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Kapitel 1 - Athlone

Langsam schlenderte Belana durch die Straßen der Stadt. Sie liebte Athlone, wo sie geboren worden war, doch in der letzten Zeit war sie ungewöhnlich nervös. Sie fühlte sich, als ob sie unter Strom stehen würde, nur gab es keinen offensichtlichen Grund.
Einen Moment ließ sie die Wochen Revue passieren. Es hatte sich nichts geändert, sie war eine Obdachlose, übernachtete in einem alten, abbruchreifen Haus östlich vom Shannon, dabei genoss sie ihre Freiheit.
Bei dem Gedanken lachte sie spöttisch auf. Freiheit bedeutete in ihrem Fall: Einsamkeit, Misstrauen und ein andauernder Kampf ums Überleben.
Ehrlich gab sie zu, dass sie keine großen Probleme hatte, Nahrung zu finden, weil sie sich in eine Katze verwandeln konnte. Mäuse gab es wirklich im Überfluss, trotzdem war sie ständig auf der Hut.
Sie kam an der St. Peter und Paul Kathedrale vorbei, die direkt gegenüber dem Athlone Castle lag. Hier hatte sie im letzten Sommer einen Job in der Touristeninformation bekommen, aber je länger sie dort arbeitete, desto neugieriger wurden die Kollegen. Immer öfter konfrontierte man sie mit Fragen, die sie niemals beantworten durfte, außerdem musste sie extrem aufpassen, mit wem sie sich anfreundete.
Lana wollte nicht mal daran denken, was passieren würde, sollte ein Mensch hinter ihr Geheimnis kommen. Also blieb ihr kaum etwas anderes übrig, als den Job hinzuschmeißen, was hieß, zurück auf die Straße zu gehen. So oder so ähnlich lief es ständig ab, sodass sie das Gefühl bekam, nicht in die normale Gesellschaft zu passen.
Was hatte sie erwartet? Einen barmherzigen Samariter, der ihr half? Jemand, der ihr die Hand reichte? Bitter scheuchte sie die trüben Gedanken weg. Diese Hoffnung verbot sie sich seit einiger Zeit.
Als ihre Mutter vor vier Jahren überfahren wurde, musste sie alleine klarkommen. Niemand interessierte sich für das verunsicherte Mädchen.
Jetzt wurde sie auch noch unfair, denn so stimmte die Geschichte nicht. Die Familie, die sie aufgenommen hatte, war wirklich liebevoll gewesen, aber hier konnte sie auf keinen Fall bleiben. Sie wollte Sean und Heather schützen, zumal sie irgendwann dahintergekommen wären, dass ihr Pflegekind in der Lage war, sich in eine Katze zu verwandeln.
Lana seufzte leise. Ihre Mum hatte ihr von klein auf eingetrichtert, dass die normalen Menschen niemals erfahren durften, dass es sich bei ihr um ein magisches Wesen handelte. Die Wächter von Ballygannon würden entweder sie bestrafen oder den Mitwissern ihre Erinnerungen nehmen, wenn sie sie nicht gleich töteten.
Noch heute hörte sie die warnenden Worte ihrer Mutter, sodass sie lieber kein Risiko einging.
Sie kam zur Brücke, wo sie einen Moment versonnen auf den Shannon blickte. Der Fluss zog sie in seinen Bann. Früher war er das wichtigste Verkehrsmittel gewesen, hart umkämpft. Es hieß, wer den Shannon beherrschte, dem gehörte Irland.
Ihr Blick fiel auf die vielen Liebesschlösser, die am Geländer hingen, das die Fußgänger vor einem Absturz bewahrte. Sehnsucht flutete ihr Herz und diese verdammte Nervosität wurde noch schlimmer.
Wieso durfte sie kein normales, bürgerliches Leben führen, einen Partner finden und glücklich sein?
Obwohl es ihr wehtat, betrachtete sie die Schlösser genauer. Eins stach ihr ins Auge, vielleicht weil es schon ziemlich angerostet war. „Ilo & Dietmar 1.8.2014“ stand darauf.
Es musste wunderschön sein, wenn man den Menschen gefunden hatte, der zu einem passte. Wieder stieß Lana ein unhörbares Seufzen aus. So wie es aussah, würde sie besser alleine bleiben.
Sie streifte weiter durch die Stadt, bis sie zum Einkaufszentrum, Golden Island, kam. Shoppen war überhaupt nicht ihr Ding, obwohl sie etwas Geld von ihrer Mutter geerbt hatte, das sie in einem Schließfach im Busbahnhof deponiert hatte. Es war ihr Notgroschen.
Normalerweise kam sie als Katze recht einfach in verschiedene Gebäude, Ferienhäuser oder Hotels, wo sie duschen konnte, während die eigentlichen Gäste sich in der Gegend umsahen, trotzdem mietete sie sich von Zeit zu Zeit ein Zimmer. Besonders dann, wenn sie ihr kleines Vermögen durch einen Job aufstocken wollte.
Natürlich gab es in Athlone die Simon-Community, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, Obdachlosen zu helfen. Hier gab es einen Platz zum Übernachten, Essen oder auch frische Kleidung, aber Lana vermied es, die Gemeinschaft zu belasten, solange sie alleine klarkam.
Sie wanderte weiter durch den Burgess-Park, bis sie ans Ufer des Shannons kam. Auf einer Steinstufe, die direkt ins Wasser führte, setzte sie sich, zog ihren Rucksack mit den wichtigsten Habseligkeiten vom Rücken und wandte für einen Moment das Gesicht der Sonne zu. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Wärme.
Jetzt, Anfang Mai, fehlten noch viele Touristen, sodass sie ihre Ruhe hatte.
„Hey, dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde.“
Eine helle Stimme riss sie aus ihren Gedanken und mit einem Lächeln öffnete sie die Lider.
„Du kennst mich eben gut genug, Chrissi.“ Lana klopfte neben sich auf den Boden, woraufhin ihre Freundin sich setzte.
Sie hatten sich vor mehr als drei Jahren kennengelernt, als sie vor einem Unwetter in ein leerstehendes Haus geflüchtet waren. Natürlich hatte sie sofort bemerkt, dass es sich bei ihrem Gegenüber auch um ein magisches Wesen handelte. Ihre eigene Art erkannte sie an den Augen, was vieles einfacher machte.
