause, da am kommenden Tag eine Probe vor der Abendgala stattfand, was hieß, dass sie mit sehr wenig Schlaf auskommen musste.
„Charlotte, meine Liebe, dein Solo war wieder einmal umwerfend.“ Der Besitzer des Etablissements kam mit einem weiteren Mann im Schlepptau zu ihr. „Darf ich dir Monsieur Miller vorstellen?“
Innerlich seufzte sie auf, denn was jetzt kam, ahnte sie bereits, trotzdem zauberte sie ein Lächeln auf ihre Lippen. „Enchanté, Monsieur.“ Sie hielt ihm geziert die Hand hin. Normalerweise würde sie ihn zum Teufel jagen, aber ihr Chef schickte ihr schon einen mahnenden Blick.
„Unser Gast war so angetan von deinem Gesang, dass er dich unbedingt kennenlernen wollte. Er ist Amerikaner.“ Martin Bertrand sorgte für einen Unterton in seiner Stimme, bei dem sofort jeder wusste, was genau den Mann dermaßen angezogen hatte. Ihre Darbietung war es jedenfalls nicht.
„Das ist reizend von Ihnen, Monsieur.“ Charlotte fühlte eine Spannung in sich aufsteigen, als ob sie lieber wegrennen sollte.
„Vielleicht darf ich Sie nach Hause bringen, Madame?“
Der Kerl verlor in der Tat keine Zeit, sodass Charlie sich schnell etwas ausdenken musste. Fieberhaft überlegte sie, was sie sagen konnte, ohne ihn zu beleidigen. „Es tut mir leid, aber ich werde bereits von einem Verehrer begleitet.“ Sie lächelte ihm erneut zu. „Sie verstehen sicherlich, dass ich da niemanden bevorzugen kann. Er hat mir seine Begleitung zuerst angeboten.“ Bedauernd zuckte sie mit den Schultern, ehe sie ihrem Chef einen bösartigen Blick zuwarf. Martin wusste genau, dass sie keine erotischen Verabredungen einging. Das war sogar in ihrem Vertrag festgehalten worden, trotzdem brachte er ihr immer wieder solche Schmierlappen.
„Oh, Sie sind liiert? Das war mir unbekannt.“ Verärgert drehte sich der Kerl zu Bertrand um.
„Nein, das ist sie nicht. Aber sie ist eben sehr begehrt.“ Eilig versuchte er die Wogen zu glätten, indem er den Mann am Arm packte, um ihn aus der Garderobe zu führen.
„Was für ein mieser Zug“, bemerkte Babette leise.
„Ich fand ihn süß. Der hat bestimmt Geld“, mischte sich Mireille ein, die ein verträumtes Lächeln im Gesicht hatte. „Ich hätte ihn sofort begleitet.“
Charlotte verkniff sich einen Kommentar, zumal alle wussten, dass ihre Kollegin kein Kind von Traurigkeit war. Es lag ihr allerdings fern, irgendjemanden zu verurteilen, jeder sollte nach seiner Façon glücklich werden.
Eilig schminkte sie sich ab, zog sich um und verabschiedete sich von ihren Kolleginnen, ehe sie sich auf den Weg zur Metro machte.
Es war kalt, Regentropfen schlugen ihr ins Gesicht, was ihre Stimmung auf einen neuen Tiefpunkt sinken ließ. Bestimmt war sie völlig durchnässt, ehe sie in der U-Bahn-Station ankam.
Noch bevor sie sich weitere Gedanken machen konnte, hielt jemand einen Schirm über sie. Jetzt betete sie, dass es sich nicht um Monsieur Miller handelte. Sollte er sie bei einer offensichtlichen Lüge erwischen, würde sie ihn wohl kaum wieder los. Sie holte tief Luft, um den Kerl endgültig zu verjagen, blickte aber in die seltsamen dunklen Augen des Mannes, der ihr an diesem Abend schon einmal aufgefallen war.
„Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, meine Liebe. Wir haben zufällig den gleichen Weg, da ist es doch Unsinn, dass Sie sich dem Regen aussetzen.“ Er lächelte sie gewinnend an.
Charlotte stimmte ihm leise zu, zumal sie sich auf ungewöhnliche Weise beschützt fühlte. „Danke, ich war so dumm, meinen Schirm zu Hause zu lassen“, gab sie mit einem Schulterzucken zu.
