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Kapitel 1 - Unerwartete Begegnung

Gelangweilt zupfte Viktor am Ärmel seines weißen Hemdes, während sein Kammerdiener und Vertrauter Stephan ihm die silberne Seidenweste hinhielt.

„Ich könnte doch einfach hier bleiben, anstatt mir die ermüdenden Gespräche älterer Damen anzuhören, die mir ihre Töchter schmackhaft machen wollen.“
Er drehte sich zu Stephan um, ohne die Weste anzuziehen.
„Natürlich könntet Ihr das, Eure Durchlaucht, allerdings würde es eine Menge unliebsamer Aufmerksamkeit auf Euch ziehen. Immerhin seid Ihr der Mäzen der Oper im Königlichen Hoftheater, da schätzt man Eure Anwesenheit.“
Geduldig legte der Diener das Kleidungsstück über seinen Arm, zumal er diese Szene schon öfter erlebt hatte.
„Du hast recht, nur handelt es sich in dem Fall kaum um die hohe Kunst der Musik. Es gleicht eher einem Heiratsmarkt, bei dem die Kandidaten wie auf dem Viehmarkt begutachtet werden. Darüber hinaus sind die Gespräche auf einem Niveau, dass es mich schaudert. Gibt es keine interessanteren oder wichtigeren Themen außer der Mode, die Skandale der Adeligen und die beliebtesten Kurorte?“
Missmutig deutete Viktor auf die Seidenweste, die ihm Stephan sofort hinhielt.
„Ihr wisst doch, dass es bei derlei Eröffnungen selten um Politik oder die Bedürfnisse der ärmeren Gesellschaftsschicht geht. Die Damen wären sehr empört, solltet Ihr in ihrer Gegenwart solche profanen Dinge ansprechen.“
Geduldig half der Kammerdiener seinem Herrn zuerst in die Weste, anschließend in sein schwarzes Jackett, das bis auf die Mitte der Oberschenkel fiel, so wie es die Mode vorschrieb.
„Ich bin mir darüber bewusst, trotzdem verabscheue ich die Oberflächlichkeit.“
Seufzend drehte der Prinz von Nassau sich um, damit er seinen Gesprächspartner ansehen konnte.
Dieser wollte gerade nach den Knöpfen greifen, als sein Dienstherr ihn mit einem Kopfschütteln davon abhielt.
„Bitte, ich kann das selbst. Außerdem habe ich dir oft genug gesagt, dass du mich nicht so förmlich anreden sollst, zumindest solange wir alleine sind. Wir verbringen fast ein ganzes Leben miteinander, darüber hinaus bist du derjenige, der alles über mich weiß.“
Lächelnd sah er seinen Vertrauten an, der breit grinste.
„Das stimmt, nur schickt es sich einfach nicht, dass ich Euch vertraulich anspreche.“
Wieder seufzte Viktor. In seinem Dasein durfte er bereits viel erleben, und wenn er eins gelernt hatte, dann, dass der Wert eines Menschen kaum an der Herkunft abgeleitet werden konnte. Allerdings verstand er Stephan, der genau in dem Sinne erzogen wurde.
„Danke dir.“
Er klopfte dem Kammerdiener auf die Schulter, anschließend deutete er mit dem Kopf zur Tür. Viktor brauchte jetzt ein paar Minuten um sich zu sammeln, ehe er sich der Meute besorgter Mütter stellte, die ihn alle mit ihren Töchtern verheiraten wollten.
Allein der Gedanke an eine Heirat mit einer von diesen oberflächlichen, ungebildeten und hochnäsigen Gänsen, drehte ihm den Magen um. Zumal er keineswegs plante, überhaupt eine Ehe einzugehen. Zu viele Dinge standen entgegen einer solchen Entscheidung.
Schnell schob er die Überlegungen von sich, für einen, wie ihn, gab es eben keine Liebe, damit hatte er sich bereits vor etlichen Jahren abgefunden.
Er hörte die Kutsche vorfahren, die Stephan für ihn bestellt hatte, somit wusste er, dass es an der Zeit war, zum Königlichen Hoftheater zu fahren, wo heute das prunkvolle Foyer eröffnet wurde.
Der Name Theater war irreführend, da es hier bei Weitem nicht nur das beliebte Schauspiel gab. Ganz im Gegenteil, es war bekannt für die exquisiten Opernaufführungen, die Viktor unterstützte.
Er ließ sich im Flur seiner Stadtvilla in Wiesbaden in den langen Sommermantel helfen, zog die schwarzen Handschuhe über, setzte einen modernen Hut auf, anschließend nahm er den Spazierstock.
Gerne hätte er auf die modischen Accessoires verzichtet, nur schuldete er es seinem Ruf, dass er tadellos gekleidet im Foyer erschien.
Wie immer, wenn er sich einer Kutsche näherte, wurden die Pferde für einen Moment unruhig, was sich nach ein paar Augenblicken legte.
Ein zynisches Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit, denn das war wenigstens eine ehrliche Reaktion.
Die Fahrt würde er schnell hinter sich bringen, da seine Villa in der Nerostraße lag, ungefähr zehn Minuten zu Fuß vom Kurhaus mit seinen prächtigen Kolonnaden und somit auch vom Königlichen Hoftheater entfernt.
Zu gerne wäre er das kurze Stück gelaufen, aber das verbot ihm die Etikette. Normalerweise tangierten ihn solche Vorschriften weniger, allerdings musste er sich in Acht nehmen, um nicht zu sehr aufzufallen. Das war ebenfalls ein Grund, wieso er sein motorisiertes Dreirad von Carl Benz stehen ließ. Außerdem wirbelte es immer Staub auf, daher gab es mittlerweile spezielle Autofahrer-Kleidung, die kaum zur Oper passte.
Viktor ließ sich in die weichen Polster sinken, schloss die Augen und entspannte sich. Erfahrungsgemäß würde seine Geduld noch genug auf die Probe gestellt.

