Prolog
Mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen stieg Kyrill aus dem Flugzeug. Es durfte einfach nicht wahr sein, was seine Schwiegermutter ihm vor einigen Stunden mitgeteilt hatte: Seine Tochter und seine geliebte Ehefrau konnten unmöglich verbrannt sein.
Immer wieder schüttelte er den Kopf, versuchte die böse Vorahnung zu verscheuchen. Verzweifelt klammerte er sich an die Hoffnung, dass die Frau, die ihn hasste, sich nur einen makaberen Scherz erlaubt hatte.
Er war nach dem Telefonat sofort zum Flughafen gefahren, um die nächste Maschine nach Hause zu nehmen, sodass er jetzt nicht auf sein Gepäck warten musste.
Nikolaj würde es später mitbringen.
Bei den Überlegungen erinnerte er sich daran, dass sein Schützling zum ersten Mal Weltmeister im Schwergewicht geworden war, aber zu welchem Preis?
Gab es diesen Brand wirklich? War das vielleicht die ausgleichende Gerechtigkeit?
Solche absurden Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er in der Schlange stand, um den Zoll hinter sich zu bringen. Immer wieder hörte er die Stimme seiner Schwiegermutter, die ihm vorwarf ihre Tochter, seine Ehefrau im Stich gelassen zu haben. Angeblich hatte ein Feuer sie im Schlaf erwischt.
Angst hielt ihn fest im Griff, gleichzeitig weigerte er sich, die Nachrichten zu glauben. Bestimmt würde Irina gleich lachend aus dem Haus gelaufen kommen und ihn einen Dummkopf schimpfen, weil er auf ihre Mutter gehört hatte.
Endlich war er durch den Zoll, rannte aus dem Gebäude, um sich sofort in ein Taxi zu setzen. Schnell nannte er dem Fahrer seine Adresse, wobei ihn erneut die böse Vorahnung beschlich, dass es doch wahr sein könnte.
Der Verkehr in Sankt Petersburg war zähflüssig wie immer, sodass er noch eine Galgenfrist hatte, in der er sich einredete, dass das alles nur ein großes Missverständnis war.
Die leise Stimme in seinem Hinterkopf, die ihn daran erinnerte, dass seine Schwiegermutter während des Telefonats in Tränen ausgebrochen war, ignorierte er.
Endlich hielt das Taxi.
Kyrill riss die Tür auf, nur um gleich darauf zurückzuprallen. Er stand vor den verkohlten Trümmern seines Hauses.
Die grausame Realität schlug ihm ins Gesicht: Katharina und Irina waren tot!
Fassungslos sank er auf die Knie, beachtete den Taxifahrer nicht, der ihm aufhelfen wollte. Im Gegenteil, er stieß seine Hände weg, starrte nur auf die Überreste des Gebäudes, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.
Endlich löste sich ein Schrei aus seinem Inneren.
Seine Schwiegermutter hatte ausnahmsweise Mal die Wahrheit gesagt!
Mühsam rappelte er sich auf, ging wie in Trance auf das Taxi zu und bat den Fahrer ihn zurück zum Flughafen zu bringen.
Er musste hier weg, weg von den Trümmern, die ihm so grausam zeigten, was er verloren hatte.
Bei einem weiteren Telefonat sagte die Mutter seiner geliebten Irina, dass er auf der Beerdigung nicht erwünscht sei. Sie warf ihm vor, dass es seine Schuld war, so als ob er das Feuer selbst gelegt hätte. Angeblich löste ein Kabelbrand die Katastrophe aus.
Ohne zu überlegen, buchte Kyrill sich den ersten Flug, der ihn von Sankt Petersburg wegbrachte.
Kapitel 1
Kyrill schreckte schweißgebadet von seinem eigenen Schrei hoch. Einen Moment brauchte er, um sich zu orientieren, dann ließ er sich mit einem tiefen Atemzug zurückfallen.
Er erinnerte sich zu deutlich an den Albtraum, der ihn gerade eben geweckt hatte. Es handelte sich ständig um die gleiche Szene: Er stand vor dem brennenden Haus am Rande von Sankt Petersburg, in dem seine Frau und seine Tochter umgekommen waren. Er hörte ihre Schreie, versuchte sie zu retten, wollte in die Flammen laufen, aber irgendjemand hielt ihn eisern fest. Er hatte keine Chance, egal was er unternahm.
Natürlich wusste er genau, dass er damals kaum in der Lage gewesen wäre, das Unglück zu verhindern, denn er befand sich zu dieser Zeit in England.
Immer wenn er an die Katastrophe dachte, überlegte er, ob er irgendetwas hätte tun können. War es wirklich seine Schuld? Hatte er die Wartung seines Hauses so sehr vernachlässigt, dass der Kabelbrand alles in Flammen aufgehen ließ? Die Polizei und die Feuerwehr teilten ihm mit, dass ein defektes Kabel den Brand auslöste.
Er erinnerte sich genau, dass er mit seinem Schützling Nikolaj zu dessen erstem Weltmeisterschaftskampf im Schwergewicht geflogen war. Kolja holte den Titel, auch das würde er niemals vergessen. Aber die Freude über den Sieg schwand sofort, als der verhängnisvolle Anruf seiner Schwiegermutter kam.
Die Eltern seiner Frau Irina mochten ihn von Anfang an nicht, was sie ihn deutlich spüren ließen, daher wunderte er sich, dass sie ihn anrief. Bis er sich meldete, ohne eine Begrüßung überschüttete sie ihn mit bösartigsten Vorwürfen.
Kyrill schluckte schwer, als er versuchte die trüben Gedanken in den hintersten Winkel seines Gehirns zu schieben. Er hatte damals, nachdem er die Trümmer seines Hauses sah, den erstbesten Flug genommen. Erst in Griechenland kam er zu sich, doch der Schmerz wütete so stark in ihm, dass er beschloss, zuerst einmal dort zu bleiben.
Nikolaj holte ihn ins Leben zurück, weil er nicht locker ließ. Im Gegenteil, der junge Weltmeister sorgte dafür, dass Kyrill zurückkam und seinen Job weiterhin erledigte.
Mit der Zeit ebbte die Verzweiflung über seinen Verlust ab, allerdings verschwand sie nie völlig.
Oft genug konnte er sich ablenken, nur manchmal kamen die Albträume wieder durch, die ihn in den ersten Wochen nach der Katastrophe ständig begleiteten.
Nachdenklich rieb er sich über das Kinn, als er überlegte, wieso ausgerechnet jetzt sein Unterbewusstsein reagierte.