„Das war mein Glück, somit kann ich Ihnen zu Hilfe eilen.“
Er betrachtete sie auf eine Art, die in ihr widersprüchliche Gefühle hervorrief. Einerseits spürte sie deutlich die Gefahr, die von ihm ausging, andererseits zog irgendetwas an ihm sie an wie die Motte das Licht. „Es ist sehr zuvorkommend von Ihnen, bieten Sie immer so selbstlos Ihre Unterstützung an?“ Sie drehte sich, um ihn anzusehen.
„Oh, nein, nur wenn mir die Dame gefällt.“ Er zwinkerte ihr zu, als sie jetzt im Gleichschritt zur Metro gingen. „Entschuldigung, ich bin unhöflich, mein Name ist Maurice François Leblanc.“ Er verbeugte sich ein wenig.
Charlie schmunzelte über seine altbackene Art, trotzdem gefiel sie ihr. „Angenehm, ich bin ...“ Weiter kam sie nicht, da er bereits eine Hand hob.
„Ich weiß, Sie, meine Liebe, sind Charlotte de Chenonceau. Es sei denn, das ist Ihr Künstlername.“ Verlegen rieb er sich über den Nasenrücken, dabei kam ihr der Verdacht, dass er ihr etwas vorspielte.
„Ich bin kaum erstaunt, dass Sie meinen Namen kennen. Sie waren heute in der Vorstellung.“ Nachdenklich betrachtete sie ihn von der Seite. Irgendwas sagte ihr, dass sie sich schnellstens verabschieden sollte, doch eine andere Stimme in ihr hielt sie an ihrem Platz fest. „Weshalb habe ich den Eindruck, dass Sie genau wissen, wie ich in Wirklichkeit heiße?“ Ein misstrauischer Klang mischte sich in die Frage.
„Weil es stimmt. Ich habe mir erlaubt einige Informationen über Sie einzuholen“, gab Maurice mit einem charmanten Lächeln zu. „Aber hier müssen wir uns trennen. Sie sind an Ihrem Ziel angekommen.“ Er deutete auf die Treppe, die zur U-Bahn-Station führte. „Au revoir, meine Liebe.“
Noch ehe sie etwas erwidern konnte, trat er einen Schritt zurück, nickte ihr zu und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Verwirrt starrte sie ihm hinterher. Hatte er nicht gesagt, dass sie den gleichen Weg hatten? Was war das überhaupt für ein Auftritt? Sie dachte daran, dass sie ihm hinterherlaufen sollte, doch dazu fühlte sie sich viel zu müde, darüber hinaus stellte sie erstaunt fest, dass sie ihn komplett aus den Augen verloren hatte. Plötzlich zog Nebel auf, was für dieses Stadtviertel ungewöhnlich war, deshalb beeilte sie sich, nach Hause zu kommen.
In der Bahn steckte sie sich die Ohrstöpsel ihrer Kopfhörer in die Ohren, startete ihre Playlist, ehe sie die Lider schloss. Ihr taten die Füße und die Knie weh, außerdem musste sie ständig an die seltsame Begegnung denken. Weshalb hatte der Mann das Varieté verlassen, nur um jetzt urplötzlich aufzutauchen? Was wollte er von ihr? Irgendwie fühlte es sich falsch an, an einen Zufall zu glauben.
Viel zu schnell kam sie an ihrer Haltestelle an, von wo aus sie noch ein gutes Stück zu laufen hatte. Endlich war sie zu Hause, wo sie erschöpft ins Bett fiel. Eins wurde ihr wieder einmal bewusst: Sie war langsam zu alt für so ein Leben.

 

~~°~~

 

Der Wecker holte Charlie aus einem düsteren Traum, in dem sie vor einem Verfolger davongelaufen war. Sie fühlte sich wie gerädert, trotzdem musste sie sich fertigmachen, da heute Proben angesetzt waren. Verdammt sie brauchte den Job!
Eilig duschte sie, schluckte zwei Schmerztabletten, stellte die Kaffeemaschine an, ehe sie mit ihrer Toilette fortfuhr. Einen Kaffee im Stehen, anschließend lief sie zur Metrostation.
Als sie an dem heruntergekommenen Gebäude ankam, erwartete sie eine unschöne Überraschung, denn Monsieur Miller, der Amerikaner, stand vor dem Eingang. Wie gerne hätte sie jetzt umgedreht, doch das würde sie in ein schlechtes Licht setzen.
„Es tut mir leid, dass ich Sie gestern so überfahren habe.“ Er hielt ihr eine einzelne weiße Rose hin. „Ich hoffe, dass Sie meine Entschuldigung annehmen.“ Charmant lächelte er ihr zu.