~~°~~

Helena saß vor ihrer Frisierkommode, während ihre Zofe Berta ihre langen, blonden Haare zu einem kunstvollen Knoten flocht, den sie an ihrem Hinterkopf feststeckte.
„Ich wünschte, Papa würde endlich einsehen, dass keiner der adeligen Herren mich heiratet. In dem Fall könnte ich mich nach einem Mann umsehen, der mich ehrlich liebt.“
Traurig sah sie in den Spiegel, der ihr ein schmales, ovales Gesicht mit großen, grünen Augen zeigte. Ihr Teint war blass, ihre Wimpern dicht, was ihr einen geheimnisvollen Blick bescherte. Der melancholische Zug um ihren Mund tat ihrer Schönheit keinen Abbruch, obwohl sie wusste, dass sie viel mehr Ausstrahlung besaß, wenn sie lächelte.
„Euer Herr Papa möchte doch nur das Beste für Euch. Er hat es finanziell weit gebracht, nur einen Adelstitel konnte er Euch nicht bieten.“
Berta zwinkerte ihr im Spiegel zu, während sie zwei Strähnen aus der Frisur zupfte, die ihr weich auf die Schultern fielen.
„Ich weiß, für mich jedoch kommt es auf keinen Titel an, sondern auf Ehrlichkeit, Respekt und Liebe. Weißt du, wie man mich auf solchen Empfängen behandelt? Wie jemand, der es keinesfalls wert ist, die gleiche Luft zu atmen. Es ist einfach demütigend.“
Die Traurigkeit in ihren Augen verstärkte sich, woraufhin die Zofe ihr aufmunternd über den Arm strich.
„Ihr werdet den Mann finden, der zu Euch steht. Doch dazu müsst Ihr Euch unter die Menschen mischen.“
Stumm nickte Helena, zumal ihr Vater ihr kaum eine Wahl lassen würde. Er hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um eine Einladung zur feierlichen Eröffnung des Foyers zu erhalten.
Normalerweise liebte sie es, ein solches Kunstwerk zu betrachten, denn man hatte schon viel vom neuen Empfangsraum des Königlichen Hoftheaters gehört.
Darüber hinaus vergötterte sie die Oper, nur dass es an diesem Abend keine Aufführung gab. Stattdessen lud man zu einem Empfang ein, der anschließend in einen prächtigen Ball übergehen sollte.
„Kommt, es wird Zeit, dass Ihr Euch ankleidet. Euer Vater wird gleich hier sein.“
Berta deutete auf das Korsett und das dunkelblaue Kleid mit den schmalen Ärmeln, das eine lange Schleppe zierte.
Widerwillig stand Helena auf, hob die Arme, damit ihre Zofe ihr das Korsett anlegen konnte. Gott sei Dank besaß sie von Natur aus eine schlanke Taille, sodass man sie nicht bis zum Äußersten schnüren musste.
Oft genug traf man Damen, die es kaum schafften zu atmen, nur um den Regeln der Mode zu folgen. Vor einiger Zeit hörte man sogar von einer Prinzessin, die sich so hart hatte einschnüren lassen, dass ihr zwei Rippen gebrochen waren.
Bei so viel Dummheit schüttelte Helena innerlich nur den Kopf.
Berta half ihr in das prachtvolle Kleid, nachdem sie das Korsett zugeschnürt hatte, anschließend betrachtete sie ihren Schützling mit glänzenden Augen.
„Ihr seht einfach wundervoll aus. Jeder Herr wird sich nach Euch umdrehen.“
Dankbar lächelte Helena ihre Zofe an, doch genau das befürchtete sie auch. Sie konnte auf die unliebsame Aufmerksamkeit der Herrenwelt gerne verzichten.
Es klopfte und kurz darauf steckte ihr Vater Otto Kurt Paul Goetz den Kopf durch die Tür.
„Wie ich sehe, bist du bereits fertig, wunderbar! Dann können wir ja gleich aufbrechen.“
Der ältere Herr musterte seine Tochter mit freudiger Erwartung. Dieses Mal würde sie die Partie ihres Lebens machen und ihm damit den Eintritt in die Welt des Adels ermöglichen.
Einen Moment dachte er an Katharina, Helenas Mutter, die er über alles geliebt hatte. Leider war sie an einer Lungenkrankheit gestorben, ehe Lenchen die Schulbank drücken musste. Otto vermisste seine Frau immer noch, doch nun war es kaum an der Zeit, um ihr nachzutrauern.
„Bitte Papa, lass es gut sein. Ich möchte nur einen Ehemann, den ich lieben und respektieren kann. Zu den Hochgeborenen passe ich einfach nicht.“
Bittend sah sie ihren Vater an, aber der lachte nur leise auf.
„Außerdem ertrage ich die Demütigungen der adeligen Damen keineswegs länger“, fügte sie bitter hinzu.
Jetzt musterte der Mann seine Tochter nachdenklich, zumal er einige Bösartigkeiten mitbekommen hatte.
„Du hast das Beste verdient, mein Sonnenschein. Überhör die Bemerkungen dieser neidischen Gänse. Sie sind nur gehässig, weil sie an deine Schönheit kaum heranreichen.“
Seufzend nickte Helena. Sie wusste, dass sie ihren Papa auf keinen Fall umstimmen konnte, egal welches Argument sie hervorbrachte.
Schnell schlüpfte sie in ihre Schuhe, die Berta ihr schloss, da sie durch das Korsett in ihrer Bewegung eingeschränkt war.
Zum Abschluss setzte die Zofe ihr einen blumengeschmückten Hut auf die Haarpracht, anschließend half sie ihr in den leichten mit Spitze verzierten Sommermantel. Danach reichte sie ihr die schwarzen Spitzenhandschuhe sowie das Handtäschchen.
Selbstverständlich steckte in ihrem Ridikül, dem kleinen Handtäschchen, neben dem obligatorischen Taschentuch, dem Parfüm und dem Riechsalz auch ein Fächer.
Den Sonnenschirm nahm sie an der Eingangstür der Villa entgegen.
Die Kutsche stand bereit, sodass Helena aufatmete, denn ihr Vater schoss oft genug über das Ziel hinaus, ohne an die Folgen zu denken. Es hätte also gut sein können, dass er sein Automobil kommen ließ. Diese Schmach blieb ihr, Gott sei Dank, erspart.
Lenchen liebte es mit dem motorisierten Gefährt zu fahren, nur war man anschließend meistens über und über mit Staub bedeckt, etwas, dass für abwertende Blicke im Theater gesorgt hätte.
Höflich hielt ihr Vater ihr die Tür auf, gleichzeitig reichte er ihr eine Hand, damit sie einsteigen konnte.
Die kurze Fahrt brachten sie schweigend hinter sich, denn Helena wollte die Hoffnungen ihres Papas nicht zerstören, obwohl sie kaum glaubte, einen adeligen Herrn erobern zu können.

~~°~~

Am Bowling Green, einer Parkanlage zwischen Kurhaus, Weinhaus und dem Hoftheater, hielt die Kutsche.
Lenchen stieg mithilfe eines Lakaien, der herangeeilt war, aus. Bewundernd ließ sie ihren Blick über die Grünanlage schweifen, dabei betrachtete sie, wie jedes Mal, die beiden prächtigen Springbrunnen auf dem gepflegten Rasen, ehe sie sich dem Säulengang des Theaters zuwandte.
„Ich bin neugierig, ob das Foyer wirklich so beeindruckend geworden ist, wie man überall hört“, bemerkte ihr Vater leise, ehe er ihr seinen Arm reichte.
