Die Maschine landete pünktlich um vierzehn Uhr auf dem Flughafen Charles de Gaulle in Paris.
Viktoria stieg mit einem Gefühl aus, das sie selbst kaum beschreiben konnte. So lange hatte sie darauf gewartet, die Stadt der Liebe endlich kennenzulernen, und nun lagen drei tolle Wochen vor ihr.
Der Abschied zu Hause war dagegen weniger schön gewesen: Ihr Ex-Freund hatte ihr eine schreckliche Szene gemacht. Dabei drohte er ihr, dass sie es bereuen würde, diese Reise überhaupt angetreten zu haben.
Doch jetzt verbot sie sich, weiterhin daran zu denken. Kurz sah sie sich um, ehe sie das Schild mit der Aufschrift „Metro“ entdeckte. Hier in Paris war die U-Bahn das einfachste Mittel, um dorthin zu kommen, wo man hin wollte.
Gott sei Dank hatte sie ein „Paris Visite“-Ticket, mit dem sie bis nach Versailles fahren konnte. Außerdem durfte sie den Bus und die Seilbahn vom Montmartre mit der Fahrkarte benutzen.
Mit der Metro fuhr sie in die Nähe ihres Hotels, schleppte ihren Rollkoffer das kurze Stück, allerdings ging es ziemlich bergauf, sodass sie außer Atem war, als sie die Tür aufdrückte, ehe sie dem Portier zulächelte.
„Bonjour, ich bin ein wenig spät“, brachte sie zwischen zwei schweren Atemzügen hervor.
Der junge Mann lächelte zurück, eilte um den Tresen herum, um ihr mit dem Gepäck zu helfen.
„Ihnen auch einen guten Tag. Ich nehme an, dass Sie ein Zimmer reserviert haben?“, wollte er auf Deutsch wissen.
Schnell nickte Vicky, dabei unterdrückte sie ein erleichtertes Seufzen, denn ihr Französisch war ziemlich eingerostet. „Ja, ich habe gebucht. Viktoria König.“
Der Portier blätterte in einem großen Buch, dann nahm er einen Schlüssel, schnappte sich ihren Koffer und deutete auf eine Tür. „Darf ich Ihnen das Zimmer zeigen?“
Erfreut über den Service stimmte sie zu.
Kurz darauf stand sie in einem rustikalen, sauberen Einzelzimmer, wo sie ihre Sachen auspackte.
Für den ersten Tag hatte sie sich vorgenommen, ein wenig durch das Palais Royal zu spazieren, denn dort gab es einen wundervollen Park. Anschließend wollte sie in der Nähe auch zu Abend essen, um später durch die Altstadt, das Marais, zu bummeln.
Sie zog sich um, da es mittlerweile doch kälter geworden war, als sie gedacht hatte, dann ging sie runter zur Rezeption, um nach einer Straßenkarte zu fragen. Sie traute ihrem Handy nicht so ganz, zumal der Akku etwas schwächelte.
„Entschuldigung, könnten Sie mir noch einmal helfen?“ Ein wenig verlegen sprach sie den Portier an, dabei musste sie ein Lächeln unterdrücken. Er gefiel ihr, nicht nur, weil er freundlich war.
„Selbstverständlich, das ist mein Job. Was kann ich denn für Sie tun?“ Aufmerksam sah er sie an, wobei sich Grübchen auf seinen Wangen zeigten, wenn er lächelte.
„Ich brauche eine Karte von Paris, sonst befürchte ich, dass ich nie wieder herfinde.“
„Das wäre aber schade. Allerdings ist in der letzten Zeit niemand in unserer schönen Stadt verloren gegangen.“ Der ansehnliche junge Mann lachte mit ihr, gab ihr das Gewünschte, ehe er sich doch zu einer Frage hinreißen ließ.
„Sie wollen die Sehenswürdigkeiten ganz alleine besuchen?“, erkundigte er sich besorgt und Vicky nickte.
Natürlich zog sie alleine los, wer sollte sie auch begleiten? Noch kannte sie keinen in Paris.