Misstrauisch betrachtete Charlie ihn. Aktuell trug sie alte Sneakers, Jeans, Pullover und eine schäbige Winterjacke, sie war also alles andere als schick gekleidet. „Danke, aber das ist völlig unnötig. Sie haben mir ja lediglich angeboten, mich nach Hause zu bringen.“ Sie zwang sich zu lächeln, gleichzeitig überlegte sie, ob sie sich dermaßen in dem Kerl getäuscht hatte. Wollte er sie tatsächlich richtig daten?
„Vielleicht haben Sie den Eindruck bekommen, dass ich Sie in mein Bett zerren will.“ Er zuckte leicht mit den Schultern. „Ich bin manchmal etwas ungeschickt in solchen Sachen. In der Tat möchte ich Sie wirklich nur besser kennenlernen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Zumindest am Anfang.“
Offen begegnete sie seinem Blick. „Weshalb? Wieso ausgerechnet ich? In unserem Ensemble sind hübschere und jüngere Frauen.“ Irgendetwas warnte sie, obwohl sie ihm zu gerne glauben würde. War sie zu misstrauisch?
„Vielleicht ist es genau das, was Sie als Makel ansehen. Ich bin kaum auf der Suche nach einer Gesellschaft, die halb so alt ist wie ich selbst.“ Er lachte leise. „Die jungen Dinger sind so anstrengend.“
Jetzt schmunzelte Charlie mit ihm, dabei fiel ihr auf, dass er vorzüglich französisch sprach, was sie von einem Ausländer so nicht erwartet hätte. „Ihre Sprachkenntnisse sind fantastisch“, rutschte es ihr heraus.
„Vielen Dank, ich lebe schon seit einigen Jahren hier.“ Er deutete auf die Tür. „Sie müssen zur Arbeit, oder?“
Erschrocken zuckte sie zusammen, über dem Gespräch hatte sie doch tatsächlich die Zeit vergessen. „Mon dieu, ja, entschuldigen Sie mich bitte.“ Sie klopfte und kurz darauf war sie verschwunden.
Der Mann sah ihr mit einem Gesichtsausdruck hinterher, den ein Fremder nur schwer deuten konnte, dann drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung, um pfeifend davonzugehen. Er war seinem Ziel ein gutes Stück nähergekommen.
„Ah, Madame erscheint auch endlich zur Arbeit.“ Die Stimme ihres Chefs klang durch das leere Lokal, als sie sich zu ihren Kolleginnen auf die Bühne stellte.
„Es tut mir leid, Monsieur Miller hat mich vor dem Bühneneingang abgefangen. Ich dachte, dass er ein geschätzter Gast ist, den man besser beachtet, anstatt ihn einfach stehen zu lassen.“ Charlie hob den Kopf ein wenig höher, als sie ihrem Boss entgegentrat.
„Und das fällt dir so plötzlich ein? Gestern Abend hast du ihn eiskalt abblitzen lassen.“ Martin betrachtete sie mit einem abfälligen Blick. „Wobei ich nicht verstehe, dass er ausgerechnet dich kennenlernen will.“
Jetzt biss sie sich auf die Lippen, um ihren Kommentar zurückzuhalten. Ihr war bekannt, dass er an den Einnahmen, die die Mädchen in ihrem Nebengewerbe erwirtschafteten, beteiligt wurde. Zuhälter nannte man das dann wohl.
„Egal, wir haben viel zu tun. Vite, vite.“ Er klatschte in die Hände, woraufhin Alexandre, der Tanzlehrer, zu ihnen trat.
Kurz erklärte er eine neue Choreografie, anschließend lächelte er Charlotte bedauernd an. „Bertrand hat angeordnet, dass du hinten tanzt.“
Charlie nickte nur. Im Grunde war es ihr sehr recht, eben nicht im Rampenlicht zu stehen, so fielen Fehler weniger auf. Andererseits wusste sie, dass die Position die Höhe des Gehalts bestimmte. Der Schweinehund Bertrand machte es tatsächlich von der Reihe abhängig, wie viel er bezahlte. Zum Glück brauchte er sie für die Solopassagen, denn die anderen Mädchen konnten nicht wirklich singen, im Gegensatz zu ihr. Damit glich sie einen Teil wieder aus. Trotzdem war es eine klare Warnung, sollte sie Miller weiterhin auf Abstand halten, würde sie in naher Zukunft einen neuen Job brauchen.
