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Kapitel 1

Ängstlich blickte Jelena zur Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Nazar würde in weniger als einer halben Stunde nach Hause kommen und sie wusste jetzt schon, dass sie das Essen keinesfalls rechtzeitig fertig hatte.
Außerdem war die Wohnung noch nicht aufgeräumt, ganz abgesehen davon, dass Sofia in ihrem Zimmer mit den Legosteinen spielte.
Ihr Ehemann bestand darauf, dass die Böden glänzten, nirgendwo etwas herumlag und alles tipptopp sauber war. Oft genug hatte Jelena es ausbaden müssen, wenn er der Meinung war, dass sie ihre Hausarbeit vernachlässigte.
Sie wusste, dass er kaum begeistert sein würde. Es war keinesfalls so, dass sie herumgetrödelt hatte oder faul war. Ganz im Gegenteil, nur gab es Tage, an denen einfach vieles schieflief.
Zuerst wollte die Kindergärtnerin ein Gespräch mit ihr führen, weil sie sich Sorgen machte. Auch davon durfte Nazar auf gar keinen Fall etwas erfahren.
Sollte er den Verdacht schöpfen, dass sie mit irgendjemandem über sein Verhalten sprach, hagelte es Ohrfeigen. Inzwischen fiel es ihr schon schwer, ihr lädiertes Aussehen zu begründen.
Seufzend strich sie sich das lange, braue Haar aus dem Gesicht, gleichzeitig verdrängte sie die Tränen, die ihr in den Augen brannten.
Als sie ihren Ehemann kennenlernte, war er fürsorglich, charmant und liebevoll, doch mittlerweile sah er sie kaum mehr an, wofür sie außerordentlich dankbar war.
Auf gar keinen Fall wollte sie seine Aufmerksamkeit provozieren, die ihr nicht gut bekam. Die Schikanen fingen an, als er vor vier Jahren seinen gut bezahlten Job als KFZ-Mechaniker verlor. Verzweifelt versuchte er eine andere Anstellung zu bekommen, allerdings fand er nur eine Hilfsarbeiterstelle in der Fabrik, die auch noch mit einem Hungerlohn abgegolten wurde.
Seitdem trank er regelmäßig, gab ihr die Schuld an allem, was schief ging und verprügelte sie.
Natürlich wäre Jelena gerne mit ihrer Tochter von ihm weggegangen, aber sie wusste nicht wohin, außerdem hatte Nazar ihr gedroht, ihr Sofia wegzunehmen, falls sie ihn verließ.
Fahrig strich sie sich eine Träne vom Gesicht, die sie nicht zurückhalten konnte, dabei bewegte sie sich nur vorsichtig, da ihr rechter Arm bei der kleinsten Bewegung wie Feuer brannte.
Ihr Mann hatte sie vor zwei Tagen so geohrfeigt, dass sie zu Boden fiel, anschließend trat er zu. Sie hatte Glück, dass er nur ihren Unterarm erwischte.
Seufzend schnitt sie das Gemüse für die Suppe, die es heute geben sollte. Es blieb kaum Geld übrig, daher musste sie auf einfache, nahrhafte Gerichte zurückgreifen. Auch das verübelte Nazar ihr. Er verlangte viel öfter ein saftiges Stück Fleisch, aber das konnte sie von dem schmalen Haushaltsgeld keinesfalls bezahlen.
Einmal hatte sie vorsichtig vorgeschlagen, dass sie arbeiten gehen könne, das war ihr überhaupt nicht gut bekommen. Wochenlang war sie mit einem dicken Veilchen herumgelaufen.
Jedem, der sie darauf ansprach, erzählte sie, dass sie dumm gestürzt sei. Niemand glaubte ihr, das sah sie an den betretenen Mienen, allerdings hielten die Leute sich raus.
Freunde gab es in ihrem Leben nicht mehr, die hatte Nazar mittlerweile alle vergrault.
„Mama, schau mal, was ich gebaut habe.“
Sofia kam mit einem Turm aus Legosteinen in die Küche.
Sofort zauberte Jelena ein Lächeln auf ihr Gesicht, unterdrückte jeden Schmerz und bewunderte das etwas schiefe Gebilde, das ihre Tochter ihr hinhielt.
„Das ist toll.“
Eifrig nickte die Kleine.
„Ja, ich wünschte, ich könnte einen echten Turm bauen, dann sperren wir Papa dort ein, bis er wieder lieb zu dir ist.“
Erschrocken blickte Jelena das Kind an, gleichzeitig schüttelte sie entsetzt den Kopf. Sie wollte nicht mal daran denken, was Nazar mit ihnen machte, wenn er so eine Aussage jemals hörte.
„Wie kommst du denn darauf, dass Papa böse zu mir ist?“
Liebevoll strich sie ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
„Ich höre doch, wie er dich immer anschreit. Dabei benutzt er ganz schlimme Worte, die man niemals sagen darf.“
Aufmerksam erwiderte sie den Blick ihrer Mutter.
„Außerdem hast du ein blaues Auge.“
Jetzt flüsterte sie fast.
„Sofia, das ist, weil ich unglücklich gestürzt bin. Das hat mit Papa nichts zu tun.“
Die Skepsis im Gesicht ihrer Tochter sagte ihr deutlich, dass die Kleine ihr kein Wort glaubte, allerdings verzichtete sie darauf zu widersprechen.
Genau in dem Moment schlug die Haustür zu und Sofia ließ vor Schreck den Turm aus Legosteinen fallen.
Entsetzt sah Jelena, wie das Bauwerk in sämtliche Einzelteile zersprang und sich überall in der Küche verteilte.
„Geh in dein Zimmer, mein Liebling.“
Ihre Stimme zitterte, während sie ihre Tochter aus der Tür schob. Kurz darauf kniete sie auf dem Boden, um die Plastiksteine schnellstmöglich aufzusammeln.
Leider war sie nicht schnell genug.
„Wie sieht es denn hier wieder aus? Kannst du eigentlich irgendwas richtig machen, du Schlampe? Oder bist du nur auf der Welt, um faul rumzusitzen?“
Nazar war in die Küche gekommen, als sie noch unter dem Küchentisch die Bausteine aufsammelte.
„Sofia ist ihr Turm aus der Hand gefallen, aber ich hebe schon alles auf. Bitte, es war keine Absicht.“
Flehend blickte sie ihren Ehemann an, doch der packte sie bereits an den Haaren, um sie so auf die Beine zu ziehen.
„Du bist zu nichts zu gebrauchen. Ich glaube, ich muss dir mal wieder Benehmen beibringen.“
Sein Atem stank nach billigem Schnaps, trotzdem war sein Griff so hart, dass sie dachte, er würde ihr alle Haare ausreißen.
„Papa, lass Mama in Ruhe, bitte.“
Jelenas Herz blieb fast stehen, als sie die dünne Stimme ihrer Tochter hörte, die offensichtlich zurückgekommen war.
„Mach, dass du in dein Zimmer kommst, und wehe, es ist gleich nicht ordentlich aufgeräumt.“
Ein drohender Blick reichte, um die Kleine aus dem Raum zu scheuchen.
„Tu ihr nichts, sie ist doch noch ein Kind.“
Jelena presste diese Bitte heraus, während sie versuchte den Schmerz an ihrem Hinterkopf zu ignorieren, da Nazar sie weiterhin an den Haaren gepackt hielt.
„Du wagst es, mir zu sagen, was ich tun soll? Du Hure bist mutig genug überhaupt das Maul aufzumachen?“
Höhnisch blickte er sie an, dann zogen sich seine Augen zu Schlitzen zusammen, ehe er ihr fest ins Gesicht schlug.
Angeekelt stieß er sie von sich, sodass sie hart auf dem Boden aufschlug.
„Mach den Dreck weg und sieh zu, dass das Essen auf den Tisch kommt.“
Mit dem Befehl drehte er sich zur Tür.
„Es dauert noch eine halbe Stunde. Ich wurde im Kindergarten aufgehalten.“
Jelena flüsterte es nur, doch er hatte sie natürlich gehört, denn er kam augenblicklich wieder zu ihr.
„Du hast getratscht, statt deine Arbeit zu erledigen.“
Fast ruhig sprach er diese Unterstellung aus, woraufhin sie sofort heftig den Kopf schüttelte.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich musste Frau Stephanowa beruhigen. Sie hat vermutet, dass du mich schlägst. Aber ich habe ihr gesagt, dass das Unsinn ist.“
Panisch legte Jelena schützend ihre Arme über den Kopf, denn erfahrungsgemäß hagelte es nach so einer Antwort Prügel.
Wütend stürmte Nazar auf seine Ehefrau zu, zog sie an ihrem rechten Oberarm in die Höhe, sodass sie schmerzhaft aufschrie.
„Du wagst es, solche Gerüchte in die Welt zu setzen? Du weißt genau, dass du schuld bist, wenn ich dich züchtige. Sobald ich dir deinen Platz nicht mehr zeige, verkommt hier alles.“
Bei diesen Worten riss er ihre Arme von ihrem Kopf weg, anschließend schlug er zu. Immer wieder traf seine Faust ihr Gesicht, während er sie an dem verletzten Arm aufrecht hielt.
Jelena versuchte sich zu wehren, sich irgendwie zu schützen, aber gegen ihn hatte sie keine Chance.
Nach einigen Minuten ließ er von ihr ab, spuckte sie an, ehe er die Küche verließ.
„Den Fraß kannst du ins Klo schütten. Ich esse außer Haus.“
Ohne sich noch einmal umzudrehen, stampfte er aus dem Zimmer und kurz darauf fiel die Tür ins Schloss.
Weinend brach Jelena zusammen. Blut lief ihr aus der Nase, ihre Lippe war aufgeplatzt und ihr rechtes Auge schwoll langsam zu.
Eine ganze Weile saß sie auf dem Boden, wünschte sich, dass dieser Albtraum endlich ein Ende hätte, aber sie wusste, dass es nichts gab, was ihr half.
„Mama?“
Sofias ängstliche Stimme ließ ihre Tränen sofort versiegen. Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht, stand auf, ehe sie ihre Tochter ansah.
„Tut mir leid, mein Engel, wenn ich dich erschreckt habe. Ich bin fürchterlich tollpatschig. Dumm, wie ich bin, hab ich den Stuhl übersehen und bin gestürzt.“
Mit einem halbherzigen Lächeln versuchte sie, ihrem Kind diese Lüge aufzutischen.
„Nein, das war Papa! Ich konnte ihn deutlich hören.“
Viel zu ernst für eine Sechsjährige sah Sofia ihre Mutter an.
„Lass uns hier weggehen. Wenn er dich nicht findet, dann kann er dir auch nicht mehr wehtun. Außerdem fürchte ich mich so sehr vor ihm.“
Obwohl man sah, wie verzweifelt die Kleine bemüht war, sich zusammenzureißen, brach sie doch nach einigen Minuten in Tränen aus.
Liebevoll zog Jelena sie in ihre Arme, streichelte ihr über den Rücken, während sie ein paar beruhigende Floskeln murmelte.
„Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben. Er ist dein Vater und wird dich immer beschützen.“
Als sie die Worte hervorbrachte, betete sie, dass es auch genau so war. Sicher war sie sich bei der Behauptung nicht wirklich.
Eine Weile hielt die Mutter ihre Tochter fest, dann blickte Sofia sie bittend an.
„Wir könnten zur Boxschule von den Kasakows gehen. Die helfen jedem, der Hilfe braucht.“
Verwundert schüttelte Jelena den Kopf.
„Wie kommst du darauf? Und woher kennst du eine Boxschule?“
Auf die Antwort war sie gespannt, denn ihr war die Institution völlig unbekannt.
„Der Vitali hat davon erzählt. Sein Vater hat ihn auch immer verprügelt. Der große Bruder von Vitali hat ihn mit zu den Kasakows genommen, wo sie Hilfe bekommen haben. Bitte Mama, die können uns helfen. Das sind starke Männer, die werden mit Papa ganz bestimmt fertig.“
Sofia stand auf, anschließend zerrte sie ungeduldig an Jelenas Ärmel.
Nachsichtig lächelte diese das Kind an.
„Ich weiß nicht einmal, wo die Boxschule sein soll. Wahrscheinlich hat dein Freund dir einen Bären aufgebunden. Wieso sollte ein Boxer mit einer Schule uns zur Seite stehen?“
Ihr tat es in der Seele weh, ihrer Tochter die Hoffnung zu nehmen, aber einen anderen Weg sah sie im Moment nicht. Auf gar keinen Fall durfte Nazar so eine Bitte hören, dann würde der Teufel los sein.