In der Boxschule der Kasakows, wo er auch als Trainer arbeitete, gab es aktuell keine Vorkommnisse, die den Traum rechtfertigten.
Sie waren zu einem Anlaufpunkt für misshandelte oder vernachlässigte Kinder geworden, genau, wie Nikolaj und er es geplant hatten.
Nachdem Kolja, wie seine Freunde ihn nannten, den aktiven Boxsport an den Nagel hing, gründete er die Schule. Besonders Jugendliche, die vor ihren Eltern Schutz suchten, fanden bei ihnen einen Unterschlupf.
Über den Trainingsräumen gab es zwei Wohnungen, eine davon stand ihren Schützlingen zur Verfügung, die andere bewohnte Kyrill, wenn er sich nicht gerade in seinem Zimmer in Nikolajs Villa aufhielt.
Das riesige Haus hatte genug Platz, sodass alle, die zu der Clique zählten, ein Schlafzimmer für sich bekamen.
Mit einem Lächeln dachte Kyrill an die Jungs, die für ihn seine Familie darstellten. Dazu gehörten nicht nur die Kasakow Brüder, sondern auch deren Buchhalter Rodion und der Milliardär Eduard Petrow, zusammen mit ihren Freundinnen.
Rodja fungierte als Manager für Alexej Kasakow, genannt Aljoscha, der im letzten Jahr den Weltmeistertitel im Leichtgewicht geholt hatte. Der Boxer war als leichtsinniger Heißsporn bekannt, bis er Jelena und ihre Tochter Sofia kennenlernte.
Wieder streifte ein Lächeln Kyrills Lippen, denn Lena erinnerte ihn an seine verstorbene Tochter Katharina. Dass die verschüchterte Frau in diese Clique gepurzelt war, grenzte an ein kleines Wunder, zumal sie zu der Zeit von ihrem Ex-Mann verprügelt wurde.
Alexej war mittlerweile mit ihr verheiratet, außerdem adoptierte er Sofia und nahm Kasimir, ein taubes Kind, bei sich auf. Leider hatten sie keine Möglichkeit den Vater des Jungen dazu zu zwingen, die Vaterschaft anzuerkennen, sodass es keine Aussicht auf eine Adoption gab.
Natürlich gab es einen Vaterschaftstest, der mit rechtlichen Mitteln durchgesetzt worden war, aber der Schweinehund, der versucht hatte, seinen Sohn zu ertränken, focht das Ergebnis an.
Bei den Gedanken an Kasimir, der jetzt bei den Kasakows lebte, verzog Kyrill sorgenvoll das Gesicht. Er verstand immer noch nicht, wie ein Mensch sein eigen Fleisch und Blut ermorden konnte. Er selbst würde alles geben, wenn er seine Tochter nur ein weiteres Mal in den Arm nehmen dürfte.
Schnell atmete er tief durch, schlug die Decke zurück, anschließend stand er auf.
Es nervte ihn gewaltig, sich unruhig im Bett herumzuwälzen, während ihn die traurigen Gedanken nicht schlafen ließen. Außerdem sagte ihm ein Blick auf die Uhr, dass es bereits halb sechs war.
Jetzt Anfang April ging die Sonne kurz nach sechs auf, darüber hinaus war es merklich wärmer geworden.
Einige der Jugendlichen kehrten auf die Straße zurück, obwohl sie immer wieder versuchten, sie in der Schule zu behalten.
Die meisten kämpften gegen die Angst, dass ihre Erziehungsberechtigten sie zurückholen würden, sobald diese wussten, wo ihre Kinder steckten.
Aktuell wohnten zehn junge Leute im Alter zwischen acht und sechzehn Jahren bei ihnen, außerdem versorgten sie tagsüber, die die eben dazukamen.
Kyrill duschte, anschließend lief er in die Küche, um sich einen Ingwer-Tee zu kochen. Er liebte das Zeug, ohne das er einfach nicht in die Gänge kam.
Während er in den heißen Tee blies, schweifte sein Blick zum Kalender an der Wand, was ihn die Stirn runzeln ließ. Heute hatte sich Olga vom Jugendamt angekündigt.
Die Frau ging ihm auf die Nerven, seit Alexej Kasimir bei sich aufgenommen hatte. Immer wieder kam sie wegen irgendeines Unsinns in die Boxschule, hielt alle von der Arbeit ab und steckte ihre Nase in Dinge, die sie nichts anging.
Auch an diesem Tag wollte sie angeblich nur nach den Kindern sehen, die bei ihnen wohnten.
Ehrlich gestand Kyrill sich ein, dass sie schon so manches Mal verhindert hatte, dass ein besoffener Vater seinen Sohn oder seine Tochter zurückbekam.
Trotzdem reizte ihn irgendwas an der Frau, dabei kam er nicht darauf, was es war.
Sofort sah er Olga vor sich. Er schätzte sie auf Ende dreißig, was man ihr kaum ansah. Ein paar graue Strähnen im blonden Haar, einige Falten auf der Stirn, das war schon alles.
Ihre blauen Augen strahlten meistens, wenn sie die Boxschule betrat, aber er wusste auch, dass sie fürchterlich zornig blicken konnte.
Einmal wies sie einen Polizisten zurecht, der ein zehnjähriges Mädchen zu ihrem Vater bringen wollte, der sie immer wieder vergewaltigte.
Ein Grinsen machte sich auf Kyrills Gesicht breit, als er an Olgas Reaktion dachte. Sie hatte dem jungen Beamten dermaßen die Leviten gelesen, dass dieser schnellstmöglich den Rückzug antrat.
Nein, wenn er ehrlich war, lag es gar nicht an der Mitarbeiterin des Jugendamtes. Es lag an ihm selbst, denn die Frau gefiel ihm.
Sie maß ungefähr einssiebzig, mit Rundungen an den richtigen Stellen, genau so, wie er es sich wünschte.
Sobald sie lachte, schallte ihre Stimme durch die gesamte Boxhalle, allerdings hörte man sie genauso, falls sie wütend wurde.
Seit Alexej Kasimir aufgenommen hatte, stand sie ihnen mit Rat und Tat zur Seite, was Kyrill beeindruckte, da Olga sich auch fürs Putzen nicht zu schade war.
Noch einmal blies er in seinen Tee, ehe er einen Schluck nahm. Die Vorstellung, dass er sich vielleicht mal mit ihr verabredete, streifte ihn, doch sofort schüttelte er den Kopf. Das käme einem Verrat an seiner geliebten Irina gleich!