Charlie biss die Zähne zusammen, egal, was kam, sie ließ sich auf keinen Fall in die Prostitution drängen!
Ein paar Sekunden später hatte sie keine Zeit mehr, über ihre Möglichkeiten nachzudenken, denn Alex nahm sie hart ran, damit die Performance in der kommenden Woche präsentiert werden konnte. Warum sich Bertrand die Mühe überhaupt machte, war unklar, da die meisten Gäste sich kaum für die Darbietung der Tänzerinnen interessierten.
Verschwitzt und ziemlich fertig ließ Charlie sich nach dem Training auf ihren Stuhl vor dem Schminktisch fallen. Obwohl sie gut in Form war, brauchte sie jetzt eine Pause. Zum Glück gab es hier Duschen, sodass sie im Varieté bleiben konnte, bevor die Abendshow begann.
„Puh, der hat aber heute Gas gegeben“, bemerkte Babette, die auch völlig außer Atem war.
„Was ihr wieder habt, der Job ist eben nichts für unsportliche Faulenzer.“ Chantal sah ihre Kolleginnen abfällig an. „Wird es für dich vielleicht langsam Zeit, in Rente zu gehen, Charlotte?“ Sie lachte gehässig.
„Es besteht kein Grund, neidisch zu werden. Nur weil du den halben Abend auf der Ersatzbank sitzt, bist du so ausgeruht. Manche schaffen es nie über die Zweitbesetzung hinaus.“ Charlie betrachtete die Kollegin, gleichzeitig seufzte sie leise. Es war unklug den Liebling des Chefs dermaßen herauszufordern. Sie war die Nichte von Bertrand, leider fehlte ihr das Talent, sie bekam zwar die volle Gage, durfte aber nur selten auf die Bühne.
„Das wirst du bereuen! Du glaubst immer, dass du etwas Besseres bist, nur weil du in deiner Jugend mal im Lido aufgetreten bist. Das ist allerdings lange vorbei, wie man gut sieht.“
Charlie tat den Seitenhieb mit einem Schulterzucken ab, es wurde Zeit, sich für den Abend fertigzumachen, so wie sie jetzt aussahen, konnten sie keinesfalls vor die Gäste treten. Eilig duschte sie sich, trug die dicke Schicht Schminke auf, puderte sich mit dem Goldstaub ein, der für den ersten Auftritt nötig war, zumindest sah Bertrand es so, anschließend atmete sie noch einmal tief ein. Sie mochte den Glitter am wenigsten, weil er irgendwie einen Hauch von Eleganz erzeugte, der bei genauerem Hinsehen sofort in sich zusammenfiel.
Hinter Babette lief sie durch den winzigen Gang bis zur Bühne. Ihr war es egal, wo sie stand, in der zweiten Reihe gefiel es ihr sogar besser, dort fiel man nur selten auf.
Bei der ersten Nummer war Chantal nicht dabei, sodass Charlie keine Bösartigkeiten befürchten musste. Die kleine Bitch griff auch zu richtig fiesen Mitteln, wie zum Beispiel, ihr ein Bein zu stellen, sollte sich die Gelegenheit bieten.
Natürlich saß Monsieur Miller direkt an der Bühne und lächelte ihr zu. Dieses Mal nickte sie verhalten zurück. Er hatte sich entschuldigt, da würde sie jetzt nicht zickig sein. Zu ihrem Bedauern war keine Spur von Monsieur Leblanc zu sehen. Seltsam, dass sie ihn fast schon vermisste. Immerhin hatten sie nur ein paar Worte gewechselt.
Die Musik änderte sich und sie passte sich automatisch ihren Kolleginnen an, da die neue Choreografie zuerst richtig einstudiert werden musste, absolvierte sie die Schritte im Schlaf.
Erst als am späteren Abend jemand hereinkam, um sich in die Nähe der Bühne zu setzen, schlug ihr Herz etwas schneller, da sie Maurice erkannte. Sofort hob sich ihre Laune, obwohl sie es eilig darauf schob, dass sich der Feierabend ankündigte.
Immer wieder sah sie verstohlen zu ihm rüber, doch ehe sie zum Abschluss kamen, war er verschwunden. Ob er sie erneut an der Metro abpasste oder nachdem sie das Varieté verlassen hatte? Irgendwie hoffte sie es, wobei sie sich diese seltsame Anziehung nicht erklären konnte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.11.2023

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /