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Kapitel 1 - Entscheidungen

„Was hältst du davon, wenn wir am Samstag zusammen zu der Party ins Orange gehen?“

Jasmin ließ die Frage beiläufig klingen, während sie ihre Freundin Paula über den Rand ihres Latte-macchiato-Glases ansah.
Paula lächelte mühsam.
„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre“, murmelte sie.
Die beiden Freundinnen saßen in ihrem Lieblingscafé, dem Kaffeehaus Maldaner, in Wiesbaden.
Einmal in der Woche gönnten sie sich dort eine kleine Auszeit, genossen den herrlichen Kuchen und tauschten sich aus.
Leise seufzend stellte Jasmin ihr Glas ab.
„Ich mache mir Sorgen um dich, Paula. Markus ist jetzt seit über sieben Jahren tot. Willst du wirklich für den Rest deines Lebens alleine bleiben?“
Über die Frage musste Paula nicht lange nachdenken.
„Nein, von Wollen kann keine Rede sein. Aber ich schaffe es nicht, auf eine Playparty zu gehen. Markus war mein Herr. Schon der Gedanke, dass jemand anderes mich beherrscht, kommt mir wie ein Fehler vor. Außerdem sind auf den Partys überwiegend Paare, wie du weißt.“
Zerknirscht nickte Jasmin, denn auch sie würde mit ihrem Lebensgefährten hingehen.
„Und wie wäre es, wenn du dir einen netten normalen Mann suchst? Es muss ja kein Dom sein.“
Jetzt lachte Paula leise auf.
„Du glaubst immer noch, dass man seine Neigung einfach so abstreifen kann?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das fühlt sich für mich genauso falsch an.“
Sie aß ein Stück ihrer Mokkatorte, während sie darüber nachdachte.
„Weißt du, im Moment habe ich das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören. Es ist ja nicht so, dass ich mein Leben aufgebe, weil mein Partner verstorben ist. Aber ich ...“
Sie brach ab, woraufhin Jasmin sie fragend ansah.
„Was ist los mit dir?“
Mit einem Seufzen zuckte Paula mit den Schultern.
„Mir geht hier alles auf die Nerven. Es fühlt sich an, als ob alles zu viel würde. Die Arbeit erdrückt mich, die Leute in den Social Media finde ich langsam unerträglich und zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf.“
Sie überlegte erneut, wie sie ihr Gefühlsleben beschreiben könnte.
„Irgendwie bin ich ziellos. Etwas, das ich von mir nicht kenne.“
Verstehend nickte ihre Freundin.
„Deshalb sieht man dich kaum noch in den einschlägigen Foren? Ich dachte, dass du die Hoffnung endgültig aufgegeben hast, jemanden für dich zu finden.“
Paula trank einen Schluck Kaffee, ehe sie antwortete.
„Nein, ganz im Gegenteil. Wie du schon gesagt hast, Markus ist seit mehr als sieben Jahren tot. Ja, ich vermisse ihn enorm und es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, dass er bei mir wäre. Aber er hätte niemals gewollt, dass ich mich vom Leben zurückziehe. Das ist es nicht.“
Gerade in den letzten Wochen hatte sich das Gefühl, von allen getrennt zu sein, extrem verstärkt.
„Es ist verdammt schwer zu erklären, was mit mir los ist. Ziellos trifft es nur halb. Ich komme mir vor wie ein Alien unter Menschen und gleichzeitig sehne ich mich nach Ruhe. Oft möchte ich nur alleine gelassen werden, woraufhin ich mich dann natürlich einsam fühle. Total irre.“
Jasmin nickte leicht, zumal sie jetzt auch keinen Rat wusste.
„Vielleicht doch die Party?“
Sofort hob Paula abwehrend die Hand.
„Auf gar keinen Fall. Die Leute dort würden mir noch mehr auf die Nerven gehen. Außerdem tut es mir ganz bestimmt nicht gut, wenn ich mir die glücklichen Paare ansehen darf.“
Die Frauen widmeten sich dem Kuchen auf ihren Tellern, sodass Stille einkehrte.
„Was macht die Arbeit? Ist dein Chef immer noch so biestig?“
Paula wusste, dass Jasmins Vorgesetzter ein Choleriker war, wie er im Buche stand.
Sie hatte die Freundin oft genug getröstet, wenn der Mistkerl sie wieder einmal ungerechtfertigt zusammengestaucht hatte.
„Ja, allerdings hat er jetzt ein neues Opfer. Wir haben eine Auszubildende bekommen, die Blitzableiter spielen darf. Der Kerl ist echt zum Abgewöhnen.“
Jasmin seufzte, als sie an ihren Job als Industriekauffrau erinnert wurde. Sie leitete die Einkaufsabteilung in einer großen Baufirma in Wiesbaden.
„Wieso kommen solche Leute eigentlich immer nach oben? Mein Chef ist zwar beherrschter, aber genauso ein Idiot.“
Paula grinste leicht, als sie an ihren Vorgesetzten dachte.
Sie arbeitete ebenfalls in der Kurstadt, allerdings hatte sie einen Job als Bibliothekarin. Bücher liebte sie über alles, daher war es für sie mehr Berufung als Beruf.
„Wahrscheinlich, weil sie lauter schreien als die anderen.“
Die Freundinnen lachten, anschließend beendeten sie ihr Kaffeekränzchen.
„Hast du noch Zeit für einen Stadtbummel?“
Hoffnungsvoll sah Jasmin jetzt auf Paula. Sie kannten sich seit dem Kindergarten und brauchten normalerweise keine Worte, um sich zu verstehen.
