Makar blieb einen Moment in seiner Limousine sitzen, nachdem sie vor der Boxschule des ehemaligen Boxweltmeisters Nikolaj Kasakow gehalten hatte, um nachzudenken. Das Schicksal ging manchmal seltsame Wege, denn hätte man nicht versucht, ihn vor drei Jahren in der Newa zu ertränken, wäre das Verhältnis zwischen seiner Tochter Darja und ihm wohl immer noch zerrüttet.
Damals zog Nikolaj, oder Kolja, wie seine Freunde ihn nannten, ihn aus dem Wasser, um ihm das Leben zu retten. Dem Boxer war zuerst unklar gewesen, wen er da aus dem Fluss gezogen hatte, aber mit dieser Tat befreite er sich von der Bratwa, der russischen Mafia.
Makar war bestimmt nicht stolz darauf, was er bisher alles getan hatte, doch als Chef des Kartells Tambowskaja, einer Gruppierung des organisierten Verbrechens in St. Petersburg, durfte er sich ein Gewissen nur in den seltensten Fällen erlauben. Somit gab es keine Möglichkeit, seine Leute zu stoppen, als sie den Boxer zu lebensgefährlichen, illegalen Kämpfen zwangen. Erst als er seine Schuld begleichen wollte, konnte er ihm zugestehen, dass man ihn in Ruhe ließ.
Dass seine Tochter sich anschließend in den besten Freund von Nikolaj verliebt hatte, stellte einen weiteren Baustein in diesem seltsamen Reigen von Zufällen dar. Eduard Alexandrowitsch Petrow, der bekannte Milliardär, wurde sein Schwiegersohn. An den Gedanken musste er sich immer noch gewöhnen.
Sicherlich sah er ein, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er den früheren Verlobten von Darja vor ihren Augen erschießen ließ, obwohl der ein untreuer Mistkerl war. Selbstverständlich hätte er ihr die Hintergründe erklären müssen, nur zu dem Zeitpunkt wollte er alle zärtlichen Gefühle abtöten. Ein verdammt dämlicher Vorsatz.
Mit einem Lächeln dachte er daran, dass er erneut eine Chance vom Schicksal bekam, um seine Verfehlungen wiedergutzumachen, als er Eduard vor einer Hinrichtung rettete. Seitdem kamen sich Vater und Tochter Schritt für Schritt näher.
Makar seufzte leise. Wie viel einfacher wäre sein Leben verlaufen, wenn er nicht in die einflussreichste Mafiafamilie von St. Petersburg hineingeboren worden wäre.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er langsam reingehen sollte, da er Darja versprochen hatte, auf sein Enkelkind aufzupassen. Außerdem wusste er, dass die restlichen Kinder, die sich in der Boxschule aufhielten, sehnsüchtig auf ihn warteten. Er liebte die Rasselbande, weshalb er die Projekte von Nikolaj und seinem Trainer Kyrill finanziell unterstützte. Die vorurteilsfreie Art der Kleinen stellte eine Wohltat für seine schuldbeladene Seele dar.
Die Boxschule florierte, allerdings gab sie auch vielen Kindern, die Zuflucht vor ihren gewalttätigen Eltern suchten, ein Heim. Jeder, der Hilfe brauchte, wurde hier aufgenommen, was sich im Laufe der Jahre herumgesprochen hatte.
Makar atmete noch einmal tief durch, da er sich sicher war, dass die Erwachsenen seine Ankunft mit Skepsis sahen, dann stieg er aus, um das Gebäude zu betreten.
Gerade als er den ersten Boxring hinter sich gelassen hatte, flog die Tür zu den Büros auf und kurz darauf warf sich Sofia in seine Arme.
Mit einem Lachen fing er sie auf, doch ehe er auch nur ein Wort sagen konnte, klammerte sich Mascha, die Tochter von Nikolaj, an ihn. Sie hob er ebenfalls hoch, dabei lachte er glücklich.
„Hey, ihr Hübschen, wie schön euch zu sehen.“
Die beiden Mädchen strahlten um die Wette, sie fanden den Mann toll, vor allem, weil er ihnen nur selten etwas vorschrieb.
„Makar, stell dir vor, ich darf zum Ballett“, rief Sofia aufgeregt.
Sie war die Stieftochter von Nikolajs Bruder Alexej und hatte ihr Herz an den Mafioso verloren, als dieser sie vor ihrem gewalttätigen Vater rettete.
„Ich auch, ich auch“, mischte Mascha sich ein.
Die Kleine war jetzt gerade mal vier Jahre alt und ahmte ihre Cousine in allem nach.
„Grüß dich, Makar.“ Kasimir, der Stiefsohn von Alexej, kam auf die Gruppe zu geschlendert, die Hände in den Hosentaschen vergraben, dabei versuchte er, möglichst cool zu wirken. So wie ein Teenager das nun mal tat, besonders, wenn die jüngere Schwester bereits auf dem Arm des erwachsenen Freundes hockte.
Mit einem Lächeln stellte Makar die Mädchen auf ihre eigenen Beine, anschließend umarmte er den schlaksigen Jungen. „Alles in Ordnung, Kasimir?“ Eindringlich musterte er ihn.
„Nein, Papa hat mir verboten, bei einem Wettkampf teilzunehmen“, gab er mürrisch zu.
Bei der Antwort runzelte der Mafiaboss die Stirn. „Wieso verbietet er dir, dass du teilnimmst? Soweit ich weiß, bist du ziemlich gut im Ring.“ Diese Entscheidung konnte er überhaupt nicht verstehen, da Alexej selbst Weltmeister im Leichtgewicht war.
„Weil es sich um einen illegalen Straßenkampf handelt.“ Darja antwortete für den Teenager, als sie mit ihrer Tochter Juliana auf dem Arm zu ihrem Vater kam. Schnell küsste sie ihn auf die Wange, ehe sie ihm seine Enkeltochter gab, die schon aufgeregt zappelte.
„Ist das wahr?“ Makar sah Kasimir ernst an. „Lass dich nicht in solche Sachen hineinziehen. Das ist extrem gefährlich.“
Kasimir zuckte mit den Schultern und warf ihm einen Blick zu, der deutlich zeigte, dass er anderer Meinung war.
„Du solltest genau aufpassen, was du jetzt sagst“, ermahnte Jelena, seine Mutter, ihn, die auch zu der kleinen Gruppe gekommen war.
Sie sorgte dafür, dass ihr Sohn sie ansah, während sie mit ihm sprach, da er taub war und nur von den Lippen lesen konnte. „Es tut mir leid, aber er ist im Moment ein wenig schwierig.“ Sie lächelte Makar offen an.
Jelena, kurz Lena genannt, hatte überhaupt keine Probleme mit dem Mafiaboss, ganz im Gegenteil. Er hatte ihre Tochter gerettet, setzte vor ein paar Jahren seine Macht ein, damit sie Kasimir adoptieren durften, und war ständig da, wenn man ihn brauchte. Sie beugte sich vor, küsste den großen Mann schnell auf die Wange, ehe sie ihm erneut ein Lächeln schenkte. „Schön dich zu sehen.“
Einige andere Kinder kamen, um Makar zu begrüßen, dabei handelte es sich um viele Minderjährige, die mittlerweile in den zwei Gebäuden neben der Boxschule lebten, weil sie in ihrem Zuhause nicht mehr sicher waren.
In dem Trubel hörte er plötzlich eine Stimme, die ihn aufhorchen ließ.
„Ich brauche keinen Babysitter, Papa! Glaub mir, ich schaffe es ganz alleine, mit der U-Bahn bis zu meinem Appartement zu fahren.“
Oh, da war jemand auf hundertachtzig, falls er den Tonfall richtig einschätzte.
„Ich weiß, dass du dazu in der Lage bist, Solnyschka. Aber Piter ist kein Dorf und du bist sicherer, wenn dich Aljoscha nach Hause fährt.“
Das war Kyrill. Er war der Trainer der Kasakow Brüder und Mitinhaber der Boxschule. Also konnte es sich bei der weiblichen Stimme nur um seine Tochter Katharina handeln.
Makar drehte sich halb um, doch er sah nur noch, wie die junge Frau energisch eine Hand hob, ehe sie durch die Eingangstür stürmte.
Natürlich wusste er, dass Kyrill mehr als fünfzehn Jahre geglaubt hatte, dass Katharina bei einem Hausbrand umgekommen war, somit verstand er, dass er sie beschützen wollte, nur wählte er offensichtlich den falschen Weg.
Mürrisch nickte der Trainer ihm zu, als er an der Gruppe vorbeikam, bevor er durch die Tür zu den Privaträumen verschwand.
Wahrscheinlich brauchte er jetzt eine Tasse seines geliebten Ingwertees, die er sich in der Wohnung über der Boxschule zubereitete. Dort boten sie einigen älteren Teenagern eine Unterkunft, die jüngeren lebten in den beiden angrenzenden Gebäuden, wo sie von verschiedenen Angestellten versorgt wurden. Auch Olga, die Lebensgefährtin von Kyrill, half tatkräftig mit, sobald sie ihren eigentlichen Job beim Jugendamt erledigt hatte. Genau wie Katharina, die eine Ausbildung als Erzieherin vorweisen konnte.
Leider war Kyrill nicht in der Lage, zu verzeihen, dass Makar hinter den illegalen Boxkämpfen steckte, die Nikolaj beinahe das Leben gekostet hätten.
„Opa! Du hörst nicht zu“, beschwerte Juliana sich, gleichzeitig legte sie ihre klebrigen Händchen an seine Wange, damit er sie ansah.
„Entschuldige, Püppchen, was hast du gesagt?“ Aufmerksam hörte er ihr jetzt zu, dabei schmunzelte er, als sie ihm ernsthaft erzählte, dass sie ein Einhorn bekommen würde, sobald sie alt genug sei. Die Zweijährige hatte eine mehr als lebhafte Fantasie.
„Das ist toll. Aber wir sollten so langsam los, deine Mama braucht endlich mal etwas Ruhe.“ Er beugte sich zu seiner Tochter, die ihn liebevoll anlächelte. „Viel Spaß heute Abend. Ich bringe dir Juliana morgen Nachmittag wieder.“
Natürlich wusste er, dass Darja plante, mit ihrem Mann Eduard den angesagten SM-Klub in St. Petersburg zu besuchen. In das Etablissement kam man nur, wenn man einen Bürgen hatte und eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieb. Er kannte die Regeln so genau, weil er dort auch Mitglied war.
Nur zog ihn schon seit Jahren nichts mehr in das Lokal. Nachdem er Sofia gerettet hatte, luden Alexej und seine Freunde ihn regelmäßig zu ihren Treffen ein, so als ob er zu dem Freundeskreis dazugehören würde. Einerseits genoss er diese gemeinsamen Abende, andererseits führten sie ihm immer wieder vor Augen, wie einsam er sich fühlte. Aber nachdem er bei der Geburt seiner Tochter seine geliebte Ehefrau verloren hatte, gab es für ihn weder Liebe noch Leidenschaft. Außerdem spürte er ständig das Misstrauen, das er verdiente, immerhin war er ein Verbrecher, kein rechtschaffener Bürger.
Bei dem Gedanken musste er an die Kinder denken, die ihn umringten, und schnell revidierte er sein Urteil. Er war umgeben von echten Gefühlen, nur ging es hier absolut nicht um eine Liebesbeziehung.
Er winkte erneut in die Runde, ehe er mit seiner Enkeltochter die Boxschule verließ.
„Ich hätte nie gedacht, dass er einmal so ein wundervoller Großvater wird“, murmelte Darja, während sie ihrem Vater hinterhersah.
Jelena legte einen Arm um die Freundin. „Manchmal ändern sich Menschen, aber ich glaube, er war schon immer so, nur hat der Tod deiner Mutter ihn verbittert.“
Darja nickte leicht. „Ja, das weiß ich und ich bin mir sicher, dass er mich auf seine Weise von Anfang an geliebt hat. Leider hatte er eine seltsame Art, es mir zu zeigen.“ Sie schüttelte mit dem Kopf, anschließend ging sie zurück in eins der Büros, wo einer ihrer Schützlinge Hilfe bei den Hausaufgaben benötigte. In Gedanken war sie noch bei ihrem Vater, dabei dankte sie Gott, dass sie in ihren Freunden auch ihre Familie gefunden hatte.
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Vor Zorn bebend rannte Katharina auf die U-Bahn-Station zu. Wieso sah ihr Vater nicht endlich ein, dass sie ein normales Leben führen wollte? Sie lebte bereits seit zwei Jahren hier in Piter, wie die Bewohner St. Petersburg nannten, und er traute ihr immer noch nicht zu, alleine nach Hause zu fahren. Als ob Moskau ungefährlicher gewesen wäre!
Schnaubend stieß sie die Luft aus, gleichzeitig bemerkte sie, dass sie vor lauter Wut an der Haltestation vorbeigelaufen war.
Jetzt benahm sie sich auch noch, als ob sie zu dumm wäre, um eine einfache Metrostation zu finden.
Einen Moment blieb sie stehen und atmete durch. Sie musste schnell einen klaren Kopf bekommen.
Zwei Touristen drängten sich an ihr vorbei, die erschrocken das Gesicht verzogen, als sie die Brandnarben erblickten. Leider gab es keine Möglichkeit, die Narben zu verdecken, die sie einem Hausbrand verdankte, der sie beinahe das Leben gekostet hätte.
Obwohl es ihr ständig passierte, dass Leute mitleidig oder sogar abfällig reagierten, kränkte es sie immer noch. Glaubte irgendwer vielleicht, dass sie mit ihrem Aussehen zufrieden war?
Am liebsten hätte sie den Passanten die Zunge herausgestreckt, nur gehörte sich das nicht und es kam ihr auch zu kindisch vor.
Erneut nahm sie einen tiefen Atemzug, dabei war die Luft hier in der Stadt alles andere als frisch. Im Gegenteil, gerade jetzt, Anfang Juli, wimmelte es von Touristen, die größtenteils mit Bussen angekarrt wurden, was die Luftverschmutzung enorm erhöhte, ganz zu schweigen von den Kreuzfahrtschiffen.
Wieder drängte sich ein Paar an ihr vorbei, das sie aufgrund ihrer Sprache als Engländer einstufte. Missmutig sah sie ihnen hinterher, als die beiden stehenblieben, um sich zärtlich zu küssen.
„Wieso müssen die hier herumlungern? Können die nicht an der Newa spazieren gehen? Immerhin gibt es da den Winterpalast“, murmelte sie verdrießlich.
Schnell schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Seit wann war sie so missgünstig geworden?
Seufzend drehte Katharina sich um, als eine große, dunkle Limousine neben ihr hielt. Erstaunt, was jemand, der offensichtlich viel Geld hatte, von ihr wollte, trat sie einen Schritt auf das Auto zu.
Die Tür öffnete sich und Makar stieg aus. „Darf ich Sie vielleicht nach Hause bringen? Es scheint, dass Sie die U-Bahn doch nicht mögen.“ Er lächelte sie freundlich an.
Einen Augenblick musste Katharina wieder an ihren Vater denken, der kaum ein gutes Wort für den Mafiaboss übrighatte, obwohl sie regelmäßig die verschiedenen Feiertage miteinander verbrachten. Nur war das dem Umstand geschuldet, dass die Freunde mehr eine große Familie darstellten. „Danke, aber nein danke. Wie ich meinem Vater schon erklärt habe, bin ich durchaus in der Lage, alleine nach Hause zu finden.“ Ihre Stimme bekam einen ungeduldigen, zickigen Klang.
„Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Um ehrlich zu sein, würde Kyrill es sicher vorziehen, Sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu sehen als mit mir. Trotzdem ist es doch bequemer in meiner Limousine.“ Charmant deutete er auf die offene Hintertür.
Der Einschätzung musste Katharina zustimmen, weshalb sie ihre Meinung änderte. Wahrscheinlich kochte ihr Vater vor Wut, sobald er davon erfuhr, aber sie wollte sich nichts mehr vorschreiben lassen. Immerhin war sie bereits sechsundzwanzig, das sollte langsam auch ein Kyrill Iwanowitsch Wolkow einsehen. „Unter den Umständen nehme ich Ihr verlockendes Angebot gerne an.“
Zufrieden nickte Makar ihr zu, zumal er deutlich spürte, dass diese Frau ihn auf eine besondere Art interessierte.
„Katharina! Du kommst mit zu Dedushka? Film gucken und ganz viel Eis essen.“ Erschrocken schlug Juliana sich die kleine Hand vor den Mund. „Nicht der Mama erzählen, bitte. Auch Papa nicht.“ Mit geweiteten Augen starrte sie die Freundin ihrer Mutter an.
„Ehrenwort, ich verrate kein Sterbenswörtchen. Leider habe ich keine Zeit, um mit dir zu deinem Opa zu fahren. Ich habe noch einige Sachen zu erledigen. Wir sehen uns morgen wieder, wenn du zur Boxschule kommst.“ Sanft lächelnd streichelte Katharina ihr über die Wange.
„Aber Juli ist bei Dedushka! Katharina bleib.“ Die Kleine verzog unwillig ihr Gesicht, was die Erwachsenen zum Lachen brachte.
Makar betrachtete die junge Frau, die so umsichtig mit seiner Enkeltochter umging. Was sie wohl alles durchgemacht hatte und wahrscheinlich immer noch durchmachen musste? Er kannte die Gesellschaft, Menschen waren oft ziemlich rücksichtslos.
Das aufkeimende Gefühl, dass er sie gerne in seine Arme gezogen hätte, um sie zu beschützen, verbot er sich sofort wieder. Er war ganz bestimmt kein geeigneter Mann, um ihr Schutz zu bieten.
Als sie vor dem Haus hielten, in dem ihre Wohnung lag, öffnete er ihr höflich die Tür, verabschiedete sich mit einem Lächeln, bevor er mit seiner Enkelin zu seiner Villa am Stadtrand fuhr.
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Nachdenklich sah Katharina dem Wagen nach, ihre Wut war verraucht und sie wunderte sich, warum ausgerechnet Makar darauf bestanden hatte, sie nach Hause zu bringen.
Natürlich kannte sie den Mann, wusste, dass er der Kartellchef war, außerdem warnte ihr Vater sie vor jedem Zusammentreffen vor ihm. Deshalb fragte sie sich auch, weshalb er sich so höflich-distanziert verhalten hatte. Bei den Treffen beschäftigte er sich allerdings eher mit den Kindern.
Sie schloss die Tür auf, lief den Flur entlang, um anschließend in ihrer kleinen Wohnung zu verschwinden, gleichzeitig hoffte sie, dass Kyrill sie an diesem Abend in Ruhe ließ. Dummerweise bewohnte er zusammen mit Olga die oberste Wohneinheit in dem Gebäude.
Langsam blickte sie sich in ihren vier Wänden um, dabei überlegte sie, was Makar wohl zu ihrer Behausung sagen würde? Ob er sich hier wohlfühlen könnte? Oder war es ihm zu mickrig, zu primitiv?
Schnell schüttelte sie den Kopf. Was hatte sie denn da für Gedanken? Als ob der berühmt-berüchtigte Mafiaboss mit zu ihr kommen wollte. Was für einen Grund sollte er dafür haben?
„Er war höflich, interpretier da jetzt nichts rein, was nur deiner Fantasie entsprungen ist“, herrschte sie sich im Spiegel an, als sie ins Schlafzimmer kam, um sich umzuziehen.
Gegessen hatte sie bereits in der Boxschule oder vielmehr im Hort, wo sie sich um die jüngeren Kinder kümmerte, die nicht nach Hause konnten, weil die Gefahr bestand, dass ihre Eltern sie zu Tode prügelten.
Immer wieder dachte sie über die wirklich traurigen Schicksale nach, dabei war es ihr unmöglich, zu verstehen, wieso Menschen so handelten. Sie selbst würde alles dafür geben, ein Baby zu bekommen, nur blieb dieser Traum unerfüllt.
Sie seufzte leise, als sie sich an ihren Schreibtisch im Wohnzimmer setzte, um ihren Zeichenblock zur Hand zu nehmen. Mit ihren Narben fand sie wahrscheinlich niemals einen Mann.
Energisch schob sie die trüben Gedanken zur Seite, auf keinen Fall wollte sie wieder in Selbstmitleid versinken.
Mit einem Lächeln führte sie den Bleistift über das Papier, dabei konzentrierte sie sich völlig darauf, die Linien akkurat zu setzen.
Katharina liebte es, zu zeichnen, es entspannte sie, gleichzeitig half es ihr, sich zu erden, wenn sie sich in ihren Sorgen verlor.
Nach einiger Zeit blickte ihr Makar ernst entgegen. Erneut lächelte sie. Irgendetwas hatte dieser Mann an sich, dem sie sich kaum entziehen konnte. Eine Weile betrachtete sie die Zeichnung, besserte an der einen oder anderen Stelle noch etwas aus, bevor sie das Blatt aus dem Block trennte, um es sorgfältig in ihrem Schreibtisch einzuschließen.
Sie sollte sich solchen närrischen Träumen besser nicht hingeben! Er könnte ihr Vater sein und Darja war sicherlich genauso wenig begeistert, falls sie mitbekam, dass sich Makar mit einer Frau einließ, die jünger war als seine Tochter!
Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Musikanlage keinen Ton von sich gab. Das war ihr auch noch nie passiert! Sonst schaltete sie die Musik immer sofort ein, sobald sie die Wohnung betrat. Offensichtlich war dieser Tag völlig anders.
Katharina stand auf, überlegte kurz, was sie hören wollte, ehe sie die passende Playlist auf ihrem Smartphone auswählte, anschließend holte sie sich eine Zeichnung von Sofia, die sie vor ein paar Tagen angefangen hatte. Daran würde sie arbeiten.
~~°~~
Makar genoss es, seine Enkeltochter bei sich zu haben. Irgendwie hatte er dann das Gefühl, als könne er die Zeit zurückdrehen, um seine Fehler wiedergutzumachen. Er bereute es nicht, dass er den Idioten Sergej erschossen hatte, aber er machte sich enorme Vorwürfe, dass er Darja gezwungen hatte, bei der Exekution ihres Verlobten zuzusehen.
Außerdem tat es ihm leid, sie ständig in irgendwelche Internate abgeschoben zu haben, anstatt sich selbst um sie zu kümmern.
Mit einem leisen Seufzen brachte er die Stimme in seinem Kopf, die ihn andauernd anschuldigte, zum Schweigen. Er musste damit leben, dass er diese Fehler gemacht hatte.
„Dedushka? Darf ich noch Eis? Bitte?“ Juliana sah ihn mit verschmiertem Mund und großen hellbraunen Augen an.
Der Gesichtsausdruck erinnerte ihn schmerzlich an Darja, die ihn nie um Süßigkeiten, sondern um seine Zuneigung angebettelt hatte.
„Meinst du nicht, dass du schon genug hast? Nachher bekommst du Bauchschmerzen und deine Mama wird mit mir schimpfen.“ Nachsichtig lächelte er das Kind an, dem er fast alles erlaubte, einfach weil er sie glücklich sehen wollte.
„Biiiitteeee, wir verraten nix.“ Wieder traf ihn dieser Blick, den nur eine Zweijährige hervorbringen konnte.
Mit einem Lächeln holte er ein weiteres Eis aus der Tiefkühltruhe. Er hatte extra darauf bestanden, dass seine Haushälterin Miniportionen besorgte, damit die Kleine sich nicht wirklich den Magen verdarb.
„Was hältst du davon, wenn ich dich gleich bade, ehe wir einen Film ansehen, und morgen gehen wir in den Zoo.“
Einen Augenblick überlegte Juliana, ehe sie eifrig zustimmte. „Ja, Zoo! Du hast versprochen, dass Juli lange aufbleiben darf. Bis die Sonne wiederkommt.“ Jetzt nagelte sie ihn mit ihrem Blick regelrecht fest.
Makar lachte laut auf, strich ihr über das Haar, während er leicht nickte. „Das habe ich. Du kannst bei mir bleiben, bis zum Morgen.“ Erfahrungsgemäß war sie spätestens um kurz nach acht eingeschlafen, sodass er ihr dieses Zugeständnis durchaus machen konnte.
Juliana jubelte, ehe sie sich über das Eis hermachte.
Geduldig wartete er, bis seine Enkelin die Süßigkeit gegessen hatte, wobei etliches davon auf ihrem Shirt, in ihrem Gesicht und auch auf ihren Händen landete. Nur war das kein Beinbruch, da er genug Kleidung zum Wechseln angeschafft hatte.
Natürlich wollte Darja ihm Sachen mitgeben, aber das lehnte er mit einem Lächeln ab, denn Geld war kein Problem.
„So, komm, du kleiner Dreckspatz, ab mit dir in die Badewanne.“ Er hob sie auf seine Schultern und trug sie so in das riesige Badezimmer, wo er sie wieder absetzte.
„Welche Wanne möchte die Prinzessin heute ausprobieren?“ Makar verkniff sich ein Grinsen, weil er jetzt den Diener spielte, der seiner Majestät zur Hand ging.
Juliana verstand sofort, versuchte eine hoheitsvolle Miene aufzusetzen, was eher einer kindlichen Grimasse gleichkam, gleichzeitig deutete sie auf den Jacuzzi. „Der, der blubbert.“ Sie sah ihren Opa an. „Prinzessinnenschaum.“
Wie befohlen stellte Makar das Wasser an, achtete darauf, dass die Temperatur passte, bevor er den Badezusatz von Prinzessin Lillifee dazugab, anschließend schaltete er noch die Beleuchtung an, die dem Pool zusätzlich ein mystisches Aussehen verlieh.
Juliana saß zufrieden auf einem Hocker, während sie ihrem Großvater zusah, ob er alle ihre Anweisungen richtig ausführte.
„So, meine Königliche Hoheit?“ Makar deutete auf das bunte Wasser, doch seine Enkelin schüttelte den Kopf.
„Blubber!“
In ihrem Gesicht erkannte er die gleiche Sturheit, mit der er auch oft bei Darja zu kämpfen hatte, aber jetzt brachte ihn dieser süße Dickkopf zum Schmunzeln. Sofort stellte er die Massagedüsen an und der Schaum wurde regelrecht aufgeblasen.
Aufgeregt klatschte die Kleine in die Hände, streifte die Hausschuhe ab, ehe sie die restlichen Sachen umständlich auszog, anschließend ließ sie sich brav in die Wanne heben.
„Baust du mir ein Wolkenschloss?“ Bittend sah sie ihren Opa an, während sie inmitten des bunten Badeschaums hockte.
Lachend krempelte er die Ärmel seines Hemdes hoch, um mit ihr gemeinsam etwas zu formen, das entfernt an ein Märchenschloss erinnerte.
Makar selbst hatte so viel Spaß, als er mit ihr die tollsten Abenteuer erlebte, Disneyfilme anschaute, oder wie jetzt ein Schloss aus Schaum baute. Leider kam immer wieder das schlechte Gewissen durch, weil er diese Zeit mit seiner Tochter wegen seiner Verbitterung versäumt hatte.
Nach einer ganzen Weile hob er Juliana aus dem Wasser, hüllte sie in ein Badetuch, um sie so in sein Schlafzimmer zu bringen. Natürlich hatte die Kleine ein eigenes Zimmer in seiner Villa, aber sie zog es vor, bei ihm zu sein, was sich wahrscheinlich viel zu schnell ändern würde.
Kurz darauf trug sie ihren Lieblingsschlafanzug und saß vor dem Fernseher, während Makar auch endlich die Möglichkeit bekam, sich umzuziehen.
Seine Haushälterin Ursula brachte ihnen Blinis, gefüllte Pfannkuchen, die sie im Wohnzimmer verspeisten.
Der missbilligende Blick der älteren Frau sprach Bände, nur traute sie sich nicht, ihr Missfallen laut zu äußern, dazu hatte sie zu viel Respekt vor ihrem Chef, der ziemlich schnell bösartig wurde.
„Ich weiß nicht, ob es dem Kind guttut, wenn es so verwöhnt wird“, murmelte sie wider besseres Wissen, als sie sich zur Tür drehte.
„Was hast du gesagt, Ursula?“ Makar sah sie warnend an, was ihr sofort eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ.
Sie wusste, dass ihr Arbeitgeber sehr explosiv reagieren konnte, und ihre Äußerung war extrem gewagt, auf der anderen Seite arbeitete sie jetzt schon seit mehr als vierzig Jahren für ihn. „Ich denke, dass auch ein Enkelkind Grenzen haben sollte.“ Sie hob das Kinn ein kleines Stückchen an, trotzdem sah man deutlich, dass sie Angst hatte.
Makar musterte sie eindringlich. „Du findest also, dass ich meiner Enkelin verbieten müsste, Eis zu essen oder Filme anzuschauen?“
Schnell schüttelte die Frau den Kopf. „Es steht mir nicht zu, Ihnen etwas vorzuschreiben.“
Dem stimmte er absolut zu, allerdings war sie jetzt schon zu weit gegangen. Vor ein paar Jahren hätte er sie aufgrund dieser Aussage sofort gefeuert, aber mittlerweile war er ein anderer geworden. „Vielleicht hast du sogar recht, nur bin ich, Gott sei Dank, nicht verpflichtet, sie zu erziehen. Dafür sind ihre Eltern da.“ Er lächelte, was die Haushälterin mit einem erleichterten Seufzen quittierte. „Glaub mir, dass ich ihr Grenzen setze, falls es um ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit geht.“
Vor Erstaunen blieb Ursula der Mund offenstehen. Dass ihr Chef sein Verhalten erklärte oder einen solchen Einwand ihrerseits hinnahm, hatte es noch nie gegeben.
„Selbst ich kann mich ändern.“ Er deutete mit dem Kopf zur Tür, ehe er sich wieder seiner Enkelin widmete.
Sie beendeten das Abendessen, anschließend putzte Makar ihr die Händchen ab, bevor er den Fernseher einschaltete.
Sofort hüpfte Juliana auf seinen Schoß, kuschelte sich vertrauensvoll an ihn, während „Mascha und der Bär“ lief.
„Juli auch Bären haben will“, murmelte die Kleine plötzlich, dabei rieb sie sich müde über die Augen.
„Ein Bär ist zu groß. Der hätte hier gar keinen Platz, Sonnenscheinchen.“ Makar strich ihr leicht über die Haare, gleichzeitig wartete er auf ihren Protest, doch der kam nicht mehr. Seine Enkeltochter war auf seinem Schoß eingeschlafen.
Vorsichtig hob er sie hoch, trug sie in sein Schlafzimmer, um sie in das riesige Doppelbett zu legen. Natürlich könnte er sie genauso gut in ihr Kinderzimmer bringen, aber er wusste genau, dass sie in ein paar Stunden sowieso zu ihm kommen würde.
Leise schloss er die Jalousien, damit sie von der Mitternachtssonne nicht gestört wurde, denn jetzt im Juli blieb es die ganze Nacht über hell.
Selbstverständlich schaltete er auch das Babyphone ein, ehe er den Raum verließ.
Zurück in seinem Wohnzimmer kam ihm das Zimmer extrem leer vor, obwohl es geschmackvoll eingerichtet war und wirklich viel Komfort bot, merkte man sofort, dass hier ein ziemlich einsamer Mensch lebte.
Neuerdings gab es ein paar Fotos von Darja, Eduard und Juliana, das war allerdings alles, was daran erinnerte, dass man sich nicht in einem Möbelhaus befand.
Seufzend setzte Makar sich auf die Ledercouch. Die Einrichtung dieser Villa hatte ursprünglich seine geliebte Nadeshda übernommen, doch als sie starb, ließ er die Räume von einem Innenarchitekten umändern. Jetzt ärgerte er sich darüber, damals hatte er die Erinnerung an seine einzige Liebe nicht ertragen können.
Seine Gedanken wanderten von seiner toten Ehefrau zu Katharina. Sie war ihm schon ein paar Mal aufgefallen, wenn er ihr in der Boxschule oder bei den Treffen begegnete. Immer wieder kam sie ihm verloren vor. Wie jemand, der seinen Platz in der Gesellschaft suchte, außerdem machte sie den gleichen einsamen Eindruck, den er im Herzen fühlte.
Makar wusste, dass sie regelmäßig von seiner Tochter und ihren Freundinnen aufgefordert wurde, sie in Klubs, ins Kino oder auch ins Theater zu begleiten, doch sie lehnte vehement ab.
„Ob sie sich wegen ihrer Narben schämt?“, überlegte er halblaut, denn das war die logische Erklärung. Warum sonst sollte eine junge Frau sich so abschirmen?
Ein paar Mal durfte er sie beobachten, während sie sich um ihre Schützlinge kümmerte. Sie besaß ein ganz besonderes Händchen für die verschüchterten Kinder, die Zuflucht in der Boxschule suchten, aber sie bekam auch die Rabauken schnell in den Griff.
Mit einem versonnenen Lächeln dachte Makar daran, wie sie Juliana behandelt hatte, als sie in seiner Limousine mitgefahren war. Wie gerne hätte er sie jetzt hier bei sich.
Bei der Erkenntnis schreckte er hoch. Wieso wollte er das Risiko eingehen, erneut verletzt zu werden oder noch mehr Fehler zu machen? Er hatte sein Herz doch gut unter Kontrolle, oder etwa nicht?
Schnell schüttelte er die Gedanken von sich. Auf keinen Fall würde er sich jemals wieder verlieben! Sein Leben ließ eine Partnerin einfach nicht zu. Diese Lektion musste er schon als Zwanzigjähriger begreifen.
Traurig schaltete er die Musikanlage an, woraufhin eine russische Weise erklang, die von dem verstorbenen Bariton Dmitri Hvorostovsky gesungen wurde.
Makar hatte den Sänger vor fast zehn Jahren kennenlernen dürfen. Er war definitiv viel zu früh gestorben. „Wieso sterben die Guten immer zuerst?“, murmelte er, während im Hintergrund ein altes Gebet angestimmt wurde.
Einen Moment erlaubte er sich, in den trüben Gedanken zu versinken, ehe er die Musik wechselte und eine Playlist aufrief, die muntere russische Lieder enthielt. Auf keinen Fall wollte er in Selbstmitleid ertrinken, das stand ihm so gar nicht.
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Katharina zeichnete, bis alles vor ihren Augen verschwamm. Sie flüchtete sich regelrecht in ihr Hobby, um sich selbst von ihrem trüben Leben abzulenken.
Ja, sie hatte Freunde, die zu ihr standen und sie ständig aufforderten, mit ihnen auszugehen, aber sie traute sich nicht. Seit sie in einer Diskothek mal ziemlich bösartig als Monster beschimpft worden war, blieb sie lieber in ihren eigenen vier Wänden. Sie wollte einfach verhindern, dass ihre Anwesenheit ihren Freundinnen den Abend verdarb. Dazu kam, dass sie alle bereits ihre Lebensgefährten gefunden hatten.
Sie fühlte sich immer wie ein Störfaktor, selbst wenn die Frauen unter sich waren, was auch daran lag, dass sich die Gespräche irgendwann unweigerlich um die Kinder, die Partner oder Sex drehten.
Seufzend räumte sie die Stifte weg, legte die Zeichnungen behutsam in eine Schublade, ehe sie sich müde über die Augen rieb.
Wieder kam ihr Makars eindringlicher Blick ins Gedächtnis. Er sah sie nicht mit Abscheu an, ganz im Gegenteil. Spöttisch lachte sie auf. Als ob ein Mann wie er sich ausgerechnet mit ihr einließ! Darja hatte ihr erzählt, dass er nie über den Tod seiner Frau hinweggekommen war.
Sie sollte endlich die dummen Träume aufgeben und sich mit ihrem Schicksal abfinden.
Normalerweise klappte das auch ziemlich gut. Die Kinder lenkten sie ab, gaben ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, nur manchmal machte die Sehnsucht ihr enorm zu schaffen.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es eigentlich zu früh war, um ins Bett zu gehen, aber auf die Sendungen im Fernsehen hatte sie so gar keine Lust. Deshalb ging sie ins Bad, richtete sich für die Nacht her, nachdem sie einen kleinen Imbiss zu sich genommen hatte, anschließend schnappte sie sich ihren E-Reader, mit dem sie sich ins Schlafzimmer verzog.
Schnell hatte sie sich in die zauberhafte Geschichte einer jungen Frau vertieft, die sich in einen Gestaltwandler verliebte. Sie liebte solche Romane, die sie aus der grauen Realität entführten.
Weit nach Mitternacht legte sie den Reader zur Seite, stand erneut auf, weil sie vergessen hatte, die Rollos zuzuziehen, denn die Weißen Nächte hielten sie sonst bis zum Morgen wach.
Gott sei Dank ließ wenigstens ihr Vater sie in Ruhe. Auf ihn war sie immer noch nicht gut zu sprechen.
Katharina brauchte eine ganze Weile, um endlich einzuschlafen. Sie versuchte, die Gedanken an Makar auszublenden, doch als sie in einen unruhigen Schlummer sank, träumte sie von dunkelbraunen Augen, die sie liebevoll musterten.
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Am nächsten Morgen brauchte sie einen Moment, um in die Realität zurückzufinden, dabei schimpfte sie mit sich, weil sie sich solchen närrischen Träumen hingab. Dieser Mann war bestimmt nicht an ihr interessiert, außerdem würde ihr Vater einen Herzinfarkt bekommen, sollte sie ausgerechnet den Mafia-Boss als ihren Freund vorstellen.
Bei dem Gedanken breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus, verdient hätte Kyrill es. Sofort bereute sie die bösartige Idee, denn im Grunde liebte sie ihn, zumal er alles tat, um ihr jeden Stein aus dem Weg zu räumen. Aber genau da lag ja ihr Problem!
Katharina atmete tief durch, auf keinen Fall wollte sie den ganzen Tag an den unseligen Streit von gestern denken, außerdem sollte sie langsam aufstehen, da sie in gut anderthalb Stunden auf der Arbeit sein musste.
Schnell streifte sie die Decke zur Seite, ging ins Bad, bevor sie sich einen Tee kochte und frühstückte.
Mit einem Lächeln blickte sie auf den Ingwer, den sie gerade mit kochendem Wasser übergoss. Diese Vorliebe hatte sie definitiv von ihrem Vater geerbt. Sie kannte kaum jemanden, der das Gebräu sonst noch mochte.
Viel besser gelaunt als vor einer halben Stunde machte sie sich auf den Weg zur Arbeit. Natürlich hätte sie Kyrill fragen können, ob er zur Boxschule fuhr, aber sie benötigte die Ruhe, bevor die Kinder ihre Aufmerksamkeit vollkommen in Anspruch nahmen.
Heute wollte sie mit ihnen malen, außerdem gab es immer wieder welche, die Hilfe bei den alltäglichen Dingen brauchten, und die kleinsten mussten auch beschäftigt werden. Zum Glück gab es neben ihr noch weitere Erzieherinnen, darüber hinaus halfen ihre Freundinnen tatkräftig mit, allen voran Jelena.
In ihre Gedanken versunken stieg sie in die U-Bahn ein, nur dieses Mal verfehlte sie die Station nicht. Die Fahrt dauerte nur ein paar Minuten, sodass sie kaum Zeit hatte, um zu grübeln, trotzdem wanderten ihre Überlegungen erneut zu Makar. Wieso musste sie ständig an den Kerl denken? Es war ja nicht so, dass sie ihn jetzt zum ersten Mal sehen würde, allerdings hatte er sich bei den gemeinsamen Feiern immer im Hintergrund gehalten. Als ob er ein unbeteiligter Zaungast wäre. Nur in Gegenwart der Kinder schien er sich wirklich wohlzufühlen.
Wieder schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Es ging sie einen feuchten Kehricht an, was dieser Mann tat oder wie er sich verhielt.
Die U-Bahn hielt und sie stieg schnell aus, dabei lenkte sie ihre Gedanken auf den kommenden Arbeitstag. Sie freute sich auf ihre Schützlinge, die ihr alle am Herzen lagen.
Katharina betrat mit einem Lächeln das Gebäude neben der Boxschule und wurde augenblicklich von mindestens zehn Kindern umringt, die sie lautstark begrüßten. Einige waren schon für einen Ausflug angezogen, andere trödelten noch herum.
„Guten Morgen, meine Süßen. Jetzt aber schnell, der Bus wartet nicht.“ Auffordernd deutete sie auf zwei Jungs, die strumpfsockig über den Flur liefen. „Schuhe anziehen, sofort.“
Kurz darauf winkte sie den Kindern zum Abschied, während sie zwei Mädchen an den Händen hielt, die erst vor anderthalb Monaten bei ihnen aufgenommen worden waren. Die Kinder wurden von ihrem betrunkenen Vater regelmäßig verprügelt, bis Olga dahintergekommen war, seitdem lebten sie hier. Einen Kindergarten durften sie nie besuchen, sodass auch Katharina es befürwortete, sie bei sich zu behalten, darüber hinaus hatten sie eine kleine Gruppe von Vorschulkindern, die sie auf die Schule vorbereitete.
Gemeinsam mit den Mädchen ging sie in die Küche, sorgte dafür, dass die beiden ihr Frühstück erhielten, anschließend brachte sie ihre Sachen zu ihrem Spind. Morgens wurde es noch ziemlich frisch, deshalb trug sie eine leichte Sommerjacke, außerdem hatte sie eine Handtasche mit dem Nötigsten dabei.
Als sie in die Küche zurückkam, winkte ihr Anna zu, die zusammen mit ihren Schützlingen lebte, für sie kochte und aufpasste, dass sie alles bekamen, was sie brauchten. „Schön, dass du da bist, Katja. Die Rasselbande geht einfach nicht zum Bus, bis sie dich begrüßt haben.“ Die Haushälterin seufzte leise. „Du hast Joschi und Sergej ja gesehen. Sie haben sich sogar geweigert, sich anzuziehen, damit sie dich auf jeden Fall noch treffen.“
Katharina lächelte versonnen, genau das liebte sie an ihrem Job so, die Kinder zeigten ihr deutlich, wie sehr sie sie mochten. „Da musst du dich unbedingt durchsetzen. Es kann ja auch mal sein, dass ich mich verspäte. Außerdem gibt es noch weitere Erzieherinnen hier.“
Anna lachte vergnügt. „Das stimmt, aber du bist die Beliebteste, wahrscheinlich, weil du jedem das Gefühl gibst, etwas Besonderes zu sein.“ Mit den Worten ließ die ältere Frau sie stehen, um einkaufen zu gehen.
Erstaunt sah Katharina ihr hinterher. War das wirklich so? Sie machte doch nichts Ungewöhnliches, ganz im Gegenteil, im Vergleich zu den restlichen Angestellten war sie sogar strenger. Trotzdem freute sie sich über das Kompliment.
Im Gemeinschaftsraum fand sie fünfzehn Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren, von denen einige laut jubelnd auf sie zuliefen. Die meisten hatten sie schon an der Tür begrüßt.
Lachend fing sie die Kleinste auf, bevor sie auch die anderen liebevoll an sich drückte. Keiner kam zu kurz.
„Lasst uns zum Anfang ein Lied singen“, schlug sie vor und sofort setzten sich alle im Kreis auf den Boden.
Lächelnd hockte Katharina sich zu ihnen, gleichzeitig gab sie den Ton zu „Es gibt nichts Besseres auf der Welt“ an. Die Kinder sangen begeistert mit, während sie im Takt klatschten.
Als das Liedchen zu Ende war, verlangten die Kleinen lautstark ein weiteres, sodass Katharina schnell „Was wird in der Schule gelernt“ anstimmte.
Wieder stimmten alle mit ein, dabei sah man ihnen an, wie viel Spaß sie hatten. Der Tag konnte nur gut werden, wenn er so toll anfing.
Nachdem sie gemeinsam gesungen hatten, verteilten sich die Kinder, einige spielten etwas, andere malten. Die, die bald eingeschult wurden, gingen zu den restlichen Erzieherinnen, um sich auf den großen Tag vorzubereiten. Sie lernten bereits, die ersten Zahlen und Buchstaben zu schreiben oder auch leichte Rechenaufgaben zu lösen.
Katharina setzte sich zu einer kleinen Gruppe, die sich mit Stiften und Papier bewaffnet hatte. Hier war sie in ihrem Element, trotzdem achtete sie darauf, dass niemand allein in einer Ecke saß.
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Makar erwachte, weil Juliana an seinem Arm zerrte. Müde schlug er die Augen auf, blickte verstohlen zum Wecker auf seinem Nachttisch, ehe er ein Seufzen unterdrückte. Natürlich war es gerade mal kurz vor sechs am Morgen, doch sein Sonnenscheinchen hatte bereits genug geschlafen. Er hingegen wäre gerne noch etwas liegengeblieben, aber das kam jetzt nicht mehr infrage.
„Zoo gehen! Zoo gehen“, forderte Juli ihn lautstark auf, gleichzeitig hüpfte sie ungeduldig auf und ab.
„Erst wird gefrühstückt. Ursula hat extra süße Blinis gemacht, meine kleine Nervensäge.“ Lächelnd betrachtete er seine Enkeltochter, die einen Moment überlegte, ob sie widersprechen sollte. „Widerspruch ist zwecklos. Sei lieb, sonst bleiben wir hier, dann siehst du keine Löwen oder Tiger.“
Die Drohung wirkte sofort, sodass Juliana augenblicklich zustimmte. „Komm, Dedushka, los, frühstücken.“ Wieder zog sie an ihm.
Mit einer Grimasse, die als Lächeln durchgehen konnte, setzte er sich auf, schnappte seine Enkelin und kitzelte sie.
„Jetzt gib Ruhe und lass deinen Opa zuerst wach werden.“ Makar schlug die Decke zurück, stand auf, anschließend hob er die Kleine auf seine Arme, um mit ihr ins Bad zu gehen.
„Du bist wach“, bemerkte das Kind mit gerunzelter Stirn.
„Das sagt man so, wenn man gerade erst aufgestanden ist. Manchmal braucht man eine Weile, bis man überlegt hat, was man alles machen wollte“, erklärte er ihr ruhig, während er ihr mit einem Waschlappen Gesicht und Hände wusch. Sie jetzt schon in die Badewanne zu stecken, war vergebene Liebesmüh, spätestens im Zoo würde sie erneut aussehen wie ein Ferkelchen.
Sie putzten sich gemeinsam die Zähne, anschließend zog er sie an, bevor er sie in die Küche brachte, wo Ursula mit den versprochenen süßen Blinis bereitstand.
„Ich lass sie hier, um schnell duschen zu gehen.“ Natürlich wartete Makar die Antwort nicht ab, sondern drehte sich zur Tür. Er wollte den Tag mit der Kleinen ausnutzen, denn sie gab ihm die Lebensfreude zurück.
Eilig ging er ins Bad, streifte den Pyjama ab, den er seiner Enkelin zuliebe trug, und stellte sich unter den Massagestrahl in der Dusche. Während das Wasser auf ihn niederprasselte, musste er erneut an Katharina denken. Wie sie wohl mit der Situation umgegangen wäre? Bestimmt hätte sie keine Drohung gebraucht. Einen Moment dachte er an ihr sanftes Lächeln, als sie dem Kind erklärt hatte, dass sie nicht bei ihnen bleiben konnte.
Missmutig gestand er sich ein, dass er überhaupt nicht auf die Idee gekommen war, sie einzuladen. Ein gemeinsamer Zoobesuch wäre auf jeden Fall ein ganz besonderes Erlebnis geworden. Energisch schob er die Vorstellungen zur Seite, Katharina musste arbeiten, außerdem hatte sie sicherlich interessantere Dinge zu tun, als mit ihm den Zoo zu besuchen.
Kurz darauf saß er am Küchentisch, um sein Frühstück zu verspeisen. Normalerweise verzichtete er morgens auf etwas zu essen, sondern trank nur eine Tasse Kaffee, nur konnte er unmöglich von Juliana verlangen, dass sie aufaß, während er seinen schlechten Angewohnheiten frönte.
Als sie fertig waren, reichte Ursula ihm mit einem verlegenen Gesichtsausdruck einen Picknickkorb. „Den können Sie bestimmt gebrauchen, da sind auch gesunde Sachen drin.“
Einen Moment blitzte es ärgerlich in seinem Gesicht auf, doch sofort hatte er sich wieder im Griff, nickte der Haushälterin lächelnd zu, bevor er mit seinem Enkelkind zur Limousine ging.
Die Kleine umklammerte seine Hand, während sie neben ihm her hüpfte. Ihr Mundwerk stand keine Sekunde lang still, weil sie ihrem Großvater fröhlich erzählte, was sie sich unbedingt ansehen wollte.
„Du hast die Giraffen vergessen, Sonnenschein“, bemerkte Makar belustigt, als sie bereits im Wagen saßen und Juliana mit ihrer Aufzählung fertig war.
Ernsthaft nickte sie, bevor sie noch einmal anfing, die Tiere zu nennen, auf die sie sich am meisten freute, dabei erfand sie sogar neue Gattungen.
Die Fahrt dauerte anderthalb Stunden, da der Zoo direkt an der Festungsinsel der Peter-und-Paul-Festung lag, wohingegen Makar am Stadtrand wohnte. Er hasste den Trubel in der Innenstadt, dem er oft genug durch seinen Job ausgesetzt war, da wollte er wenigstens in seinem Zuhause seine Ruhe haben.
Sein Fahrer sollte sie absetzen und sie später dort auch abholen, sodass sie nicht noch nach einem Parkplatz suchen mussten.
Obwohl Makar erwartet hatte, dass seine Enkelin sich auf der Fahrt langweilen würde, fühlte diese sich einfach nur glücklich, bei ihm sein zu dürfen. Immer wieder staunte er über das kleine Energiebündel, das so gar keine Vorbehalte gegen seine Person hatte. Es tat ihm verdammt gut, mal nur Großvater zu sein, ohne ständig daran erinnert zu werden, dass er der Böse war.
„Träumt Dedushka?“ Juli fuchtelte mit ihrer winzigen Hand vor seinem Gesicht herum, bis er seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte.
„Ich habe über etwas nachgedacht, Sonnenscheinchen.“ Liebevoll strich er ihr über die Locken, dabei hörte er ihrem aufgeregten Geplapper zu.
Als ihr langweilig wurde, zog er eine selbstgemachte Fingerpuppe aus der Hosentasche. Mit so einem einfachen Spielzeug brachte er schon Darja zum Lachen. Einen kurzen Moment überfielen ihn die bittersüßen Erinnerungen an eine Zeit, in der er alles richtig gemacht hatte, bevor er beschloss, seine Tochter aus seinem Herzen zu reißen. Eilig konzentrierte er sich auf die Gegenwart, denn diesen Gedanken sollte er gerade keinen Raum geben.
Juliana ging fröhlich auf sein Spiel ein, redete mit der Puppe, erzählte ihr von ihren Freundinnen, den Besuchen der Boxschule und vieles mehr, sodass die Fahrtzeit wie im Flug verging.
Ehe sie sich versehen hatten, hielt der Chauffeur vor dem Eingangstor des Zoos. Makar holte seine Enkelin aus dem Kindersitz, schnappte sich den Picknickkorb, bevor er seinem Fahrer zunickte.
Am Eingang mietete er einen Bollerwagen, weil er den schweren Korb ganz bestimmt nicht den halben Tag herumschleppte, außerdem wurde Juliana erfahrungsgemäß nach spätestens einer Stunde müde. Jetzt hopste sie neben ihm her, seine Hand fest in ihrer.
Sie sahen sich zuerst die Eisbären an, für die der Zoo bekannt war, anschließend ging es kreuz und quer durch den Park, je nachdem, was die Kleine sich ansehen wollte.
Ein paar Mal bemerkte Makar, dass die Leute ihm eilig den Weg freimachten, was ihn nur wenig berührte. Seit dem Mordanschlag vor knapp drei Jahren waren die tollsten Gerüchte über ihn im Umlauf. Selbstverständlich wussten die Bürger von St. Petersburg kaum etwas über seine Position innerhalb der Bratwa, der Bruderschaft. Für sie stellte er einen erfolgreichen Geschäftsmann dar, der eine Import-Export-Firma leitete, was in der Tat stimmte. Dieser vermaledeite Zeitungsartikel hatte die Leute aufgeschreckt, sodass immer noch kein Gras über die Sache gewachsen war.
Juliana lenkte ihn von seinen Gedanken ab, als sie einen Löwen sah. Sofort zerrte sie an der Hand ihres Opas, während sie auf das Freigehege zustrebte. Lächelnd lief Makar mit ihr zu den prächtigen Tieren, hob sie auf seine Schultern, damit sie einen besseren Überblick hatte. So ging es von Gehege zu Gehege, selbstverständlich durfte auch der Streichelzoo nicht fehlen.
Der Tag verging viel zu schnell und Makar bedauerte es, als sein Fahrer sie am späten Nachmittag vor der Boxschule absetzte.
„Dedushka, bleib bei Juli“, bat seine Enkelin jetzt, dabei sah er, dass sie die Tränen unterdrückte.
Bei den Worten musste er hart schlucken, trotzdem setzte er ein geduldiges Lächeln auf. „Das geht nicht, aber wir sehen uns bald wieder, versprochen. Vielleicht schon nächste Woche, wenn du lieb bist.“
Er stieg aus, hob sie aus dem Kindersitz, reichte ihr den riesigen Stofftiger, den er ihr gekauft hatte und ging mit ihr ins Gebäude.
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Katharina räumte ein paar Spielsachen weg, ehe sie sich von ihren Schützlingen verabschiedete, ihr Arbeitstag war vorbei, außerdem hatte sie Makars Limousine vor der Tür bemerkt. Vielleicht traf sie ihn, rein zufällig, wenn sie jetzt rüber zu ihrem Vater ging.
Der Gedanke gefiel ihr, obwohl sie immer noch davon überzeugt war, dass er lediglich höflich sein wollte. Sie sollte sich keine Hoffnungen machen, aber ein wenig träumen durfte ja erlaubt sein.
Eilig holte sie ihre Sachen aus dem Spind, winkte den Kindern erneut zu, ehe sie zur Boxschule lief.
Wie erwartet befand sich der Mann, der sie die halbe Nacht wachgehalten hatte, in der Nähe der Tür zu den Büros. Einen Augenblick gönnte Katharina sich, um ihn zu betrachten. Auf den ersten Blick sah er desinteressiert aus, doch sobald man ihn beobachtete, merkte man deutlich, dass er jede Bewegung um ihn herum registrierte. Juliana hockte auf dem Arm ihres Vaters Eduard, während Darja mit einem glücklichen Lächeln bei ihrer Familie stand. Die Kleine erzählte, ohne Luft zu holen, von ihrem Aufenthalt bei ihrem Großvater. Ihr Gesichtchen strahlte vor Glück, was auch Katharinas Herz erwärmte.
Plötzlich traf sie der eindringliche Blick des Mafiabosses, sodass sie sich ziemlich ertappt vorkam. Eilig ging sie auf die Tür zu, so als ob sie zu ihrem Vater wollte.
„Schön, Sie wiederzusehen, Katharina.“ Der elegante Mann lächelte ihr freundlich zu, dabei erreichte das Lächeln tatsächlich seine Augen, wie sie fasziniert feststellte.
Natürlich musste in dem Augenblick die Tür aufgehen und Kyrill erscheinen, sodass sie schwer schluckte, trotzdem blickte sie ihn offen an. „Ja, ich freue mich genauso, Sie wiederzutreffen, Makar. Ich hoffe, Sie kommen jetzt öfter.“ Den letzten Satz hätte sie am liebsten zurückgenommen, da er ihr einfach so herausgerutscht war. Verlegen senkte sie den Kopf, da wurde sie auch schon am Arm gepackt und durch die Tür gezogen.
„Makar.“ Kyrill nickte dem Mann mit einem eisigen Blick zu.
„Kyrill.“ Der Mafiaboss reagierte mit einem spöttischen Lächeln, so wie immer, wenn die beiden aufeinandertrafen.
Für einen Augenblick hatte man das Gefühl, als ob die gesamte Atmosphäre abkühlen würde, dann war der Trainer mit seiner Tochter verschwunden.
„Ihr entschuldigt mich, meine Arbeit wartet auf mich.“ Makar streichelte Juli liebevoll über die Wange, aber das Kind protestierte sofort, gleichzeitig klammerte es sich an ihn.
„Nein! Dedushka soll mit.“ Trotzig sah sie von einem zum anderen, dabei sah man deutlich, dass sie bereits ziemlich müde war.
„Ich habe dir versprochen, dass wir uns bald wiedersehen, Sonnenschein, nur jetzt muss ich mich um meine Sachen kümmern.“ Er strich ihr die zerzausten Haare aus den Augen, beugte sich vor, um seine Tochter auf die Stirn zu küssen, ehe er Eduard zunickte.
„Bitte, Papa, du kannst doch mit uns essen. Es besteht kein Grund, warum du dich ständig in deiner einsamen Villa verkriechst.“ Darja sah ihn bittend an und beinahe wäre er eingeknickt, trotzdem schüttelte er mit einem Lächeln den Kopf.
„Nein, meine Kleine, ihr seid eine junge Familie, die braucht Zeit für sich. Wir sehen uns bald.“ Mit den Worten drehte er sich um und verließ die Boxschule.
Vor dem Gebäude atmete er tief durch. Natürlich wäre er gerne mit zu seiner Tochter gefahren, leider war das Verhältnis zwischen ihnen immer noch angespannt, was eindeutig daran lag, dass er sich so unendlich kalt verhalten hatte. Auf keinen Fall wollte er riskieren, dass sich das brüchige Band endgültig auflöste, deshalb ging er ständig auf Abstand. Makar traute sich selbst nicht. Er befürchtete, erneut bösartige Fehler zu machen, außerdem blieb er der Boss des Kartells Tambowskaja.
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Als die Tür hinter Kyrill ins Schloss fiel, ließ er seine Tochter los, gleichzeitig lehnte er sich gegen den Türrahmen, als ob sie flüchten würde. „Was hast du mit so einem Abschaum zu schaffen? Reicht es nicht, dass er fast dafür gesorgt hätte, dass Kolja stirbt?“ Man hörte deutlich, wie sehr er sich beherrschen musste, um die Fassung zu bewahren.
Fassungslos musterte Katharina ihren Vater, dabei schüttelte sie ungläubig den Kopf. Wieso war er so unversöhnlich? Dachte er wirklich, dass Makar persönlich für die illegalen Kämpfe verantwortlich war? „Ich habe mit ihm überhaupt nichts zu tun! Trotzdem behandelt er mich höflich, was ich kaum von allen sagen kann.“ Sie holte tief Luft, auch um sich ein wenig zu beruhigen. „Er hat mich gestern nach Hause gefahren, wenn du es unbedingt wissen musst.“ Tränen des Zorns traten ihr in die Augen.
Kyrill glaubte, sich zu verhören! Seine Tochter war tatsächlich zu diesem Verbrecher ins Auto gestiegen? Wie dumm konnte sie noch handeln? „Du weißt doch, dass er zur Bruderschaft gehört, oder? Solche Leute bringen unbescholtene Bürger um, dazu brauchen sie nicht einmal einen vernünftigen Grund.“
Jetzt stieß Katharina spöttisch die Luft aus. „Ich denke, du hast zu viele Krimis gelesen. Makar bringt jedenfalls niemanden aus purem Vergnügen um.“ Gerade als sie den Satz ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie absolut nichts über den Mann wusste. Abgesehen von dem, was sie von ihren Leuten erfahren hatte. Trotzdem traute sie ihm ein so schäbiges, menschenverachtendes Verhalten kaum zu.
„Ach, und woher weißt du das so genau? Ich war dabei, als sie Kolja fast zu Tode geprügelt haben. Vielleicht fragst du mal Eduard, warum er seinen Schwiegervater auf Abstand hält.“ Kyrill redete sich in Rage, vor allem, weil er seine Kleine schützen wollte. „Sein Bruder Jefim ist bei so einem Spektakel elendig verreckt.“
Entsetzt schlug Katharina sich eine Hand vor den Mund. Selbstverständlich wusste sie, dass die Bratwa für diese mörderischen Kämpfe verantwortlich war, nur konnte sie einfach nicht glauben, dass ausgerechnet Makar so einen Wahnsinn anordnete. „Ich werde ihn fragen! Auf gar keinen Fall lasse ich zu, dass er hier verurteilt wird, ohne sich überhaupt verteidigen zu können.“ Sie sah ihren Vater mit Tränen in den Augen an, so sehr ärgerte sie sich über ihn. „Ich hätte nie gedacht, dass du so gemein bist. Außerdem bin ich längst volljährig. Ich kann selbst auf mich aufpassen und suche auch meine Gesellschaft alleine aus.“
Kyrill bemerkte, dass er in seiner Sorge viel zu weit gegangen war, trotzdem konnte er es nicht zulassen, dass ausgerechnet seine Tochter sich mit einem Mörder einließ. Beruhigend hob er beide Hände hoch, gleichzeitig trat er einen Schritt auf sie zu. „Ich weiß, dass du erwachsen bist, nur erkennst du offensichtlich böse Menschen nicht. Wahrscheinlich bist du zu sehr behütet worden, um solche Verbrecher zu durchschauen.“
Dass er mit den Worten genau das Gegenteil erreichte, erkannte er leider zu spät, denn Katharina ließ ihn einfach stehen. Da er fast bis zur Mitte des Raumes gegangen war, war der Weg jetzt frei.
Ohne auf sein Rufen zu hören, rannte sie durch den Korridor, öffnete die Tür zum Trainingsraum, den sie blind vor Tränen durchquerte, nur um kurz hinter der Eingangstür mit jemandem zusammenzustoßen.
Sofort wurde sie von zwei starken Armen aufgefangen, die sie gegen einen durchtrainierten Körper drückten.
„Langsam, sonst tun Sie sich weh.“
Natürlich erkannte sie augenblicklich die Stimme von Makar. Wieso musste er noch hier sein? Jetzt schämte sie sich in Grund und Boden, weil ihr die Tränen in Strömen über die Wangen liefen. Was sollte sie ihm sagen, warum sie so außer sich war? Sie konnte ihm ja kaum beichten, was ihr Vater da von sich gegeben hatte.
Schnell senkte sie den Blick, in der Hoffnung, dass er ihr verheultes Gesicht übersah.
„Es tut mir leid, ich war in Gedanken“, murmelte sie, dummerweise hörte man ihrer Stimme deutlich an, dass sie Mühe hatte, zu sprechen.
Sanft hob Makar ihr Kinn an, bis sie ihm in die Augen sehen musste. Seine Stirn runzelte sich, als er erkannte, in was für einem Zustand sie sich befand. „Was ist passiert? Brauchen Sie Hilfe?“ Besorgt blickte er auf sie herunter.
„Nein, danke, es ist nichts.“ Katharina bemühte sich verzweifelt, die Fassung wiederzuerlangen, aber solange er sie festhielt, war das scheinbar unmöglich. Wie gerne hätte sie sich einfach in seine Arme geworfen, sich von ihm beschützen lassen und alles andere ausgeblendet. Bei dem Gedanken straffte sie sich. Das waren doch nur dumme Kleinmädchenträume, die sie schleunigst vergessen sollte. Dieser Mann würde niemals zärtliche Gefühle für sie hegen. Er konnte jede hübsche Frau in ganz St. Petersburg haben.
„Katharina? Geht es Ihnen gut?“ Wieder musterte er sie besorgt, dabei bildete sie sich ein, dass sich ein liebevolles Schimmern in seinen Blick mischte.
Sie musste völlig übergeschnappt sein, wenn sie schon solche Dinge sah! „Es ist alles in Ordnung. Wirklich, es ist nichts, nur ein Streit mit meinem Vater.“ Sie versuchte einen Schritt zurückzuweichen, doch Makar hielt sie weiterhin fest, während er problemlos in ihren Augen las.
Seine Iriden verdunkelten sich, wurden fast schwarz, als ihm eine Vermutung kam, weshalb Kyrill mit ihr gestritten hatte. Dieser nachtragende Idiot! Es war verständlich, dass er ihm mit Misstrauen begegnete, allerdings sollte er seine Laune nie wieder an seiner Tochter auslassen. „Es ging um mich, richtig?“
Verlegen zuckte Katharina mit den Schultern. Sie konnte ihm doch unmöglich beichten, was ihr Vater ihm für Missetaten zutraute.
„Bitte, sagen Sie es mir. Ich habe schon so einiges zu hören bekommen.“ Jetzt klang er tatsächlich liebevoll, das bildete sie sich auf keinen Fall ein.
Erstaunt sah sie ihn an, versuchte in seinen Augen zu lesen, aber das schaffte sie einfach nicht, stattdessen zog er sie mit seinem dunklen Blick in seinen Bann.
„Erzählen Sie es mir, Katharina! Was hat Kyrill behauptet und weshalb hat es Sie so aus der Bahn geworfen?“ Er zog sie mit dem freien Arm etwas dichter an sich, gleichzeitig packte er ihr Kinn fest, damit sie ihm nicht ausweichen konnte. Seine Stimme gaukelte ihr vor, dass er sie beschützen wollte und zu allem Überfluss fühlte sie sich auch noch geborgen, allein weil er sie im Arm hielt.
„Er ist der Auffassung, dass Sie persönlich an den illegalen Boxkämpfen beteiligt sind. Außerdem glaubt er, dass Sie aus Spaß Menschen umbringen. Ich wäre nur zu behütet aufgewachsen, um Gut von Böse unterscheiden zu können.“ In dem Moment hätte sie gerne den Kopf gesenkt, um seinem dunklen Blick auszuweichen. Katharina befürchtete, dass er wütend wurde, herumschrie oder sogar zu ihrem Vater hineinging, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, doch damit, dass er lauthals auflachte, hatte sie nicht gerechnet.
„Kyrill hat von meiner Organisation überhaupt keine Ahnung. Natürlich weiß ich über die Kämpfe Bescheid, nur bin ich darin lediglich finanziell involviert. Diese Boxkämpfe finden auf der ganzen Welt statt, das ist etwas, das weit über meine Befugnisse hinausgeht.“ Makar lächelte sie liebevoll an. „Bitte, glauben Sie mir, ich habe weder Spaß daran, wenn Menschen sich zu Tode prügeln, noch töte ich irgendein Lebewesen ohne triftigen Grund.“ Schlagartig wurde er ernst, als er ihr ins Gesicht sah, um festzustellen, ob sie ihm glaubte.
Mit einem winzigen Lächeln nickte Katharina, genauso hatte sie ihn eingeschätzt und sie war überglücklich, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2021
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