Ehe er sich weiter Gedanken über die Frau vom Jugendamt machen konnte, hörte er leises Rumoren, was ihm sagte, dass seine Schützlinge aufgewacht waren.
Schnell nahm er seine Tasse und ging rüber in die andere Wohnung, um Frühstück vorzubereiten. Obwohl die Kinder sich vor ihren leiblichen Eltern versteckten, schwänzte niemand die Schule. Keiner von ihnen wollte das gleiche Schicksal erleiden, wie ihre Erziehungsberechtigten.
Alexej würde in wenigen Minuten erscheinen, da er einem jungen Mann Boxunterricht gab. Natürlich unterhielten sie genauso eine völlig normale Boxschule, in der man den Sport erlernen konnte, sodass alle genug zutun hatten. Außerdem musste der Weltmeister sein Training absolvieren, denn die nächsten Herausforderungen trudelten bereits bei Rodion ein. Hier übernahm Kyrill die Stelle des Trainers, wie er es auch bei dem älteren Bruder getan hatte.
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Olga wachte vor dem Klingeln ihres Weckers auf, was sie allerdings nicht störte, im Gegenteil. Sie liebte es noch ein paar Minuten zu haben, um sich unter die Decke kuscheln zu können.
Einen Augenblick dachte sie daran, dass sie am Nachmittag wieder zur Boxschule der Kasakows fahren würde, was ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Was die Leute dort für die Kinder taten war unglaublich und das unterstützte sie sehr gerne.
Außerdem konnte sie vor Ort so einiges durchboxen, was ihr im Amt niemand durchgehen ließ. Es musste ja keiner wissen, dass sie nicht in ihrer Funktion als Mitarbeiterin des Jugendamtes in der Schule mithalf.
Ein verschmitztes Grinsen zeigte sich auf ihrem Gesicht, doch sofort erinnerte sie sich daran, dass sie zuerst ihre Arbeit zu erledigen hatte.
Früher hatte sie mal geglaubt, dass sie in ihrem Job Kindern helfen könne, aber mittlerweile war sie ziemlich desillusioniert.
Zu oft stand das Gesetz ihr im Weg, dann blieb ihr keine Wahl, als zuzustimmen, dass die armen Würmchen zurück in eine Familie kamen, die den Namen kaum verdiente.
Außerdem ärgerte es sie, dass viele Eltern sie nicht als Hilfe, sondern als Belastung sahen. Die meisten Mütter hatten Angst, dass man ihnen ihre Tochter oder ihren Sohn wegnehmen würde, weil das Geld fehlte.
Ungehalten schüttelte sie den Kopf, als ob es nur um die materiellen Dinge ginge. Es gab Möglichkeiten auch in dem Fall zu helfen, aber dazu müssten die Betroffenen sich erst mal an sie wenden.
Schnell stand sie auf, stellte sich unter die Dusche, trank einen Tee, ehe sie sich auf den Weg zur Arbeit machte.
Wie immer nutzte sie die öffentlichen Verkehrsmittel, denn so früh hatte sie einfach nicht die Nerven selbst zu fahren.
Im Amt angekommen, sah sie zuerst die Mails in ihrem elektronischen Postfach und Nachrichten auf ihrem Schreibtisch durch, bis ein Telefonanruf sie ablenkte.
„Guten Morgen Frau Iwanowa, Sie müssen unbedingt diesen Kasakow in die Schranken weisen. Es geht nicht, dass er seinem Pflegesohn das Boxen beibringt, sodass der Kerl hier die Schüler verprügelt. Ich habe ihn für heute suspendiert, damit so etwas nie wieder vorkommt. Außerdem erwarte ich, dass Sie die Sache augenblicklich klären!“
Die aufgeregte Stimme des Direktors der Grundschule, in die Kasimir ging, drang an ihr Ohr, was Olga beinahe dazu gebracht hätte, laut aufzustöhnen.
Sie kannte den Jungen, daher wusste sie, dass er nie handgreiflich wurde, es sei denn, er wollte jemanden beschützen oder wurde über die Maßen gereizt.
„Jetzt beruhigen Sie sich bitte, Herr Below. Ich kann kaum glauben, dass Kasimir ohne jeden Grund ein anderes Kind verprügelt. Dafür hat er zu viel leiden müssen. Was genau ist passiert?“
Ihre Stimme klang ruhig, allerdings brodelte es in ihr. So ein Idiot, wie dieser Grundschulleiter war ihr auch noch nie untergekommen. Bestimmt hatte irgendjemand sich an einem Schwächeren schadlos gehalten. Das war etwas, weshalb der Junge sofort rot sah.
„Ich kam dazu, als er bereits einen Mitschüler mit einem rechten Haken zu Boden geschickt hat. Keine Ahnung, warum. Aber so ein Verhalten kann ich nicht dulden. Nicht an meiner Schule!“
Der Mann war immer lauter geworden, sodass Olga den Telefonhörer erschrocken vom Ohr weghielt.
„Bitte, es besteht kein Grund, mich anzuschreien. Ich höre noch gut.“
Sie redete jetzt auch in einer Lautstärke, die deutlich zeigte, wie sehr sie sich über den Kerl ärgerte.
Kasimir hatte im letzten halben Jahr gelernt von den Lippen zu lesen, darüber hinaus war er sogar in der Lage die vierte Klasse der Grundschule zu besuchen.
Natürlich war das unter normalen Umständen für einen zehnjährigen Jungen kein Problem, aber er war taub. Außerdem hatte sein Vater, das Dreckschwein, dafür gesorgt, dass er keine Schule von innen sah.
Erst als Kasimir voller Panik vor seinem Erzeuger floh, weil dieser versuchte ihn zu ertränken, änderte sich das Schicksal des Kleinen.
Durch einen Zufall kam er in die Boxschule der Kasakows, wo er auf Jelena und Alexej Kasakow traf, die ihn bei sich aufnahmen.
Seitdem tat er alles, um den Wissensstand eines Viertklässlers zu bekommen. Nicht nur, dass er in kürzester Zeit geschafft hatte, seine Lücken aufzuarbeiten, sondern mittlerweile war er in der Lage zu sprechen und konnte von den Lippen lesen. Wenn man nicht wusste, dass er taub war, merkte man es ihm nur noch selten an.
Das Geplärre des Schulleiters holte Olga aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart.
„Ich werde mich darum kümmern. Ihnen einen schönen Tag.“
Mit den Worten legte sie auf, kaum länger gewillt dem Mann zuzuhören.