~~°~~

„Dein Training schieben wir besser noch auf. Du siehst aus, als ob man dich durch den Fleischwolf gedreht hätte.“
Kyrill packte Alexejs Kinn, um dessen Kopf ein wenig zu drehen, da er sich die Verletzungen ansehen wollte.
Der letzte Kampf hatte dem jungen Boxer sehr zugesetzt, was kaum verwunderlich war, da es sich um die Weltmeisterschaft im Leichtgewicht handelte.
„Aber ich habe gewonnen.“
Alexej klang etwas gepresst, weil sein Trainer ihn immer noch festhielt.
„Und wir sind alle stolz auf dich. Trotzdem solltest du dich jetzt keinesfalls auf den Lorbeeren ausruhen. Die ersten Herausforderungen werden erfahrungsgemäß in der nächsten Woche eintreffen.“
Rodion, sein Manager, mischte sich mit einem gutmütigen Lächeln ein.
Er kümmerte sich nicht nur um die Karriere des jüngeren Kasakows, sondern auch um die Buchhaltung und die Boxschule, die sein Bruder Nikolaj gegründet hatte.
Nikolaj Konstantinowitsch Kasakow hatte im letzten Herbst seinen Weltmeistertitel endgültig verloren, was ihn dazu brachte, sich aus dem aktiven Sport zurückzuziehen. Seitdem leitete er eine Boxschule, die allen Beteiligten sehr viel zu tun gab, außerdem stellte sie eine Anlaufstelle für Kinder aus sozial schwachen Familien dar.
Oft genug suchten die Jugendlichen Schutz vor ihren gewalttätigen Eltern, daher gab es in dem Gebäude die Möglichkeit zu übernachten.
Kira Kasakow, die Ehefrau von Nikolaj verbrachte jede Minute, die sie sich nicht um ihre kleine Tochter Mascha kümmerte, in der Schule. Sie war meistens die erste Person, der sich die Schützlinge anvertrauten.
Zusammen mit Rodions Freundin Swetlana, die auch die Pressesprecherin der Kasakows war und mit Darja, der Ehefrau von Eduard, half sie überall, wo Hilfe nötig war. Dabei ging es um Hausaufgaben, genauso wie um die Frage, wie man dauerhaft Schutz bekommen könnte.
Kyrill, der schon Nikolaj trainiert hatte, konzentrierte sich derzeit auf dessen jüngeren Bruder Alexej. Darüber hinaus unterstützte er die Familie beim Training mit den Kindern, deshalb wohnte er in einer Wohnung über der Boxschule. Allerdings stellte er viel mehr dar: Er fungierte als Ansprechpartner, Ratgeber und Freund.
Diese Runde vervollständigte der Milliardär Eduard Alexandrowitsch Petrow, der sich auch oft genug bei seinen Freunden aufhielt. Seine Frau Darja fand hier die perfekte Beschäftigung, außerdem unterstützte sie Rodion bei der Buchhaltung.
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Etwas Training kann kaum schaden.“
Auffordernd sah er Kyrill an, doch der schüttelte bereits den Kopf.
„Auf gar keinen Fall! Der letzte Kampf ist gerade mal eine Woche her. Die Verletzungen sind nur oberflächlich verheilt. Ich verordne dir mindestens zehn Tage Urlaub.“
Genervt stieß Alexej, genannt Aljoscha, die Luft aus. Er fühlte sich, als ob er unbesiegbar wäre, allerdings spürte er die Platzwunde über der Augenbraue und das Veilchen am Auge noch ziemlich deutlich.
„Komm mal runter von deinem hohen Ross, sonst könnte der Aufprall sehr schmerzhaft werden.“
Nikolaj sah ihn ernst an, sodass sein Bruder verlegen lächelte.
„Du hast ja recht. Aber es ist ein wahnsinniges Gefühl Weltmeister zu sein.“
Das verstand Nikolaj, den seine Freunde Kolja nannten, zu gut, immerhin hatte er diesen Titel einige Jahre innegehabt, nur in einer anderen Gewichtsklasse.
Sie saßen gemütlich auf der Terrasse von Koljas Villa, während die Frauen sich zusammen mit der Haushälterin Nadja um das Abendessen kümmerten. Ein Anblick, den man in der letzten Zeit sehr oft genießen konnte. Darüber hinaus gab es noch den Koch Wassili, der auch sonst half, wo Not am Mann war. An diesem Abend war er allerdings auf der Geburtstagsfeier seiner Schwester.
Die Freunde verhielten sich immer mehr wie eine große Familie, was auch an den Schicksalsschlägen lag, die sie gemeinsam meistern mussten.
Am Anfang war es Alexej, der sich mit der Bratwa, der russischen Mafia, eingelassen hatte.
Er war auf ein paar Leute hereingefallen, die er für vertrauenswürdig hielt. Auf ihre Bitte hin trat er eine Tür ein, wobei er in dem Moment dachte, dass das Haus einem der Männer gehörte. Die versteckte Kamera sah er nicht, zumal er ziemlich alkoholisiert war.
Nach dem Einbruch erpresste die Bratwa seinen Bruder Nikolaj, sodass dieser an illegalen Boxkämpfen teilnahm. Der Umstand führte dazu, dass Kolja beschloss, sich von Kira fernzuhalten, als er sie bei einem Urlaub kennenlernte.
Auch heute machte Alexej sich noch gewaltige Vorwürfe, dass Nikolaj so leiden musste, aber es war ja alles gut gegangen. Am Ende verpflichtete sich sogar das Oberhaupt des Kartells Tombowskaja, Makar Petrowitsch Baranow, der in Sankt Petersburg das Sagen hatte, sie für immer in Ruhe zu lassen.
Gerade als sie dachten, dass sie das Schlimmste überstanden hätten, trat Darja in Eduards Leben. Sie war die Tochter von Makar, was sie allerdings gekonnt geheim hielt. Diese Geheimniskrämerei führte dazu, dass der Milliardär um ein Haar getötet worden wäre.
Die Freunde standen zusammen, halfen sich gegenseitig und wuchsen zu einer Familie heran, in der auch Swetlana ihren Platz fand.
Sie arbeitete als Journalistin, als sie durch eine blöde Wette an Rodion geriet, doch ihr eifersüchtiger Kollege tat alles, um das junge Paar auseinander zu bringen. Das lag jetzt bereits ein ganzes Jahr zurück.
„Trotzdem solltest du einige Tage ausruhen, so wie Kyrill es gesagt hat.“
Nikolaj gab seinem Bruder einen leichten Schlag auf die Schulter, dabei grinste er ihn an.