Darauf war auch Helena gespannt, allerdings fühlte sie sich genauso bedrückt, da die ersten adeligen Besucher bereits an ihnen vorbeigingen. Die Blicke sagten ihr deutlich, dass sie niemals Eingang in diese Gesellschaft fand.
Zu allem Überfluss fungierte ihr Papa als Anstandsdame, denn es war verpönt, einen Bediensteten mit zu einem solchen Empfang zu nehmen.
Jovial grüßte er die Gäste, die an ihnen vorbeiflanierten, wobei er reserviert, aber höflich beachtet wurde. Die illustre Adelsgesellschaft Wiesbadens liebte sein Lokal, daher traute man sich keineswegs, ihn völlig zu ignorieren.
Otto Kurt Paul Goetz hatte sich nicht nur bei den Kurgästen, sondern ebenso bei vielen hochgestellten Persönlichkeiten der Stadt einen hervorragenden Ruf erworben, indem er stets die neusten Gerichte und Getränke servierte. Seine Gastwirtschaft „Zum schwarzen Fasan“ war zum Treffpunkt des Adels und der Reichen der gesamten Gegend geworden. Es gehörte genauso zum guten Ton dort einzukehren, wie an einer Trinkkur am Kochbrunnen teilzunehmen.
Helena rang sich ein Lächeln ab, obwohl sie genau erkennen konnte, wie die Damen abfällig die Gesichter verzogen, als sie sich sicher sein durften, dass ihr Vater es nicht sah.
Gemeinsam mit ihrem Papa betrat sie den großen Vorraum des Hoftheaters, wo sich schon eine kleine Menschenmasse drängte, um ihre Mäntel an der Garderobe abzugeben.
Die Angestellten bemühten sich nach besten Kräften, um dem Ansturm gerecht zu werden, trotzdem mussten sie immer wieder hämische Bemerkungen sowie ungerechtfertigte Tadel hinnehmen.
Helena verstand ein solches Verhalten in keiner Weise. Wieso hackte man auf denen herum, die unter einem standen? Konnte man nicht ein wenig Verständnis aufbringen?
Endlich kamen sie an die Reihe. Helena schenkte dem jungen Mädchen, das ihr behilflich war ihren Mantel und den Hut auszuziehen, ein freundliches Lächeln, anschließend bedankte sie sich bei der Frau.
Sie wusste genau, dass ihr das weitere Minuspunkte bei den adeligen Damen mitsamt ihren Töchtern einbrachte, doch das war ihr herzlich egal. Sie behandelte niemanden herablassend, nur weil er in eine andere Gesellschaftsschicht hineingeboren worden war.
Noch einmal sammelte sie sich kurz, dann hob sie den Kopf, setzte ihren arrogantesten Blick auf, ehe sie ihrem Vater folgte, der bereits an den Theatertüren vorbeiging, die auf die jeweiligen Ränge führten.
Sie liefen den breiten Gang entlang, bis sie an einen bogenförmigen Vorraum gelangten, der den Eingang in das neue Foyer bildete.
In einer Nische blieb ihr Papa stehen, um ihr die Gelegenheit zu geben, den wunderschön gestalteten Raum zu bewundern.
Helena hob den Kopf, um zuerst das Deckengemälde zu betrachten, welches sie sofort in seinen Bann zog. In der Mitte der gewölbten Decke beeindruckte sie ein Kristallleuchter, von dem aus goldfarbene Lorbeergebinde, das Gemälde in mehrere Abschnitte unterteilten. Überall sah man den Bezug zu den unterschiedlichen Künsten. Zu ihrer rechten Seite führten zwei Treppen in den ersten der Wandelgänge, dort befanden sich die Sitzplätze, die für Kaiser Wilhelm den Zweiten reserviert waren.
Über der kaiserlichen Nische, die einem marmornen Balkon glich, hing ein goldener Baldachin, darüber prangte ein Bild eines schwarzen Adlers, das Helena sehr beeindruckte.
An den Säulen zu den oberen Rängen sah sie verschiedene Statuen von Männern und Frauen, aber genauso Putten, die dem Ganzen einen prunkvollen Glanz verliehen.
Auch hier eilten Bedienstete in der königlichen Livree zwischen den Gästen hin und her, um die hochgeborenen Besucher zufriedenzustellen. Allerdings gab es kaum die Möglichkeit sich in der Menschenmasse zu bewegen, ohne jemanden zu stören.
Einmal wurde einem jungen Mann das Tablett aus der Hand geschlagen, weil er keinen Moselwein mehr anbieten konnte.
Sofort drängte Helena sich durch die Massen, benutzte ihre Ellenbogen, um zu dem Angestellten zu kommen, der sich bereits vor dem erzürnten Adeligen duckte.
Ohne über ihr Tun nachzudenken, stellte sie sich vor den Diener, um ihn mit ihrem eigenen Körper zu schützen.
„Ich weiß, dass Ihr Graf von Merenburg seid und es mir keineswegs zusteht, Euch zurechtzuweisen, allerdings sieht ein Blinder, dass der junge Mann hier, kaum für Euren Unmut verantwortlich ist. Oder seht Ihr den Andrang in diesem Foyer etwa nicht?“
Sie hob den Kopf ein kleines Stückchen höher, um dem Adeligen in die Augen sehen zu können, dabei wurde ihr klar, dass sie wohl einen gravierenden Fehler gemacht hatte.
In seinem Blick erkannte sie, dass er sie die Einmischung bitter bereuen lassen wollte, deshalb setzte sie ihr schönstes Lächeln auf. Leider war auch das vergebene Liebesmühe. Von Nachsichtigkeit oder gar davon eine Fehleinschätzung zuzugeben, war dieser Herr weit entfernt.
„Ihr wagt es, Euch mir in den Weg zu stellen? Mit welchem Recht? Denkt Ihr, weil Euer Vater ein vorzügliches Essen auf den Tisch bringt, dürft Ihr Euch in unseren Kreisen frei bewegen? Oder überschätzt Ihr Eure Schönheit?“
Gerade als sie zum Antworten ansetzte, hatte sich auch Otto den Weg zu dem Ort des Unglücks gebahnt.
„Wollt Ihr meiner Tochter bitte verzeihen, Herr Graf? Sie musste ohne Mutter aufwachsen und ich bin in ihrer Erziehung wohl ein wenig nachlässig gewesen. Sie wird sich sofort entschuldigen.“
Wütend blitzte Helena ihren Vater an, doch würde sie ihn kaum vor allen in Misskredit bringen, in dem sie seine Anordnung missachtete.
„Es ist verständlich, dass sie diesem Nichtsnutz zur Hilfe eilt. Sie stammt aus gleichen Verhältnissen. Ich verstehe nur nicht, wieso man sie hier hereingelassen hat.“
Die spöttische Stimme drang an ihr Ohr, obwohl die Dame nur flüsterte. Natürlich erkannte sie Prinzessin Adelheid von Westerburg augenblicklich, hatte sie schon zu oft unter ihrer spitzen Zunge leiden müssen.
Ihr Vater stupste sie unsanft an, da sie immer noch nicht reagierte.
Wütend richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Grafen, der sie auffordernd ansah. Genau in dem Augenblick wurde sie sanft zur Seite gezogen und ein breiter Rücken in einem schwarzen Jackett schob sich vor sie.