„Ich kenne niemanden, der mit mir gehen könnte. Allerdings brenne ich darauf, mich hier umzusehen“, gab sie offen zu.
„Ich habe in einer Viertelstunde Feierabend, wenn Sie möchten, schließe ich mich Ihnen an“, bot der Portier ihr freundlich an.
„Ich würde mich sehr darüber freuen, aber ich kann doch Ihre Freizeit nicht einfach in Anspruch nehmen.“ Vorsichtig musterte sie den Mann, den sie auf knappe dreißig Jahre schätzte. Er war groß, muskulös und glich ein wenig einem Teddybären, was ihr durchaus gefiel. Dunkle Haare und ein sexy Lächeln rundeten das Bild ab.
Irgendwie hatte sie sich die Pariser anders vorgestellt, wobei es sich meistens um Klischees oder Vorurteile handelte.
„Ich bin überzeugt, dass ich in Ihrer Gesellschaft viel Spaß haben werde.“
Lachend schüttelte Vicky den Kopf. „Aber ich warne Sie, mein Französisch ist so schlecht, dass wir uns die ganze Zeit auf Deutsch unterhalten müssen.“ Wieder lächelte sie ihn verlegen an.
„Das ist doch gar kein Problem. Wir können ja voneinander lernen.“
„Was wollen Sie denn noch von mir lernen? Sie sprechen fast akzentfrei, was mich sehr beeindruckt.“
Mit einem zweideutigen Lächeln musterte der Mann sie, verkniff sich allerdings eine Antwort. „Also, wie sieht es aus? Soll ich Sie begleiten? Möchten Sie unsere wunderschöne Stadt durch meine Augen sehen? Erzählen Sie mir bitte, was Sie geplant haben.“ Ein charmantes Zwinkern machte ihr die Entscheidung ziemlich einfach.
„Gerne nehme ich Ihr Angebot an. Ich wollte zuerst zum Palais Royal.“
Er tippte sich an eine imaginäre Mütze, gleichzeitig nickte er zustimmend. „Eine gute Wahl für den Anfang, zumal wir dort auch essen können. Wir wollen ja nicht, dass Sie einen Kulturschock bekommen. Paris hat so viel zu bieten.“
In seiner Stimme klang die Begeisterung für seine Stadt mit, was ihr extrem sympathisch war. Es bedeutete bestimmt eine Bereicherung, wenn sie von einem Einheimischen begleitet wurde.
„Setzen Sie sich doch einen Moment, ich bringe Ihnen gleich einen Kaffee.“
Dieser Aufforderung kam sie gerne nach, so hatte sie noch ein paar Minuten Zeit, um den Mann zu beobachten, der ihr immer besser gefiel.
Vorsichtig stellte er Kaffee, Milch und Zucker vor sie hin, als er aus der Küche zurückkam, anschließend nahm er seinen Platz hinter dem Tresen wieder ein, wo er einige Papiere bearbeitete.
Nach einer Viertelstunde räumte er schnell die schmutzige Tasse zusammen mit dem Rest ab, kurz darauf sah er sie mit einem strahlenden Lächeln an.
„Ich bin unhöflich, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Entschuldigung. Mein Name ist Gilbert Henri de Rohan-Chabot.“
Lachend schüttelte Vicky den Kopf. „Natürlich und ich bin Anna von Österreich“, konterte sie vergnügt. „Wenn Sie wirklich ein Herzog von Rohan-Chabot sind, dann würden Sie wohl kaum hinter einem Empfangstresen stehen.“
Ein wenig verärgert sah sie ihn an, da er versucht hatte, sie auf den Arm zu nehmen.
Doch Gilbert erwiderte ihren Blick, dabei schmunzelte er breit. Es war nicht das erste Mal, dass man ihm eine Lüge unterstellte. „Ich arbeite hier, da meiner Familie dieses Hotel gehört. Nur weil man einen großen Namen hat, bedeutet es nicht, dass man alles geschenkt bekommt. Ich bin jedenfalls der Meinung, dass es mir guttut, in jedem Bereich Bescheid zu wissen.“
Vicky wurde augenblicklich rot, damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Im Gegenteil, sie hatte gedacht, er wollte sie auf den Arm nehmen.