„Dann lege ich mich eben auf die faule Haut. Ich habe damit bestimmt kein Problem.“
Aljoscha erwiderte das Grinsen, gleichzeitig verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich in seinem Stuhl bequem zurück.
In dem Moment kamen die Frauen, um das Essen nach draußen zu bringen. Obwohl es bereits Mitte September war, strahlte die Sonne, sodass sie beschlossen hatten, die letzten schönen Tage auszukosten.
„Du glaubst also, dass wir dich jetzt von vorne und hinten bedienen?“
Kira sah ihren Schwager mit hochgezogener Augenbraue an, während dieser mit einem unverschämten Grinsen nickte.
„Du hast Kyrill doch gehört: Ich soll mich ausruhen.“
In dem Moment kam Mascha angelaufen und streckte ihre kleinen Ärmchen ihrem Onkel entgegen.
Mit einem liebevollen Lächeln hob Alexej sie hoch, setzte sie auf seinen Schoß, wo er sie auf einem Bein hüpfen ließ.
Das Kind quietschte vor Vergnügen, dann sah sie ihn ernsthaft an.
„Hunger!“
Darin stimmte der Boxer ihr absolut zu. Schnell drehte er sich zu Kira, die gerade mit ihren Freundinnen über einen Jungen in der Boxschule redete, und sah sie an, bis sie ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandte.
„Hunger.“
Seine Stimme klang genauso quengelnd wie die seiner kleinen Nichte, was dazu führte, dass die Frauen in lautes Gelächter ausbrachen.
„Du musst nur zugreifen. Es steht alles auf dem Tisch.“
Mit einer ausholenden Geste zeigte Kira auf die Speisen, die für sie bereitstanden.
Erfreut folgte Aljoscha dem Rat, gleichzeitig fütterte er Mascha, die ihm genau sagte, was sie gerne essen wollte.
„Du verwöhnst sie“, tadelte Kira, allerdings konnte sie ihm kaum böse sein.
Mascha wickelte einfach jeden um den kleinen Finger, selbst sie machte da keine Ausnahme.
Nikolaj hob seine Tochter hoch, trug sie auf die andere Seite des Tisches, um sie dort in einen Hochstuhl zu setzen. Anfangs protestierte sie ungehalten, doch dann entdeckte sie ihren Teller mit einem pinkfarbenen Einhorn darauf und sofort strahlte sie wieder.
Die Gespräche verstummten, während sich die Gesellschaft dem Abendessen widmete.

~~°~~

Jelena schaffte es ihre Tochter so weit zu beruhigen, dass sie zuerst die Legosteine aufsammeln konnte, ehe sie sich wieder um das Essen kümmerte.
Sofia half ihr, dabei sah man ihr das schlechte Gewissen deutlich an.
„Ich wollte wirklich keine Unordnung machen“, murmelte sie, als auch der letzte Legostein in der Kiste lag.
Liebevoll strich Lena ihr über die blonden Haare.
„Das weiß ich, mein Liebling. Es ist alles in Ordnung. Komm setz dich ein bisschen zu mir. Du kannst etwas malen, während ich koche.“
Mit den Worten deutete sie auf den Tisch und Sofia holte sofort ihre vier Buntstifte zusammen mit einem alten Block, bei dem noch ein paar Rückseiten frei waren.
Seufzend schnitt Jelena das restliche Gemüse klein, ließ es in den Kochtopf fallen, um den Eintopf endlich fertigzubekommen. Sie wusste, dass Nazar essen wollte, sobald er zurückkam, was voraussichtlich irgendwann mitten in der Nacht sein würde.
Eine Weile setzte sie sich zu ihrer Tochter an den Küchentisch, beobachtete, wie das Mädchen eine Blumenwiese malte, dabei wünschte sie sich so sehr, dass es einen Ausweg für sie gab.
Als ihr die Situation deutlich bewusst wurde, stand sie auf, um für einen Moment im Badezimmer zu verschwinden. Hier ließ sie ihren Tränen freien Lauf, gleichzeitig achtete sie darauf, dass sie keinen Laut von sich gab. Sofia wusste auch so schon zu viel.
Nach ein paar Minuten schaffte sie es, sich zu beruhigen. Sie ging zum Waschbecken, wusch sich das Gesicht, anschließend begutachtete sie die frischen Wunden.
Das rechte Auge war mittlerweile komplett zugeschwollen, allerdings blutete sie nicht mehr, was sie ein wenig aufatmen ließ.
Müde nahm sie einen Waschlappen aus dem Schrank, tränkte ihn mit kaltem Wasser, ehe sie ihn vorsichtig auf das geschwollene Augenlid legte. Sie hoffte, dass sie morgen wieder etwas sehen konnte, sonst würde der Tag sich ziemlich schwierig gestalten.
Noch einmal musterte sie sich in dem Spiegel, bemerkte die Hoffnungslosigkeit in ihrem Blick, gleichzeitig registrierte sie die Augenringe, die blasse Haut und das leichte Zittern.
„Du bist ganz schön fertig“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.
Es half alles nichts. Ihrer Tochter zuliebe musste sie sich irgendwie mit den Gegebenheiten arrangieren. Auf gar keinen Fall ließ sie es zu, dass man ihr ihren Liebling wegnahm. Außerdem jagte ihr die Vorstellung, dass Sofia Nazar hilflos ausgeliefert war, einen Eisschauer über den Rücken.
Schnell lief sie zu ihrer Kleinen, die immer noch am Küchentisch saß und eifrig mit den Stiften hantierte. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging sie zu ihr, doch dann erstarrte sie.
Sofia malte einen Mann, der hinter Gitterstäben stand, dabei war eine dicke Träne auf seiner Wange zu sehen.
„Was malst du da?“
Jelenas Stimme zitterte.
„Das ist Papa. Er ist eingesperrt, damit er dir nie mehr wehtun kann und jetzt tut es ihm leid.“
Trotzig stieß die Kleine die Antwort hervor, während sie dem tadelnden Blick ihrer Mutter standhielt.
Sofort nahm Jelena ihr das Papier weg, hielt es über das Waschbecken, zog ein Feuerzeug aus der Schublade, um es zu verbrennen.
„So etwas darfst du nie wieder malen, hast du mich verstanden? Dein Vater kann nichts dafür, wenn ich falle.“
Selbst in ihren Ohren hörte sich diese Lüge falsch an, sodass sie sich kaum wunderte, als Sofia nur die Augen verdrehte.