~~°~~

Viel zu schnell hielt die Kutsche vor dem prachtvoll beleuchteten Säulengang des Theaters. Die feinen Herrschaften trafen sich zu solchen Veranstaltungen nie vor 22:00 Uhr, sodass es jetzt bereits dunkel war. Viktor atmete noch einmal tief ein, dann stieg er aus, gleichzeitig setzte er sein gleichgültigstes Lächeln auf. Die Gesellschaft durfte ruhig sehen, dass er sich nur ungern mit ihr abgab.
Obwohl er oft zynisch antwortete und selten wirklich lächelte, umschwärmten ihn die Damen. Selbstverständlich war er nicht dumm genug anzunehmen, dass seine Art die holde Weiblichkeit anzog. Im Gegenteil sie wussten nur zu gut, dass er ein immenses Vermögen besaß, was einen akzeptablen Grund darstellte, um über sein teilweise rüpelhaftes Benehmen hinwegzusehen.
Im Vorraum drängten sich bereits die Gäste, sodass er sich im Hintergrund hielt. Obwohl er seinesgleichen kaum mit seinem Sarkasmus verschonte, würde er nie einen der Angestellten schlecht behandeln.
Es dauerte eine Weile ehe er Mantel, Hut, Handschuhe und Stock abgeben konnte, dabei beobachtete er die Menschenmasse vor sich.
Zu seinem Unmut erkannte er die Prinzessin von Hachenburg, die es seit einigen Monaten auf ihn abgesehen hatte, gleich daneben bemerkte er seine zweite Heimsuchung: Prinzessin Adelheid von Westerburg.
Auf die beiden Gänse hätte er gerne verzichtet, allerdings wusste er, dass er auf sie treffen würde. Keine Dame von Stand fehlte bei diesem Ereignis.
Ein Diener kam an ihm vorbei, als er gerade das neue Foyer betrat. Viktor stoppte ihn mit einem Lächeln, nahm sich ein Glas Wein, wofür er sich freundlich bedankte.
Der junge Mann sah ihn irritiert an, was den Prinzen ärgerte, denn eine so normale Höflichkeit sollte selbstverständlich sein. Natürlich ließ er seinen Unmut nicht an dem Angestellten aus, sondern hielt seine Launen unter Kontrolle.
„Wie schön Euch zu sehen, Eure Durchlaucht. Niemand war sich sicher, ob Ihr heute hier erscheinen würdet.“
Fast hätte er das Gesicht schmerzhaft verzogen, aber das verkniff er sich im letzten Moment, obwohl er auf die Konversation mit der Prinzessin von Hachenburg gerne verzichten würde. Er drehte sich zu ihr, musterte sie kurz, ehe er ihrer Freundin Adelheid von Westerburg einen Blick schenkte.
Die zwei Frauen waren nach der neusten Mode gekleidet, doch leider konnte auch das kaum über ihren schlechten Charakter hinwegtäuschen. Die innere Hässlichkeit zeigte sich genauso in ihrem Äußeren, wobei es keineswegs an der fülligen Figur lag, sondern eher an dem hämischen Ausdruck, der sich in ihren Gesichtern festgebrannt hatte.
Viktor lag es fern jemanden wegen seines Aussehens zu beurteilen, allerdings gab es bei den beiden Gänsen absolut nichts, was er anziehend fand.
„Nur ein Dummkopf zweifelt an, dass ich einer solchen Einladung nicht Folge leiste. Erstens hat Kaiser Wilhelm mich persönlich gebeten zu erscheinen. Zweitens ist es bekannt, dass ich das Theater und besonders den Bereich, der sich mit der klassischen Musik beschäftigt unterstütze. Wieso also langweilt Ihr mich mit Eurem erfundenen Geschwätz?“
Mit einem eiskalten Blick taxierte er das Fräulein, während er nach außen völlig gelangweilt erschien.
Adelheid wusste im ersten Moment nicht, wie sie auf die Abfuhr reagieren sollte, aber wie sooft in diesen Situationen kam ihre Mutter herbeigeeilt, um ihr zu helfen.
„Mein lieber Prinz Wilhelm, es ist so schön, dass wir Euch hier treffen. Wir alle hofften, dass Ihr bei der Eröffnung anwesend seid, allerdings hört man ja, wie sehr Euch Eure Geschäfte in Beschlag nehmen.“
Mit einem strahlenden Lächeln hielt die Herzogin ihm die Hand hin, die er widerwillig nahm, um einen Handkuss anzudeuten.
„Ja, tagsüber gehört meine Aufmerksamkeit ausschließlich meinen Unternehmen, das ist allgemein bekannt. Außerdem weiß jeder, dass ich es vorziehe, bei meinem Rufnamen Viktor genannt zu werden.“
Auch jetzt wurde seine Stimme keinen Deut freundlicher, aber davon ließ die resolute Dame sich kaum abschrecken. Sie hatte den Prinzen als Schwiegersohn auserkoren, egal wie ungehobelt er sich benahm. Den passenden Schliff konnte man ihm später noch beibringen, sobald er mit ihrer Tochter verheiratete war.
„Entschuldigt, Prinz von Nassau, allerdings ist Wilhelm doch so viel edler, daher nahm ich an ...“
Weiter kam sie nicht, denn Viktor stoppte sie mit einem kalten Blick, der ihr eine Gänsehaut bescherte.
„Wollt Ihr meinen Eltern unterstellen, dass sie einen unpassenden Vornamen für mich wählten?“
Sein Ton zusammen mit seiner gesamten Ausstrahlung warnte sie, bloß keinen Fehler zu machen.
„Ich finde den Namen Viktor bezaubernd. Er klingt so erhaben, so nach einem Beschützer“, mischte sich Adelheid ein, was ihr einen liebevollen Blick ihrer Mutter einbrachte.
Wieso konnte ihm dieses leere Geplapper nicht einmal erspart bleiben? Der Prinz von Nassau seufzte jetzt doch leise, allerdings erreichte er damit nur, dass die Damen ihn voll geheuchelter Sorge ansahen.
„Geht es Euch nicht gut? Wollt Ihr Euch vielleicht setzen? Wir sollten uns in eine der oberen Nischen zurückziehen.“
Odilia von Hachenburg tätschelte ihm sogar besorgt den Arm, bis er schnell einen Schritt zurücktrat.
„Nein, das ist unnötig. Ich musste lediglich an eine persönliche Angelegenheit meine Ländereien betreffend denken.“
Sofort nickten die Frauen verständnisvoll, dabei konnte er deutlich sehen, dass sie ihre Aufmerksamkeit nur heuchelten.
Sie hielten sich für etwas Besseres und in ihren Kreisen sprach man niemals über solche Dinge wie die Arbeit oder die Geschäfte, zumal sie von den Steuern ihrer Untertanen lebten. Ein Vorgehen, das Viktor auf seinen Besitztümern fast abgeschafft hatte. Seine Pächter zahlten lediglich einen minimalen Betrag. Er hatte bereits vor einigen Jahren begonnen sich in lohnende Unternehmen einzukaufen, außerdem kümmerte er sich um seine Investitionen, anstatt alles Verwaltern zu überlassen.
Ihm war bewusst, dass deshalb viele Angehörige des alten Adels die Nase über ihn rümpften, doch die Entwicklungen im letzten Jahrzehnt zeigten ihm deutlich, dass die Gesellschaft sich änderte. Immer mehr Bürgerliche, die zu Geld gekommen waren, behaupteten sich, was die Regierungsgeschäfte angingen. Wo früher nur den Hochwohlgeborenen der Zutritt gestattet war, öffneten sich jetzt die Türen für jeden, der sich klug genug anstellte.
Neben ihm plapperten die Prinzessinnen um die Wette, während Viktor seinen Gedanken nachhing, bis ein lautes Scheppern ihn aus seiner Gedankenwelt riss.
Irgendein arroganter Fatzke hatte einem Diener das Tablett aus der Hand geschlagen.
Ehe Viktor sich seinen Weg zu dem verschreckten Jungen bahnen konnte, sah er eine ihm unbekannte, ansehnliche Dame, die sich mit ihren Ellenbogen Platz schaffte.
Selbst bei der geringen Entfernung von höchstens vier Metern brauchte sie ein paar Minuten, bis sie sich vor dem Kerl aufbaute.
Interessiert beobachtete Viktor das Geschehen. Eine Frau mit Rückgrat, das gab es in ihrer Gesellschaft selten genug, außerdem war sie sehr attraktiv, zumindest so weit es ihre Rückansicht anging.
Sein Blick wanderte zu dem Adeligen, wobei es ihn keineswegs erstaunte, den Grafen zu Merenburg zu entdecken. Allerdings hätten viele andere an seiner Stelle genauso gehandelt.
Ohne auf seine Gesprächspartnerinnen zu achten, drängte er sich jetzt auch zum Ort des Geschehens, zumal er am Gesichtsausdruck des Grafen deutlich erkannte, dass der auf Vergeltung aus war.
Kurz bevor er bei den Streitenden ankam, trat ein älterer Herr hinzu, der offensichtlich versuchte zu schlichten.
Viktor vermutete, dass es sich um den Vater der Dame handeln musste, da die beiden sich sehr ähnlich sahen.
„Es ist verständlich, dass sie diesem Nichtsnutz zur Hilfe eilt. Sie stammt aus gleichen Verhältnissen. Ich verstehe nur nicht, wieso man sie hier hereingelassen hat“, bemerkte Prinzessin Adelheid, die sich natürlich sofort an seine Fersen geheftet hatte.
Die Bemerkung zusammen mit der Forderung, dass eine Entschuldigung der jungen Frau fällig sei, brachte Viktor dazu, diese beschützend hinter sich zu ziehen, um sich vor dem Grafen aufzubauen.
„Verzeiht, wenn ich mich einmische, aber wollt Ihr wirklich einen einfachen Bediensteten für das Chaos verantwortlich machen?“
Er taxierte sein Gegenüber mit einem Blick, der kaum etwas Gutes versprach, sollte er sich weiterhin so herablassend benehmen.
„Das ist weder Eure Angelegenheit, noch geht es um jemanden, der Euch tangiert, Prinz, daher bitte ich Euch, uns in Ruhe zu lassen.“
Wütend darüber, dass eine so hochgestellte Persönlichkeit hier intervenieren wollte, versuchte der Mann ihn zur Seite zu schieben.
Mit einem bösartigen Grinsen packte Viktor das Handgelenk des Kerls, verdrehte es, bis sein Widersacher schmerzvoll aufstöhnte, gleichzeitig zog er ihn dicht an sich heran.
„Wagt es die Dame noch einmal zu belästigen oder einen Untergebenen dermaßen schlecht zu behandeln, dann sorge ich dafür, dass jeder von Euren Eskapaden mit der Fürstin zu Hohenzollern erfährt. Ich glaube kaum, dass Wilhelm erfreut wäre.“
Schnell nickte der Graf, dem bereits die Tränen in die Augen traten, was ihn dazu verführte, an seinem Handgelenk zu zerren.