„Entschuldigen Sie bitte. Eine meiner Spezialitäten ist es, in Fettnäpfchen zu treten. Ich bin auf einer dreiwöchigen Studienreise. Ich habe Kunstgeschichte studiert und da ist Paris ein Traum für mich. Außerdem meinte mein Vater, dass es gut wäre, wenn ich meine Französischkenntnisse aufbessere, bevor ich mich ernsthaft nach einem Job umsehe.“ Verlegen sah sie ihn an, denn für diesen Fauxpas schämte sie sich extrem.
Ehe Gilbert etwas sagen konnte, wurde er abgelöst, sodass er an seinen Posten hinter der Rezeption zurückmusste.
Kurz darauf stand er wieder vor ihr. „Madame, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Ich schlage vor, das Stück zum Palais Royal zu Fuß zurückzulegen. So sehen Sie auch direkt ein wenig von unserer bezaubernden Altstadt.“
Abwartend sah er sie an, dann reichte er ihr den Arm, als sie aufstand, während sie ihm zunickte.
„Einverstanden! Lassen Sie uns gehen, ich bin sehr neugierig.“
Galant half er ihr in ihren Mantel, den sie neben sich auf einen Stuhl gelegt hatte.
Gemeinsam schlenderten sie die paar Meter durch das Viertel, bis zu den ehemaligen Spielhallen. Heute fand man hier die Comédie-Française, ein Theater, das man zu den fünf Nationaltheatern zählte, außerdem beherbergte das Gebäude den Staats- und Verwaltungsrat. Daher konnte man es nur bedingt besichtigen, aber schon die Außenfassade mit ihren mächtigen Säulen, dem Säulengang zum Innenhof und natürlich auch den Garten des Palais waren eine Betrachtung wert.
„Kann man den Stuhl sehen, in dem Molière gestorben ist?“ Vicky sah ihren Begleiter neugierig an.
„Das ist eine erfundene Geschichte für die Touristen. Molière ist in seiner Wohnung verstorben, nicht hier in seinem Theater. Tut mir leid.“ Gilbert lächelte sie entschuldigend an.
Er hörte diese Erzählung immer wieder, obwohl kein Mensch wusste, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hatte.
„Aber das Kunstwerk im Innenhof ist speziell. Die Säulen von Buren, benannt nach dem Künstler. Ich bin gespannt, wie es Ihnen gefällt.“ Galant führte er sie durch den Säulengang in den Hof, wo er stehen blieb, dabei musste er sich das Lachen verkneifen, denn die künstlerische Kreation war ziemlich umstritten. Für ihn stellten es nur ein paar runde Steine in unterschiedlichen Größen dar.
„Das nennt man in Paris Kunst? Puh, ich bin besser still, sonst trete ich sofort ins nächste Fettnäpfchen.“ Viktoria sah auf die ungleichmäßigen Säulen, die teilweise in kleinen Brunnen endeten.
Die einzelnen Pfeiler hatte man schwarz-weiß gestrichen, allerdings erschloss sich für sie kein wirklicher Sinn in dem, was da vor ihr lag.
Jetzt lachte Gilbert laut auf. „Das fragen wir Pariser uns auch ab und zu. Die Säulen sind übrigens alle gleich groß, nur einige wurden tiefer im Boden versenkt, als andere. Eine Anspielung darauf, dass man oft nicht sieht, was im Geheimen steckt. Ob es ein Kunstwerk ist, darüber kann man streiten, aber die Absicht, den Menschen dazu zu bringen, hinter die Fassade zu schauen, ist ehrbar. Glauben Sie mir, im Louvre werden Sie eher auf Ihre Kosten kommen.“
Vicky lächelte ihn an, denn damit rechnete sie ganz fest.