~~°~~

Am nächsten Morgen hatte Jelena das Gefühl, als ob ein Panzer über sie hinweg gerollt wäre. Sie hatte Sofia nach dem Abendessen ins Bett gebracht, ihr eine Geschichte vorgelesen, ehe sie sich um die Wäsche kümmerte.
Wie erwartet war Nazar gegen drei Uhr in der Früh zurückgekommen, voll wie eine Haubitze und verlangte lautstark etwas zu essen.
Glücklicherweise hatte Jelena einen leichten Schlaf, so hörte sie die Haustür, als sie aufgeschlossen wurde. Sie stand bereit, als ihr Ehemann die Wohnungstür zuzog, um ihn zu bedienen.
Jetzt rieb sie sich vorsichtig über die Augenlider, dabei seufzte sie leise. Das Veilchen, das Nazar ihr verpasst hatte, war natürlich angeschwollen, sodass sie das Auge nur einen spaltbreit aufbekam. Müde lief sie ins Badezimmer, um zu duschen, anschließend wollte sie sehen, wie sie die Verletzungen verbergen konnte.
Im Spiegel sah sie deutlich, dass Make-up kaum reichen würde. Sie musste die Leute in ihrer Umgebung erneut anlügen. So langsam hatte sie die Nase gestrichen voll davon, doch welche Wahl blieb ihr denn? Ohne Arbeit, ohne Familie oder Freunde und mit der Drohung im Kopf, dass ihr Mann ihr die Tochter wegnahm, gab es für sie keinen Ausweg.
Liebevoll weckte sie Sofia, half ihr sich für den Kindergarten fertigzumachen, ehe sie mit ihr zusammen frühstückte.
Die Kleine war an dem Morgen besonders still, blickte aber immer wieder auf das lädierte Gesicht ihrer Mutter.
„Wir müssen die Kasakows um Hilfe bitten. Mama, komm schon. Die Boxer können Papa eins auf die Nase geben.“
Bettelnd sah das Kind Jelena an, die bei dem Vorschlag blass wurde.
Gott sei Dank war ihr Mann bereits unterwegs, sodass er die Aussage seiner Tochter nicht hörte. Sie wollte sich keinesfalls ausmalen, was passierte, sollte Nazar einen solchen Satz hören.
„Das darfst du nie wieder sagen, mein Liebling. Dein Vater hat ...“
Die Kleine unterbrach ihre Mutter, in dem sie einfach aufstand, ihren Teller in die Spüle stellte und aus dem Raum lief.
Besorgt blickte Jelena ihr hinterher. Sie konnte nicht mal böse sein, denn ihr Kind hatte ja recht. Außerdem war sie eine so schlechte Lügnerin, dass kaum jemand ihr ihre Ausreden glaubte.
Während Sofia ihre Kindergartentasche holte, brachte Lena die Küche in Ordnung, anschließend packte sie ihrer Tochter etwas zu essen und zu trinken ein.
Gemeinsam gingen sie das Stück zum Kindergarten, dabei betete Jelena, dass Sofia niemandem von dem Streit ihrer Eltern erzählte. Auch hier war die Gefahr groß, dass Nazar die Äußerungen seines Kindes mitbekam.
Auf dem kurzen Weg war sie bemerkenswert ruhig, was Jelena wunderte, denn normalerweise stand das kleine Plappermäulchen nicht still.
Vor der Tür zum Kindergarten verabschiedeten sie sich, doch gerade als Lena gehen wollte, hielt die Leiterin sie zurück.
„Frau Popowa könnte ich Sie einen Moment sprechen, bitte?“
Sofort nickte die Angesprochene und folgte der Dame in ein Büro.
„Gibt es ein Problem mit meiner Tochter? Ich hoffe, sie ist nicht auffällig oder frech?“
Besorgt musterte sie die Kindergärtnerin, die ihr freundlich einen Stuhl anbot, den sie dankend annahm.
„Nein, keine Sorge. Sofia ist ein Sonnenschein, den wir gerne hier bei uns haben. Um ehrlich zu sein, machen wir uns Gedanken um Sie, Frau Popowa. Sehen Sie sich einmal an oder wollen Sie mir wieder erzählen, dass Sie gefallen sind?“
Entsetzt schüttelte Jelena den Kopf, dann lachte sie gekünstelt auf.
„Das brauchen Sie keinesfalls. Ich bin wirklich ungeschickt, deshalb bin ich gegen eine offenstehende Schranktür gelaufen. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie schmerzhaft es ist, im vollen Lauf von einer Holztür erwischt zu werden.“
Sie bedachte die Frau mit einem offenen Lächeln, sah aber sofort, dass diese ihr kein Wort glaubte.
„Sie dürfen sich gerne selbst belügen, nur bei mir klappt das nicht. Wieso nehmen Sie keine Hilfe an? Ich sehe doch deutlich, dass Sie geschlagen wurden. Wollen Sie warten, bis auch Sofia an der Reihe ist?“
Jelena wusste, dass sie jetzt protestieren musste. Sie sollte die Kindergärtnerin eine Lügnerin nennen, nur dazu fehlte ihr die Kraft. Außerdem hatte die Frau ja recht!
„Bitte, Sie kennen unsere Lage nicht. Er wird seiner Tochter niemals etwas tun. Ich bin selbst schuld.“
Hektisch stand sie auf, nickte der Leiterin des Kindergartens noch einmal zu, ehe sie regelrecht aus dem Gebäude floh.
Die Angst saß ihr im Nacken, dass Nazar auch nur ahnte, was die Leute sich bereits zusammenreimten. In dem Fall hätte sie kaum eine Chance halbwegs unversehrt aus der Sache herauszukommen.
Schnell lief sie nach Hause, um zu kontrollieren, ob alles sauber war. Sie würde einfach lernen perfekt zu sein, dann gab es für ihren Mann keinen Grund mehr, sie zu schlagen.
Dass diese Gedanken naiv und völlig verkehrt waren, verdrängte sie.