Chrissi war etwas jünger als Lana und sie konnte sich in ein Wiesel verwandeln.
„Was machst du?“ Neugierig musterte Chrissi ihre Freundin.
„Die Zeit totschlagen. Außerdem habe ich überlegt, ob ich vielleicht mal wieder einen Job annehme.“ Lana zuckte leicht mit den Schultern. „Ich bin unruhig. Das kenne ich nicht von mir“, gab sie leise zu.
Sofort horchte die andere Frau auf. „Du weißt, was man über diese seltsame Nervosität sagt, oder?“
„Ja, nur halte ich es für ein Ammenmärchen. Woher sollte denn auf einmal ein Gefährte kommen? Fallen die einem plötzlich in den Schoß? Oder reitet er auf seinem Schimmel her?“ Sie verzog ungeduldig das Gesicht.
Chrissi brach in lautes Lachen aus. „Du bist ulkig. Aber die Vorstellung, dass ein Mann gleich über den Rasen geritten kommt, finde ich echt lustig. Außerdem stelle ich mir vor, wie verdutzt du dann aus der Wäsche schaust.“ Sie kicherte vergnügt.
„Schön, dass du dich so amüsierst. Mich nervt es einfach nur.“ Belana holte tief Luft. „Weißt du, ich habe das Leben auf der Straße satt. Wie gerne würde ich mich einmal sicher fühlen. Ständig auf der Hut vor den Wächtern zu sein, macht mich fertig.“ Sie sah erneut auf den Fluss, dessen Oberfläche die Sonne spiegelte. „Vielleicht sollte ich nach Ballygannon gehen, um den Typen zu sagen, dass es mich gibt.“
Sofort schüttelte Chrissi heftig den Kopf, sodass ihre mausbraunen Haare wild durcheinanderflogen. „Das darfst du nicht. Wer weiß, was dann passiert? Bitte, Lana, sie werden dich dortbehalten oder Schlimmeres.“
Belana drehte sich zu ihrer Freundin um. „Das ist doch nur eine Vermutung. Wieso glaubst du das? Ich meine, ich habe nichts verbrochen, die Geheimhaltung eingehalten, außerdem bin ich keine Gefahr für die magische Welt. Meine Mutter hat ...“ Sie brach ab, als sie eine huschende Bewegung auf der Steinstufe wahrnahm. „Gregory! Hau ab und wag es nie wieder, uns zu belauschen. Sonst zertrete ich dich.“
Sofort rannte die recht große Spinne davon, während die beiden Frauen ihr missmutig nachsahen.
„Der Idiot glaubt auch, dass wir ihn nicht bemerken. Aber vielleicht weiß er mehr.“ Chrissi drückte Lanas Hand. „Egal, was mit ihm ist, bitte, bleib von den Wächtern weg. Ich habe so viele Geschichten gehört und nie waren sie auf der Seite der Schwächeren.“
„Ich werde Athlone auf keinen Fall verlassen, versprochen.“ Belana stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose, schulterte ihren Rucksack, ehe sie mit dem Kopf in Richtung Einkaufszentrum deutete. „Komm, wir gehen was essen. Ich lade dich ein.“
Das ließ Chrissi sich nicht zweimal sagen. Sofort sprang sie auf, um ihrer Freundin zu einem kleinen Imbiss zu folgen, wo sie etwas zum Abendessen kauften.
„Mist, ich bin schon wieder pleite“, bemerkte Chrissi, als sie die Verpackungen in den dafür vorgesehenen Mülleimer warfen. „Dann muss ich mich spätestens morgen unter die wenigen Touristen mischen. Es wird langsam Zeit, dass die Saison anfängt. Die vielen Besucher, die während der Hauptsaison ins Athlone Castle stürmen, machen es mir einfacher, zu überleben.“
Lana schüttelte leicht den Kopf. Sie selbst besaß genug Geld, um einigermaßen über die Runden zu kommen, jedenfalls solange sie damit haushaltete. Ihre Freundin hingegen betätigte sich immer mal wieder als Taschendiebin, wobei sie da ihr Gewissen völlig ausschaltete. Das war eine Gabe, auf die Belana verzichten musste. Sie kämpfte sogar mit ihren Gewissensbissen, falls Chrissi ihr ein Eis spendierte, weil sie genau wusste, dass jemand dafür bestohlen worden war.
„Was hältst du davon, wenn ich ein Zimmer für uns beide miete? Wir suchen uns einen Job.“ Bittend sah Lana sie an. „Du bräuchtest niemanden mehr zu beklauen. Ich muss mir keine Sorgen machen, dass du von den Bullen geschnappt wirst.“
Chrissi lachte, gleichzeitig legte sie einen Arm um die Freundin. „Ich bin flink wie ein Wiesel, das weißt du. Mich erwischt die Polizei nicht so schnell. Außerdem habe ich ehrlich gesagt keine Lust, den Dreck der anderen wegzumachen oder den ganzen Tag dumme Fragen zu beantworten.“ Sie holte tief Luft. „Im Gegensatz zu dir liebe ich meine Freiheit.“
Seufzend ließ Lana das Thema fallen. Sie hatten schon so oft darüber diskutiert, dass es zu nichts führen würde.
Gemeinsam liefen sie durch die Straßen, bis sie zu einem Spielplatz kamen, wo sie sich auf eine Schaukel setzten, um über Gott und die Welt zu reden.
Erst als es dämmerte, machten sie sich auf den Weg zu dem verlassenen Haus, wo einige Obdachlose sich eingerichtet hatten.
Es war ein Fußmarsch von knapp drei Kilometern, für den sie eine gute halbe Stunde brauchten.
Vor der Tür sahen sie sich um, damit niemand beobachtete, wie sie das Gebäude betraten.
Im Innenraum war es schummrig und ein älterer Mann, der auf seiner dreckigen Decke saß, nickte ihnen lethargisch zu.
Schnell liefen sie die Treppe hinaus ins hinterste Zimmer, wo sie ihre Sachen in eine Ecke packten. Hier konnten sie sich ungestört unterhalten, zumindest im Moment.
„Hast du nicht manchmal die Nase voll davon, unter solchen Umständen zu hausen?“ Belana sah Chrissi müde an, als sie sich auf ihren Schlafsack sinken ließ, den sie von ihrem Rucksack gelöst hatte.