„Gehen wir, der Park wird Sie mehr begeistern, als dieses Ding hier.“ Schnell führte er sie in den parkähnlichen Garten, der an den Seiten von zwei Arkaden aus Bäumen gesäumt war, sodass man unter einem grünen Dach lief.
Es gab einen kleinen Teich mit einem Pavillon, den Viktoria begeistert besichtigte.
Am anderen Ende beeindruckte ein Springbrunnen die Besucher, während der Mittelteil aus einer gepflegten Parkanlage bestand, dazu kamen einige Statuen, die den Eingang säumten.
„Das Palais wurde übrigens von Kardinal Richelieu erbaut. Der Architekt errichtete auch die Sorbonne. Bis zum Umzug nach Versailles wohnte die königliche Familie in diesem Haus“, bemerkte Gilbert nach ein paar Minuten.
„Dass die Angehörigen des Königs hier lebten, wusste ich. Allerdings war es mir unbekannt, dass der gleiche Baumeister die berühmte Universität gebaut hat. Vielleicht hätte ich mich besser vorbereiten sollen“, murmelte Vicky, die sich ein wenig dumm vorkam.
„Nicht doch. Man muss nicht über jedes Gebäude Bescheid wissen, das ist in Paris unmöglich.“ Gilbert tat alles, um ihr den späten Nachmittag zu versüßen.
Er übersetzte ihr einige Informationstafeln, als er bemerkte, dass es ihr schwerfiel, die Texte zu lesen.
Nach einer ganzen Weile bot er ihr an, sie ins Grand Véfour, das Restaurant des Palais Royal, zu bringen. Erfreut sagte sie zu, da sie keine Lust hatte, alleine zu essen. Überhaupt genoss sie seine Begleitung, nicht nur, weil er den perfekten Fremdenführer abgab, sondern auch, weil er ihr gefiel.
„Meinen Sie nicht, Monsieur de Rohan-Chabot, dass wir uns duzen sollten? So alt sind wir nun auch wieder nicht.“ Vorsichtig wagte sie diesen Vorschlag, da ihr das steife Benehmen ziemlich zuwider war.
„Sehr gerne, Viktoria, aber nur, wenn ich dich einladen darf.“
Sofort schüttelte sie den Kopf. „Auf gar keinen Fall, ich möchte dich für deine Arbeit als Fremdenführer zumindest ein wenig entlohnen, deshalb werde ich bezahlen. Du hast mir immerhin deinen freien Nachmittag geopfert.“
Amüsiert sah Gilbert sie an, dann ging er auf das kleine verbale Duell ein. „Im Gegenteil, du hast mir meinen Tag versüßt und ich hoffe, dass ich dich in den drei Wochen noch öfter begleiten darf. Also zahle ich.“ Charmant prostete er ihr mit seinem Weinglas zu, dabei ließ er keinen Zweifel daran, dass er in diesem Fall kaum nachgeben würde.
„Du bist hartnäckig. Um ehrlich zu sein, genieße ich deine Gegenwart sehr. Aber bitte, du musst dich nicht verpflichtet fühlen. Wenn du deine freien Stunden lieber anders verbringen möchtest, verstehe ich das.“ Eindringlich sah sie ihn an.
Sie wollte nicht, dass er sie aus Mitleid begleitete oder weil sie Gast in seinem Hotel war.
„Denkst du wirklich, ich hätte ein so großes Pflichtgefühl, dass ich mir sogar meine Freizeit mit unseren Übernachtungsgästen vertreibe? Ich versichere dir, dass ich dir Paris sehr gerne zeige. Und glaub mir, ich bin noch viel hartnäckiger, als du annimmst. Ich zahle.“
Lachend gab sie nach, besonders da sie keinen Streit vom Zaun brechen wollte.
Sie genossen ihr Essen fast schweigend, auch weil die Pastete hervorragend schmeckte.
„Du hast Kunstgeschichte studiert? Was willst du damit anfangen?“ Interessiert betrachtete Gilbert sie, als er einen Schluck von seinem Wein trank.