~~°~~

Alexej wachte mit einem mittelprächtigen Kater auf. Der vergangene Abend endete feucht-fröhlich. Jetzt wo er eine Trainingspause einlegen sollte, durfte er Alkohol trinken, doch offensichtlich vertrug er kaum noch etwas.
Vorsichtig öffnete er die Augen, setzte sich auf und ließ sich direkt wieder zurücksinken. Natürlich hatte er vergessen die Rollos herunterzulassen, sodass das Tageslicht ihn blendete. Außerdem pochte sein Kopf schmerzhaft.
Nadja hatte gestern das Fenster einen Spaltbreit geöffnet, deshalb hörte er den Grund, warum er überhaupt schon aufwachte: Mascha tobte durch den Garten.
Ihre helle Stimme ließ ihn lächeln. Seine Nichte war etwas ganz Besonderes und er würde gerne eines Tages auch Nachwuchs haben.
Schnell schob er diese befremdlichen Gedanken von sich. Bisher hatte er kaum an eine eigene Familie, geschweige denn an Kinder gedacht. Seine Karriere stand absolut im Vordergrund.
Einen Moment blieb er noch mit geschlossenen Augen liegen, dachte daran, dass er es geschafft hatte, Box-Weltmeister im Leichtgewicht zu werden. Er genoss das Glücksgefühl, dann atmete er tief durch, ehe er sich dem hellen Tageslicht erneut stellte.
Während er ins Badezimmer tappte, erinnerte er sich, wie er sich vor einigen Jahren mit den falschen Leuten angefreundet hatte. Das war der zweite Grund, warum er sich von Fremden lieber fernhielt.
Allerdings fühlte er sich keineswegs allein, da er die meiste Zeit mit den Menschen verbrachte, die er zu seiner Familie zählte.
An erster Stelle stand natürlich sein älterer Bruder Nikolaj, in dessen Villa er auch lebte. Hier besaß er ein Zimmer, was ihm absolut reichte. Selbstverständlich dachte er immer mal daran, sich eine eigene Wohnung zu mieten, doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Es bestand für ihn keine Notwendigkeit, außerdem genoss er die Zuwendung der Haushälterin, Nadja.
Mittlerweile war er im Badezimmer angekommen, stellte die Dusche an, ehe er den Pyjama abstreifte. Seit Kira seinem Bruder eine reizende Tochter geschenkt hatte, achtete er darauf, eben nicht nackt zu schlafen. Mascha konnte jederzeit in sein Zimmer gelaufen kommen, da wollte er sich lieber nicht im Adamskostüm zeigen.
Das heiße Wasser tat ihm gut, entspannte seine Muskeln, gleichzeitig verjagte es die Kopfschmerzen.
Hervorragend gelaunt trocknete er sich ab, dabei dachte er darüber nach, was er für ein Glück mit seinen Leuten hatte. Rodion, Swetlana, Nikolaj, Kira, Eduard, Darja und Kyrill standen immer zu ihm, egal, was er auf dem Herzen hatte. Außerdem war es Kyrills Training, seinen Ermahnungen sowie den Ratschlägen zu verdanken, dass er es im Leichtgewicht bis nach ganz oben geschafft hatte.
Es war weitaus später, als er angenommen hatte, was ihm ein Blick auf die Uhr sagte. Im Gegenteil, Nadja würde gleich zum Mittagessen rufen.
Fröhlich ging er die Treppe herunter, küsste die Haushälterin auf die Wange, da sie ihm gerade über den Weg lief, und gesellte sich anschließend zu seiner Nichte.
Mascha rannte sofort auf ihn zu.
„Aljoscha, spielen.“
Auffordernd deutete sie auf den Sandkasten, den Nikolaj im Frühsommer aufgestellt hatte und in dem bestimmt tausend Förmchen lagen.
„Ganz wie meine Prinzessin befiehlt.“
Grinsend setzte er sich zu ihr, um eine Form zu nehmen, doch die Kleine schüttelte energisch den Kopf.
„Burg bauen.“
Gespielt entsetzt stöhnte Alexej auf. Seit er ihr vor einigen Wochen eine Sandburg gebaut hatte, musste er dieses Bauwerk immer wieder errichten.
„Mascha, lass Aljoscha wenigstens etwas essen.“
Kira sah ihre Tochter tadelnd an, erntete aber nur einen unschuldigen Blick.
Einen Moment sah die Kleine von ihrer Mutter auf ihren Onkel, ehe sie nachdenklich die Stirn runzelte.
„Joscha Hunger?“
Mit einem breiten Grinsen stimmte er zu.
„Ja, ich habe großen Hunger. Wie sieht es mit dir aus? Hast du denn schon gegessen?“
Mascha nickte, dann nahm sie ein Förmchen, füllte es mit Sand, anschließend sah sie ihre Mutter auffordernd an.
Kira musste ein Auflachen unterdrücken, da sie ahnte, was jetzt kam. Schnell half sie ihrer Tochter ein Sandtörtchen zu formen, während sie sich auf die Lippe biss.
„Kuchen essen.“
Das Kind deutete stolz auf das kleine Gebilde aus Sand.
Alexej sah zweifelnd auf seine Nichte, ehe er seine Schwägerin musterte, die immer noch verzweifelt versuchte ernst zu bleiben.
„Das ist Sand, Maschenka.“
Sofort schüttelte sie wild ihre blonden Locken.
„Kuchen.“
Energisch zeigte sie wieder auf das Sandtörtchen, als ob es den Hunger ihres Onkels stillen könnte.
In dem Moment hielt Kira es nicht mehr aus. Sie lachte laut auf, sodass Aljoscha und ihre Tochter sich gleichzeitig zu ihr umdrehten.
„Glaub mir, das haben wir alle hinter uns. Mascha möchte so lange wie möglich im Sandkasten bleiben, deshalb versucht sie jeden zu ermuntern ihre Sandkuchen zu probieren.“
Die junge Frau strich sich die Lachtränen aus den Augen.
„Du weißt, dass das kein echtes Essen ist, mein Liebling. Wir gehen jetzt mit Onkel Alexej ins Haus, wo Nadja mit dem Mittagessen wartet. Danach ist es Zeit für dein Schläfchen.“
Geschmeidig stand Kira auf, klopfte sich den Sand von den Kleidern und hielt ihrer Tochter eine Hand hin.
Einen Moment überlegte die Kleine, dann folgte sie, ohne zu murren, was Aljoscha beeindruckte. In der jüngsten Vergangenheit gab es etliche Widerworte, doch am Ende setzten sich natürlich die Eltern durch.
„Nikolaj ist zusammen mit Rodion zur Boxschule gefahren. Kyrill hat ja vorgezogen, sich schon gestern Abend nach Hause fahren zu lassen. Willst du später auch hin oder nimmst du dir den Tag frei?“
Aufmerksam blickte Kira ihren Schwager an. Sie mochte ihn, obwohl er ein wenig aufbrausend war.
„Ich werde was essen und dann gleich aufbrechen. Einer meiner Schützlinge wartet auf mich, da ich ihm versprochen habe, heute mit ihm zu trainieren. Er lebte nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Paul kümmert sich aufopfernd um seinen jüngeren Bruder Vitali. Wir konnten vor etwa drei Wochen dafür sorgen, dass sie in eine Pflegefamilie kamen. Trotzdem besteht er darauf den Kleinen jeden Morgen in den Kindergarten zu bringen, bevor er zur Schule geht. Das ist bemerkenswert, zumal er selbst erst dreizehn Jahre alt ist.“
Einen Augenblick dachte Alexej an den ernsten Blick des Kindes, das in seinem kurzen Leben schon viel zu viel Verantwortung tragen musste.
Der Junge war ihm besonders ans Herz gewachsen, nicht nur weil er regelmäßig Prügel eingesteckt hatte, um seinen Bruder zu schützen, sondern auch da er ständig für die Schwächeren einstand.
Zusammen mit Kira, Nadja und Mascha ließ er sich das Mittagessen schmecken, dann machte er sich auf den Weg zur Boxschule.
Neben seiner Karriere als Boxer war ihm die Schule enorm wichtig. Nikolaj hatte mit dieser Institution eine Anlaufstelle für die Kinder geschaffen, die missbraucht oder misshandelt wurden. Hier gab es für jeden etwas zu essen, Hilfe bei den Schulaufgaben, ein Dach über dem Kopf und ein besonderes Training, sodass sie sich wehren konnten, falls es nötig sein sollte. Allerdings setzten die Kasakows sich genauso dafür ein, dass die Kinder ein neues Zuhause bekamen, während die Behörden die Eltern zur Verantwortung zogen.
Dabei halfen alle mit, nicht nur die Boxer, die die Schützlinge trainierten, sondern auch die Frauen, die trösteten, zuhörten oder bei den Hausaufgaben unterstützten. Es war keineswegs leicht und oft genug übertraten sie Gesetze, wenn sie die Jugendlichen vor ihren Erziehungsberechtigten versteckten oder offen die Herausgabe ablehnten. Allerdings drückten die Polizisten, die man hinzuzog, meistens beide Augen zu. Sie wussten, dass es den offiziellen Stellen kaum möglich war, sich um alle Fälle zu kümmern, bei denen es um häusliche Gewalt ging.
Alexej wurde bereits erwartet, genau, wie er Kira gesagt hatte.
„Hey Paul, wie geht es dir und Vitali?“
Der Junge strahlte ihn an.
„Super. Unsere neuen Eltern waren am Wochenende mit uns im Zoo.“
Begeistert begann er von dem Familienausflug zu erzählen, denn so etwas hatte er bisher nicht kennengelernt.
„Das klingt richtig toll. Ich denke, den Zoo sollte ich mit meiner Nichte auch mal besuchen.“
Eifrig nickte der kleine Kerl, doch dann wurde er urplötzlich still.
„Was ist los? Gibt es Probleme?“
Alexej hakte sofort aufmerksam nach, zumal er den Gesichtsausdruck bestens kannte.
Verlegen zuckte der Junge mit den Schultern.
„Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber da ist ein Mädchen bei Vitali im Kindergarten, der geht es schlecht.“
Der Boxer nickte verstehend, denn gerade dieses Verhalten zeichnete das Kind aus. Er sah nie weg, selbst wenn er befürchtete, dass er Ärger bekam.
„Wieso denkst du das?“
Einladend deutete er auf eine Bank am Rande der Boxhalle, wo sie sich in Ruhe unterhalten konnten.
„Sie denkt, dass ihr Vater ihre Mutter schlägt. Die erzählt ständig, dass sie gefallen ist. Sofia hält das aber für eine Lüge.“
Das war die typische Geschichte einer Frau, die aus Angst vor ihrem Mann die Wahrheit verschleierte.
„Und wieso glaubt die Kleine, dass es anders ist?“
Vorsichtig hakte Alexej nach. Auf keinen Fall durften sie einer falschen Beschuldigung nachgehen.
„Weil die Verletzungen immer dann kommen, wenn der Vater rumschreit. Außerdem hat sie letztens durch einen Türspalt gesehen, wie ihre Mutter verprügelt wurde.“
Paul schluckte schwer, da ihn diese Situation an seinen eigenen Erzeuger erinnerte. Oft genug hatte er sich vor seinen Bruder gestellt, um die Prügel entgegen zu nehmen.
„Meinst du, du kannst den beiden irgendwie helfen?“
Sobald klar war, dass die Frau Hilfe annehmen würde, könnte Alexej etwas unternehmen. Sollte sie sich gegen ihn stellen, gab es auch für ihn keine Möglichkeit einzugreifen.
„Das weiß ich noch nicht. Zuerst muss die Mutter uns die Wahrheit erzählen. Solange sie den Mann schützt, dürfen wir uns kaum einmischen. Weißt du, wo sie wohnen oder wie sie mit Nachnamen heißen?“
Wieder zuckte der Junge mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Vitali hat Sofia von euch erzählt, aber bisher ist niemand hier erschienen. Wir kennen auch nur ihren Vornamen. Mein Bruder ist ja erst fünf Jahre alt, da hat er vergessen nachzufragen.“
Vorsichtig legte Alexej eine Hand auf den Arm seines Schützlings.
„Ihr habt genau richtig gehandelt. Wenn die beiden Hilfe brauchen, wissen sie ja nun, wo sie hinkommen müssen. Und jetzt gehen wir trainieren, okay?“
Sofort sprang der Junge auf, um sich umzuziehen, während Aljoscha ihm seufzend nachsah.
Er hatte das dumme Gefühl, dass es sich um ein echtes Drama handelte, nur ohne eine Adresse oder zumindest einen vollständigen Namen würden sie kaum etwas ausrichten können. Außerdem konnten sie niemanden zwingen, ihre Hilfe anzunehmen.
Langsam stand er auf, um sich auch seine Trainingssachen anzuziehen, kurz danach begann er das Training mit Paul.