„Bitte, Prinz, ich beabsichtigte keinesfalls, Euch zu erzürnen. Ich gebe zu, dass mir die Pferde durchgegangen sind“, flüsterte Heinrich von Merenburg.
„Das sehe ich genauso. Und eine kleine Warnung: Solltet Ihr mich noch einmal anfassen, breche ich Euch das Genick.“
Mit der Drohung ließ er seinen Gegner los, der sich augenblicklich zurückziehen wollte, doch genau in dem Moment trat auch der Kaiser zu Ihnen.
„Mein lieber Prinz gibt es Meinungsverschiedenheiten? Oder sollten Wir sogar annehmen, dass Ihr einen Streit vom Zaun gebrochen habt?“
Sofort verbeugten sich die Herren, während die Damen verzweifelt versuchten, in den vorgeschriebenen Hofknicks zu versinken.
„Bitte, meine Herrschaften, lasst den Unsinn, bei so vielen Menschen ist es schier unmöglich, die Etikette einzuhalten.“
Mit den Worten stoppte Wilhelm seine Untertanen in dem Versuch, sich gegenseitig zu zerdrücken.
„Verzeiht Eure Majestät, dass wir Eure Aufmerksamkeit auf uns gezogen ...“, begann der Graf, doch ein Blick des Kaisers reichte, um ihn verstummen zu lassen.
„Ich erinnere mich, den Prinzen von Nassau angesprochen zu haben.“
Hochmütig wies Wilhelm seine Untertanen zurecht, von dem er im Übrigen einiges gehört hatte, was er auf keinen Fall unterstützen wollte. Obwohl er selbst die Monarchie unterstützte, duldete er es nicht, dass Unterprivilegierte schlecht behandelt wurden.
Der Graf von Merenburg murmelte etwas Unterwürfiges, ehe er Helena vernichtend ansah, da er sie für die gesamte Situation verantwortlich machte.
„Eure Majestät, es ehrt mich, dass Ihr Euch um meine Angelegenheiten sorgt, allerdings ist die kleine Meinungsverschiedenheit bereits beigelegt. Es war lediglich ein Missverständnis und der Graf wollte sich gerade bei dem jungen Diener entschuldigen. Stimmt es, mein Bester?“
Mit einem hinterhältigen Grinsen lenkte Viktor die Aufmerksamkeit erneut auf seinen Gegner, der zähneknirschend nickte.
„Es tut mir leid. Jetzt lauf, hol mir einen guten Moselwein.“
Der Bedienstete entfernte sich, so schnell er konnte, um den Wein zu bringen.
„Wie ich sehe, ist die Sache somit aus der Welt geschaffen. Wir hören es gar nicht gerne, wenn sich Unsere Untertanen auf diese Weise angreifen.“
Kaiser Wilhelm betrachtete den Grafen, dabei bekam seine Stimme einen kalten Unterton.
„Es wird nie mehr vorkommen, Eure kaiserliche Majestät.“
Damit zerstreute sich die Menge wieder, soweit es das Foyer es zuließ.
Viktor drehte sich zu der jungen Frau herum, die er vor dem Zorn des Adeligen beschützt hatte.
„Es war entweder sehr mutig oder sehr unüberlegt, sich ausgerechnet Merenburg in den Weg zu stellen“, bemerkte er, während er sie musterte.
„Wahrscheinlich eher dumm, wenn ich unserer Gesellschaft glauben darf. Allerdings bin ich der Meinung, dass niemand etwas dafürkann, in welche Gesellschaftsschicht er hineingeboren wird.“
Helena hielt dem Blick des Fremden stand. In diesem Punkt würde sie niemals kuschen! In ihren Augen hatte keiner das Recht einen anderen Menschen zu drangsalieren, nur weil er zufällig zum Adelsstand gehörte.
Hinter ihnen stieß Prinzessin Odilia von Hachenburg spöttisch die Luft aus.
„Ihr seid selbst eine der Bürgerlichen, kein Wunder also, dass Ihr es aus dem Blickwinkel seht. Verzeiht, dass wir ein gegensätzliches Verständnis unserer Welt haben.“
Hochnäsig musterte Odilia Helena, dabei wurde ihr bewusst, dass sie weder an das Aussehen noch an den Charakter der Rivalin heranreichen konnte. Sie hätte sich niemals so für einen anderen Menschen eingesetzt und ihren guten Ruf riskiert.
„Kommt Prinz, Ihr werdet doch Eure kostbare Zeit kaum an eine Gastwirtstochter verschwenden wollen.“
Auguste Amalie Henriette Elisabeth Maria von Westerburg hakte sich vertraulich bei Viktor ein, um ihn in eine Nische zu bringen. Dort sollte er sich um ihre Tochter kümmern, nur hatte sie da die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
„Wollt Ihr mir gerade vorschreiben, mit wem ich meine Freizeit verbringe?“
Mit hochgezogener Augenbraue musterte er zuerst die korpulente Frau, anschließend sah er bezeichnend auf ihre Finger, die sich augenblicklich von seinem Ärmel lösten.
„Natürlich nicht, ich dachte nur ... ich dachte, es sei unter ... vielleicht möchtet Ihr Euch ...“, stammelnd brach sie ab.
Viktor beugte sich zu ihr herunter, sodass nur sie ihn hörte.
„Ihr solltet das Denken den Pferden überlassen, die haben die größeren Köpfe. Jetzt gehabt Euch wohl, ich ziehe es vor, die angenehme Gesellschaft der Wirtstochter zu genießen. Sie hat wenigstens Mut.“
Ohne weiter auf die empörte Frau zu achten, drehte er sich zu Helena und ihrem Vater.
„Vielen Dank, dass Ihr Euch so sehr für mein Lenchen eingesetzt habt, Prinz von Nassau.“
Otto machte einen Diener, dabei sah er den Retter seiner Tochter dankbar an. Selbstverständlich hatte er den Adeligen längst erkannt.
„Es war mir eine Ehre, allerdings wüsste ich gerne, wen ich überhaupt verteidigt habe.“
Jetzt setzte Viktor sein charmantestes Lächeln auf, wohl wissend, dass er damit die Herzen des weiblichen Geschlechts im Sturm eroberte, nur in diesem Fall schien es kaum zu funktionieren.
Die junge Dame lächelte ihm freundlich zu, mehr aber auch nicht. Ein weiterer Pluspunkt, der auf ihr Konto wanderte. Auf so eine Herausforderung wartete er schon lange.
„Darf ich vorstellen? Meine Tochter Helena Lucia Katharina Goetz.“
Otto deutete voll Stolz auf Helena, die in einen Knicks versank.
„Bitte nicht. Es besteht kein Grund, vor mir auf die Knie zu gehen.“
Sofort schob Viktor seine Hand unter ihren Ellenbogen, um ihr hochzuhelfen, dabei nutzte er die Gelegenheit, um sie eindringlich zu mustern.
Sie sah wirklich bezaubernd aus, dazu kam ihr ausgezeichneter Charakter, den sie vorhin bewiesen hatte und sie war offensichtlich keine leichte Beute. Alles in allem eine Frau, die endlich wieder seinen Jagdinstinkt weckte.
„Dann seid Ihr Herr Goetz, der Besitzer vom „Schwarzen Fasanen?“, erkundigte Viktor sich, nachdem er bedauernd seine Hand von Helenas Arm nahm.
„Genau der bin ich. Es ehrt mich, dass Ihr schon von meinem bescheidenen Lokal Kenntnis genommen habt.“
Viktor lachte auf.
„Ihr stapelt tief, mein Bester. Wer in Wiesbaden hat noch nichts von Ihren vorzüglichen Speisen oder den ausgefallenen Getränken gehört?“
Otto winkte verlegen ab.
„So außergewöhnlich geht es bei uns keineswegs zu. Aber vielleicht darf ich Euch bitten, einmal bei uns einzukehren. Somit könnte ich ein wenig meiner Schuld Euch gegenüber wieder gutmachen.“
Helena hätte bei den Worten am liebsten die Augen verdreht. Als ob dieser Prinz sie heiraten würde. Er war ihr zur Hilfe geeilt, weil er sie offensichtlich attraktiv fand, das war keine neue Erfahrung für sie.
„Die Einladung nehme ich gerne an, allerdings habe ich eine kleine Bedingung.“
Sofort nickte Otto zustimmend. Jemand, der sein Lenchen beschützte, adeliger Abstammung war und auch noch Interesse an ihr zeigte, durfte so ziemlich alles fordern.
„Ich werde zu Euch kommen, wenn Eure Tochter mir den ersten Tanz verspricht. Kaiser Wilhelm wird später den Ball eröffnen. Erfahrungsgemäß mit einem Wiener Walzer, da möchte ich die Schönste der Damen in meinen Armen halten.“
Otto lachte beifällig, nur Helena schüttelte leicht den Kopf.
„Ihr seid ein Charmeur, Prinz. Allerdings gebe ich zu, dass ich Euch diese Bitte kaum abschlagen kann.“
Sie schenkte ihm ein Lächeln, zumal er wirklich ansehnlich aussah. Zu gerne hätte sie mehr über ihn erfahren, sich mit ihm richtig unterhalten, nur glaubte sie nicht, dass er seriöse Absichten hegte.
„Ich werde den Tanz einfordern. Bis später schöne Helena.“
Sein Grinsen grenzte ans Unverschämte, als er sich kurz verbeugte, um sich gleich darauf wieder unter die Leute zu mischen.
„Na das nenne ich mal einen Prachtkerl“, murmelte Otto seiner Tochter zugewandt.
„Dem stimme ich zu, Papa, nur glaube ich kaum, dass er sich ausgerechnet mich aussucht. So viele wahre Schönheiten mit Rang, Namen und Geld haben bereits versucht, ihn an sich zu binden. Keine hatte Erfolg. Er war höflich, außerdem ist er bekannt dafür, dass er sich für die Schwächeren einsetzt.“
Mit den Worten sorgte Helena, dass ihr Vater zurück auf den Boden der Tatsachen kam, doch dieses Mal lächelte er nur versonnen.
So wie es aussah, dachte er wirklich, dass der Prinz von Nassau ihr einen Heiratsantrag machen würde.
Die Aussicht war verlockend, das musste Lenchen zugeben, nur glaubte sie nicht daran.
Nachdenklich suchte sie die Menschenmenge nach dem Mann ab, der ihr zur Hilfe geeilt war. Sie entdeckte ihn, als er der Freifrau von Lüttwitz formvollendet die Hand küsste. Kurz darauf scherzte er mit ihr, was Helena vor Augen führte, dass sie weit unter ihm stand.
„So viel zu deinen Träumen, Papa“, flüsterte sie, gleichzeitig deutete sie auf Viktor, der sich immer noch angeregt mit der Freifrau und ihren beiden Töchtern unterhielt.
„Abwarten, meine Kleine, abwarten. Er war doch sehr von dir angetan. Ich wette, er wird mit dir tanzen, dann ist der erste Schritt getan.“
Otto ließ sich nicht von seiner Sicht der Dinge abbringen. Im Gegenteil er setzte große Hoffnungen in diesen Prinzen, der sich so anders benahm, als die meisten, die hier versammelt waren.