„Klar, es ist doch Wochenende. Ich muss nur am letzten Samstag im Monat arbeiten.“
Sie zahlten, anschließend hakte sich Paula bei ihr unter, so schlenderten sie die durch die Altstadt, wobei sie sich die Schaufenster ansahen.
Obwohl es bereits Anfang November war, schien die Sonne und die Temperaturen fühlten sich eher nach Frühling statt nach Winter an.
Sie gingen bis zum Trinkbrunnen, machten einen kleinen Bogen um das Kurhaus, bewunderten wie so oft die Marktkirche, ehe sie über den Marktplatz liefen, wo Paula eine handgefertigte Kerze erstand.
„Wie viele von den Dingern hast du jetzt?“
Jasmin lachte leise, während ihre Begleitung leicht mit den Schultern zuckte.
„Ich mag Kerzen, im Gegensatz zu Schnittblumen.“
Sie machte eine abweisende Geste.
„Lebewesen beim Sterben zusehen ist nicht so meins“, dabei deutete sie auf die Stände mit Blumensträußen.
Ihre Freundin nickte, in dem Punkt waren sie sich einig.
Sie kamen an einer Buchhandlung vorbei. Hier blieb Paula wie angewurzelt stehen.
„Was ist los? Hast du Sehnsucht nach deiner Arbeit? Oder willst du mir ernsthaft erzählen, dass es noch Bücher gibt, die du nicht kennst?“
Lachend wollte Jasmin sie weiterziehen, doch Paula schüttelte nur den Kopf.
„Warte, ich bin gleich wieder da.“
Im selben Augenblick war sie in dem Geschäft verschwunden, während Jasmin ihr nur erstaunt nachsah.
Mit einem Seufzen lief sie hinter ihr her, um festzustellen, dass ihre Freundin wegen eines Reiseführers hineingegangen war.
Mit glänzenden Augen hielt sie das kleine Büchlein hoch.
„Ich glaube, ich habe die Lösung für mein Problem gefunden.“
Jetzt konnte die andere Frau ihr überhaupt nicht mehr folgen.
„Ich denke, du fühlst dich einsam? Ein Alien unter Menschen?“
Unwillig schüttelte Paula den Kopf.
„Ja, aber das ist es nicht nur. Ich brauche einfach mal eine Auszeit, um zu überlegen, was ich mit meinem Leben anfangen möchte. Mich neu fokussieren, ohne die ständige Ablenkung. Was wäre da besser als ein Wanderurlaub in Irland?“
Forschend sah Jasmin sie an, ob es sich vielleicht um einen Scherz handelte, allerdings schien es ihr Ernst zu sein.
„Du willst ganz alleine nach Irland, um da durch die Gegend zu laufen? Kannst du das nicht bei dir? Du wohnst doch in so einem gottverlassenen kleinen Kaff.“
Paula lachte hell auf.
In dem Punkt waren sie völlig unterschiedlich. Während die Freundin die Stadt mochte und auch dort wohnte, liebte sie das Land. Von ihrem Wohnzimmer aus konnte sie bis zum Wald sehen, ein Anblick, den sie niemals gegen die Vorteile einer Stadtwohnung eintauschen würde.
„Nein, ich muss einfach mal raus!“
Paula kaufte das Buch, bedankte sich und verließ mit einer verwirrten Jasmin den Laden.
„Ich nehme mir eine Auszeit, um herauszufinden, was ich will. Neue Ziele festlegen, aber auch mal etwas anderes erleben. Ich habe noch meinen gesamten Jahresurlaub. Mein Chef hat mir schon gesagt, dass er mich in Zwangsurlaub schicken wird.“
Gut gelaunt hakte sie sich bei ihrer Freundin unter, während sie beschlossen, dem Kurpark einen Besuch abzustatten.
Es war nur ein kurzes Stück, bis sie erneut am Bowling Green, der historischen Rasenfläche mit den Springbrunnen vor dem Kurhaus, ankamen.
Die Brunnen hatte man bei dem wunderschönen Wetter angeschaltet, sodass das Wasser silbern über die Absätze plätscherte.
„Letztens habe ich ein Buch gelesen, da kam die Anlage auch drin vor. Eine höchst romantische Szene hier am Kaskadenbrunnen“, bemerkte Paula plötzlich.
„Du liest Liebesromane? Ich dachte, du magst Tolstoi?“
Neckend stieß Jasmin sie an.
„Es war ein Mix aus Fantasy, Erotik und Romance. Und ja, ich lese so was. Wieso nicht? Hey, der Vampir war dominant-sadistisch.“
Sie lachte mit der Freundin, während sie ihr einen kleinen Einblick in das Buch gab.
„Hört sich interessant an. Das ist bestimmt auch was für mich.“
Mittlerweile hatten die beiden das Staatstheater passiert. Sie gingen gerade am Kurhaus entlang, das sie mit seinem prächtigen Portikus beeindruckte, obwohl sie das Haus bestens kannten.
Neben dem Gebäude gab es ein Tor und ein Torhäuschen, in dem früher jemand gesessen hatte, um Eintritt zu verlangen, aber das war schon etliche Jahre her. Jetzt diente es nur noch, um Werbung für die Veranstaltungen in den anliegenden Bauwerken zu machen.
Sie passierten das Häuschen, sodass sie nach ein paar Schritten am Nizzaplätzchen ankamen, wo sie die Büste von Dostojewski betrachteten.
„Keine Ahnung, warum der Knilch hier steht, immerhin hat er seine Zeche geprellt“, bemerkte Jasmin etwas respektlos.