„Ich hatte als Nebenfach Pädagogik, sodass ich wohl zum Kunstlehrer mutieren werde. Wer weiß, vielleicht bekomme ich die Chance, in einem Museum arbeiten zu können. Museumspädagoge hört sich doch toll an, oder?“
Schmunzelnd stimmte er zu, dabei beobachtete er sie genau. Sie war eine junge Frau mit blonden halblangen Haaren, grünen Augen und einer Figur, die heutzutage kein Aufsehen erregte, aber früher den Herren den Kopf verdreht hätte. Nicht zu dick, allerdings genauso wenig zu dünn.
„Ich freue mich sehr darauf, den Louvre zu sehen. Ein bisschen traurig bin ich ja, dass er heute mehr Galerie als Zeitzeuge ist. Meine Freundin war schon einige Male dort. Sie hat mir erzählt, dass man von der einstigen Pracht unter König Ludwig XIV. kaum etwas sieht. Stimmt es, dass es ein paar Räume gibt, die wie zu der damaligen Zeit hergerichtet wurden?“
Gilbert nickte. „Ja, aber sie sind in einem der Gänge nebeneinander gereiht. Das eigentliche Hofleben kurz vor dem Umzug nach Versailles findet man heute nicht mehr im Louvre. Dafür kannst du im Château de Versailles sehr viel über den Hofstaat und seinen König erfahren.“
Viktoria sah ihn begeistert an. „Oh, ich freue mich auf das prachtvolle Schloss, allerdings ist der Louvre für mich genauso interessant. Kunst ist mein Steckenpferd. Wobei ich gerne einen Einblick in das höfische Leben gehabt hätte. Gerade der Sonnenkönig fasziniert mich. Keine Ahnung, warum.“ Ihre Augen glitzerten vor Vorfreude.
„Wer weiß, was du alles in dem alten Kasten erlebst. Ich kenne jemanden, der dort arbeitet, wenn du magst, führt er dich in die Ecken, die der normale Besucher nicht zu sehen bekommt.“
Jetzt sah Vicky ihn sprachlos an. „Das würdest du für mich tun? Ich meine, ich bin doch eine völlig Fremde für dich“, bemerkte sie nach einer kleinen Weile.
„Du gefällst mir, ma minette. Ich habe die Möglichkeiten, dir einen unvergesslichen Tag zu bescheren, wieso sollte ich es nicht tun?“
Darauf wusste Viktoria auch keine Antwort. „Dann sage ich gerne zu. Was genau kann dein Freund mir denn zeigen?“
Ernst schüttelte ihr Begleiter den Kopf. „Das ist eine Überraschung, aber du musst mir etwas versprechen.“ Abwartend sah er sie an, bis sie leicht nickte. „Du wirst auf ihn hören. Keine Diskussionen, keine Fragen. Tu einfach, was er sagt.“
Jetzt verzog Viktoria unwillig den Mund. „Blinder Gehorsam ist nicht so meine Stärke.“
Lachend nahm Gilbert ihr Kinn in die Hand, um ihr tief in die Augen zu sehen. „Ich weiß, mon ange. Aber in dem Fall ist es wichtig. Ich möchte verhindern, dass Guillaume Ärger bekommt. Er riskiert immerhin seinen Job.“
Bei dem Argument wurde sie rot, denn die Tatsache hatte sie völlig vergessen. „Es tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht. Natürlich höre ich auf ihn.“
Zufrieden ließ er ihr Kinn los, allerdings fuhr er vorher zart mit dem Daumen über ihre Unterlippe.
Gilbert zahlte, anschließend führte er sie zu den Tuilerien.
„Kommst du morgen mit? Ich würde mich freuen, die versteckten Ecken mit dir zusammen zu erkunden.“ Als sie die Frage ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, wie zweideutig er das aufnehmen könnte.
„Mein Gott, das habe ich jetzt nicht gesagt, oder? Bitte, du weißt hoffentlich, dass ich keinesfalls sagen wollte, dass ich ...“, verlegen brach sie ab, denn alles, was sie noch hervorbrachte, klang irgendwie nach Ablehnung.