~~°~~

Jelena dachte ständig an die Worte der Kindergärtnerin. Sollte sie vielleicht doch um Hilfe bitten? Sofort schob sie diese Gedanken zur Seite. Nazar würde dafür sorgen, dass sie ihre Tochter nie wieder sah, davon war sie überzeugt. Außerdem hatte sie weder eine Arbeit noch eine Ausbildung.
Wie könnte sie unter den Umständen Sofia ernähren und kleiden, von sich selbst mal ganz abgesehen?
Seufzend sah sie sich in der blitzblanken Wohnung um. Es sah aus, als ob hier niemand wohnte. Alles stand an seinem Platz, es gab keine Stelle, die nicht glänzte, obwohl die Möbel, die Gardinen und der Teppich ihre besten Zeiten längst hinter sich hatten.
Unruhig sah Jelena auf die Uhr. Sie wollte gleich los, um ihre Tochter abzuholen, dann blieb ihr eine halbe Stunde, um das Essen zu kochen. Aber da hatte sie vorgesorgt, sodass sie den Eintopf nur aufzuwärmen brauchte.
An dem Tag musste Nazar einfach zufrieden mit ihr sein!
Schnell nahm sie ihre alte, abgetragene Jacke vom Haken und machte sich auf den Weg zum Kindergarten.
In Gedanken ging sie noch einmal alles durch, ob sie auch ja nichts vergessen hatte, doch dieses Mal gab es wirklich keinen Anlass etwas zu beanstanden. Ein wenig atmete sie auf, beruhigte sich selbst, in dem sie sich immer wieder sagte, dass sie ihren Mann auf die Art zufriedenstellen konnte.
Die kleine Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr zuflüsterte, dass das Ekelpaket keineswegs einen Grund brauchte, um sie zu schlagen, ignorierte sie geflissentlich.
Mit einem vorsichtigen Lächeln, damit ihre Lippe nicht aufplatzte, betrat sie den Hof des Kindergartens, dabei wunderte sie sich, dass ihre Tochter nirgends zu sehen war. Sonst stürmte sie bereits aufgeregt auf sie zu, um ihr von ihrem Tag zu erzählen.
„Gut, dass Sie da sind, Frau Popowa. Wir konnten Sie leider nicht erreichen, aber Sofia ist weg.“
Die Leiterin des Kinderhorts kam ihr aufgelöst entgegen, gleichzeitig blieb Jelenas Herz stehen, ehe es losraste.
In ihrem Kopf kreisten die Gedanken, angefangen damit, dass Nazar seine Drohung wahr gemacht und ihre Kleine weggebracht hatte, bis zu der Überlegung, dass das Kind weggelaufen war.
„Wieso haben Sie nicht aufgepasst? Wie kann es sein, dass niemand weiß, wo meine Tochter ist?“
Jelena schrie die Frau an, dabei sammelten sich Tränen in ihren Augen. Verzweifelt ballte sie die Hände zu Fäusten.
„Glauben Sie mir, ich mache mir die größten Vorwürfe. Sofia war immer zuverlässig. Sie hat ständig getan, was man ihr sagte, daher konnten wir kaum damit rechnen, dass sie verschwindet.“
Ungläubig starrte Lena die Kindergärtnerin an.
„Das ist alles? Nur weil mein Kind keinen Ärger macht, muss man nicht auf sie aufpassen?“
Beschwichtigend hob Frau Stephanowa die Hände, dabei sah man auch in ihrem Gesicht die Besorgnis.
„Kann es sein, dass Sofia aus Angst vor ihrem Vater weggelaufen ist?“
Sofort schüttelte Jelena den Kopf.
„Nein, das ist ausgeschlossen. Es gibt keinen Grund, warum meine Tochter weglaufen sollte.“
Genau in dem Moment traf die Polizei ein, die von der Leitung des Kindergartens gerufen worden war.
Völlig außer sich stürzte Lena auf die Beamten zu, dabei kam ihr zum ersten Mal in den Sinn, dass Nazar vielleicht nichts damit zu tun hatte. Unter den Umständen würde er ihr die Hölle heißmachen.
„Bitte, Sie müssen meine Tochter finden!“
Aufgeregt stand sie vor den Polizisten, die ihre größte Hoffnung darstellten.
„Beruhigen Sie sich erst einmal. Ich nehme an, dass Sie Frau Popowa, die Mutter der Vermissten, sind?“
Schnell nickte Jelena, dabei versuchte sie ihre Angst herunterzuschlucken, aber das gelang ihr nicht.
Die Beamtin musterte sie eindringlich.
„Wie sind Sie zu diesen Verletzungen gekommen?“
Abwehrend schüttelte Lena den Kopf.
„Tut das etwas zur Sache? Mein Kind ist verschwunden und Sie fragen nach den paar Kratzern in meinem Gesicht? Ich bin gegen eine offene Schranktüre gelaufen.“
Die Zweifel im Blick der Polizistin waren deutlich zu sehen, doch sie seufzte nur leise.
„Wir könnten Ihnen besser helfen, wenn Sie die Wahrheit sagen würden. Kommen wir zu Ihrer Tochter. Haben Sie ein Foto von ihr?“
Bedauernd verneinte Jelena, aber die Kindergärtnerin kam schon mit einer Fotografie herbeigeeilt.
„Die Aufnahme ist jetzt zwei Monate alt.“
Sie gab das Bild der Beamtin, die sich erneut auf die Mutter konzentrierte.
„Gab es irgendeinen Hinweis, dass das Kind weglaufen wollte? Hatte sie Angst vor irgendjemandem oder gibt es jemanden, zu dem sie gegangen sein könnte?“
Einen Moment dachte Jelena nach, doch dann schüttelte sie energisch den Kopf.
„Nein, Sofia würde ohne mich ganz bestimmt nirgendwohin gehen. Ich wüsste auch nicht, wohin sie laufen sollte.“
Seufzend steckte die Beamtin ihren Notizblock wieder weg.
„Wir werden die Straßen absuchen. Sobald wir etwas wissen, melden wir uns. Geben Sie uns bitte eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können.“
„Wir haben kein Telefon“, gab Jelena verlegen zu.
Verstehend sah die Polizistin sie an, dann nickte sie leicht, ehe sie sich umdrehte.
„Ich hoffe, Sie finden sie schnell.“
Jelenas Wunsch war nur ein Flüstern, der die Beamten auf ihrem Weg hinausbegleitete.
Erst jetzt fiel ihr ein, dass Sofia von der Boxschule der Kasakows geredet hatte.
„Entschuldigung, ich hab vielleicht doch einen Hinweis.“
Aufgeregt lief sie den Polizisten hinterher, die sich augenblicklich umdrehten.
„Sofia erzählte mir gestern etwas von einer Boxschule. Die Besitzer heißen Kasakow oder so ähnlich.“
Die Polizistin zog eine Augenbraue hoch.
„Wieso hat Ihre Tochter diese Institution erwähnt? Wir kennen die Einrichtung, die neben den normalen Schülern besonders Kindern und Jugendlichen einen Platz bietet, die Schutz vor ihren Erziehungsberechtigten brauchen.“
Jetzt musste sie Farbe bekennen, aber alles war besser, als Sofia alleine in den Straßen von Sankt Petersburg zu wissen.
„Sie hat einen Streit zwischen meinem Mann und mir mitbekommen. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, es kommt vor, dass man streitet.“
Sie brach ab, als sie bemerkte, dass die beiden Beamten ihr kein Wort glaubten.
„Sie sollten dringend darüber nachdenken, ob Sie sich von Ihrem Ehemann trennen wollen. Falls Sie Hilfe brauchen, gibt es einige Stellen, an die Sie sich wenden können.“
Ehe die Frau aufzählte, wer ihr alles helfen würde, hob Jelena abwehrend die Hände.
„So weit ist es noch nicht. Sofia hat da etwas völlig falsch verstanden.“
Resignierend stieß die Polizistin die Luft aus. Sie kannte solche Situationen zur Genüge, meistens waren die Opfer so eingeschüchtert, dass sie sich keinesfalls trauten, Hilfe anzunehmen.
„Wir tun unser Bestes, um Ihre Tochter aufzuspüren. Sollten wir sie finden, bringen wir sie sofort nach Hause.“
Damit drehten die Beamten sich endgültig um und gingen zu ihrem Dienstwagen.
Händeringend sah Jelena ihnen nach, dabei betete sie, dass man Sofia so schnell wie möglich fand.
Ohne ein weiteres Wort an die Kindergärtnerin zu wenden, machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrer Wohnung. Auf dem Heimweg überlegte sie, was sie Nazar sagen sollte, falls er nicht selbst dahinter steckte.