~~°~~

Ein Diener bat um Ruhe, da der Kaiser eine Rede halten wollte, ehe man zum eigentlichen Ball überging.
Die Aristokraten beeilten sich über die beiden Treppen zu den oberen Rängen zu kommen, in deren Nischen Sitzplätze angeordnet waren, sodass im unteren Bereich plötzlich genug Platz zum Tanzen entstand.
Jetzt kündigte ein Bediensteter Wilhelm den II an, was dazu führte, dass die Anwesenden im Foyer in Schweigen verfielen, somit konnte der Kaiser von jedem gut gehört werden.
Er erzählte von den Entwürfen, den Bauarbeiten und natürlich dankte er dem Mäzen, der einen Teil des Baus finanziert hatte.
Viktor verbeugte sich leicht, als sein Name fiel, dabei hätte er auf die Erwähnung gerne verzichtet. Ihm war die Oper wichtig, nicht die ganzen Stutzer, die sich jetzt hervortaten.
Kurz darauf wurde der Ball eröffnet, doch ehe er sich nach der bezaubernden Helena umsehen konnte, stand auch schon Adelheid von Westerburg an seiner Seite.
„Ich weiß, dass es sich kaum geziemt, darf ich dennoch um diesen Tanz bitten?“
Geziert hielt sie ihm ihre Hand hin.
Genau in dem Augenblick bemerkte er Helena, die sich so abrupt umdrehte, dass es keine Kunst war, zu erkennen, was sie dachte.
Zu gerne hätte Viktor laut geflucht, aber das verbot selbst ihm die Erziehung.
Spöttisch musterte er die pummelige Frau, die es wagte auf andere herabzusehen, obwohl sie von denen einiges lernen konnte, wenn es um Mitgefühl ging.
„Ich denke nicht“, damit ließ er sie stehen, um sich einen Weg zu der Tochter des Gastwirtes zu bahnen.
Wie erstarrt blickte Adelheid ihm hinterher, dabei wusste sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht, was sie tun sollte. So eine Abfuhr hatte sie noch nie bekommen.
„Jetzt sieh dir das an. Er fordert doch tatsächlich die Gastwirtsgöre auf.“
Odilia war zu ihr getreten, da auch sie keinen Tanzpartner abbekommen hatte.
„Wahrscheinlich fühlt er sich einfach verpflichtet, weil er sie verteidigt hat. Manchmal schießt er über das Ziel hinaus, wenn er allen beweisen will, wie anders er ist.“
Adelheid lächelte grimmig.
Auf keinen Fall ließ sie sich die Partie vermasseln und sollte dieses Bauerntrampel ihr noch einmal in die Parade fahren, würde sie ihr zeigen, wohin sie gehörte.

