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Kapitel 1

Ein leiser Ruf hallte durch die Räume des Söldnerlagers in Ballygannon. Ein normaler Mensch hätte die Worte nur als Raunen wahrgenommen, aber die Söldner besaßen ein sehr gutes Gehör, sodass kurz darauf die erste Einheit im Büro ihres Vorgesetzten versammelt war.
Steward blickte seine beste Truppe besorgt an, denn die Aufgabe, die ihnen bevorstand, war gelinde gesagt schwierig.
„Schieß los, so wie du uns ansiehst, kommt ein dicker Hammer auf uns zu, da macht dein Schweigen es auch nicht besser“, forderte Brian, der junge Werwolf, ihn auf.
Caitlin, seine Gefährtin, stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.
„Musst du immer so drängeln? Wir erfahren früh genug, was uns erwartet“, zischte sie ihm zu, als sie sah, dass sich Stews Stirn runzelte.
Grinsend zog Brian sie an sich, küsste sie schnell, um dann wieder seine Aufmerksamkeit ihrem gemeinsamen Boss zuzuwenden.
„Es geht um eine Erscheinung in Belgien. In Ostende drückt ein plötzlicher Wind Passanten ins Meer, was kaum unser Problem wäre, wenn die Sylphe unsichtbar bliebe. Ich habe keine Ahnung, warum sie sich zeigt“, brachte Steward hervor.
Nachdenklich sah David ihn an, er war der Anführer der ersten Einheit; an seine Seite schmiegte sich Emily, die Dämonenblut in sich hatte, aber ansonsten einem normalen Menschen entsprach.
„Vielleicht hat sie ihre Kräfte nicht unter Kontrolle“, vermutete er.
Der Wolf war mit einem fotografischen Gedächtnis sowie einer enormen Intelligenz ausgestattet, doch im Moment konnte auch er nur raten.
„Das sollt ihr herausfinden. Außerdem möchte Ronwe, dass ihr die Sylphe hierher nach Ballygannon bringt. Sie hat die Geheimhaltung missachtet, dadurch sind die Menschen auf uns aufmerksam geworden. Ich brauche euch kaum zu sagen, was das heißt oder?“, beendete Stew das Meeting.
Jeder wusste, dass Ronwe der oberste Richter und Patricias Großvater war. Er regierte die magischen Wesen zusammen mit je einem Vertreter der jeweiligen Art.
„Wir werden unser Bestes tun, wie immer“, stieß Logan hervor, während er seine Liebste Joleen an sich drückte.
Mittlerweile hatte seine Gefährtin eingesehen, dass sie besser bei ihren Zwillingen blieb, und die Crew im Hauptquartier unterstützte, was ihm einige Diskussionen ersparte. Nichtsdestotrotz widerte es ihn an, sie zu verlassen.
Patricia blickte auf ihren Partner Steward, da sie noch keine Anweisungen bekommen hatte. Ihre Dämonensinne machten es den Wesen unmöglich sie anzulügen, da sie in ihren Gedanken lesen konnte.
„Du bleibst hier, sobald sie die Sylphe eingefangen haben, kannst du nachkommen, falls es nötig ist. Wobei ich kaum glaube, dass der Luftgeist genau dann an seine Gründe denkt, wenn du in der Nähe bist“, antwortete der Gepard auf ihre stumme Frage.
„Abfahrt in fünf Minuten“, befahl David und sofort verließ der Trupp das Büro.
Zu dieser Einheit gehörten noch Gerry, Luchs und begnadeter Arzt, der mit Lea, einem Erdenengel liiert war. Seine Gefährtin ergänzte ihn perfekt, nicht nur als Krankenschwester, sondern auch mit ihrer Fähigkeit Hoffnung und Liebe in die Herzen der Lebewesen zu senden.
Außerdem gab es Patrick, den Panther, der jetzt in sein Zimmer stürzte, da er seine Nervosität kaum länger unterdrücken konnte.
Bei den Gestaltwandlern war es mittlerweile bekannt, dass sie eine starke innere Unruhe erfasste, kurz bevor sie ihre Partnerin trafen. Bei jedem seiner Freunde war es so gewesen, daher verzichtete er dankend auf die Sticheleien. Genauso wollte er den Vermutungen aus dem Weg gehen, wen er bekommen würde.
Keiner seiner Brüder hatte es leicht gehabt, ganz im Gegenteil. Sie alle mussten um ihre Gefährtinnen kämpfen, Ihretwegen leiden und auch heute hielten die Frauen sie gut auf Trab. Der Umstand, dass die Männer durch die Bank mit dominant-sadistischer Neigung gesegnet waren, machte es kaum einfacher.