„Vielleicht, weil er mittlerweile berühmt ist? Jemandem mit so einem Namen verzeiht man, wenn er sein Geld verspielt, ehe er, ohne zu zahlen, abhaut.“
Ein Stück weiter standen zwei Säulen vom alten Portikus, der dem neuen Kurhaus weichen musste, da das Gebäude schlichtweg zu klein geworden war. Allerdings lag das schon mehr als hundert Jahre zurück.
Langsam wanderten sie um den Weiher herum, der direkt hinter dem Bauwerk lag.
„Du willst wirklich nach Irland?“
Jasmin nahm das Gespräch wieder auf, zumal sie die Sinneswandlung ihrer Freundin so gar nicht verstand.
„Ich werde mir erst mal ein paar Informationen holen, aber ich denke, dass es eine gute Idee ist. Soweit ich weiß, schneit es auf der Grünen Insel weniger, also steht einem Wanderurlaub nichts im Weg, oder?“
Weil ihr ein Gegenargument fehlte, blieb Jasmin stumm, während sie langsam um den kleinen See schlenderten.

~~°~~

„Suchst du was?“
Brendon Baelfire O´Brien stand im Eingang zu seinem Wohnzimmer. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und eine Falte auf seiner Stirn zeigte deutlich, dass man ihn lieber nicht reizen sollte.
Ralf Ost, der sich bereits seit einem guten halben Jahr bei ihm durchschnorrte, richtete sich mit einem Lächeln auf.
Verlegen schloss er die Schranktür, ehe er einen Schritt auf ihn zuging.
„Ich dachte, du hättest irgendwo Briefpapier. Es macht viel mehr Eindruck bei einem Verlag, das Anschreiben handschriftlich zu verfassen. Dafür würde ich gerne besseres Papier benutzen, als das Druckerpapier.“
Die Lüge stand förmlich im Raum, sodass Brendon leise knurrte.
„Wie wäre es, wenn du dir einen Job suchst? Mit dem Bestseller dauert es wohl noch eine Weile.“
Die Ironie klang deutlich aus seiner Stimme.
„Ich dachte, du glaubst an mich? Immerhin habe ich dir das Leben gerettet.“
Das war der einzige Grund, warum Brendon diesen Schmarotzer überhaupt in seiner Nähe duldete.
„Ich weiß, ich war dabei. Das ist jetzt mehr als hundert Jahre her und ich musste dir so oft Obdach geben, dass wir langsam quitt sind. Findest du nicht auch? Außerdem hat das nichts mit deiner schriftstellerischen Fähigkeit zu tun. Mal ehrlich, Ralf, bei deinen Geschichten handelt es sich um bessere Wichsvorlagen.“
Gekränkt zuckte der Mann zusammen und wollte den Raum verlassen, aber Brendon verstellte ihm den Weg.
„Ich meine es ernst. Du hast mir versprochen, dass du entweder Miete zahlst oder auf der Farm mit anpackst. Stattdessen erwische ich dich, wie du meine Schränke durchwühlst.“
Wut klang in seiner Stimme mit.
Abwehrend hob Ralf beide Hände.
„Ich habe wirklich nur vernünftiges Papier gesucht, um einen Brief an einen Verlag zu schreiben.“
Mürrisch ging Brendon in sein Büro, das er abgeschlossen hielt, seit Ralf bei ihm eingezogen war, und holte Briefpapier zusammen mit den passenden Umschlägen.
„Das sollte für einige Bewerbungen reichen. Jetzt wäre es sehr freundlich von dir, wenn du endlich deinen Arsch hochhebst, um beim Füttern zu helfen.“
Er deutete mit dem Kopf eine Bewegung an, woraufhin der ungebetene Gast sich langsam erhob.
„Nur weil ich mich in ein Hausschwein verwandeln kann, musst du nicht denken, dass ich Ställe liebe“, murmelte er, doch traute er sich nicht, Brendons Befehl zu ignorieren.
„Schweine sind sehr intelligente Tiere. Darüber hinaus sind sie extrem lernfähig und sozial. Welche von deinen tierischen Eigenschaften benutzt du eigentlich, sobald du dich als Mensch zeigst?“
Die Männer wussten selbstverständlich, dass es eine magische Welt gab, da es sich bei beiden um Gestaltwandler handelte. Aber während Brendon sich in einen Bären verwandeln konnte, wurde aus Ralf ein gewöhnliches Hausschwein. Immer wenn er seinem Drang nachgab, sein inneres Tier freizulassen, musste er aufpassen, dass ihn absolut niemand sah, sonst landete er unter Umständen noch im Schlachthaus.
Leider verlangte es ihre Natur, dass sie ab und an die Gestalt wechselten.
Gemeinsam gingen sie zum Stall rüber, um die Schafe zu füttern, anschließend sollten sie ausmisten.
Jetzt im November war die gesamte Herde beim Haus, damit Brendon sie notfalls schnell reinholen konnte. In den Sommermonaten ließ er sie auch gerne mal auf verschiedene Weiden, die ziemlich einsam gelegen waren.
Hier in Irland brauchte er keine Angst vor Wölfen zu haben, die seinen Tieren gefährlich wurden.
Die einzigen Wölfe in der Gegend kannte er recht gut, denn es handelte sich um Werwölfe, die als Wächter der magischen Gemeinschaft in Ballygannon lebten. Diese Truppe sorgte für Ordnung in den eigenen Reihen.
Sobald ein paranormales Wesen gegen die Gesetze verstieß, schickte man sie los, um den Verbrecher einzufangen.