„Bist du irre? Meine Freiheit aufgeben, nur um tagein, tagaus in irgendeinem Job zu schuften? Am besten noch die magischen drei Ks: Kinder, Küche, Kirche.“ Chrissi lachte auf. Auch sie saß auf einem Schlafsack, den Rücken an die Wand gelehnt.
„So kann es aber doch nicht weitergehen. Nie zu wissen, wann du weggejagt wirst oder wo du die Nacht verbringst.“ Lana schluckte. „Mir kommt es so vor, als ob ich meine gesamten Träume wegwerfen würde. Meine Mutter wäre sicher enttäuscht von mir.“ Eine Träne lief über ihre Wange, als sie an ihre Mum dachte. So hatte Sarah sich die Zukunft ihrer Tochter auf keinen Fall vorgestellt.
„Quatsch, sie ist stolz auf dich, egal, wo sie jetzt ist! Ganz bestimmt. Du lebst dein Leben, kommst klar und brauchst niemanden, der dir sagt, was du zu tun oder zu lassen hast.“ Chrissi sah sie eindringlich an. „Was ist eigentlich los mit dir? Du bist so anders als sonst.“
„Keine Ahnung, ich weiß es selbst nicht. Die dämliche Nervosität geht mir auf die Nerven. Es fühlt sich an, als ob ein Gewitter aufzieht, aber man sieht noch keine Wolken. Außerdem muss ich ständig daran denken, dass meine Mum mir gesagt hat, ich solle zu den Wächtern gehen, falls ich jemals Hilfe brauche.“ Lana spürte eine Zerrissenheit in sich. Tief in ihr drinnen wusste sie, dass sie ihrem Leben endlich ein Ziel geben musste. Dieses Herumlungern auf der Straße war nicht befriedigend.
„Über die Typen von Ballygannon haben wir bereits geredet. Bitte, Süße, bleib von denen weg. Die gehören zu den Bösen!“ Chrissis Stimme bekam einen flehenden Klang.
Ehe Belana ein weiteres Argument fand, kam Gregory hereingeschlendert.
„Tut mir leid, Ladys, aber ihr habt so laut gesprochen, dass ich alles mithören konnte. Deshalb muss ich dem Wiesel zustimmen. Keine zehn Pferde bringen mich in die Nähe der Wächter.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an, bevor er sich zu den Frauen setzte.
„Wer hat dich eigentlich nach deiner Meinung gefragt, Spinne?“ Lana zog die Knie an und schlang die Arme darum. Sie ärgerte sich, dass sie so unvorsichtig gewesen war, zumal sie genau wusste, dass die magischen Geschöpfe sehr gut hörten. In Gregorys Anwesenheit fühlte sie sich darüber hinaus immer unwohl, obwohl er ziemlich gut aussah. Er hatte eine schlanke, sehnige Figur, war mindestens einen Meter achtzig groß, schwarze kurze Haare und braune Augen. Nur sein Blick bekam oft etwas Verschlagenes.
„Wieso bist du so feindselig? Sitzen wir nicht alle im gleichen Boot?“ Offen musterte er die junge Frau. „Außerdem habe ich eventuell ein paar Informationen, die dir die Entscheidung abnehmen.“
Damit hatte er leider ihre Neugier geweckt, deshalb nickte sie ihm leicht zu. „Schieß los.“ Nach außen versuchte sie so zu tun, als ob es sie nicht interessierte, aber innerlich brannte sie auf die Neuigkeiten. Das waren die Gene der Katze in ihr.
„Vielleicht erinnert ihr euch an Caitlin O´Kelly? Sie lebte bis vor ungefähr fünf Jahren hier in Athlone.“
In seinen Augen glitzerte es vor Sensationslust, was Lana enorm abstieß. Einen Augenblick überlegte sie, dann fiel ihr ein, dass Cat, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, es extrem bunt getrieben hatte. Es wurde gemunkelt, dass die Regierung sie zur Erziehung weggeschickt hätte.
„Ich erinnere mich an sie. Sie hat gegen so ziemlich jedes Gesetz der magischen Welt verstoßen.“ Belana senkte die Stimme, damit sie außerhalb des Raumes nicht von irgendwelchen Normalen gehört werden konnte.
„Deshalb hat ihre Mutter sie zu den Wächtern geschickt, seitdem ist sie nie mehr in Athlone aufgetaucht. Ich kannte sie gut. Sie liebte unsere Stadt! Niemals hätte sie ihr freiwillig den Rücken gekehrt.“ Wieder sah er die beiden Frauen lauernd an. „Mir wurde außerdem erzählt, dass diese Mistkerle ihre Erinnerungen entfernt haben, um sie unter Kontrolle zu bringen. Dabei muss etwas schiefgegangen sein. Jetzt ist sie wahrscheinlich ein Zombie. Sie wollte doch nur ihre Jugend genießen.“
Jeder in der magischen Welt wusste, dass es mittlerweile möglich war, durch eine komplizierte Operation Gedanken zu entfernen. Meistens wurde der Eingriff bei den Normalen durchgeführt, die mit übernatürlichen Wesen in Kontakt gekommen waren. Oft ging es gut, nur manchmal wurde das Gehirn nachhaltig geschädigt, sodass die Betroffenen nicht mehr selbstständig leben konnten. Deshalb gab es in Ballygannon neben dem Haus der Wächter auch ein Krankenhaus und ein Pflegeheim.
„Woher willst du das wissen? Vielleicht ist sie einfach bei den Männern geblieben oder woanders hingezogen.“ Lana stieß unwillig die Luft aus. „Du versuchst, hier Gerüchte zu verbreiten.“ Ihre Stimme klang ein kleines bisschen unsicher.
Gregory zuckte uninteressiert mit den Schultern. „Glaub es oder lass es. Mir ist es gleich. Ich weiß, was ich weiß. Den Wächtern darf man nicht trauen. Sie wurden darauf trainiert, uns zu unterdrücken, wenn wir uns wehren. Aber von mir aus kannst du gerne den Rat deiner Mutter befolgen. Wirst ja sehen, was du davon hast.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schloss er die Augen, wobei er den Kopf an die Wand hinter sich lehnte.