Trotzdem standen sie zueinander, wie eine große Familie.
Hektisch warf Patrick seine Sachen in einen Rucksack, während ihm die Geschichten seiner Freunde durch den Kopf rasten. Normalerweise sollte er sich auf den bevorstehenden Einsatz konzentrieren, denn jetzt würden seine Fähigkeiten als Computerspezialist benötigt, doch er schaffte es partout nicht. Diese unerträgliche Unruhe raubte ihm noch den Verstand.
Schnell packte er sein spezielles Handy, das eher ein Minicomputer war, dann lief er zum Parkplatz vor der Villa.
Hier stand der Van bereit, der sie zum Flughafen brachte, wobei Logan wie immer mit seinem Jaguar fuhr. Das war eine Marotte von ihm, die er schon von Anfang an hatte. Er hasste es, wenn jemand anderes am Steuer saß.
Jo wartete mit den Zwillingen am Eingang und sah ihnen zu. Ihr fehlten die Außeneinsätze.
„Wir brauchen dich, damit du uns auf dem Laufenden hältst. Steward ist mit dem Bürokram eh überlastet“, tröstete der Panther sie, als er an ihr vorbeiging.
„Das habe ich gehört“, tönte es aus dem Gebäude, was ein Grinsen auf Jos Gesicht zauberte.
„Das solltest du auch“, rief Patrick zurück, dann warf er seinen Rucksack in den Kofferraum, anschließend stieg er zu den restlichen fünf Personen in den Van und ließ er sich neben Gerry in den Sitz fallen.
Auf dem Weg zum Flughafen passierten sie das Hospital, sowie das Pflegeheim, die ihren Komplex vervollständigten.
In dem Krankenhaus behandelte man nicht nur magische Wesen, sondern hier konnten sie Erinnerungen der Menschen entfernen. Sobald einer aus ihrer Welt über die Stränge schlug und die Geheimhaltung missachtete, schickte die Regierung die Söldner los. Dabei waren fast immer die Normalsterblichen involviert, sodass diese Eingriffe nötig wurden.
Ihre Technologie war erstaunlich weit entwickelt, kein Vergleich zu dem Wissen der Normalen.
Leider gingen auch einige Operationen schief, dann verwandelte sich der Patient in einen lebenden Zombie, dafür gab es das Pflegeheim. Obwohl die Zauberwesen sich kaum um die Sorgen der Menschen kümmerten, kamen sie in diesem Punkt ihrer Verpflichtung nach.
„Wir haben eine Vertraute, die uns eine Unterkunft zur Verfügung stellt. Magda besitzt eine Wohnung in Raversijde mit direktem Blick auf das Meer. Ruhig genug, um nicht aufzufallen und trotzdem mitten im Geschehen. Das Haus hat den Namen Bel Horizon“, damit riss David ihn aus seinen Gedanken.
Die Menschen, denen man die Erinnerung an die magische Welt nicht nahm, leisteten einen Eid; somit wurden sie zu Verbündeten. Meistens handelte es sich um Gefährten oder Leute, die einem von ihnen schon einmal geholfen hatten. Die Gesellschaft der Zauberwesen besaß ihre eigenen Regeln, ihre eigene Regierung sowie Rechtsprechung, außerdem lebten sie im Geheimen unter der restlichen Bevölkerung.
Die Fahrt zum Flughafen in Dublin verlief, wie immer, problemlos. Mit ihrer Technik schalteten sie Radarkontrollen aus und wussten im Voraus, wenn die Polizei in der Nähe war, so umgingen sie die Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Jeder Gestaltwandler liebte die Geschwindigkeit, somit holte Brian alles aus dem Van heraus.
Caitlin flog lieber, als Falke war sie schneller, außerdem war es in dem Van sonst zu eng. Sie würde am Flughafen wieder zum Rest stoßen, dabei musste sie vorher einen Weg ins Gebäude finden, da sie bei ihrer Verwandlung komplett nackt war. Zur Not steckte Lea sie in eine große Tasche.
„Du bist dir bewusst, dass es schlimmer wird, wenn du es unterdrückst, oder?“, raunte Gerry Patrick in dem Moment zu, als sie die Schranke zum Flughafengelände passierten.
Erstaunt sah der Panther seinen Kumpel an.
„Woher weißt du?“, flüsterte er zurück.
Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Luchses.