~~°~~

Ehrlich gab Helena zu, dass sie vom Verhalten des Prinzen enttäuscht war. Irgendwie hatte sie gehofft, dass er sie zum Eröffnungstanz aufforderte, zumal es sich, wie erwartet, um einen Wiener Walzer handelte, den sie leidenschaftlich gerne tanzte.
Natürlich beherrschte sie auch den Rheinländer, das Menuett und den Contre Dance. Allerdings war es etwas anderes in den Armen eines Mannes über das Parkett zu schweben oder eben zu vorgegebenen Ansagen eine Figur zu tanzen. Ganz besonders, wenn es um einen Tänzer wie den Prinzen von Nassau ging.
Ein älterer Herr kam auf sie zu. Helena kannte ihn von einigen Treffen im väterlichen Gasthaus. Eduard Bauer war ein höflicher, freundlicher Zeitgenosse mit einem Bauch, der für seine gutmütige Einstellung bekannt war.
Schnell verbannte sie die Gedanken an einen gewissen Adeligen, denn sie tanzte lieber mit dem beleibten Bankier, als alleine in einer Ecke zu stehen. Vermutlich fand ihr Papa bald eine Tanzpartnerin, sodass auch er sich vergnügen konnte.
„Fräulein Helena, darf ich Sie um diesen Walzer bitten? Die Erlaubnis Ihres Herrn Vaters vorausgesetzt.“
Otto nickte wohlwollend, da er den Mann kannte und keinerlei Gefahr in ihm für seine Tochter sah.
Lenchen lächelte ihm zu, dabei wollte sie gerade ihre Fingerspitzen auf seinen Arm legen, als sie regelrecht abgefangen wurde.
„Verzeiht mir, Herr Bauer, aber ich fürchte, den Tanz hat Fräulein Goetz mir bereits versprochen.“
Mit einem breiten Grinsen und ohne auf ihre Antwort zu warten, legte er ihre Hand auf seinen Arm, um sie zur Tanzfläche zu bringen.
„Habt Ihr Euer Versprechen so schnell vergessen?“, fragte Viktor, als er sie an sich zog, kurz, nachdem sie das Tanzparkett erreicht hatten.
Ein wenig Enttäuschung klang in seiner Frage mit oder bildete sie sich das nur ein?
„Natürlich nicht, aber ich sah Euch bei Prinzessin von Westerburg, da dachte ich ...“, verlegen verstummte sie, als ihr auffiel, dass sie sich fast schon eifersüchtig anhörte.
„Da dachtet Ihr was?“
Seine Stimme hörte sich so sanft an, dass sie für einen Augenblick aus dem Takt kam, doch er fing sie sofort auf, um sie in eine schwungvolle Drehung zu führen.
„Könntet Ihr so liebenswürdig sein, meine dumme Annahme zu vergessen? Ich ziehe es vor, das Thema zu wechseln.“
Mit einem bittenden Lächeln blickte sie ihn an, allerdings sah sie die Antwort bereits in seinen Augen.
„Meine Liebe, ich bin vieles, aber gewiss nicht liebenswürdig. Ihr könnt fragen, wen immer ihr wollt, dieses Attribut werdet ihr nie in Zusammenhang mit meiner Person hören. Also, was dachtet ihr? Ich bin wahnsinnig neugierig.“
In seinen Pupillen blitzte es auf, daran erkannte sie, dass es ihm gefiel, sie in Verlegenheit zu bringen.
„Ihr seid ein Biest! Ihr wisst genau, was ich geglaubt habe, trotzdem besteht Ihr darauf, dass ich es ausspreche, nur um mich zu demütigen.“
Empört wollte sie ihn auf der Tanzfläche stehen lassen, doch das wusste er zu verhindern. Schnell verstärkte er den Griff um ihre Taille, wirbelte sie über die Fläche, dabei steuerte er eine offenstehende Tür an.
„Lasst mich los!“, forderte Helena, allerdings traute sie sich nicht, wirklich laut zu werden.
„Ich denke gar nicht daran.“
Ohne auf ihren Protest zu achten, zog er sie durch die Tür, führte sie einen Gang entlang, bis sie sich auf dem Bowling Green vor dem Hoftheater wiederfand. Es waren neben den Gaslaternen einige Fackeln aufgestellt worden, die der Grünfläche einen romantischen Anstrich gaben.
Gott sei Dank fanden sich hier etliche Besucher ein, die frische Luft schnappen wollten, sodass sie keiner kompromittierenden Situation entgegensehen musste.
„Was fällt Euch ein?“
Helena schwankte zwischen Wut und ein klein wenig Angst, da der Prinz ihr deutlich demonstriert hatte, welche Kraft er besaß.
„Ich bekomme immer, was ich will, liebste Helena. Jetzt erwarte ich eine Antwort. Habt Ihr Euch wirklich eingeredet, dass ich diese Gans vorziehe?“
Mit einem unergründlichen Blick zog er sie in seinen Bann, dabei schimmerten seine braunen Augen liebevoll.
Für einen kurzen Augenblick hoffte Lenchen, dass er sie küssen würde, doch er trat einen Schritt zurück, zog ihren Arm durch seine Ellenbeuge, um mit ihr auf einen der prachtvollen Kaskadenspringbrunnen zuzugehen.
„Ich warte und glaubt mir, ich bin ein ungeduldiger Mann.“
Obwohl seine Worte sich wie eine Drohung anhörten, klang seine Stimme immer noch sanft.
„Ja, genau das dachte ich. Sie ist eine Prinzessin, daher steht sie höher im Rang als ich, eine einfache Gastwirtstochter“, stieß Helena bitter hervor.
Wie oft war sie schon auf ihre niedere Herkunft reduziert worden, dabei hoffte sie, dass die Zeiten sich endlich änderten. Nur blieb diese Hoffnung ihr wohl verwehrt.
Viktor lachte laut auf, sodass die anderen Gäste sich neugierig zu ihnen umsahen.
„Habt Ihr Euch jemals gefragt, was ein Mann an einer solchen Gans finden könnte? Euch einen Korb geben, um meine Freizeit mit der herzlosen, hochnäsigen Adelheid zu vergeuden, käme mir niemals in den Sinn. In der Tat kam sie auf mich zu, um mich aufzufordern.“
Völlig verwirrt blickte Helena zu ihm hoch, gleichzeitig blieb sie stehen.
„Ihr meint, Ihr habt sie versetzt, um mit mir zu tanzen?“
In ihrer Stimme klang Ungläubigkeit mit.
Viktor lächelte leicht, stellte sich vor sie und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus dem Zopf gelöst hatte.
„Was ist daran so verwunderlich? Ihr besitzt Mut, seid mitfühlend und darüber hinaus äußerst attraktiv. Allerdings wisst Ihr das.“
Erschrocken zuckte Helena zurück. Es schickte sich nicht, dass er sie in der Öffentlichkeit so vertraulich behandelte, obwohl sie sich im Augenblick fühlte, als ob sie völlig alleine wären.
„Bitte, Prinz, wahrt den Abstand, der sich geziemt. Wenn gleich ich kein blaues Blut besitze, so muss ich doch auf meinen Ruf achten. Vielleicht ist es Euch unbekannt, dass auch bürgerliche Herren keine leichten Mädchen zur Frau nehmen.“
Jetzt blitzten ihre Augen wütend auf, da sie annahm, dass er lediglich mit ihr spielte. Lenchen glaubte keineswegs, dass er mehr als einen lustigen Zeitvertreib in ihr sah.
Mit einem hintergründigen Lächeln deutete Viktor auf den Brunnen, der nur noch ein paar Schritte entfernt war.
„Lasst uns das Kunstwerk näher betrachten, es ist es wert.“
Ohne Argwohn stimmte Helena zu, zumal sie die Kaskadenbrunnen auf dem Bowling Green wunderschön fand.
Charmant bot er ihr seinen Arm, den sie mit einem leichten Nicken akzeptierte, um sie bis zu dem Springbrunnen zu bringen.
„Ein Meisterwerk findet Ihr nicht auch?“
Helena blickte bewundernd auf den Brunnen, der von Fackeln beleuchtet wurde. Das Licht spiegelte sich im Wasser, das von einer Stufe zur nächsten plätscherte.
Für einen Moment vergaß sie, wo sie sich befand, versank völlig in der Betrachtung des Wasserspiels.
„Ihr seid wunderschön.“
Die geflüsterten Worte versetzten Lenchen sofort wieder in die Gegenwart zurück, hatte sie den Prinzen einfach vergessen.
Irritiert bemerkte sie, dass er hinter ihr stand, zu dicht für ihre Erziehung, allerdings klopfte ihr närrisches Herz bereits schneller.
Verlegen drehte sie sich um, in der Hoffnung, dass ihr Begleiter einen Schritt zurückwich, doch der dachte gar nicht daran.
Viktor begrüßte es, dass sie sich ihm zuwandte, so konnte er ihr direkt in die kühlen, grünen Augen sehen. Ihr Blick war abweisend mit einer guten Portion Misstrauen und genau das wollte er ändern.
In ihm regte sich ein Gefühl, das er schon lange vermisst hatte: Er spürte Leidenschaft!
Wie gerne würde er sie jetzt einfach auf seine Arme heben, um sie in seine Villa zu entführen. Dort plante er, sie nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Helena sollte ihm verfallen.
„Bitte.“
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Träumen, doch er legte sofort seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. Mit seinem Blick fing er sie ein, zog sie in seinen Bann, fesselte sie, bis sie in seinen Pupillen versank.
Lenchen blickte den Prinzen an, bemerkte die Sehnsucht in seinen Augen, die sie normalerweise gewarnt hätte, nur in diesem Augenblick, verstand sie ihn. Sie spürte das gleiche Verlangen, die Leere in ihrem Inneren mit tiefen Gefühlen zu füllen.
Die Umwelt verschwamm, während sie sich nur ansahen, dabei schirmte Viktors Körper sie vor den Blicken der anderen Gäste völlig ab.
Mit einem sinnlichen Lächeln beugte er sich vor, berührte ihre Lippen mit seinen. Unendlich sanft strich er mit der Zungenspitze über ihre Unterlippe, wobei er damit rechnete, dass sie jede Sekunde wie ein gehetztes Reh wegrennen würde.
Helena wusste, dass sie ihm Einhalt gebieten musste, nur schaffte sie es kaum, die tadelnden Worte auszusprechen. Die Gefühle, die dieser zarte Kuss in ihr hervorriefen, waren so süß, dass sie den Moment auskosten wollte.
Erst als sich die Hände des Prinzen an ihr Gesicht legten und er mit der Zunge in ihren Mund eindrang, wehrte sie sich.
Mit schamroten Wangen drückte sie ihre Handflächen gegen seinen Brustkorb, dabei versuchte sie, den Kopf zu schütteln.
Sofort gab er sie frei, doch anstatt sich erleichtert zu fühlen, spürte sie eine enttäuschende Leere.
„Verzeiht mir, ich war zu schnell. Ihr seid unerfahren, sodass ich Euch erschreckt habe.“
Verwirrt von seinem Verhalten und ihren eigenen Gefühlen sah sie ihn nur schwer atmend an.
Viktor stand immer noch vor ihr, verdeckte die Sicht auf sie, allerdings berührte er sie nicht mehr, was ihm verdammt schwerfiel. Er wollte sie verführen, sie in seinen Bann ziehen, nur würde es so auf keinen Fall funktionieren. Sollte er seine Ungeduld nicht in den Griff bekommen, verscheuchte er sie ganz bestimmt.
„Lasst uns bitte wieder reingehen. Mein Vater vermisst mich sicherlich.“
Ihre Stimme klang unsicher, brüchig, was ihm verriet, dass sie ihre Gedanken und Gefühle kaum ordnen konnte.
„Seid Ihr sicher, dass Ihr das wollt? Euer Herr Papa weiß, dass Ihr Euch bei mir in den besten Händen befindet. Er wird keine Einwände haben. Drinnen erwartet uns neben Hochnäsigkeit auch noch Dummheit.“
Eindringlich sah er sie an, was Lenchen erneut dazu verführte sich in seinen braunen Augen zu verlieren.
Ein lautes Lachen, das sie Prinzessin von Westerburg zuordnete, katapultierte sie augenblicklich in die Realität zurück.
„Ja, ich möchte sofort zurückgehen.“
Energisch schob sie sich an ihm vorbei, um notfalls alleine ins Foyer zurückzukehren, doch Viktor bot ihr galant den Arm.
„Ich habe nicht vor aufzugeben, falls Ihr das denken solltet. Seid gewarnt, schöne Helena, ich bin Euch auf der Spur.“
Mit einem sinnlichen Lächeln und dieser Warnung brachte er sie zum Ballsaal, wo jetzt auch Herr Bauer zu seinem Tanz kam.
Viktor grinste heimlich, da er genau wusste, dass sie ihn keinesfalls so schnell vergessen würde, wie sie es sich gerade vornahm.
Dumm, dass er sich selbst so wenig unter Kontrolle hatte, deshalb sollte er zukünftig vorsichtiger agieren, was auf der anderen Seite den Spaß erhöhte. Er war ein Jäger, der die Beute umso höher einschätzte, je mehr er sich anstrengen musste.
An diesem Abend hielt er sich von Helena fern, allerdings genoss er es, sie mit etwas Abstand zu beobachten.