Brendon wusste es deshalb so genau, weil einer davon sein Cousin mütterlicherseits war.
„Soll ich etwa alles alleine machen? Oder kommt der Herr Landwirt auch noch zur Arbeit?“
Ralf riss ihn aus seinen Überlegungen, sodass er genervt die Augen verdrehte.
Wieso warf er diesen elenden Schmarotzer nicht endlich raus? Die Antwort konnte er sich leicht selbst geben: Er war zu gutmütig.
Die Vorstellung, dass sein ungebetener Gast am Ende doch im Schlachthaus landete, sorgte dafür, dass er ihn weiterhin bei sich wohnen ließ.
Allerdings nahm er sich fest vor, andere Saiten aufzuziehen. Ab sofort würde Ralf seinen Teil leisten!
Schnell ging er zu einem Rundballen Heu rüber und gemeinsam fütterten sie die Schafe.
„Wieso ausgerechnet Schafe? Du könntest auch Pferde züchten. Das sind edle Tiere.“
Ralf rümpfte die Nase, als sie kurz darauf den geräumigen Stall ausmisteten.
„Findest du nicht, dass ein Lebewesen genauso viel wert ist wie das andere? Ich mag die kleinen Wollknäule, außerdem liefern sie uns Wolle. Die Touristen sind ganz heiß auf einen echten irischen Schafswollpullover.“
Bei der Antwort verdrehte sein Gast die Augen.
„Ja, ja, alle sind gleich, nur manche sind gleicher als gleich“, zitierte er einen Satz aus George Orwells Farm der Tiere.
Sofort sah Brendon ihn warnend an.
„Willst du irgendetwas mit dem Zitat sagen? Ich habe dich nie unfair behandelt, oder?“
Seine Stimme bekam einen harten Unterton, der deutlich zeigte, dass sein Gesprächspartner sich gerade extrem weit aus dem Fenster lehnte.
„Ich rede nicht von dir. Aber mach einfach mal die Augen auf. Du kannst aufgrund deiner Stärke so ziemlich jeden Job bekommen. Deine tierischen Sinne nutzen dir jedenfalls viel mehr als meine mir.“
Brendon schloss für einen Moment die Lider. Die Litanei hatte er für seinen Geschmack bereits zu oft gehört.
„Hör auf zu jammern. Noch mal, Schweine sind sehr intelligent, lernfähig und sozial. Vielleicht könntest du ja endlich etwas aus deinem Leben machen, falls du diese Fähigkeiten nutzt.“
Mit den Worten drehte er sich um, denn für ihn war das Gespräch beendet.
Auch Ralf zog es vor, den Mund zu halten, zumal er seinen Kumpel ziemlich gut kannte. Er durfte ihn nicht über Gebühr reizen.
Brendon hatte zwar eine Engelsgeduld, aber wenn er mal an den Punkt gekommen war, dass er wirklich wütend reagierte, sollte man besser in Deckung gehen.
Gemeinsam richteten sie den Stall her, anschließend rannte Ralf fast ins Haus, um zu duschen, ehe sein Gastgeber eine weitere Aufgabe für ihn fand.
Stirnrunzelnd sah Brendon ihm hinterher, ehe er seufzend die Stalltüre schloss.
Normalerweise würde er Hilfe brauchen, da der Lkw, der seine Bestellung brachte, schon über den Zufahrtsweg rumpelte.
Bei mehr als 150 Tieren ließ er sich die Pellets liefern, alles andere wäre idiotisch gewesen. Allerdings mussten die Säcke in die Scheune gebracht werden, denn der Fahrer lud sie lediglich im Hof ab.
„Guten Tag, Brendon, ich bringe dir dein Schaffutter. Soll ich dir die Palette direkt in den Stall schaffen?“
Der Mann, der jetzt vom Lkw sprang, lächelte ihn freundlich an, immerhin kannten sie sich bereits seit einigen Jahren.
„Dir auch einen guten Tag, Nial. Nein, lass mal, mit dem Hubwagen kommst du nicht in die Futterkammer. Alles andere ist vor meinen Tieren nicht sicher genug.“
Der große Kerl winkte lachend ab, anschließend lud er Nial auf einen Kaffee ins Haus ein.
„Da greife ich gerne zu. Bin seit heute früh drei Uhr auf den Beinen.“
Das war im Herbst normal, da die meisten Landwirte sich auf den Winter vorbereiteten. Obwohl Irland weniger unter Schneemassen begraben wurde, wollte doch jeder seine Tiere bestmöglich versorgen.
Gemeinsam gingen sie in die Küche, wo Brendon schnell zwei Tassen Kaffee aus seinem Vollautomaten zog.
„Das nenne ich mal Luxus. Ich hätte ja längst so ein Ding, aber meine Frau findet die Maschinen zu teuer.“
Nial seufzte leise, ehe er einen Schluck trank.
„Ich mag keinen Kaffee, der den halben Tag in der Thermoskanne gestanden hat. Außerdem trinke ich zu wenig von dem Zeug, da ist das hier die beste Lösung.“
Auch Brendon nahm jetzt seine Tasse zur Hand, dabei musste er sich bemühen, das Beben zu unterdrücken. Seit gut einer Woche war er unnatürlich nervös, was ihn in den Wahnsinn trieb.
Zumal er der Erklärung seines Cousins Gerry misstraute. Der hatte ihn nämlich beruhigt und ihm mitgeteilt, dass das Zittern seine Seelengefährtin ankündigen würde.