Seufzend dachte sie an die unschöne Aufgabe, die jetzt vor ihr lag. Sie musste zu den Kasakows fahren, um dafür zu sorgen, dass Kasimir sich unter Umständen entschuldigte. Außerdem durfte so etwas nicht mehr vorkommen.
~~°~~
Kyrill zeigte gerade einer jungen Mutter, wie sie sich einen Angreifer vom Hals halten konnte, als er Kasimir bemerkte, der sich mit hängenden Schultern auf den Ring zu bewegte.
„Entschuldigen Sie mich einen Moment.“
Schnell kletterte der Trainer aus dem Boxring, um auf das Kind zuzugehen, der ihn beinahe über den Haufen gerannt hätte.
„Was ist los, Kleiner?“
Mit einem Blick, der halb ängstlich, halb trotzig war, schüttelte Kasimir leicht den Kopf, doch er hielt ihn am Arm fest.
„Hey, seit wann redest du nicht mehr mit mir? Hab ich dir irgendwas getan?“
Jetzt folgte ein leises Seufzen.
„Entschuldige Kyrill, aber ich hab echt Probleme. Ich glaube, ich hab es einfach verbockt.“
Tränen glitzerten in den Augen des Jungen, nur bevor der Trainer etwas sagen konnte, stand auch schon Alexej neben ihm, der seinen Sohn bereits gesehen hatte.
„Was ist passiert? Wieso bist du nicht in der Schule?“
Kyrill sah jetzt genauso interessiert auf den kleinen Kerl, wie Aljoscha es tat.
Verlegen musterte Kasimir den Boden.
„Ich bin suspendiert, weil ich jemandem auf die Nase gehauen habe“, murmelte er.
Sofort hob Alexej sein Kinn an, bis er ihm in die Augen sehen musste.
„Hat er es verdient?“
Ein ernstes Nicken war die Antwort.
„Ja, er hatte auch den ersten Schlag, so wie du es mir beigebracht hast.“
Die Männer unterdrückten ein Grinsen.
„Ich gehe zu meiner Schülerin.“
Kyrill strich dem Jungen noch einmal über den Kopf, gleichzeitig zwinkerte er ihm zu. Niemand hier würde ihn bestrafen, weil er sich oder jemand anderen verteidigt hatte.
Alexej ging mit seinem Sohn in eins der Büros, um in Ruhe mit ihm reden zu können. Gott sei Dank hatte er die Stunde mit seinem Schüler bereits abgeschlossen.
„Was ist los? Ich weiß, dass du keine Mitschüler verprügelst, nur um Spaß zu haben.“
Aufmunternd nickte Aljoscha ihm zu, als sie sich gegenübersetzten.
Kasimir lächelte ihn dankbar an.
„Mir ist eine Sicherung durchgebrannt, als Michail aus meiner Klasse, mich Ding nannte. Immer wieder geht er auf mich los. Sobald ich ihm den Rücken zu drehe, sagt er etwas, anschließend beschwert er sich, dass ich keine Antwort gebe. Aber wie soll ich denn, wenn ich ihn nicht sehe?“
Der Junge war so aufgebracht, dass er zusätzlich mit seinen Fingern die Wörter formte.
Alexej antwortete ihm in der gleichen Weise, da er die Gebärdensprache schon seit einiger Zeit beherrschte.
„Ich werde mit dem Schulleiter sprechen. Es ist keinesfalls in Ordnung, dass man dich dort mobbt!“
Wütend wollte Aljoscha zum Telefon gehen, aber Kasimir hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
„Das nutzt nichts. Er wird dir sagen, dass ich immer Streit mit Michail suche. Es sieht ja auch ständig danach aus.“
Traurig senkte er den Kopf.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich in die Schule für Taube zurückgehe.“
Das würde Alexej auf gar keinen Fall zulassen. Sein Sohn hatte so hart dafür gearbeitet, dass er in die normale Grundschule gehen durfte.
In den letzten Monaten hatte er jede freie Minute gelernt, um seine Lücken aufzufüllen, bis er den Wissensstand hatte, um mit den Kindern der vierten Klasse mitzuhalten.
Natürlich war er der Älteste in der gesamten Einrichtung, aber das störte ihn nicht. Er wollte allen zeigen, dass er etwas wert war.
„Nein, das ist der falsche Weg. Ich werde zuerst mit dem Schulleiter sprechen, sollte das nichts bringen, suchen wir dir eine andere Grundschule. Ich glaube dir.“
Liebevoll strich Alexej ihm über den Kopf, ehe er ihn im nächsten Moment an sich zog. Kasimir war sein Sohn, egal was die Geburtsurkunde sagte!
~~°~~
Kyrill beendete das Selbstverteidigungstraining mit der jungen Frau, die sich ihren alkoholsüchtigen Mann vom Hals halten musste, und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn.
Gerade als er nach Aljoscha und Kasimir sehen wollte, betrat Olga die Boxhalle.
Einen Augenblick genoss er ihren Anblick, ehe er sich zur Ordnung rief. Sie war kaum seine Traumfrau, sondern die nervige Zicke, die ihre Nase überall reinsteckte.
Energisch ging er auf sie zu.
„Was machst du denn schon wieder hier?“
Mürrisch musterte er sie, damit sie ja nicht den Eindruck bekam, er würde sie irgendwie mögen.
„Dir auch einen schönen guten Morgen, Kyrill“, begrüßte sie ihn freundlich, allerdings mit einem genauso auffordernden Unterton.
Dieses Schulmeisterverhalten hasste er besonders an ihr. Natürlich wusste er, dass er sich absolut unhöflich verhielt, aber er traute sich selbst nicht, und seiner Sehnsucht nach einer neuen Partnerin nachgeben, kam keinesfalls infrage.
„Der Morgen könnte gut sein, wenn du wegbleiben würdest. Also, was willst du schon wieder hier?“
Seine Stimme ähnelte einem Knurren, nur davon ließ Olga sich keineswegs abhalten.
„Ich wäre auch lieber jetzt im Büro, ich bin dienstlich hergeschickt worden. Der Leiter der Grundschule, Herr Below hat mich vorhin angerufen. Es gibt Beschwerden über Kasimir, und da der Junge noch unter der Aufsicht des Jugendamtes steht, muss ich mit ihm und Alexej reden.“
Mit der Erklärung wollte sie den Trainer stehen lassen, aber der hatte ihre Intension völlig falsch verstanden.