Giftig sah Lana ihn an. Sie hasste es, dass er hier den Überlegenen spielte. Allerdings hatte er ihr Misstrauen, was die Wächter anging, weiter geschürt.
Sie selbst hatte schon zahlreiche Gerüchte über diese Männer und ihre Gefährtinnen gehört, deshalb traute sie sich auch nicht, dem Rat ihrer Mum zu folgen. Darüber hinaus bestand keine echte Notwendigkeit.
„Siehst du, ich habe es dir doch gesagt.“ Chrissi sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. „Ich will dich nicht verlieren.“
Mit einem Seufzen rutschte Belana an der Wand herunter, zog ihre Freundin an sich, bevor sie versuchte einzuschlafen.
Chrissi kuschelte sich vertrauensvoll an sie und in kürzester Zeit wurden ihre Atemzüge länger.
Nur Lana lag noch bis weit nach Mitternacht wach. Die Geschichte von Cat beschäftigte sie. Hielten die Wächter sie wirklich fest? Sie müsste mittlerweile volljährig sein, was bei den Gestaltwandlern bedeutete, dass sie das einhundertste Lebensjahr vollendet hatte. Sie selbst war bereits einhundertdrei Jahre alt.
Natürlich stand in ihrem normalen Ausweis ihr menschlicher Geburtstag: 20.04.2001.
Irgendwann schlief sie auch ein, doch Albträume sorgten dafür, dass sie sich am nächsten Morgen fühlte, als ob ein Panzer über sie hinweggerollt wäre.

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Müde streckte Lana sich, ehe sie sich umsah. Der Platz neben ihr war leer, nur Gregory grinste sie unverschämt an.
„Guten Morgen, Baby, du siehst echt niedlich aus, wenn du schläfst.“ Sein Blick glitt über ihre magere Figur, was ihr einen Ekelschauder über den Rücken jagte.
„Machst du mich etwa an, Spinne?“ Ihre gesamte Haltung zeigte, dass sie auf gar keinen Fall an ihm interessiert war.
„Wieso eigentlich nicht? Wir könnten ein interessantes Paar abgeben.“ Er rückte ein kleines Stück näher an sie heran, woraufhin sie eilig aufstand. „Ich spioniere die Menschen aus, anschließend erledigst du den Rest. Wir hätten in Kürze ein ansehnliches Vermögen.“
Lana tippte sich energisch mit der Fingerspitze an die Stirn. „Du hast sie wohl nicht mehr alle! Ich bestehle niemanden. Auf so einen Mist lasse ich mich niemals ein.“ Mit einem abwertenden Blick betrachtete sie den Spinnenmann. „Wie wäre es, wenn du es zur Abwechslung mal mit ehrlicher Arbeit versuchst?“
Entsetzt sah er sie an, bevor er in lautes Lachen ausbrach. „Auf gar keinen Fall. Die Normalen haben genug Kohle, die wir ihnen abnehmen können. Sie stehen sowieso unter uns.“
Da war Lana ganz anderer Meinung, aber sie wusste, dass es keinen Sinn machte, mit ihm zu diskutieren, deshalb packte sie ihre Sachen zusammen, ohne ihn weiter zu beachten.
Eilig verließ sie das Haus, gleichzeitig beschloss sie, ein Zimmer zu mieten und sich nach einem Job umzusehen. Zumindest für einen kleinen Zeitraum wollte sie leben wie jeder Normale.
Es war noch früh, als sie den Unterschlupf hinter sich ließ, sodass sie schnell ihre Windjacke aus dem Wanderrucksack holte, anschließend machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof.
In ihrem Schließfach lag neben einigen frischen Klamotten auch genug Bargeld für eine Monatsmiete, jedenfalls, wenn sie sich mit einem möblierten Zimmer begnügte.
Sobald sie wieder einen Job hatte, konnte sie ihre Ersparnisse aufstocken, sodass sie immer eine Reserve besaß.
Lana brauchte eine gute halbe Stunde, bis sie am Bahnhofsgebäude ankam. Hier sah sie sich erst einmal misstrauisch um. Auf keinen Fall wollte sie, dass irgendjemand sah, wie sie ihr Geld aus dem Schließfach nahm.
Noch war der Bahnhof ziemlich leer, nur zwei Arbeiter liefen eilig an ihr vorbei.
Schnell ging sie zu den großen Spinden, in denen man auch ganze Koffer verstauen konnte. Sie gab den Code ein, öffnete die Tür, anschließend holte sie ihre Habseligkeiten heraus, um alles zu einem öffentlichen Toilettengebäude zu tragen. Sie schloss sich in die Kabine ein, wo sie ihre Sachen neu packte.
Es dauerte eine Weile, dann verließ sie das Gebäude, um ihren restlichen Kram wieder in einem Schließfach unterzubringen.
Sie hielt jetzt eine Tüte in der Hand, in der sie eine ordentliche Jeans, ein pinkfarbenes T-Shirt sowie Unterwäsche verstaut hatte.
Lana beschloss zuerst zu duschen, sich die Zähne zu putzen und sich umzuziehen, danach würde sie zurückkommen, um ihren Wanderrucksack zu holen.
Erneut sah sie sich um, bevor sie zu den Toiletten zurückging. Hier blockierte sie die Eingangstür mit einem kleinen Stein, sodass ein Spalt offenblieb, anschließend versteckte sie ihre Kleidung in einer der Kabinen. Sie zog sich komplett aus, horchte, ob sie noch alleine war, dann leitete sie die Verwandlung ein.
Es flackerte blau, gleichzeitig spürte sie, wie sich ihre Knochen verformten. Ihre Haut platzte auf und das schwarze Fell der Katze kam zum Vorschein.
Der gesamte Vorgang dauerte nur wenige Momente.
Blitzschnell kroch sie unter der Toilettentür hindurch, huschte aus dem Gebäude, anschließend rannte sie zu einem B&B, das nur drei Minuten vom Bahnhof entfernt lag. Sie wusste, dass es hier freie Zimmer gab, vor allem, weil die Saison noch nicht begonnen hatte, außerdem war sie früher schon ein paar Mal durch ein offenes Fenster in die Pension gelangt.