Selbst als Arzt konnte er die dummen Witze nicht lassen, deshalb hatte Brendon beschlossen, nach Ballygannon zu fahren, damit er ihn durchcheckte.
Sein Vetter war nicht nur einer der Wächter, sondern auch ein begnadeter Doktor, der wirklich alles über Medizin wusste. Kein Wunder bei mehr als 500 Jahren Berufserfahrung.
Der Check ergab, dass Brendon kerngesund war, sodass Gerry seine Begründung wiederholte.
Unwillig schüttelte der Bär den Kopf. Wo sollte denn jetzt auf einmal seine Gefährtin herkommen? Was für ein Unsinn. Die Wächter zeigten manchmal einen echt schrägen Humor.
„Störe ich dich? Du wirkst, als hättest du ein Problem.“
Nial sah ihn offen an.
„Nein, gar nicht. Ich musste nur an einen Scherz meines Cousins denken. Der ist im Moment ziemlich seltsam drauf.“
Jetzt nickte der Fahrer zustimmend.
„Die Wächter sind eben anders als wir. Sie sind Furcht einflößend, außerdem bilden sie eine Gemeinschaft für sich.“
Das konnte Brendon zwar überhaupt nicht bestätigen, aber er hatte auch keine große Lust auf Diskussionen.
In der magischen Welt respektierte man die Gruppe aus Ballygannon, ähnlich wie man bei den Menschen Polizisten achtete.
„Danke für den Kaffee. Bis zum nächsten Mal.“
Nial hatte ausgetrunken und verabschiedete sich jetzt schnell, immerhin warteten noch andere Kunden auf ihn.
„Pass auf dich auf. Bis bald.“
Brendon winkte ihm hinterher, als er in den Lkw kletterte, anschließend machte er sich daran, die Palette abzupacken und die Pellets in der Futterkammer zu verstauen.
Erneut musste er an Ralf denken.
„Was für ein fauler Sack! Er hätte jetzt einfach anpacken müssen“, grummelte er vor sich hin, als er das Futter in die Kammer brachte, wo es vor seinen Schafen sicher war.
Natürlich liefen die Tiere nicht frei auf dem Hof herum, aber es kam immer mal wieder vor, dass sich eines durch den Zaun mogelte.
Brendon schreckte davor zurück, den Strom zu erhöhen, deshalb passierte es bei ihm öfter als bei anderen.
Genauso gab es Muttertiere, die bereits so alt waren, dass man sie nicht mehr essen konnte.
Seufzend platzierte er den letzten Sack, während er über sein Leben nachdachte.
Obwohl er als Bär keineswegs Vegetarier war, fiel es ihm immer sehr schwer, seine Tiere zu schlachten. Vielleicht auch, weil er die meisten schon kurz nach ihrer Geburt an sich gewöhnte.
Er verbrachte viel Zeit auf der Weide, da die Schafe seine zweite Natur spürten und dementsprechend unruhig wurden.
Im Laufe seines Lebens als Landwirt hatte er festgestellt, dass er sie tatsächlich an sich gewöhnen konnte. Nur wenn er sich in seiner Form als Bär ausgetobt hatte, hielt er sich mindestens achtundvierzig Stunden von seiner Herde fern. Da half es auch nichts, dass sie ihn vom ersten Moment an kannten.
Erneut kroch diese widerliche Nervosität in ihm hoch, sodass er am liebsten geschrien hätte.
Nächste Woche sollte er sich in den Bergen von Glendalough mal so richtig ausleben. Das musste doch helfen!
Glendalough, das Tal der zwei Seen, lag nur ungefähr dreißig Minuten mit dem Auto von seinem Hof weg, ganz in der Nähe des Ortes Aughrim. Gerade so weit weg, dass ihm niemand auf die Nerven ging, aber dicht genug, dass er den Pub besuchen konnte, falls ihm danach war.
Mit einem Seufzen lief er zum Haus rüber, wo er sich auf die Suche nach Ralf machen wollte.
Um seiner zweiten Natur zu ihrem Recht zu verhelfen, brauchte er jemanden, der auf die Farm aufpasste und die Tiere versorgte, bis sie ihn wieder in ihre Nähe ließen.
Normalerweise würde er seine Schwester Myra bitten, allerdings sah er das unter den Umständen überhaupt nicht ein.
Schnell lief er ins Gästezimmer, doch das war leer.
Brendon runzelte die Stirn, schloss für einen Augenblick die Augen, wobei er seine Ohren spitzte. Seine Art verfügte über ein verdammt feines Gehör, sodass er bereits nach ein paar Sekunden wusste, wo Ralf sich aufhielt.
Er machte auf dem Absatz kehrt, um kurz darauf in seinem Wohnzimmer zu stehen.
„Was suchst du jetzt schon wieder? Fehlt dir ein Federhalter? Oder war das Briefpapier nicht edel genug?“
Seine Stimme glich einem Knurren, was zeigte, dass seine Geduld endgültig am Ende war.
Sein ungebetener Gast stand erneut vor dem großen Schrank, in dem er einige Unterlagen durchwühlte.
Dabei handelte es sich nur um alte Familienfotos, Briefe von seiner Mutter und Erinnerungen, von denen man sich nur ungern trennte.
Mit hochrotem Kopf drehte Ralf sich um. Er war so vertieft in seiner Suche nach etwas Wertvollem gewesen, dass er den Bären überhört hatte.
„Es ist nicht so, wie du denkst“, begann er unsicher.
Brendon verschränkte die Arme vor der Brust und sah wütend auf ihn herunter.