„Du intrigantes Biest, auf gar keinen Fall nimmst du dem Kleinen sein Zuhause weg. Ihr seid doch alle gleich.“
Kyrill packte Olga am Arm, um sie in Richtung Ausgang zu ziehen, ehe sie wusste, wie sie reagieren sollte.
„Du Hornochse, was glaubst du eigentlich, wie gefühlskalt ich bin?“
Ihre Stimme hallte durch die gesamte Boxhalle, sodass jetzt auch Alexej zusammen mit seinem Sohn aus dem Büro kam.
„Was ist denn hier los? Hallo Olga, gibt es einen bestimmten Grund für deinen Besuch? Ich dachte, du wolltest erst am Nachmittag kommen?“
Offen sah Aljoscha sie an, dabei registrierte er den verkniffenen Gesichtsausdruck seines Trainers.
„Diese Schnepfe will Kasimir wegholen, weil der verdammte Schulleiter sie aufgehetzt hat. Aber da muss sie zuerst an mir vorbei.“
Kyrills Blick hätte töten können, allerdings nahm er sich schnell zusammen, als er den Jungen bemerkte, der sich eng an Alexej drückte.
„Ist das wahr?“
Die Stimme des Kleinen war so schrill, dass man ihm die Panik genau anhörte.
„Nein! So ein Unsinn. Ich bin hier, weil Herr Below sich bei mir beschwert hat. Aber seit wann habt ihr den Eindruck, dass ich mir ein Urteil bilde, ehe ich mit den Beteiligten gesprochen habe? Außerdem ist gar keine Rede davon, dass ich dich irgendwohin mitnehme.“
Olga sah jetzt in erster Linie Kyrill an, dabei verdrehte sie wütend die Augen, während sie gleichzeitig den Kopf schüttelte.
„Du kannst mich loslassen.“
Verlegen tat der Trainer, was sie sagte, murmelte etwas, das sich gewaltig nach einem Fluch anhörte und stürmte in seine Wohnung.
Halb erschrocken, halb belustigt sah Alexej ihm nach, denn so hatte er ihn noch nie erlebt.
„Was ist nur mit ihm los? Ich habe ihm nie was getan, trotzdem verhält er sich, als ob ich ständig vorhätte, euch zu schaden.“
Kopfschüttelnd blickte auch Olga dem Mann hinterher, dann seufzte sie leise.
„Ich denke mal, du bist im Bilde, was geschehen ist, oder Alexej?“
Aljoscha nickte leicht, ehe er eine einladende Handbewegung machte, um Olga in eines der Büros zu bringen.
Kasimir erzählte erneut, was genau passiert war, während die beiden Erwachsenen bestürzt zuhörten.
Es war so ungerecht, dass ausgerechnet der Junge, der bereits so viel erleiden musste, jetzt gemobbt wurde.
„Ich rede mit dem Schulleiter. Er muss aufpassen, denn Mobbing an der Schule ist eine ernste Sache.“
Aufmunternd lächelte Olga das Kind an, doch er schüttelte nur panisch den Kopf.
„Bitte nicht, ich bekomme nur noch mehr Ärger. Michail hat schon gedroht, dass er für meinen Schulausschluss sorgt, wenn ich petze.“
So etwas hatten die Erwachsenen bereits befürchtet.
„Sollte das passieren, besorgen wir dir einen Platz in einer anderen Grundschule. Auf gar keinen Fall lasse ich zu, dass du so behandelt wirst. Bei Mobbing muss man sich wehren.“
Alexej legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes, gleichzeitig lächelte er ihn liebevoll an.
„Keine Sorge, du bist nicht alleine. Zur Not übernehme ich die Pausenaufsicht, mal schaun, wie der kleine Stinkstiefel dann reagiert.“
Bei dem Gedanken, dass sein Vater ihm so sehr zur Seite stehen wollte, musste auch Kasimir lächeln.
„Die Idee ist wirklich gut. Niemand kann dir verbieten, während der Pause nach dem Rechten zu sehen. Aber zuerst knöpfe ich mir den Schulleiter vor. Anschließend rede ich mit Kyrill. Dieses Missverständnis zwischen uns muss aus der Welt geschaffen werden. Offensichtlich hält er mich für eine Furie oder was Schlimmeres.“
Olga seufzte traurig, dabei wusste sie nicht mal selbst, warum sie so viel Wert auf die Meinung des Trainers legte.
Alexej musterte die Frau, ehe er sie freundschaftlich umarmte.
„Ich denke, dass du ihn mehr beeindruckst, als er wahrhaben will. Nimm es ihm nicht krumm, er musste auch einiges verkraften.“
Sofort sah sie den jungen Boxer fragend an, doch der hob nur abwehrend die Hände.
„Nein, über Kyrills Vergangenheit werde ich stillschweigen bewahren, da solltest du ihn schon selbst fragen. Ich möchte nur verhindern, dass du glaubst, er sei ein selbstgerechtes Arschloch, obwohl er sich genau so aufführt.“
Wieder seufzte Olga, ehe sie ihn anlächelte.
„Ich kläre jetzt erst mal die Sache mit dem Schulleiter und dann bitte ich deinen Trainer um ein Gespräch.“
Damit verabschiedete sie sich, um ihrer Arbeit nachzugehen, alles andere musste warten.
Hoffnungsvoll sah sie den Flur hinauf, ob Kyrill sich vielleicht doch noch sehen ließ, aber der blieb verschwunden.
Irgendwie verlief der Tag überhaupt nicht so, wie sie es gerne gehabt hätte.
~~°~~
Schnell fuhr sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Grundschule, ging zum Rektorzimmer, wo sie darum bat, dass man sie anmeldete.
„Ich bin mir unsicher, ob Herr Below Zeit für Sie hat.“
Die Sekretärin sah Olga arrogant an.
„Er wird sich die Zeit für mich nehmen, zumal er mich gebeten hat, dass ich mich persönlich um einen Vorfall kümmere. Der werte Direktor hätte auch den Vater des Kindes informieren können.“
Jetzt stieß die Vorzimmerdame ein genervtes Schnauben aus.
„Ach es geht mal wieder um Kasimir. So weit ich informiert bin, hat er keinen Erziehungsberechtigten, den wir ansprechen könnten. Kasakow hat ihn nur bei sich aufgenommen, aber das Sorgerecht liegt beim Jugendamt.“
Olga musste an sich halten, um diese dumme Gans nicht zurechtzustutzen. Sie hatte es, weiß Gott, nicht nötig sich belehren zu lassen.