„Ich erkenne viel mehr, als du dir vorstellst, das gehört zu meinem Job als Arzt. Jede noch so kleine Auffälligkeit könnte ein Hinweis auf eine Krankheit sein“, erklärte er leise.
David sah fragend zu den beiden rüber, doch Gerry schüttelte nur leicht den Kopf. Auf keinen Fall verriet er seinen Kumpel, solange dieser beschlossen hatte, seinen Zustand geheim zu halten.
Sie passierten die Schranke, anschließend parkte Brian den Van auf dem für sie vorgesehenen Parkplatz.
Offiziell galten sie als Söldner, die von reichen Leuten und ebensolchen Firmen engagiert wurden. Das Flugzeug stellte man ihnen zur Verfügung, es gehörte einer namhaften Gesellschaft aus Irland, die zu ihren Verbündeten zählte. Inoffiziell handelte es sich um eine Elitetruppe der magischen Welt, die bei Verstößen gegen ihre Gesetze zum Einsatz kamen.
Suchend sah Brian sich nach seiner Liebsten um, auch er verabscheute es, wenn sie sich von ihm entfernte.
„Du solltest nach vorne schauen“, riet David ihm, dabei deutete er auf eine zierliche Person, die auf die Gruppe zuhielt.
Der Wolf atmete auf, dann rannte er los, um seine Gefährtin in seine Arme zu schließen.
„Ich hatte Glück, weil ein Lüftungsschacht offenstand. So konnte ich zu den Toiletten, dort war es ein Kinderspiel“, erzählte sie lächelnd.
Caitlin war in der Lage ein paar Kleider mit ihren Krallen zu transportieren, was ihr in diesem Fall entgegenkam.
Allerdings leuchtete es in Brians Augen auf, da er wusste, dass sie mal wieder keine Unterwäsche trug.
Schnell passierten sie die Sicherheitskontrolle, um an Bord ihres Flugzeugs zu kommen. Hier rief Patrick neue Informationen ab, gleichzeitig ließ er die Neuigkeiten auf einer Leinwand erscheinen, dafür nutzte er sein besonderes Handy.
Eine Karte von dem Küstenstrich erschien, ebenso die aufgefallenen Vorkommnisse. Etliche Menschen verloren ihre Taschen, Geld sowie sonstige Wertsachen, vier Personen mussten von der Küstenwache gerettet werden, anschließend kamen sie in ein Krankenhaus. Bisher gab es keine Toten, aber die Sylphe wurde gefährlicher. Immer öfter berichteten Passanten von Sichtungen, dabei gerieten die Touristen in der letzten Zeit ständig in prekäre Situationen.
„Wieso zeigt sie sich? Sie weiß genau, dass ihr dieses Verhalten unsere Einheit auf den Hals hetzt“, fragte Logan laut.
„Vielleicht ist sie sich nicht bewusst, was sie da tut“, bemerkte David, nur um gleich darauf den Kopf zu schütteln.
„Dann würde sie die Leute anschließend kaum beklauen“, berichtigte er sich selbst.
„Wir fliegen hin, fangen sie und bringen sie nach Ballygannon, damit haben wir unseren Auftrag erfüllt“, fasste Patrick genervt zusammen.
Jetzt trommelte er doch nervös mit den Fingern auf den kleinen Tisch, der vor ihm stand.
Lea legte beruhigend ihre Hand über seine, gleichzeitig schüttelte sie kaum merklich den Kopf.
„Es ist ja auch so leicht, einen Luftgeist einzufangen. Abgesehen davon, dass wir sie kaum gegen ihren Willen durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen bringen“, erwiderte Brian spöttisch.
Wütend sah Patrick ihn an, natürlich wusste er, dass es schwierig war, allerdings brauchten sie nicht weiter, über Offensichtliches zu diskutieren.
„Schon gut Kumpel, ich weiß, wie es dir geht“, milderte der Werwolf seine Bemerkung ab.
Fragend sah der Panther ihn an.
„Du versteckst es gut, aber wir wissen alle, dass du demnächst deine Gefährtin treffen wirst“, antwortete jetzt Logan für ihn.
„Dann hätte ich mir die Mühe ja gar nicht machen müssen, euch meinen Zustand zu verheimlichen“, stieß Patrick verblüfft hervor.
Stumm stimmten seine Brüder ihm zu, dabei verkniffen sie sich ein Lächeln. Es gab wenig, was sie voreinander verbergen konnten, dafür kannten sie sich einfach schon zu lange.