„Nicht? Ich denke, du willst mich bestehlen!“
Sofort hob Ralf abwehrend die Hände, gleichzeitig setzte er ein versöhnliches Lächeln auf.
„Nein, da liegst du ganz falsch. Ich habe mal gehört, dass die O´Brien mit der Familie Ost verwandt seien. Ich dachte, du hättest vielleicht Informationen darüber.“
Bei der dreisten Lüge, die auch noch zum Himmel stank, platzte Brendon der Kragen.
„Mir reicht es. Pack deine Sachen! Du bist in fünfzehn Minuten verschwunden, sonst sorge ich dafür, dass du in einem Schlachthaus endest.“
Jetzt wurde Ralf bleich.
„Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich habe dir das Leben gerettet, damals als du in der Bärenfalle festsaßest. Ohne mich hätten die Jäger dir das Fell über die Ohren gezogen.“
Seine Stimme klang weinerlich.
„Ich weiß, ich war dabei. Allerdings wundere ich mich seit einiger Zeit darüber, woher die Bewohner des Dorfes wussten, dass sie eine solche Falle auslegen mussten, um mich zu fangen. Bären galten zu dem Zeitpunkt in Deutschland als ausgestorben.“
Die Frage stellte er sich schon länger, denn gerade im Westerwald, wo er vor knappen hundert Jahren gelebt hatte, gab es definitiv keine Braunbären mehr.
„Willst du damit andeuten, dass ich das Gesetz der Geheimhaltung gebrochen habe?“
Empört starrte Ralf ihn an, doch Brendon winkte genervt ab.
„Im Grunde ist es mir egal. Du bist in einer Viertelstunde verschwunden.“
Er packte den zappelnden Mann am Kragen, warf ihn aus dem Zimmer, anschließend deutete er auf die Treppe.
Schnell wie ein Wiesel rannte Ralf in das Gästezimmer, um kurz darauf das Haus zu verlassen.
Brendon atmete auf. Nachdenklich ging er in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Kaffee sollte er vorerst meiden, da er dadurch nur noch nervöser wurde.
Seine Gedanken schweiften zu dem ersten Treffen mit dem Gestaltwandler zurück. Er arbeitete zu der Zeit als einfacher Helfer in einem Tonbergbau.
Die Arbeit unter Tage machte ihm nicht viel aus und aufgrund seiner enormen Kräfte war er ein angesehener Mitarbeiter.
Aber auch damals musste er seiner zweiten Natur hin und wieder nachgeben. Durch die dichten Wälder hatte er kein Problem, sich an einem einsamen Ort zu verwandeln.
Doch eines Abends geriet er in eine Bärenfalle. Das Eisen fraß sich in sein Bein, an die Schmerzen erinnerte er sich heute noch. Sein Schicksal schien besiegelt, bis Ralf ihn befreite.
Die Männer hatten sich ein paar Tage zuvor beim Kirchweihfest kennengelernt. An ihren Augen erkannten sie, dass sie zur gleichen Art gehörten, sodass sie die Gelegenheit am Schopf packten, um sich ein wenig auszutauschen. Dazu waren sie ein gutes Stück von den anderen Feiernden weggegangen.
Leise unterhielten sie sich in der allgemeinen Sprache der magischen Welt, dabei erzählte Brendon auch, dass er sich in der nächsten Zeit verwandeln wollte.
Der Alkohol lockerte seine Zunge, daher verriet er, in welches Tier er sich wandeln konnte. Normalerweise hätte er so ein intimes Detail für sich behalten.
In den kommenden Tagen hielten sie den Kontakt, bis es eben zu dem lebensgefährlichen Vorfall kam.
Zuerst war Brendon einfach nur erleichtert, dass Ralf kam, doch dann siegte sein Misstrauen. Vorsichtig erkundigte er sich, wieso er ausgerechnet jetzt in diesem Teil des Waldes herumlief.
Angeblich hatte der andere Gestaltwandler ebenfalls einen Ort gesucht, an dem er sich ohne Gefahr verwandeln konnte.
Damals lebte Ralf fast ein ganzes Jahr bei ihm, natürlich, ohne etwas zum Lebensunterhalt beizusteuern.
Er versuchte sich als Geschichtenerzähler, allerdings wollte keiner ihm zuhören.
Ihre Wege trennten sich, als Brendon ein gutes Jahrzehnt später zurück nach Irland ging.
Dummerweise hatte auch die technische Entwicklung nicht vor der magischen Welt haltgemacht und so erfuhr Ralf seinen Aufenthaltsort recht unproblematisch.
Immer wieder tauchte er bei ihm auf, verlangte Gastfreundschaft, dabei pochte er darauf, dass der Bär eine Schuld ihm gegenüber zu begleichen hätte.
Die Frage, wieso in dem Wald eine Bärenfalle aufgestellt war, blieb.
Die Haustür fiel ins Schloss, was ihn aufatmen ließ.
Endlich war er diesen Parasiten los! Sollte er noch einmal in seiner Nähe auftauchen, würde er die Wahrheit über die Sache mit der Falle aus ihm herausschütteln.
Jetzt musste er allerdings auf seinen Ausflug unter Umständen verzichten. Seine Schwester hatte zwei Kinder, darüber hinaus half sie ihrem Mann in seiner Tierarztpraxis, da konnte sie sich nicht so ohne Weiteres freinehmen.
Unruhig trommelte er auf dem Küchentisch herum, während er überlegte, welche Möglichkeiten er besaß.

~~°~~

Als Paula wieder in ihrer eigenen Wohnung war, kochte sie sich einen Tee, anschließend nahm sie sich den Reiseführer zur Hand.