„Alexej sieht in dem Jungen seinen Sohn. Die Adoption wäre schon lange über den Tisch, wenn der Erzeuger zugeben würde, dass er für Kasimir verantwortlich ist. Also ist es durch aus im Rahmen des Möglichen, sich an Herrn Kasakow zu wenden, zumal ich keinerlei Einwände dagegen habe. Und jetzt melden Sie mich endlich an, ehe ich die Geduld mit Ihnen verliere.“
Resolut deutete Olga auf das Telefon, dabei sagte allein ihr Blick, dass es wirklich besser war, den Rückzug anzutreten.
Sie hatte es so unendlich satt, ständig die Böse spielen zu müssen. Wie gerne würde sie einfach mal die Verantwortung abgeben, allerdings konnte sie darauf wohl lange warten.
Die Sekretärin setzte gerade zum Widerspruch an, als die Tür des Büros aufging und Below erschien. Augenblicklich ging Olga auf ihn zu, gleichzeitig zeigte ihre Körperhaltung, dass sie unter keinen Umständen ohne ein Gespräch verschwand.
„Gut, dass Sie herauskommen, so können wir uns gleich über das Mobbing an Ihrer Schule unterhalten.“
Sofort versuchte der Rektor, sie zu beschwichtigen. Sie waren eine private Grundschule, die die Eltern eine Stange Geld kostete, da gab es kaum eine schlechtere Werbung, als ein offensichtliches Mobbing.
„Wovon sprechen Sie überhaupt, meine liebe Frau Iwanowa?“
Sein Lächeln sah fast schon gequält aus, denn in seinen Augen stand eine Drohung, die Olga sehr wohl erkannte.
„Ich rede von dem Verhalten eines Mitschülers gegenüber Kasimir Kasakow.“
Ehe sie weitersprechen konnte, fiel der Mann ihr ins Wort.
„Der Junge heißt nicht Kasakow, da es keine Adoption gibt.“
Jetzt platzte ihr der Kragen, dabei sah sie den Kerl so durchdringend an, dass dieser automatisch einen Schritt zurücktrat.
„Wenn ich sage, dass Kasimir den Nachnamen seines Pflegevaters angenommen hat, dann wird es bestimmt so sein. Zum Wohl des Kindes haben wir zugestimmt, dass er sich so nennen darf. Und Sie sollten das absolut beherzigen, denn er hat verdammt noch mal genug gelitten.“
Sie war keineswegs lauter geworden, allerdings hörte man den unterdrückten Zorn in ihrer Stimme.
„Können wir jetzt vielleicht in Ihr Büro gehen? Oder sollen wir das wirklich hier im Sekretariat besprechen, wo alle uns hören?“
Bezeichnend deutete sie auf die offenstehende Tür, durch die jeden Moment ein Elternteil oder ein Schüler kommen konnte.
Unwillig nickte der Rektor, drehte sich ein wenig und lud Olga mit einer Handbewegung ein einzutreten.
„Setzen Sie sich doch. Es besteht kein Grund, gleich ausfallend zu werden.“
Missbilligend runzelte Below die Stirn.
„Also hat der Bengel es geschafft, die Situation so zu verdrehen, dass er als Unschuldslamm dasteht. Aber mich täuscht er nicht. Auch wenn er eine schwere Zeit hinter sich hat, darf er kaum auf andere Schüler losgehen.“
Arrogant blickte der Mann Olga an, gleichzeitig setzte er sich auf seinen Stuhl.
Die Mitarbeiterin des Jugendamtes musste sich extrem zusammennehmen, um halbwegs freundlich zu bleiben. Am liebsten hätte sie dem Kerl eine Ohrfeige gegeben, damit dieser wieder klarkam.
„Haben Sie mal die Mitschüler gefragt, wer angefangen hat? Oder sind Sie direkt davon ausgegangen, dass Kasimir schuld ist?“
Verlegen schluckte der Schulleiter. Er konnte den Jungen von Anfang an nicht ausstehen, außerdem verabscheute er den Boxsport. Für ihn waren das alles Proleten, die keine Intelligenz besaßen.
„Also nicht? Gut, dann erzähle ich Ihnen jetzt mal, was für ein Mobbing an Ihrer Schule abläuft. Vielleicht sehen Sie die Situation danach etwas anders.“
Schnell berichtete sie, dass ihr Schützling ständig von Michail geärgert wurde. Sie wiederholte, was sie selbst in Erfahrung gebracht hatte.
„Das glauben Sie? Michail stammt aus einem erstklassigen Elternhaus, sein Vater ist ein angesehener Geschäftsmann. Seine Mutter betätigt sich an vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er sich so gemein gegenüber einem minder privilegierten Mitschüler benimmt.“
Jetzt blieb Olga fast der Mund offenstehen. Das durfte doch nicht wahr sein, da brachte der Idiot Gründe an, die genauso auf Kasimir zutrafen.
„Genau das Gleiche könnte ich von Kasimir sagen. Sein Vater betreibt eine Boxschule, die unter anderem Kinder aufnimmt, die von ihren Erziehungsberechtigten misshandelt oder missbraucht werden. Seine Mutter arbeitet nicht nur in dieser Schule mit, sondern ist auch Heilpraktikerin, die gerade die Ärmsten unserer Stadt kostenlos behandelt. Darüber hinaus ist Alexej Konstantionwitsch Kasakow amtierender Weltmeister im Leichtgewicht.“
Ärgerlich zählte sie die Tatsachen auf, erhielt jedoch nur ein nachsichtiges Lächeln.
Ehe der Rektor noch etwas sagen konnte, sprang die Tür auf und ein ziemlich zorniger Mann betrat das Büro.
„Was ist das für eine Sache mit meinem Sohn? Wie kommt es, dass er auf dem Schulhof zusammengeschlagen wird?“
Olga drehte sich leicht auf ihrem Stuhl um, damit sie den aufgebrachten Herrn mustern konnte.
„Sind Sie der Vater von Michail?“
Irritiert blickte der Angesprochene sie an, ehe er abwesend nickte, nur um weiter auf den Schulleiter zuzustürmen.
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin gerade dabei den Fall zu klären. Frau Iwanowa ist vom Jugendamt und für den kleinen Schläger zuständig. Setzen Sie sich doch, Herr Koslow.“
Mürrisch zog sich der Kerl einen Stuhl heran, um sich daraufzusetzen, anschließend sah er Olga an.
„Ich verlange eine Erklärung!“
Sofort nickte sie.