Kapitel 2

 

Während die Polizei die Suche nach Sofia einleitete, lief diese durch die Straßen von Sankt Petersburg.
Ihr Freund Vitali hatte ihr bestätigt, dass die Kasakows jedem halfen, der Hilfe brauchte. Außerdem erzählte er ihr, dass das starke Boxer waren, die auch ihrem Papa eins auf die Nase gaben, falls er sich schlecht benahm.
Die Kleine legte ihre gesamte Hoffnung auf diese fremden Männer, die ihre Mama beschützen sollten.
Sofia dachte daran, wie sie am vorigen Abend durch den Türspalt gesehen hatte. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie ihr Vater ihre Mutter schlug, bis sie blutete. Seitdem überlegte sie, was sie tun konnte. Selbst ihre Anwesenheit hielt ihn nicht zurück, außerdem hatte sie fürchterliche Angst, dass er sie auch so schlagen würde.
Schnell rannte sie eine Straße entlang, dabei achtete sie darauf, dass niemand sie sah. Zuerst wollte sie weit genug vom Kindergarten wegkommen, dann plante sie jemanden zu fragen, wie sie zu dieser Boxschule käme.
Gott sei Dank war es noch hell, trotzdem war es Sofia alles andere als wohl in ihrer Haut.
Um sich zu beruhigen, sang sie leise ein Kinderlied, das sie in ihrer Kindergartengruppe gelernt hatte. So ging sie einfach der Nase nach, bis sie gar keine Ahnung mehr hatte, wo genau sie sich befand. Ängstlich sah sie sich um, doch die Erwachsenen liefen an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Keiner kümmerte sich um das hilflose Kind.
Sofia traten die Tränen in die Augen. So stellte sie sich ihre Rettungsaktion gewiss nicht vor. Außerdem traute sie sich keineswegs, jemanden anzusprechen. Ihre Mutter bläute ihr immer wieder ein, dass sie auf Abstand zu Fremden bleiben musste.
Irgendwann wurde es ruhig auf der Straße, was das kleine Mädchen in Panik verfallen ließ. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, sie hatte keine Ahnung, wohin sie sollte und es waren kaum Erwachsene unterwegs, die sie hätte fragen können. Tränen rannen ihr über die Wangen. Hektisch sah sie sich um, in der Hoffnung irgendetwas Bekanntes zu sehen, aber es gab keinen Hinweis, welcher Weg der richtige war. Die Straßenschilder konnte sie noch nicht lesen und auch sonst gab es absolut keinen Anhaltspunkt, der ihr irgendwie den Weg zeigte. Sie weinte bitterlich, während sie vor Angst zitterte.
Endlich kam ein älterer Herr auf sie zu.
„Hast du dich verlaufen, Kleine?“
Verschüchtert nickte sie nur.
Der Mann reichte ihr ein Papiertaschentuch, mit dem sie sich unbeholfen über das Gesicht fuhr.
„Wenn du mir sagst, wo du zu Hause bist, kann ich dich hinbringen.“
Einen Augenblick überlegte sie, denn dorthin traute sie sich auf gar keinen Fall. Ihr Papa würde bestimmt wieder auf ihre Mama losgehen, obwohl diese gar nichts dafürkonnte, dass sie weggelaufen war. Außerdem musste sie an ihrem Plan, dass sie Hilfe holen wollte, festhalten, egal wie groß ihre Angst im Moment war.
„Ich muss zur Boxschule der Kasakows. Können Sie mir sagen, wo die ist?“
Sie schluckte, während sie immer noch zitterte. Auch der Gedanke, was ihr Vater ihr antun könnte, hielt sie davon ab, nach Hause zurückzukehren.
Der Mann musterte das Kind nachdenklich, dann nickte er leicht.
„Wartet dort dein Vater oder deine Mutter auf dich?“
Eifrig stimmte Sofia zu.
„Ja, meine Mama. Sie ist Putzfrau. Normalerweise fahre ich mit dem Bus, aber ich habe meine Fahrkarte verloren.“
Mit großen Augen blickte sie den Herrn an, gleichzeitig betete sie stumm, dass er ihr diese Lüge abnahm.
„Dann hast du Glück gehabt, denn die Schule ist gleich hier vorne. Nur zwei Straßen weiter.“
Gemeinsam gingen sie das Stück bis zu einem Gebäude, auf das der nette Mann deutete.
„Das ist die Boxschule Kasakow. Du bist dir sicher, dass deine Mama in dem Haus arbeitet?“
Schnell nickte Sofia.
„Ja, bin ich. Vielen Dank.“
Sie strahlte ihre Begleitung an und rannte auf den Eingang zu, der dummerweise geschlossen war.
„Keiner mehr da?“
Der Herr war sich unsicher, ob er die Kleine einfach so hierlassen durfte, doch die flitzte schon los, sodass er den Eindruck bekam, dass sie sich hier auskannte.
Sofia hingegen lief an dem Gebäude entlang, bis sie eine Möglichkeit fand, sich zu verstecken. So nah am Ziel wollte sie kein Risiko eingehen. Sie würde Hilfe für ihre Mama holen. Außerdem jagte auch der Mann ihr Angst ein. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, was alles passieren konnte, wenn sie mit jemand Fremden mitging.
Nach ein paar Minuten schlich sie zurück, sah vorsichtig um die Ecke der Boxschule und atmete auf. Es war niemand mehr zu sehen.
Allerdings stand vor dem Eingang nur noch ein einziges Auto. Vielleicht musste sie sogar bis zum nächsten Tag warten. Erneut traten ihr die Tränen in die Augen, gleichzeitig nahm die Furcht wieder zu. Die Vorstellung, die Nacht hier verbringen zu müssen, erschreckte sie enorm, aber ihr blieb keine andere Wahl. Alleine fand sie niemals nach Hause.
Mit einem Seufzer setzte sie sich neben die Tür, lehnte sich an die Wand und weinte stumm vor sich hin. Erst nach einer ganzen Weile schaffte sie es, das Schluchzen zu unterdrücken, doch jetzt spürte sie, wie hungrig sie war. Eilig holte sie ihr Pausenbrot heraus, das sie extra aufgehoben hatte.
Ihr Magen knurrte schon wie ein böser Kettenhund, sodass sie es hastig aufaß.