~~°~~

Lenchen wusste nicht so genau, ob sie froh sein sollte, dass der Prinz von Nassau sich zurückgezogen hatte oder ob sie deshalb traurig war. Sie spürte nur eine seltsame Leere, für die sie kaum eine Erklärung fand.
Während sie in einer Tanzpause an ihrem Wein nippte, überlegte sie, ob sie sich wirklich so schnell in den Mann verliebt hatte.
Natürlich gefiel er ihr, wie könnte es auch anders sein? Er hatte schwarzes, glänzendes Haar, eine muskulöse Figur, was ihr beim Tanzen deutlich aufgefallen war. Dazu kam ein bezauberndes Lächeln, das er leider zu selten sehen ließ.
Seine braunen Augen hatten sie so sanft und liebevoll angesehen, dass sie kaum in der Lage war, den Blick von ihm zu lösen.
Jemand rempelte sie an, was ihr in Erinnerung rief, dass sie inmitten der vielen Menschen ihren Gedanken nachhing. Außerdem grübelte sie über eine Person nach, die sie kompromittieren wollte, jedenfalls fasste sie seine Warnung so auf.
Schnell schob sie alle Träumereien zur Seite. Auf keinen Fall würde sie sich weiter mit dem seltsamen Prinzen befassen, der seinen Spaß daran fand, sie zu verwirren.
Obwohl sie an dem Abend noch sehr oft zum Tanzen aufgefordert wurde, konnte es keiner mit Viktor aufnehmen. Er war in jeder Hinsicht einzigartig, was Helena fast missmutig feststellte, da sie schon wieder an ihn dachte.
Kurz vor Morgengrauen trat sie mit ihrem Vater den Heimweg an. Es war die dunkelste Stunde des Tages, die ihr immer ein wenig Angst machte, nur in dieser Nacht fühlte sie sich seltsam beschützt.
Schweigsam ließ sie sich von ihrer Zofe aus dem Ballkleid helfen, anschließend schnürte Berta ihr das Korsett auf, ehe sie ihr auch aus der Unterwäsche half, um ihr zuletzt ein Nachthemd überzustreifen.
„Ihr seid so still. Ist es so langweilig gewesen?“
Prüfend sah die ältere Frau ihren Schützling an, denn so kannte sie Helena nicht.
„Nein, Berta, es war zauberhaft, allerdings bin ich so müde, dass ich in der Lage bin, im Stehen einzuschlafen.“
Demonstrativ gähnte Lenchen, ehe sie sich an ihren Frisiertisch setzte, damit ihre Zofe den Zopf lösen und ihre Haare ausbürsten konnte.

~~°~~

Viktor hatte den gesamten Abend die faszinierende Frau kaum aus den Augen gelassen, allerdings war er dabei so geschickt gewesen, dass sie es nie bemerkt hatte.
Jetzt sah er, dass sie zusammen mit ihrem Vater die Gesellschaft verließ. Zu seinem eigenen Erstaunen stellte er fest, dass er sie nur ungern gehen lassen wollte. In der Tat genoss er es, sie zu beobachten, ihr Verhalten zu studieren und ihr auf diese Weise nahe zu sein.
Missmutig trank er den letzten Schluck Wein, der noch in seinem Glas war, anschließend verabschiedete er sich ebenfalls. Ohne seine Beute bereitete ihm der Ball keinen Spaß mehr.
Im Eingangsbereich ließ er sich Hut, Mantel, Handschuhe und den Spazierstock geben, danach verließ er das Hoftheater.
Einen Moment blickte er in den sternenklaren Himmel, ehe er sich auf den Heimweg machte. Viktor beschloss, das Stück zu Fuß zu gehen. Er brauchte Bewegung, auch um die unerfreulichen Szenen des Abends aus dem Kopf zu bekommen.
Es schien, dass es dringend notwendig war, die hochnäsigen Prinzessinnen in ihre Schranken zu weisen. Zumal er gehört hatte, wie Adelheid sich tatsächlich höhnisch über Helena ausließ. Die Eifersucht trübte offensichtlich ihren Verstand, soweit sie überhaupt davon Gebrauch machte.
Energisch schob er diese unerfreulichen Erinnerungen zur Seite, stattdessen rief er sich lieber das mutige Verhalten der kleinen Gastwirtstochter ins Gedächtnis. Ein breites Lächeln glitt über sein Gesicht, als er an den süßen Kuss dachte, den er ihr gestohlen hatte.
Er gab ihr Recht, dass er sie niemals ehelichen würde, allerdings gab es dafür nur ehrenwerte Hintergründe, obwohl es im ersten Moment völlig anders aussah. Eine Heirat verbot sich ihm aus dem gleichen Grund, aus dem er keine feste Bindung einging.
Viktor lief mit sicherem Schritt auf die Wilhelmstraße zu, nur war es ihm noch zu früh, um zu schlafen, deshalb bog er mit einem melancholischen Seufzen in die Spiegelgasse ein. Nach ein paar Metern folgte er der Webergasse, wo er in einigem Abstand eine der berühmten heißen Quellen Wiesbadens passierte. Viele Aristokraten und auch die wohlhabenden Bürgerlichen kehrten in der Stadt ein, um an einer Trink- oder Badekur teilzunehmen. Mittlerweile nannte man seinen Wohnort Weltkurort, was kaum untertrieben war.
Verächtlich verzog Viktor das Gesicht, als er daran dachte, was für Leute hierher kamen. Verwöhnte Töchter von hochgestellten Adeligen, reiche Geschäftsleute, die sich zu gerne unter die Edlen mischten, um sich selbst besser zu fühlen und selbstverständlich die Taschendiebe, die gerade in den warmen Monaten Hochkonjunktur hatten.
Natürlich gab es auch gute Menschen, die ihrer Gesundheit auf die Sprünge halfen, nur benahmen sich diese meistens unauffälliger.
Sofort musste Viktor wieder an Helena denken, die so selbstlos für den Diener in die Bresche gesprungen war.
Die junge Dame imponierte ihm, was er lächelnd zu gab.
Ganz in Gedanken versunken folgte er der Römerstraße, die später in die Kastellstraße überging.
In der Gegend wurde es allmählich dunkler, Gaslaternen gab es hier weniger als vor dem Kurhaus, was ihm völlig recht war. Das grelle Licht tat seinen Augen weh, wobei er sich an den Schmerz bereits gewöhnt hatte.
Endlich erreichte er die Platter Straße und damit den Alten Friedhof, den er besuchen wollte.
Das Tor hatte man natürlich zu dieser Stunde geschlossen, der Friedhofswärter lag gewiss in tiefem Schlummer, nur würde ihn das kaum abhalten.
Einen Augenblick sah Viktor sich mit geschärften Sinnen um, spürte, ob es jemanden in seiner Nähe gab, doch es war alles ruhig.
Mit einem eleganten Satz sprang er über das Eingangstor, dabei grinste er diabolisch. Niemand konnte ihn von hier fernhalten!
Fast lautlos ging er den Hauptweg entlang, während er die prunkvoll gestalteten Gräber nicht beachtete. Ihn zog es zu einem bestimmten Platz.
Als er am Mausoleum von Pauline von Nassau vorbeikam, blieb er stehen, um das kunstvolle Bauwerk zu bewundern. Es glich einem kleinen Tempel, der von vorne offen war. Oben auf der Grabstätte standen drei Engelfiguren.
Bei den Engeln verzog er kurz spöttisch das Gesicht, ehe er seinen Blick über die Grabtafeln schweifen ließ.
Pauline war eine herzliche, liebenswürdige Person gewesen, die es allerdings verstand ihre eigene Meinung durchzusetzen. Einen Moment dachte Viktor an ihren Ehemann, Wilhelm I von Nassau, der ein echter Tyrann war.
Seufzend schüttelte er den Kopf, seine Nichte hätte einen einfühlsameren Mann dringend gebraucht.
Der Ruf einer Eule schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch, sodass er seinen Weg bis zu einem prachtvollen, aber ziemlich versteckten Grabmal fortsetzte.
Hier hockte er sich auf den Sockel, lehnte sich an die Statue, die den Tod darstellte, und atmete tief durch. Immer wenn er herkam, fand er die Ruhe, die er woanders oft genug vermisste.
Kaum jemand erinnerte sich daran, dass unmittelbar nach der Einweihung des Friedhofs eine Umbettung stattgefunden hatte. Damals war das Grab entstanden, an dem er jetzt saß.
Er dachte an den Tag, als er den Grabschmuck in Auftrag gegeben hatte. Selbst nach der langen Zeit traten ihm die Tränen in die Augen, als er die verwitterte Inschrift betrachtete. Charlotte Elisabeth Isabella Prinzessin von Nassau-Weilburg war seine große Liebe gewesen. Mit ihr hatte er die glücklichsten Augenblicke seines Lebens verbracht. Den zweiten Namen, der auf der Tafel stand, die der Tod in den Händen hielt, beachtete er kaum.
Mittlerweile gab es auf dem alten Friedhof nur noch Beerdigungen, die das Haus Nassau betrafen, alle anderen Menschen begrub man auf dem neuen Nordfriedhof.
Viktor schloss für einen Moment die Lider, doch sofort sah er den eindringlichen Blick von Helena, als sie ihm kurz nach dem Kuss so angefahren hatte.
Es verwunderte ihn, dass ihn trotz seiner schmerzhaften Erfahrungen, die in all den Jahren kaum nachgelassen hatte, eine Frau so beeindruckte. Konnte es wirklich möglich sein, dass sein Herz sich langsam wieder öffnete?
Natürlich würde er es ihr nicht antun, sie zu heiraten, allerdings wollte er ihr noch mehr als eine so harmlose Kleinigkeit rauben. Sie sollte in seinen Armen wahre Leidenschaft kennenlernen!

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Tag der Veröffentlichung: 15.08.2019

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