Auch dieses Mal war ihr das Glück hold, sodass sie schnell in eins der Gästezimmer sprang. Sie nahm ihre menschliche Gestalt an, duschte ausgiebig, bevor sie sich die Zähne putzte. Glücklicherweise hatte das Personal Zahnbürste sowie Zahnpasta für die Gäste bereitgelegt. Offensichtlich erwartete man neue Touristen.
Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis sie zurück in der Bahnhofstoilette war, sich verwandelte und ihre frischen Sachen anzog. Gott sei Dank besaß sie ein sehr gutes Gehör, sodass sie früh genug bemerkte, wenn sich jemand dem Toilettengebäude näherte. Zur Not könnte sie auch die Verwandlung abbrechen, damit niemand etwas mitbekam, doch bisher war das nie nötig gewesen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen strich sie sich ein paar Mal durch ihre feuchten Haare, anschließend holte sie ihren Wanderrucksack aus dem Schließfach. Routiniert packte sie die getragenen Klamotten aus der Tüte zu der Schmutzwäsche, bevor sie sich auf den Weg zur Technologischen Universität in der Dublin Road machte. In der Bibliothek der Uni gab es Computer mit Internet, die sie für bis zu zwei Stunden buchen konnte. Eigentlich brauchte sie einen Studentenausweis, aber die Bibliothekarin war eine Elbenfrau. Miri gab ihr den Zugang, weil sie Mitleid mit ihr hatte, zumindest begründete sie ihr Verhalten so.
Zuversichtlich lief sie los. Ihr Geld befand sich jetzt in einem Geheimfach in ihrem Rucksack, sodass sie in der Lage war, Miete und, wenn nötig, eine Kaution zu bezahlen.
Belana wollte sich zuerst um eine Bleibe kümmern, ehe sie sich nach einem Job umsah. Vorher musste sie unbedingt ihre Kleidung durchsehen, ob sie genug saubere Sachen besaß, damit sie einen guten Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch hinterlassen konnte.
Auch an diesem Tag schien die Sonne, was Lana lächeln ließ. Im Augenblick hatte sie das Gefühl, genau das Richtige zu tun.
Nach einer Dreiviertelstunde saß sie an einem Rechner, um die Zimmerangebote durchzusehen. Ihren Rucksack hatte sie neben den Tisch gestellt, sodass sie ihn im Blick hatte.
Die ersten Angebote überflog sie nur, da sie auf keinen Fall achthundert Euro pro Monat ausgeben wollte. Es musste doch etwas Günstigeres geben. Zumal Studenten kaum Geld im Überfluss besaßen.
Endlich stieß sie auf eine Anzeige, die ihr sehr entgegenkam. Fünfundachtzig Euro pro Woche für ein möbliertes Zimmer. Natürlich durfte sie das Badezimmer mitbenutzen, außerdem gab es eine Gemeinschaftsküche.
Schnell las sie sich die Bedingungen durch und schluckte, denn der Vermieter wollte eine Kaution von vierhundert Euro haben. Danach blieben ihr lediglich fünfzig Euro, zumindest, bis sie einen Job gefunden hatte.
Missmutig scrollte sie weiter durch die Angebote, aber es war im Moment nichts frei, was sie sich leisten konnte.
Erneut sah sie sich die Anzeige an, bevor sie seufzend die Adresse notierte. Wie gut, dass immer Papier und Stift für die Studenten bereit lag. Das Zimmer befand sich in der Dublin Road, sodass sie in ein paar Minuten vor Ort wäre.
Den Zettel steckte sie ein, anschließend rief sie die Stellenangebote auf. Wie erwartet zeigte sich die Auswahl hier ziemlich begrenzt, was vor allem daran lag, dass sie keine vernünftige Ausbildung vorweisen konnte.
Das Sheraton-Hotel benötigte ein Zimmermädchen, aber da brauchte sie sich gar nicht erst zu bewerben. Dort nahm man sogar für diesen Job nur ausgewählte Mitarbeiter, außerdem musste man mindestens eine Fremdsprache sprechen. Das wusste sie noch von ihrer letzten Jobsuche.
Seufzend las sie weiter. Im Moment hätte sie jeden Job angenommen, doch sie fand lediglich Angebote, die ihrem Profil so gar nicht entsprachen.
Als sie am Ende der Einträge ankam, sah sie, dass das „Banks-of Shannon“ auch ein Zimmermädchen suchte. Das Hotel war ein solides Zwei-Sterne-Haus, sodass sie dort unter Umständen wirklich eine Chance bekam. Einen Versuch war es jedenfalls wert.
Eilig schrieb sie die Kontaktdaten auf, steckte den Zettel ein, anschließend verabschiedete sie sich von Miri.
Ihr Magen knurrte, also lief sie zum Chicken Cloud, einem Schnellrestaurant, wo sie sich einen Kebab holte.
Während sie aß, überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte. Wahrscheinlich war es besser, zuerst dafür zu sorgen, dass sie das Zimmer bekam, ehe es ihr jemand wegschnappte, und danach zum Hotel zu laufen.
Sie sah an sich herunter und beschloss, es bei dem Vermieter zu versuchen. Die Sachen, die sie trug, waren zwar alt, aber sauber.
Mit klopfendem Herzen ging sie die Dublin Road entlang, bis sie das Haus fand. Erst jetzt fiel ihr ein, dass der zuständige Ansprechpartner unter Umständen ganz woanders wohnte. Das war ziemlich blöd. Einfach anzurufen kam auch kaum infrage, da sie kein Geld für ein Handy besaß. Zur Not musste sie Miri bitten, sie telefonieren zu lassen, einen anderen Weg gab es nicht.
Als sie noch grübelnd auf das Gebäude starrte, kam eine junge Frau heraus.
„Hey, kann ich dir irgendwie helfen?“
Lana schluckte. Es fiel ihr schwer, mit Fremden zu sprechen. „Ja, ich suche ein Zimmer. Im Internet habe ich gesehen, dass hier etwas frei ist, aber ich habe keine Ahnung, wie ich an den Vermieter herankomme.“ Sie holte tief Luft. „Ich bin gerade erst angekommen. Blöderweise ist mir das Smartphone gestohlen worden.“ Sie lächelte ein wenig unbeholfen.
„Du hast Glück, Mr Hart ist da. Komm, ich bringe dich zu ihm.“ Freundlich deutete sie auf die Eingangstür.