~~°~~

Alexej atmete tief durch. Der Tag hatte es in sich gehabt, zuerst die Geschichte von Paul, die er kaum einordnen konnte, dann kam die Polizei, um genau nach dem Mädchen zu suchen.
So wie es aussah, gab es einige Probleme in dieser Familie, nur waren ihnen noch die Hände gebunden. Als Erstes musste Sofia oder ihre Mutter sie um Hilfe bitten, vorher durften sie sich keinesfalls einmischen.
Kyrill reichte ihm eine Tasse Tee, die sie sich redlich verdient hatten.
„Trink mein Junge und hör auf zu grübeln.“
Der Trainer sah ihn ernst an, da er sich denken konnte, dass Aljoscha sich Gedanken machte.
„Ich bekomme die Vorstellung, dass da ein unschuldiges Kind gequält wird, einfach nicht aus dem Kopf. Stell dir vor, sie ist nur ein wenig älter als Mascha.“
Zu gerne wäre er losgelaufen, um die Kleine selbst zu suchen, aber die Beamten hatten ihm keine Details erzählt. Nur ein Foto hielten sie ihm unter die Nase, darauf war ein zierliches Mädchen mit blonden Locken zu sehen, die ihn sehr an seine Nichte erinnerte.
„Wir können die Welt nicht retten, nur ab und an besser machen.“
Kyrill sah nachdenklich in seinen Tee, auch er machte sich Sorgen, um das Kind, nur dachte er sich bereits, dass es kaum etwas brachte, wenn sie jetzt losfuhren. Wer wusste schon, warum die Kleine abgehauen war.
„Paul wird seinem Bruder sagen, dass Sofia sich bei uns melden soll. Allerdings müsste sie dazu erst mal irgendwo auftauchen.“
Alexej blies in seinen Tee, ehe er einen Schluck trank, trotzdem verbrannte er sich die Zunge.
„Scheiße, ist das heiß“, fluchte er, als er wieder sprechen konnte.
Kyrill lachte leise.
„Das hat frisch gekochter Tee so an sich.“
Jetzt grinste sein Schüler auch leicht.
„Wie viele Kinder bleiben mittlerweile über Nacht hier?“
Mit allen Mitteln wollte Aljoscha sich von der Geschichte mit dem Mädchen ablenken.
„Im Moment sind es nur zwei. Aber ich befürchte, dass sich das bald ändert. Der Herbst ist noch jung, doch wenn es kälter wird, kommen sie ganz bestimmt in Scharen.“
Das hatten sie im letzten Jahr bereits erlebt, daher waren sie jetzt besser vorbereitet. Solange die Sonne schien, gab es genug Unterschlupfmöglichkeiten, nur sobald es wirklich Winter wurde, brauchten die Kinder einen Platz, an dem sie nicht erfroren.
„Ich mache mich auf den Heimweg. Sicher, dass du keine Hilfe brauchst?“
Aufmerksam blickte Aljoscha den Freund an.
„Wobei? Bei zwei Jungs, die so still sind, dass es mich ängstigt? Sie sind darauf getrimmt, möglichst unauffällig zu bleiben.“
Der Trainer sah seinen Schützling lächelnd an.
„Danke für deine Besorgnis, aber ich komme klar.“
Alexej nickte ihm zu. Er wusste, dass Kyrill mit seinen eigenen Dämonen kämpfte, seit er seine Frau und sein Kind bei einem Hausbrand verloren hatte.
„Wenn was ist, ruf mich an.“
Mit den Worten stellte er die leere Teetasse in die Spülmaschine, klopfte dem Freund auf die Schulter, ehe er die Wohnung verließ.
Alexej machte noch einen Rundgang durch die Boxschule, um sicherzugehen, dass alles abgeschlossen war, dann ging er nachdenklich zu seinem Auto.
In dem Moment, in dem er die Eingangstür hinter sich zuzog, regte sich jemand, der offensichtlich an der Mauer gesessen hatte.
Erschrocken drehte er sich um, damit er sich zur Not sofort verteidigen konnte, doch als er das kleine Mädchen sah, wusste er, dass das unnötig war.
Zwei große, ängstliche Kinderaugen blickten zu ihm hoch. Darin erkannte er die Angst, mit dem das Kind zu kämpfen hatte.
Vorsichtig hockte er sich zu ihr.
„Hey, wer bist denn du?“
Skeptisch erwiderte sie seinen Blick, dann schüttelte sie leicht den Kopf.
„Ich darf nicht mit Fremden reden“, flüsterte sie ihm zu.
Dass sie mit dem Satz die Regel bereits gebrochen hatte, war ihr offensichtlich nicht klar.
„Das ist auch gut, wenn du dich daran hältst. Allerdings bist du wahrscheinlich aus einem bestimmten Grund zu uns gekommen, oder?“
Eindringlich musterte Aljoscha das Kind, weil sie ihm so bekannt vorkam. Es dauerte einige Sekunden, ehe er wusste, dass es sich um Sofia handelte, die von der Polizei gesucht wurde.
„Ich suche die Kasakows. Kennst du die?“
Eingeschüchtert klammerte sie sich an ihren Rucksack, den sie mit beiden Armen umschlang. In ihren Augen glitzerten Tränen, gleichzeitig zitterte sie vor Angst und Kälte.
„Ja, die kenne ich. Ich bin Alexej Konstantinowitsch Kasakow und du musst Sofia sein. Paul hat mir von dir erzählt.“
Im Moment hielt Aljoscha es für besser, ihr nichts von der Polizei zu erzählen, um ihr weitere Sorgen zu ersparen.
„DU bist einer von den Boxern?“
Ihre Augen weiteten sich noch etwas mehr, dann atmete sie ein wenig auf.
„Vitali hat gesagt, du hilfst meiner Mama. Stimmt das?“
Skepsis klang in ihrer Stimme mit. Bisher waren die Erwachsenen kaum an ihren Problemen interessiert gewesen.
„Was ist denn mit ihr?“
Alexej wollte sich gerade neben die Kleine setzen, als ihm einfiel, dass er sie besser ins Warme bringen sollte. Mittlerweile war es empfindlich kalt geworden.
„Warte, ehe du antwortest. Möchtest du vielleicht mit zu mir fahren? Dort könntest du dich aufwärmen. Außerdem muss ich deinen Eltern Bescheid geben, dass ich dich gefunden habe.“
Sofort sprang das Mädchen auf, gleichzeitig schüttelte sie heftig den Kopf.
„Das darfst du nicht tun. Erst musst du mir versprechen, dass du meine Mama beschützt.“
Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen, die offensichtlich ihrer Verzweiflung geschuldet waren.
Alexej seufzte leise, während er innerlich fluchte, dass keine der Frauen anwesend war. Kira, Darja und Swetlana hatten in solchen Fällen mehr Erfahrung, außerdem fanden sie immer die richtigen Worte, um die Kinder zu beruhigen.
„Wieso soll ich deine Mutter denn beschützen? Und vor wem?“
Sofia holte tief Luft, sah sich um, ehe sie sich ein wenig zu dem Mann beugte.
„Mein Papa schlägt sie, wenn er wütend ist.“
Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, so als ob sie Angst hätte, dass eine weitere Person sie hören könnte.
„Das ist natürlich ein guter Grund. Ja, ich kann ihr helfen, falls sie das möchte. Sollen wir hinfahren und sie fragen?“
Vielleicht war das genau der Weg, um der Kleinen die Adresse zu entlocken, doch sie schüttelte schon den Kopf.
„Jetzt ist Papa zu Hause, da lügt Mama dich an. Sie sagt immer, sie sei ungeschickt. Aber ich habe gesehen, dass er sie gehauen hat.“
Alexej stand ebenfalls auf, klopfte sich den Dreck von der Jeans, ehe er einen Moment überlegte.
Die Beleuchtung des Eingangs traf sein Gesicht, sodass Sofia ihn deutlich sehen konnte.
„Hat dich auch jemand geschlagen?“
Entsetzt deutete sie auf die kaum verheilten Wunden, die sie jetzt erst richtig sah.
„So was in der Art. Aber ich war besser. Es ging um einen Boxkampf. Kennst du den Sport?“
Verlegen verneinte Sofia.
„Ich weiß nur, dass sich erwachsene Männer da prügeln. Das sagt Papa immer.“
Alexej lachte leise.
„Es ist ein sehr alter Sport. Ich habe einen Wettkampf ausgetragen, darin wurde festgestellt, wer der Bessere ist.“
Nachdenklich musterte Sofia ihn.

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Tag der Veröffentlichung: 29.11.2018

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