„Was hast du gemeint, ma petite?“ Amüsiert sah Gilbert sie an und sie erkannte in seinem Blick, dass er sie keineswegs aus der Situation entlassen würde.
„Du bist nicht gerade charmant, Gilbert! Ich versuche elegant aus einem Fauxpas herauszukommen, aber du bestehst auf einer Antwort.“ Sie milderte ihren Tadel mit einem leisen Lachen, in das er einstimmte.
„Ganz recht, ich möchte gerne Klarheit. Du lehnst also eine intime Beziehung mit mir ab? War es das, was du versucht hast, mir mitzuteilen?“
Seine Offenheit verschlug ihr die Sprache.
„Ich wollte dir nicht suggerieren, dass ich mit dir in den Louvre gehen will, um die dunklen, einsamen Ecken auszunutzen, das ist richtig. Wir kennen uns doch erst so kurze Zeit.“ Sie betrachtete ihn, um festzustellen, dass sie ein erotisches Abenteuer gerne trotz ihrer Worte erlebt hätte.
„Das beantwortet meine Frage wohl kaum. Allerdings gebe ich dir recht darin, dass wir uns zu wenig kennen. Leider muss ich morgen arbeiten, sodass ich dich nicht begleiten kann.“
Erleichtert über den Themenwechsel nickte sie, obwohl sich Enttäuschung in ihr breitmachte. Wahrscheinlich hatte sie ihn jetzt so vor den Kopf gestoßen, dass er sich in den restlichen Tagen von ihr fernhielt.
Viktoria fiel es schwer ihre Mimik unter Kontrolle zu halten, was auch Gilbert bemerkte.
Sanft strich er über ihre Wange. „Nicht traurig sein, ich verspreche dir, du wirst mich morgen bestimmt noch treffen. Verzeih mir meine impertinente Frage. Wir werden sehen, was passiert.“
Seine Stimme klang fast gleichgültig, sodass sie sich von ihm wegdrehte, doch er packte sie am Arm. „Ich genieße es, mit dir die Zeit zu verbringen. Du bist eine schöne Frau, die mir direkt aufgefallen ist. Außerdem ziehst du mich an, wie eine Motte das Licht.“
Viktoria seufzte. „Tut mir leid, aber mein Selbstbewusstsein ist nicht so groß. Ich dachte, ich hätte dich verjagt, weil ich so ablehnend reagiert habe. Allerdings kennen wir uns ja noch nicht mal einen Tag.“
Jetzt lachte Gilbert leise. „Das lässt sich ändern.“
Mit einer schnellen Bewegung zog er sie an sich, legte eine Hand an ihren Hinterkopf und küsste sie.
Seine Lippen streiften ihre, während seine Finger den Haaransatz kraulten. Vorsichtig drang er mit der Zunge in ihren Mund ein, kostete sie, eroberte sie.
Viktoria war von dieser Attacke völlig überrumpelt, sodass sie sich sofort in dem Kuss verlor. Es fühlte sich so gut an.
Bedauernd ließ er von ihr ab, sah ihr tief in die Augen, ehe er lächelte. „Noch Fragen, ma petite?“
Mit einem leichten Grinsen schüttelte sie den Kopf. „Seid ihr Pariser immer so schnell?“
Die Geste konnte sie kaum einordnen. Auf der einen Seite dachte sie an ihren Ruf, auf der anderen Seite hoffte sie, dass das hier mehr als nur ein Urlaubsflirt werden würde.
„Nein. Normalerweise nicht. Du hast mich in dem Moment bezaubert, in dem du das Hotel betreten hast.“ Er legte einen Arm um ihre Taille, zog sie dichter an sich, so führte er sie durch die Tuilerien.
Obwohl es langsam dämmerte, war der Park mit Menschen regelrecht überfüllt. Zu Viktorias Bedauern gab es keinen ruhigen Ort, an dem sie ein wenig Zweisamkeit mit Gilbert hätte genießen können.