„Die können Sie gerne bekommen. Kasimir ist taub und Ihr Sohn hat nichts anderes zu tun, als ihn zu mobben.“
Schnell erklärte sie, was ihr Schützling zu der Sache sagte, dann sah sie den Vater des Mitschülers eindringlich an.
„Ich würde vorschlagen, dass wir Ihren Sprössling herholen, damit er seine Version erzählen kann. Sie kennen ihn bestimmt gut genug, um eine Lüge zu enttarnen.“
Sofort stimmte Koslow zu.
„Das ist eine gute Idee. Falls er den jungen Kasakow wirklich so sehr provoziert hat, bekommt er von mir auch noch eine Strafe.“
Energisch schüttelte Olga den Kopf.
„Darum geht es hier kaum. Ihr Sohn muss einsehen, dass man Schwächere eher schützt, als zu hänseln. Das ist es, wozu sie ihn anleiten sollten. Vielleicht in einem ausführlichen Gespräch?“, schlug sie lächelnd vor.
Insgeheim schien der Vater von Michail zu wissen, dass sein Sprössling es faustdick hinter den Ohren hatte. Sein leises Seufzen bestätigte Olgas Annahme.
„Wie gesagt, falls es sich als wahr herausstellt, werden wir uns lange unterhalten. Ich bewundere die Kasakows für ihr soziales Engagement. Wir brauchen mehr Leute, wie sie.“
Dem Schulleiter blieb der Mund offenstehen, als er das Lob vernahm.
„Eigentlich sind es nicht nur die beiden Boxer, sondern auch ihr Trainer Kyrill Iwanowitsch Wolkow, der für die Kinder da ist.“
Olga wusste selbst nicht, warum sie die Tatsache ins Gespräch einbrachte, allerdings empfand sie es als Ungerechtigkeit, dass Kyrill selten im Zusammenhang mit der Schule erwähnt wurde.
„Hätten Sie jetzt die Güte, meinen Sohn holen zu lassen?“
Ungeduldig blickte Koslow auf den Rektor, der sofort seiner Sekretärin Bescheid gab.
Kurz darauf stand Michail vor ihnen. Erschrocken musterte er seinen Vater, denn mit ihm hatte er keineswegs gerechnet.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du Schwächere mobbst.“
Der Junge zuckte zusammen, gleichzeitig sah man ihm das schlechte Gewissen an.
„Na ja, schwächer ist hier wohl kaum passend“, murmelte Olga, die Michails lädiertes Gesicht betrachtete.
„Ich hab doch nur Spaß gemacht.“
Bittend sah der Schüler in die Runde, dabei setzte er sein charmantestes Lächeln auf.
„Du kannst dir diesen Blick sparen. Es ist kein Scherz, wenn man einen Tauben dermaßen ärgert. Was fällt dir eigentlich ein, einen Mitschüler Ding zu nennen? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
Natürlich hatte sich die Geschichte von Kasimir herumgesprochen, sodass auch Koslow wusste, um was genau es ging.
Getroffen senkte der Junge den Kopf, was einem kompletten Schuldeingeständnis gleichkam.
„Er darf das Boxen lernen, außerdem hat er einen berühmten Papa, da dachte ich, dass er es aushält“, gab er leise zu.
Sein Vater stieß entsetzt die Luft aus.
„Ich weiß gerade nicht, was ich mit dir machen soll. Wir werden uns lange unterhalten, das kann ich dir sagen.“
Der Rektor schluckte, als er Olgas eiskalten Blick sah.
„Ich hoffe, dass es hier in Zukunft gerechter zugeht, Herr Below. Sollte ich noch einmal mitbekommen, dass Kasimir vorverurteilt wird, sorge ich dafür, dass sich sämtliche Ämter bei Ihnen gründlich umsehen. Haben wir uns verstanden?“
Jetzt nickte der Schulleiter nur, gleichzeitig versuchte er verzweifelt seine Krawatte zu lockern, die ihm im Moment die Luft abzuschnüren schien.
„Du wirst dich morgen bei dem jungen Kasakow entschuldigen.“
Michails Kopf schoss hoch, um seinen Vater ungläubig anzusehen.
„Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich hab viel mehr abbekommen, als er.“
Weinerlich deutete er auf sein Gesicht, das in der Tat langsam in allen Farben schimmerte.
„Und? Du warst dumm genug, dich mit einem Mitschüler zu prügeln, von dem du genau weißt, dass er Boxtraining bekommt. Was hast du denn erwartet? Dass er sich von dir schlagen lässt, ohne sich zu verteidigen?“
Seufzend schüttelte Koslow den Kopf, hier hatte er noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten. Offensichtlich hielt sein Sohn sich für etwas Besseres und obendrein für wesentlich stärker, als er war.
„Ich danke Ihnen, Frau Iwanowa, dass Sie mir die Augen geöffnet haben.“
Der Mann reichte Olga die Hand, anschließend verabschiedete er sich, ehe er mit Michail im Schlepptau das Büro verließ.
„Es tut mir ...“
Weiter kam Below nicht, da Olga ihm bereits mit einer Handbewegung das Wort abschnitt.
„Bei mir müssen Sie sich kaum entschuldigen. Kasimir ist der, der unschuldig suspendiert wurde. Er ist derjenige, der hier eine Entschuldigung verdient. Allerdings weiß ich, dass Sie niemals so viel Rückgrat entwickeln werden.“
Mit der Bemerkung stand sie auf, um zu gehen, dabei ließ sie einen empörten Rektor zurück, doch das war ihr fürchterlich egal.
Schnell fuhr sie zur Boxschule, wo sie zuerst Alexej und Kasimir informierte.
„Danke Olga, du bist wirklich ein Schatz.“
Aljoscha drückte sie kurz an sich, ehe auch der Kleine ihr um den Hals fiel.
„Es ist erstens mein Job. Zweitens mag ich Ungerechtigkeit nicht.“
Mit einem Lächeln strich sie dem Jungen über den Kopf, ehe sie sich auf die Suche nach Kyrill machte.
Sie wollte das Missverständnis aus der Welt schaffen, dabei verzichtete sie darauf zu analysieren, warum ihr so viel an der Meinung des Trainers lag.
Zuerst sah sie in den Büros nach, doch dort fand sie ihn nicht. Seufzend ging sie in die Wohnung, die für die Kinder bereitstand. Es gab hier einen Aufenthaltsraum, in dem einige Sitzmöbel, ein Tisch, ein Kicker, ein Fernseher und ein Dartbrett waren. Allerdings sagte ihr Instinkt ihr, dass sie Kyrill wohl eher in der Küche aufstöbern konnte.