Langsam blätterte sie durch die Seiten, sah sich die Tipps und Möglichkeiten an, bis ihr Blick an einem Bild hängen blieb.
Es zeigte einen wunderschönen See, der von Bergen eingekesselt war. Die Farben grün, blau und braun herrschten vor, zeitgleich erzeugten sie einen fast magischen Anblick.
„Glendalough - Tal der zwei Seen“, murmelte sie, als sie die Beschreibung las.
Es gab rund um die beiden Gewässer mehrere Wanderwege in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, also genau das, was sie gesucht hatte!
Darüber hinaus konnte sie ihrer Leidenschaft für alte Gemäuer frönen, denn in diesem Tal gab es die Ruinen einer Klostersiedlung zu bestaunen, die der heilige St. Kevin gegründet hatte.
Schnell las sie sich die spärlichen Informationen durch, ehe sie sich ihren Laptop schnappte, um sich weitere Eindrücke zu verschaffen.
Es gab ein Besucherzentrum, das die Leute über die Monastic City, wie die Siedlung genannt wurde, informierte. Außerdem gab es neben den Grundmauern einer Kathedrale auch einen Rundturm und etliche andere Gebäude aus dem 6. Jahrhundert. Genau das, was sie interessierte.
Paula grinste leicht. Viele Dinge begeisterten sie, allerdings standen die Überreste der vergangenen Zeiten so ziemlich an erster Stelle.
Mit klopfendem Herzen rief sie eine Seite auf, auf der man Hotels sowie Pensionen buchen konnte.
Irgendwie kam es ihr vor wie ein Wink des Schicksals, dass sie in diese Buchhandlung geführt wurde. Denn sie war sich sicher, dass das der Ort war, an dem sie ganz bestimmt eine Lösung für ihr Gefühlschaos fand.
Paula sah sich die möglichen Herbergen an, bis sie auf ein Hotel stieß, das sogar direkt an die Klostersiedlung angrenzte. Laut Bewertungen anderer Gäste lag die Unterkunft nicht nur günstig für die Besucher der Monastic City, man konnte auch von dort bequem auf Wandertour gehen.
Jetzt im November war es überhaupt kein Problem, ein Zimmer zu bekommen.
Einen Augenblick dachte sie über diesen Schritt nach. Sie war in den letzten fünf Jahren nicht im Ausland gewesen und das Ganze kam ihr wie ein riesiges Abenteuer vor.
Ehrlich gab sie zu, dass sie sich fürchtete, mit der Buchung einen Fehler zu machen.
Noch einmal sah sie auf das Bild in dem Reiseführer, ehe sie die Unterkunft buchte. Anschließend suchte sie sich einen Flug heraus, dabei überlegte sie, ob sie sich einen Leihwagen holen sollte. Irgendwie musste sie ja vom Flughafen zu ihrem Hotel gelangen.
Schnell entschied sie sich dagegen, stattdessen schaute sie nach der passenden Busverbindung.
Erstaunt stellte sie fest, dass es mehr als eine Buslinie gab, die das Glendalough Besucherzentrum anfuhren, sodass es mehrere Möglichkeiten pro Stunde gab, um an ihr Ziel zu kommen.
„Mut zum Risiko“, murmelte sie, da sie nicht feststellen konnte, wie aktuell der Fahrplan war.
Zur Not würde sie sich eben ein Taxi leisten. In den letzten Jahren hatte sie kaum Geld ausgegeben, daher brauchte sie sich keine Sorgen zu machen.
Erst in dem Augenblick kam ihr in den Kopf, dass sie ein wenig vorschnell gehandelt hatte, da sie zuerst einmal Urlaub nehmen sollte.
Energisch schob sie die Gedanken von sich. Ihr Chef hatte mehrfach betont, dass sie jederzeit freibekommen könnte. Immerhin hatte sie noch alle Urlaubstage und etliche Überstunden.
Außerdem waren aktuell keine Kollegen in Ferien. Niemand, außer ihr, plante im unwirtlichen November in den Urlaub zu fliegen.
Bei der Feststellung lachte Paula leise, sie war nun mal die Durchgeknallte, anschließend trank sie einen Schluck von ihrem Tee.
Es würde bestimmt toll werden. Endlich Ruhe zum Nachdenken. Zeit, um ihr Leben zu planen und das auch noch in einer wundervollen Landschaft. Wenn ihr da keine neuen Ziele in den Sinn kamen, wusste sie es nicht.
Den restlichen Tag verbrachte sie damit, sich die Wanderrouten anzusehen. Die schweren Wege schloss sie gleich aus, dazu war sie zu unsportlich.
Wieder überlegte sie, ob sie nicht doch ihre Ernährung umstellen sollte. Von der Idealfigur war sie weit entfernt, allerdings aß sie viel zu gerne, um dauerhaft auf irgendetwas zu verzichten.

~~°~~

Der Sonntag war trüb und nebelig, sodass Paula ohne schlechtes Gewissen den gesamten Vormittag über ihren Plänen brütete.
Gegen Mittag riss sie das Telefon aus ihren Träumen.
„Hey, Liebes, du hast wirklich etwas verpasst. Die Party gestern war einfach nur toll.“
Jasmin klang regelrecht euphorisch.
„Schön, dass du anrufst. Los, erzähl.“
Paulas Stimme hörte man an, dass sie sich für ihre Freundin freute.