„Ist es hier immer so voll?“ In ihrer Stimme schwang ihr Missmut mit.
„Ja, ist es. Eine Touristenattraktion eben. Wobei es im Moment verhältnismäßig leer ist. Du solltest mal im Frühling herkommen.“
Entsetzt blickte sie sich um, dabei war sie kaum in der Lage, sich vorzustellen, dass sich in diesem Park noch mehr Leute tummelten.
„Glaub es mir ruhig. Jetzt im Winter sind die meisten Touristen abgereist, die Zeit der Modenschauen ist vorbei und die Menschen verbringen ihre Freizeit weniger auf den öffentlichen Grünflächen. Leider ist auch die Blütenpracht nicht so beeindruckend.“
Das sah man, obwohl die Tuilerien trotzdem zum Spazierengehen einluden.
„Allerdings hat die Parkanlage zu jeder Jahreszeit ein ganz besonderes Flair. Ich mag es, wenn es gefroren hat und die Bäume aussehen, als ob sie mit Puderzucker bestäubt wären.“ Viktoria lächelte Gilbert an, als sie auf die Bäume deutete, die den Weg regelrecht eingrenzten.
„Heute hast du Glück, denn es ist wirklich mal kalt. Normalerweise haben wir hier nur sehr selten Minusgrade und noch seltener Schnee.“ Gilbert lächelte sie an, während er sie eng an sich zog.
Langsam schlenderten sie den Hauptweg, die Allée Centrale, entlang bis zum Grand Bassin Rond, einem künstlich angelegten Teich.
„Am liebsten würde ich mir alles sofort ansehen. Ich hab schon lange davon geträumt, Paris kennenzulernen. Nicht nur wegen der Kunstwerke und deren Geschichte, die überall in der Stadt präsent sind.“ Viktoria strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte.
Sie ließen sich Zeit, bogen auch ab und zu in die Seitenwege ein, um sich eine Statue oder einen hübsch hergerichteten Platz anzusehen, bis sie am Obelisken von Luxor ankamen.
„Der Monolith wurde von Ramses II. in Auftrag gegeben. Er zierte ursprünglich, zusammen mit seinem Pendant, den Eingang zum Tempel von Luxor.“ Viktoria deutete auf den Steinpfeiler, dabei strahlten ihre Augen, hier war sie in ihrem Element. „Es war ein Geschenk von Ali Pascha an euren Souverän Louis Philippe. Der Transport hat drei Jahre gedauert.“
Zustimmend nickte Gilbert. „Da hat aber jemand seine Hausaufgaben gemacht.“
Vicky senkte ein wenig den Kopf, dann lachte sie ihn wieder an. „Darüber gibt es genug Informationen im Gegensatz zu dem Todesort von Molière.“
Dem stimmte ihr Begleiter zu, denn viele Touristen fielen genau auf diese Fehlinformation herein, die unter anderem von den Fremdenführern verbreitet wurde.
„Lass uns zurückgehen, es wird Zeit.“
Gerne ließ Viktoria sich zum Hotel führen, da sie langsam müde wurde. Ihr Tag hatte nicht nur bescheiden, sondern auch sehr früh angefangen.
Galant brachte Gilbert sie bis zu ihrem Zimmer.
Mit einem sinnlichen Lächeln stützte er seine Hände an die Tür, sodass sie zwischen seinen Armen gefangen war. Einen Moment sah er ihr tief in die Augen, bis er den Kopf senkte, um sie liebevoll zu küssen.
Genüsslich schloss Vicky die Lider, gab sich völlig seiner Zärtlichkeit hin.
Ein wenig atemlos ließ er von ihr ab.
„Ich wünsche dir eine traumhafte Nacht. Wir sehen uns zum Frühstück, dann werde ich dir sagen, wie du aus deinem Besuch im Louvre etwas ganz Besonderes machen kannst.“ Mit dieser seltsamen Ansage drehte er sich um und verschwand.