„Das ist echt nett von dir.“ Lana folgte ihr ins Haus.
Sie liefen einen langen Flur entlang, bis ihre Begleiterin stehen blieb. „Das ist sein Büro. Normalerweise kommt er ein- oder zweimal im Monat her. Ansonsten sind wir unter uns.“ Sie lachte leise. „Jedenfalls solange wir es nicht zu bunt treiben.“ Nachdem sie angeklopft hatte, öffnete sie die Tür, um die Besucherin anzukündigen. „Er ist in Ordnung. Viel Glück.“
Ehe Belana sich versehen hatte, stand sie vor einem Schreibtisch und sah auf einen Mann, den sie auf Mitte fünfzig schätzte.
„Brenda hat mir gesagt, dass du ein Zimmer benötigst. Studierst du hier an der Universität?“ Braune Augen blickten sie gutmütig an, sodass sie sich zu einem Lächeln zwang.
„Nein, ich habe etwas Geld von meiner Mum geerbt und suche nach einem Job. Aber ohne Bleibe wird das schwierig.“ Sie hoffte, mit der Wahrheit weiterzukommen, als wenn sie sich eine Geschichte ausdachte.
Verstehend nickte der Mann, doch jetzt sah man ihm an, dass er misstrauisch wurde.
„Ich habe die Miete. Die Kaution ist auch kein Problem, ehrlich.“ Lana ließ den Rucksack von ihrem Rücken rutschen, drehte sich ein wenig von dem Vermieter weg, um die benötigte Summe herauszuholen. „Sollte ich in einer Woche keine Anstellung gefunden haben, ziehe ich eben wieder aus. Sie gehen kein Risiko ein.“ Mit den Worten legte sie vierhundertfünfundachtzig Euro auf den Tisch.
Mr Hart zögerte noch einen Moment, ehe er das Geld annahm. „Ich hoffe, dass es nicht geklaut ist.“
Sofort schüttelte Lana heftig den Kopf. „Nein, Ehrenwort. Es ist der Rest von dem, was meine Mum mir hinterlassen hat.“
Der Vermieter stellte ihr eine Quittung aus. „Du bekommst die Kaution zurück, sobald du ausgezogen bist. Allerdings werde ich eventuelle Schäden von der Mietkaution abziehen.“ Er seufzte leise. „Ich bin alt genug, um dich einzuschätzen. Ich gehe davon aus, dass du kein Konto besitzt, richtig?“
Verlegen nickte Belana. „Das stimmt, aber ich zahle die Miete pünktlich, versprochen. Ich kann einen Umschlag mit dem Betrag unter der Tür durchschieben.“
„Pass auf, Mädchen, ich stecke Menschen nur ungern in Schubladen, deshalb gebe ich dir den Vertrauensvorschuss. Enttäusch mich nicht.“ Endlich erschien ein Lächeln auf dem faltigen Gesicht.
„Das werde ich nicht. Ehrlich, ich will niemanden betrügen oder um sein Geld prellen.“ Lana holte tief Luft. „Ich möchte ein normales Leben. Arbeiten gehen, ein Dach über dem Kopf haben und solche Dinge eben.“
Dass sie sich damit verraten hatte, erkannte sie erst, als Mr Hart sie mitleidig musterte, doch er reichte ihr trotzdem zwei Schlüssel.
„Der Schlüssel mit der roten Kappe ist für die Eingangstür, der andere für dein Zimmer.“ Er stand auf, wartete, bis sie ihren Rucksack genommen hatte, ehe er sie zu ihrem neuen Zuhause brachte.
Mit zitternden Fingern schloss sie die Tür auf, anschließend ließ sie ihm höflich den Vortritt.
Mr Hart sah sich gründlich um, bevor er ihr freundlich zunickte. „Soweit ich es sehe, ist alles in Ordnung. Soll ich dir noch die Küche und das Gemeinschaftsbad zeigen?“
Belana erwiderte das Lächeln erleichtert. „Das wäre toll, vielen Dank.“
Kurz darauf saß sie auf ihrem Bett und atmete tief durch. Es war mehr als ein halbes Jahr her, seit sie ein eigenes Zimmer besessen hatte, sodass sie es im Moment kaum glauben konnte.
Die Gemeinschaftsräume waren zwar nicht auf dem modernsten Stand, aber für sie reichte es völlig aus.
Lana hoffte aus ganzem Herzen, dass jetzt für sie ein neuer Abschnitt begann. Vielleicht schaffte sie ja dieses Mal den Sprung in ein bürgerliches Leben.
Mit einem Lächeln schnappte sie sich ihren Rucksack, um zum Waschsalon zu gehen, doch den Entschluss verwarf sie wieder. Sollte sie erst ihre Wäsche waschen, würde es unter Umständen zu spät sein, um sich in dem Hotel zu bewerben. Deshalb kramte sie ihren Kulturbeutel hervor, richtete sich im Bad ansehnlich her, bevor sie sich auf den Weg zum „Banks-of-Shannon“ machte.

~~°~~

Einen Augenblick blieb sie vor dem Gebäude stehen. Ihr Magen zog sich vor Nervosität zusammen, was dieses Mal dem bevorstehenden Gespräch geschuldet war, nur gab es keinen Weg daran vorbei.
Belana holte tief Luft, sprach sich im Geiste selbst Mut zu, bevor sie die Lobby betrat. Mutiger, als sie sich fühlte, ging sie zur Rezeption, wo ein hochnäsiger Blick aus hellbraunen Augen sie traf.
„Kann ich etwas für dich tun?“ Der Mann musterte sie abfällig, was sie ärgerte. Ja, ihre Kleidung verriet, dass sie kaum Geld besaß, aber das war kein Grund, ihr das Gefühl zu geben, minderwertig zu sein.