„Wir haben ein Paar getroffen. Sie interessieren sich für die gleichen Dinge wie wir. Außerdem ergab sich die Gelegenheit, zu viert zu spielen und ich muss sagen, Tobias kann super mit der Peitsche umgehen. Wobei mein Liebster Sabine mit einem Hängebondage beglücken konnte.“
Die Eindrücke sprudelten nur so aus ihr heraus, wohingegen Paula ein Seufzen unterdrücken musste.
Solche Abende hatte sie früher auch mit ihrem Herrn erlebt. Bittersüße Erinnerungen kamen in ihr hoch, während Jasmin von ihren Erlebnissen schwärmte.
Damals hatte sie den süßen Kuss der Peitsche noch genießen können. Wobei Markus auf sie aufpasste. Er sagte immer, dass sie sein wertvollster Besitz sei und genauso hatte er sie behandelt.
„Hörst du mir zu, Paula?“
Erschrocken stellte die Angesprochene fest, dass sie in ihre eigenen Gedanken abgetaucht war.
„Entschuldige, ich hab an früher gedacht“, wich sie leise aus.
Einen Moment herrschte Stille in der Leitung.
„Es tut mir so leid, meine Süße. Ich wollte keine Wunden aufreißen.“
Jasmin klang wirklich bedrückt.
„Nein, es ist völlig in Ordnung, wenn du mir von deinem Abend erzählst. Ich finde es toll, dass ihr endlich ein paar Leute getroffen habt, die zu euch passen. Du träumst doch schon lange von einem Spiel mit einem anderen Dom.“
Es war nicht unüblich, dass die Herren ihre Subs teilten oder gemeinsam eine Session verbrachten. Dabei ging es auch keineswegs darum, dem eigenen Partner fremdzugehen, sondern einfach seinen Horizont zu erweitern.
Wie weit man gehen durfte, wurde vorher genau festgelegt und bei Jasmin wusste Paula, dass Geschlechtsverkehr jeder Art komplett ausgeschlossen war.
In dem Punkt war sie Andreas absolut treu, allerdings konnte der nicht wirklich mit einer Peitsche, einer sogenannten Bullwhip, umgehen.
„Ich habe vorgeschlagen, dass du dich mal mit uns triffst, denn Tobias sucht noch eine Sub für sich und seine Frau. Sabine switcht.“
Die Dame lebte also beide Seiten aus, auch etwas, das in der BDSM-Szene durchaus normal war.
„Nein, Jasmin, ich danke dir dafür, dass du dich für mich einsetzt, aber ich werde mich keinem Herrn unterwerfen, der bereits in einer festen Beziehung ist. Das kann nur schief gehen. Denk an unsere Freundin Beate, die solche Sachen öfter als einmal ausprobiert hat. Alle Konstellationen sind in die Brüche gegangen.“
Auf keinen Fall wollte Paula ein Paar auseinanderbringen, allerdings mochte sie genauso wenig am Ende mit gebrochenem Herzen dastehen. Da verzichtete sie lieber auf das Ausleben ihrer Neigung.
Ein Seufzen erklang.
„Ich sorge mich um dich, Süße. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du von heute auf morgen keine Sub mehr bist.“
Jetzt lachte Paula leise.
„Nein, in dem Fall würde ich lügen. Natürlich plagen mich meine Sehnsüchte in dieser Richtung, aber hier muss der Partner auch passen. Mach dir keine Gedanken, ich habe beschlossen, mir die Auszeit in Irland zu gönnen. Ich brauche einfach Ruhe, um mich mal mit mir zu beschäftigen. Wenn mein Chef mitspielt, dann fliege ich am Mittwochmorgen und komme in der darauffolgenden Woche wieder.“
Ohne zu überlegen, platzte sie mit der Neuigkeit heraus. Allerdings musste sie feststellen, dass ihre Freundin alles andere als begeistert von ihrem Plan war.
„Du willst ganz alleine in den Wicklow Mountains wandern? Und das auch noch im November? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ich dachte, das ist nur so eine Idee von dir oder du würdest wenigstens bis zum nächsten Frühjahr warten.“
Diese Gegenargumente konnte Paula im Moment so gar nicht brauchen. Einerseits war sie fest entschlossen zu fliegen, andererseits plagten sie Zweifel.
Irgendwie hatte sie gehofft, dass Jasmin ihr Mut zusprach.
„Ich muss hier raus. Es fühlt sich an, als ob ich in einer Parallelwelt gelandet wäre, in die ich nicht gehöre. Überall fühle ich mich als Außenseiter. Versteh mich doch bitte.“
Sie flüsterte die Erklärung nur.
„Versprich mir, dass du auf dich aufpasst und dich zwischendurch meldest.“
Bei den Worten schlich sich ein Lächeln auf Paulas Gesicht.
„Das verspreche ich dir gerne. Ich nehme natürlich mein Handy mit, wenn ich wandern gehe. Du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Jetzt im November gibt es keinen Schnee in der Gegend. Was soll da schon groß passieren? Auf einen Bären werde ich wohl kaum stoßen.“
Sie lachte und Jasmin stimmte ein.
„Du hast recht. Ich möchte dich nur endlich mal wieder richtig glücklich sehen.“
Für den Satz hätte Paula sie am liebsten geküsst, stattdessen versicherte sie ihr erneut, dass sie auf sich aufpassen würde.
Nach dem Telefonat widmete sie sich noch intensiver ihren Reiseplänen. Auf keinen Fall wollte sie irgendeinen Zweifel zulassen. Irgendetwas sagte ihr, dass sie in Irland Antworten auf ihre Fragen fand und ihrem Leben eine neue Richtung geben konnte.

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Tag der Veröffentlichung: 28.11.2020

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