Schon im Flur hörte sie Kindergelächter, ehe die tiefe Stimme des Trainers erklang. Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht, als sie erkannte, dass er eine Geschichte erzählte.
Leise öffnete sie die Tür, lehnte sich in den Rahmen und wartete, bis er seine Erzählung beendete.
Fünf Kinder saßen bei ihm, jeder hielt eine Tasse Tee in der Hand, während sie gespannt an seinen Lippen hingen.
Nie hätte Olga gedacht, dass dieser brummige Mann ein so talentierter Geschichtenerzähler war. Energisch schob sie die Gedanken zur Seite, so gut kannte sie ihn nun auch wieder nicht.
Als er geendet hatte, bedankten die Kleinen sich, stellten ihre Teetassen in die Spüle, ehe sie aus der Küche verschwanden.
Erst jetzt bemerkte Kyrill Olga, doch er verzog nur unwillig das Gesicht. Am liebsten würde er sie mit einem Lächeln begrüßen, nur traute er sich selbst nicht, daher schien es ihm besser, sie gleich auf Abstand zu halten.
„Hast du einen Moment Zeit? Ich denke, wir sollten miteinander reden.“
Angespannt hielt die Frau die Luft an, gleichzeitig blickte sie ihn erwartungsvoll an. Ihr lag so viel an diesem Gespräch, dabei konnte ihr der Kerl eigentlich egal sein.
„Wenn es sein muss“, knurrte Kyrill, während er sie ganz eigenartig ansah.
Fast hätte Olga gedacht, dass er ihren Anblick genoss, allerdings fiel es ihr schwer das wirklich zu glauben, angesichts seiner abweisenden Art.
„Ich möchte dir gerne erzählen, wie es in der Schule gelaufen ist.“
Langsam kam sie einen Schritt auf ihn zu, immer darauf bedacht, wie er reagierte.
„Setz dich schon. Ich kann es nicht leiden, dass man so um mich herumschleicht.“
Knurrig deutete er auf einen Stuhl, der ihm gegenüberstand.
„Danke, sehr freundlich. Würde es dir etwas ausmachen, mich nicht so abwertend zu behandeln?“
Jetzt sah er sie erstaunt an.
„Ich tue was? Wie kommst du denn darauf?“
Offen erwiderte sie seinen Blick.
„Allein dein Befehl zeigt mir, dass du nur wenig von mir hältst. Ich versichere dir, dass ich bei euch bin, um zu helfen. In meinem Büro muss ich immer erst die Akten lesen, die Eltern befragen und so weiter. Du glaubst nicht, wie begnadet viele lügen können. Hier bin ich direkt vor Ort, wo ich eingreifen kann, sobald es nötig ist.“
Kyrill stand auf, was sie leise seufzen ließ, denn für sie bedeutete das, dass er keinen Wert auf ihre Erklärung legte.
Aber zu ihrem Erstaunen brühte er einen Ingwer-Tee auf, den er ihr hinstellte.
„Du wolltest mir erzählen, was der Schulleiter von sich gegeben hat. Mit ihm hast du die Sache geklärt, oder?“
So etwas wie ein Grinsen erschien im Gesicht des Trainers und Olga strahlte ihn an.
Kyrill hätte sich beinahe neben seinen Stuhl gesetzt, so sehr warf ihn ihr offenes Lächeln aus der Bahn. Es traf ihn mitten ins Herz, allerdings schirmte er sich sofort gegen die aufkommenden Gefühle ab. Er würde sich keinesfalls auf diese Frau einlassen, dazu war er noch nicht bereit, oder doch?
Aufmerksam beobachtete Olga ihn, dabei sah sie deutlich, wie es in ihm kämpfte. Ob er ihr irgendwann von seiner Vergangenheit erzählte? Schnell schüttelte sie die Gedanken von sich, so vertraut gingen sie leider nicht miteinander um.
„Ja, ich habe Herrn Below gehörig die Meinung gesagt. Zum Glück kam auch der Vater von Michail. Er wird mit seinem Sohn ein ernstes Wörtchen reden. Herr Koslow war entsetzt, als er hörte, was sein Junior sich da geleistet hatte.“
Jetzt lachte Kyrill leise.
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen, da Koslow zur Stiftung von Eduard gehört.“
Olga stimmte in sein Gelächter ein, denn diese Stiftung, kümmerte sich genau wie die Boxschule, um Menschen, die das Schicksal hart getroffen hatte. Vergnügt nahm sie einen Schluck von dem Tee, doch sofort schüttelte sie sich.
„Wie schaffst du es nur, das Zeug zu trinken? Das ist ja widerlich.“
Angewidert schob sie die Tasse von sich, während sie das Gesicht verzog.
„Ich weiß nicht, was du hast. Ingwer ist sehr gesund. Mich bringt der Tee immer auf Trab.“
Genüsslich trank er aus ihrer Teetasse, dabei grinste er sie unverschämt an.
Olga lächelte ihn kopfschüttelnd an, ehe sie sich einen anderen Tee aufbrühte.
„Gut, dass Geschmäcker verschieden sind.“
Für eine Zeit lang herrschte Frieden zwischen ihnen, wobei Kyrill zugab, dass er die Gegenwart dieser Frau genoss. Mit ihr konnte er auch schweigen, ohne, dass es peinlich wurde. Schnell schob er die Gedanken aus dem Kopf. Für ihn gab es keine neue Partnerin!
„Ich muss los. Mein Dienst ist noch nicht beendet. Wir sehen uns später.“
Mit den Worten stellte Olga ihre Tasse in die Spülmaschine, obwohl sie diese gar nicht selbst benutzt hatte.
„Und ich dachte, wir würden heute von deiner Anwesenheit verschont. Immerhin hast du ja den halben Vormittag hier verbracht.“
Kyrill verfiel wieder in seine uncharmante, knurrige Art, doch er bereute es sofort, als er sah, wie sie getroffen zusammenzuckte.
„Weshalb sagst du das? Bin ich dir wirklich so zuwider?“
Traurig blickte sie ihn an, dabei bemerkte sie etwas in seinem Gesicht, das sie gerne als Reue gedeutet hätte. Nur sicher war sie sich nicht.
„Ich finde es nervig, wenn mir ständig jemand auf die Finger sieht.“
Mit den Worten stand auch Kyrill auf, stellte seine Tasse zur Seite, ehe er den Raum verließ.
Texte: Lisa Skydla, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach
Cover: Merlins Bookshop
Lektorat: Merlins Bookshop
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2019
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