„Ich komme wegen der Stellenanzeige.“ Fest sah sie ihm ins Gesicht. Von so einem Schnösel würde sie sich bestimmt nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Der Kerl lachte spöttisch. „Man hat vergessen, mir zu sagen, dass wir eine neue Klofrau suchen.“ Er betrachtete sie erneut. „Für viel mehr taugst du eh nicht. So etwas sehe ich sofort.“
Belana blieben die Worte im Hals stecken bei dieser Bösartigkeit, doch sie fing sich schnell wieder. „Bei so einem arroganten, dummen Kollegen wundert es mich kaum, dass die Stelle noch frei ist.“ Sie erwiderte seinen Blick, ohne zu zwinkern. „Wie wäre es, wenn du dich an deine Aufgaben erinnerst und den Chef herholst? Oder bist du zu dämlich dazu?“
Giftig sah er sie an. „Du blöde Bitch ...“ Hinter ihm ging eine Tür auf, sodass er augenblicklich verstummte.
Eine Frau Mitte dreißig erschien und blickte ihn fragend an. „Gibt es hier ein Problem, Odhran?“
Bei dem Namen musste Lana sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu lachen, denn es bedeutete kleiner Blassgrüner. Sehr passend, wie sie fand.
„Nein, Mrs Davenport, ich habe der Dame nur erklärt, dass sie für die ausgeschriebene Stelle ungeeignet ist.“ Man sah ihm deutlich an, dass er log, weshalb er auch vermied, seine Chefin anzusehen.
„So? Und seit wann bestimmst du, wen wir einstellen?“ Ihre Stimme bekam einen beißenden Klang. „Du solltest dich ganz schnell an deine Stellung erinnern.“ Mit einem warmen Lächeln wandte sie sich jetzt Belana zu. „Entschuldigen Sie bitte, Odhran ist noch nicht so lange bei uns. Lassen Sie uns in mein Büro gehen.“ Sie deutete auf eine Tür.
Lana nickte lächelnd, gleichzeitig verkniff sie sich, triumphierend auf den unmöglichen Angestellten zu sehen.
„Setzen Sie sich doch.“ Mrs Davenport setzte sich ebenfalls, anschließend musterte sie Belana neugierig.
„Ich habe Ihre Anzeige gesehen und möchte mich bewerben“, begann sie, dabei versuchte sie so viel Selbstbewusstsein auszustrahlen wie irgend möglich.
„Das freut mich, besonders in Anbetracht, dass dieser dumme Junge im Sinn hatte, Sie von Anfang an zu verscheuchen. Wie heißen Sie?“
Bei der Frage wäre Lana am liebsten im Boden versunken. Statt sich ordentlich vorzustellen, war sie mit der Tür ins Haus gefallen. Das würde ihre Chance, den Job zu bekommen, wahrscheinlich nicht erhöhen. „Es tut mir leid, ich bin wirklich unmöglich. Ich bin Belana Sheehan.“ Sie stand auf, um der Frau die Hand zu reichen.
Mrs Davenport erwiderte die Geste mit einem unbeteiligten Gesichtsausdruck, sodass sie fast die Hoffnung verlor, diese Stelle zu erhalten.
„Können Sie irgendwelche Erfahrungen im Hotelbereich aufweisen?“ Erneut traf sie ein freundlicher Blick.
„Ich habe mal vier Wochen als Kellnerin gearbeitet. Zählt das auch?“ Offen sah sie der Frau ins Gesicht. „Um ehrlich zu sein, habe ich nicht gedacht, dass ich Referenzen brauche, um die Gästezimmer zu putzen. Ich benötige dringend einen Job.“ Obwohl Einiges von der Entscheidung für sie abhing, wollte sie sich nicht verbiegen. Sollte sie hier keine Anstellung finden, gab es bestimmt eine Alternative in den nächsten Tagen. Zur Not würde sie den Parkplatz bewachen oder die Straße kehren.
„Mir gefällt, dass Sie kein Blatt vor den Mund nehmen.“ Mrs Davenport überlegte einen Augenblick. „Ich gebe Ihnen die Chance, sich bei uns zu bewähren. Allerdings vereinbaren wir eine Probezeit von vier Wochen.“
Belana fiel ein Stein vom Herzen, zumal sie mit dieser Entscheidung keineswegs gerechnet hätte. „Vielen Dank! Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich.“
Ihre neue Chefin lächelte ihr kühl zu. „Ich duze mein Personal. Ist das in Ordnung?“
Sofort nickte sie. „Ja, das ist okay.“
„Gut, dann wollen wir uns mal um den Papierkram kümmern, ehe ich dir das Hotel zeige. Deine Aufgabe ist es, die Zimmer sauber zu halten. Dafür sind die Vormittage da. Die Grundreinigung, nachdem die Gäste ausgezogen sind, findet am Nachmittag statt.“ Mrs Davenport zog einige Formulare aus einer Schublade, ehe sie Lana wieder ansah. „Kundenbeschwerden nehmen wir hier sehr ernst, deshalb erwarte ich, dass du ordentlich und schnell arbeitest.“
Belana nickte vorsichtig, da sie überhaupt keine Ahnung hatte, was genau sie erwartete. Selbstverständlich musste sie früher schon im Haushalt helfen, doch das war wohl kaum mit einer Anstellung als Zimmermädchen zu vergleichen.
„Du fängst morgen um acht Uhr an. Pansy wird dir alles zeigen und dich in der ersten Woche anlernen. Falls es ein Problem gibt, wende dich bitte sofort an mich.“
Sie erledigten den Papierkram, wobei Mrs Davenport sie natürlich nach ihrer Personal-Public-Service-Nummer fragte.
„Es tut mir leid, aber ich habe noch keine PPS.“ Belana wurde nervös, weil sie jetzt unter Umständen Farbe bekennen musste.
„Du bist sehr jung, da ist es nicht verwunderlich. Du solltest dir schnellstmöglich eine besorgen.“ Wieder sah die ältere Frau sie nachdenklich an. Es folgten Fragen bezüglich ihrer Adresse, dem Bankkonto und der Krankenversicherung.
„Bedauerlicherweise besitze ich auch kein Konto“, gab sie zögernd zu.
„Du hast auf der Straße gelebt, oder?“ Mitgefühl stand in den Augen ihrer künftigen Chefin.
„Ja, aber ich tue wirklich alles, um ein bürgerliches Leben zu führen.“ Bittend sah Lana sie an.