Verwirrt sah Viktoria ihm hinterher. So hatte sie sich den Abend keineswegs vorgestellt, allerdings stellte sie erstaunt fest, dass es bereits nach Mitternacht war, als sie in ihrem Zimmer auf die Uhr blickte.
Müde streifte sie ihre Kleider ab, zog sich ein Sleepshirt über und kuschelte sich unter die Decke.
Mit einem Lächeln auf den Lippen und dem Gesicht von Gilbert vor Augen, schlief sie ein.
~~°~~
Gilbert Henri, Marquis de Rohan-Chabot ging mit einem Schmunzeln in sein Zimmer.
Viktoria stellte sogar die maîtresse en titre Athénaïs de Montespan in den Schatten, außerdem ließ sie sein Herz höherschlagen.
Schnell holte er sein Handy hervor, um die Nummer seines Freundes herauszusuchen.
Guillaume, Marquis de Feuquières war schon lange mit ihm befreundet, sodass er ihm gerne einen Gefallen tun würde.
„Guten Abend, Rohan-Chabot, leidest du an Schlaflosigkeit oder warum störst du so spät noch?“ Die Stimme von Guillaume klang so, als ob er ihn gerade aufgeweckt hätte.
„Normalerweise gehst du nicht so früh ins Bett, Feuquières. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber es ist wichtig.“ Ein Brummen erklang, was Gilbert zum Lachen brachte.
„Ich möchte, dass du eine besondere Dame morgen mit durch das Tor nimmst. Sie brennt darauf, den Louvre zu besichtigen, allerdings habe ich ihr versprochen, dass du ihr die Ecken zeigst, die sonst nie ein Besucher zu sehen bekommt.“ Er konnte sich genau vorstellen, wie sein Freund in dem Augenblick die Augen verdrehte.
„Im Ernst? Du riskierst, dass wir alle auffliegen, um einer Frau zu imponieren?“
Mit einem lauten Auflachen stoppte Gilbert ihn. „Nein, nicht irgendeiner Frau, sondern dem bezauberndsten Geschöpf, dem ich je begegnet bin. Sie ist schöner als die Montespan, hat mehr Herz als die la Vallière und ist auch noch gebildet. Bitte, zeig ihr unsere Zeit, aber pass auf, dass Louis sie nicht entdeckt. Der Appetit des Monarchen ist unersättlich.“
Erneut erklang ein unwilliges Brummen. „Wie stellst du dir das vor? Spätestens, wenn wir in den großen Salon kommen, wird sie entdecken, dass sie ...“
„Lenk sie ab. Glaub mir, sie ist es einfach wert“, unterbrach Gilbert ihn.
„Du musst es ja wissen. Schick sie zur Colonnade de Perrault, dort, wo sie in den Cour Carrée kommt. Ich werde um elf Uhr auf sie warten. Wie erkenne ich sie?“
Gilbert unterdrückte schnell seine Verärgerung, da sein Freund ihn offensichtlich für dumm hielt. „Ich weiß, was die Colonnade de Perrault ist“, knurrte er.
Guillaume murmelte etwas, ehe er erneut nach einer Beschreibung der Person verlangte.
„Viktoria hat blondes Haar wie ein Engel. Sie ist ungefähr einen Meter siebzig groß, Kurven an den richtigen Stellen, grüne Augen.“
Ein Seufzen aus dem Hörer unterbrach ihn. „Das trifft auf mindestens tausend Frauen zu. Gib ihr ein Erkennungszeichen mit. Ich habe keine Lust, die Falsche anzusprechen.“
Einen Augenblick überlegte Gilbert. „Sie wird eine rote Rose in der Hand halten. Pass gut auf sie auf.“
Die Freunde verabschiedeten sich und Gilbert ging mit einem Lächeln ins Bett.
Das nannte man dann wohl Liebe auf den ersten Blick, denn so sehr hatte ihn noch nie eine Frau aus der Bahn geworfen.
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Tag der Veröffentlichung: 28.01.2021
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