„Wie gesagt, ich gebe dir diese eine Chance. Den ersten Lohn zahle ich dir bar aus, danach möchte ich eine Bankverbindung haben. Außerdem bekommst du von mir natürlich eine Krankenversicherung. Dazu benötige ich eine Bestätigung deines Vermieters, dass du dort wohnst. Die wirst du mir innerhalb der kommenden Woche vorlegen, zusammen mit deiner PPS.“ Das Lächeln war verschwunden, sodass es Lana fröstelte. „Ich bin niemand, der einen anderen Menschen verurteilt, aber ich lasse mir genauso wenig auf der Nase herumtanzen.“
„Das werde ich nicht. Ich möchte einfach nur ein normales Leben führen.“ Belana zwang sich, dem Blick standzuhalten.
Endlich war auch dieser Teil erledigt und Mrs Davenport zeigte ihr ihren zukünftigen Arbeitsplatz, außerdem bekam sie die Arbeitskleidung, die in ihrem Fall aus zwei T-Shirts und einem Sweatshirt mit Logo des Hotels bestand.
„Wir sehen uns morgen früh, pünktlich um acht Uhr.“ Damit verabschiedete sich die Chefin von ihr.
Lana atmete vor der Tür erst einmal tief durch.
Es kam ihr vor, als ob sie die ganze Zeit die Luft angehalten hätte und erst jetzt wieder daran dachte, zu atmen. Ein breites Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie wahrhaftig einen Job gefunden hatte. Ab sofort würde es steil bergauf gehen, davon war sie überzeugt.
Mit einem Lied auf den Lippen lief sie zurück in ihre Unterkunft, holte ihren Rucksack, um sich auf den Weg in den Waschsalon zu machen.
Unterwegs sah sie sich nach Chrissi um, doch von dem Wiesel sah sie keine Spur, was Lana traurig machte. Sie hätte der Freundin zu gerne von ihrem Erfolg erzählt, außerdem wollte sie sie einladen, bei ihr zu wohnen. Das Bett war groß genug für sie beide, darüber hinaus konnten sie auch abwechselnd auf dem Boden schlafen, immerhin waren sie das ja gewohnt.
Ganz in ihren Zukunftsplänen versunken, rannte sie in Gregory hinein.
Hart packte der Kerl sie an den Schultern, sodass sie sich mit ihm abgeben musste.
„Lass mich sofort los!“ Ihre Stimme klang eisig, gleichzeitig durchbohrte sie ihn mit ihrem Blick.
Augenblicklich hob er die Hände in einer abwehrenden Geste. „Ich wollte nur verhindern, dass du dir wehtust.“ Ein schmieriges Grinsen verunzierte sein Gesicht.
„Ja, klar, wer es glaubt, wird selig. Was willst du von mir?“ Feindselig musterte Belana ihn. Sie hatte von Anfang an eine Abneigung gegen ihn gehabt, was nicht daran lag, dass er sich in eine Spinne verwandeln konnte.
„Du bist fast in mich hineingerannt, wenn ich das anmerken darf.“ Er betrachtete sie, dabei leckte er sich über die Lippen. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dir ein Zimmer gemietet hast. Wir sollten uns auf nette Art die Zeit vertreiben.“
Angewidert schüttelte Lana den Kopf. „Auf gar keinen Fall! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich kein Interesse an dir habe? Geh mir einfach aus dem Weg. Ich muss einige Dinge erledigen.“ Sie machte einen Schritt zur Seite, um ihn stehen zu lassen, doch er stellte sich wieder direkt vor sie.
„Ich denke, du überlegst dir mein Angebot einmal gründlich. Wir wären wirklich ein sensationelles Paar.“ Mit seinen langen, spinnenartigen Fingern strich er ihr über den Unterkiefer, woraufhin sie sofort zurückwich. „Keine Sorge, ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Sei dir gewiss, dass ich die geeigneten Mittel finde, um mein Ziel zu erreichen.“ Sein Ausdruck bekam etwas Bedrohliches, aber ehe Belana die passende Antwort gefunden hatte, kam auch Chrissi angelaufen.
„Hey, da bist du ja. Ich suche schon den ganzen Tag nach dir.“ Die Freundin umarmte sie stürmisch, sodass Gregory sich schnell zurückzog.
„Ich habe tolle Nachrichten. Komm, lass uns in den Waschsalon gehen, ich muss dringend waschen.“ Lana hakte sich bei ihr unter.
Auf dem Weg zum Salon erzählte sie, was sie den Tag über erreicht hatte, während ihre Vertraute stumm zuhörte.
„Heißt das, dass wir uns jetzt trennen?“ Traurig schaute Chrissi zu ihr auf.
„Nein! Das ist doch Blödsinn. Im Gegenteil, wir teilen uns das Zimmer einfach. Vielleicht hat das Hotel auch einen Job für dich.“ Euphorisch strahlte Lana sie an. „Wir kommen aus diesem Dreck raus, können ein normales Leben führen. Stell dir vor, Liebes, kein Bangen mehr, ob wir einen Platz für die Nacht finden, keine bösartigen Blicke von Passanten, stattdessen Sicherheit.“
Abfällig stieß Chrissi die Luft aus. „Ja, klar, ganz toll. Statt unsere Freiheit zu genießen, schuften wir uns für irgendeinen Bonzen ab, bis wir alt und runzelig sind.“
Nachsichtig sah Belana sie an. „So wird es nicht werden, das weißt du. Bitte, überleg dir, ob du wenigstens bei mir wohnen willst.“
Sie hatten den Waschsalon erreicht, wo Lana stehenblieb, um die Freundin anzusehen.
„Ich kann ja mal zur Probe bei dir schlafen“, schlug Chrissi halbherzig vor. „Aber heute Nacht muss ich mich um meine Barschaft kümmern. Wir sehen uns.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging.
Traurig sah Belana ihr hinterher. So hatte sie sich die ganze Aktion nicht vorgestellt, trotzdem wollte sie ihren Weg gehen.
Schnell betrat sie den Salon und kümmerte sich um ihre Wäsche, dabei fiel ihr siedend heiß ein, dass sie nicht mal eine Uhr geschweige denn einen Wecker besaß. Sie würde von ihrem restlichen Geld diese Anschaffung bestreiten müssen, was im Umkehrschluss hieß, dass sie sich zumindest in der nächsten Woche von Mäusen ernähren musste, um noch einen winzigen Notgroschen zu behalten.
Mit einem Schulterzucken schob sie die trüben Gedanken von sich. Es gab Schlimmeres.

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2021

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