Mit einem Rumpeln setzte die Maschine auf, was sie an ihre Aufgabe erinnerte. Vor dem Gebäude standen zwei Limousinen bereit, obwohl die Wohnung nur einen knappen Kilometer entfernt lag.

~~°~~

Victoria blickte den Sandstrand entlang, der heute fast schon überfüllt erschien. Natürlich wollten alle die Sonne ausnutzen, die gnadenlos von einem strahlendblauen Himmel strahlte. Das Meer lag tiefblau vor ihr, dabei tummelten sich etliche Badegäste in den Wellen.
Seufzend sondierte sie die Leute, denn sie musste vorsichtig sein, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Endlich sah sie einen Spaziergänger, der dicht genug am Wasser lief und normale Sommerkleidung trug. Hier konnte sie Beute machen.
Schnell erhob sie sich in die Luft, mit ihrem Element verbunden war kein Sterblicher in der Lage, sie zu erkennen. Es hatte Vorteile eine Sylphe zu sein.
Unsichtbar flog sie zu dem Mann, sammelte den Wind um sich, um ihn konsequent in die Wellen zu drücken. Immer weiter schob sie den um hilferufenden Kerl ins Meer. Erst jetzt zeigte sie ihm einen Teil ihrer Gestalt, gerade so, dass er erahnte, wie sie aussah.
In ihren Augen schimmerte für einen ganz kurzen Augenblick das Mitleid, ehe sie ihm die Geldbörse aus der Hosentasche zog, anschließend verblasste ihre Erscheinung vollkommen.
Sofort löste sie die starke Windböe auf, dann machte sie sich auf den Weg zu einem Strandkorb, der etwas abseitsstand. Hier war es abgeschieden genug, damit sie sich materialisieren konnte.
In ihrer normalen Gestalt sah sie einer Menschenfrau recht ähnlich, nur die weißen Haare, der filigrane Körperbau und die silbernen Flecken in ihren hellblauen Pupillen verrieten sie. Allerdings sah niemand so genau hin, alle waren ständig mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.
Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie das Geld aus der Börse nahm, um diese anschließend achtlos in Richtung Meer schleuderte. Sie hoffte, dass die Küstenwache den Mann rechtzeitig gefunden hatte.
Langsam wischte sie über ihre Wangen, straffte die Schultern und fasste die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Die Situation war für sie unerträglich, nur hatte sie keine Idee, wie sie aus dem Schlamassel herauskommen konnte.
Seufzend atmete sie erneut aus, als über ihr ein Flugzeug hinweg donnerte. Mit einem erstaunten Blick hob sie den Kopf, schirmte die Augen gegen die Sonne ab und erstarrte, als sie erkannte, wer da ankam.
Sie wusste, wann welche Maschine in Ostende landete, so war ihr sofort klar, dass das ein ungeplanter Flug sein musste, aber mit den Söldnern von Ballygannon hatte sie noch nicht gerechnet.
Jedes Wesen in ihrer Welt kannte das spezielle Flugzeug, das die Eliteeinheit zu ihrem Einsatz brachte. Victoria spürte, dass sie der Grund war, warum gerade diese Männer hierher nach Belgien kamen. Irgendwie hatte sie es erwartet, fast schon herbeigesehnt, denn ihr war absolut bewusst, dass ihre Machenschaften jetzt bald ein Ende fanden.
Nachdenklich senkte sie den Kopf wieder, atmete einmal tief durch, dann überlegte sie sich eine Strategie. So leicht wollte sie es den Kerlen nicht machen, sie würden sich besonders anstrengen müssen, um sie zu fangen. Das war sie sich selbst einfach schuldig.
Victoria zwang sich langsam am Wasserrand entlang zu schlendern, es brachte ihr kaum einen Vorteil, wenn sie hysterisch wurde. Außerdem dauerte es eine Weile, ehe die Gestaltwandler ausgecheckt hatten, um sich auf die Suche nach ihr zu begeben.
Sie liebte ihre Heimat, den sauberen Sandstrand, die raue Nordsee sowie die gepflegte Strandpromenade mit den kleinen Restaurants und Cafés. Jetzt im Hochsommer gab es etliche Touristen, die sich auf jede erdenkliche Art amüsierten. Kinder, die auf den Spielplätzen oder im Wasser tobten, Pärchen, die Hand in Hand spazieren gingen, Fahrradfahrer, Inlineskater und Jogger auf der Promenade und natürlich Schwimmer im Meer.
Weiter draußen auf den Wellen zog ein Sportboot eine sogenannte Banane hinter sich her, auf der junge Leute saßen, die darauf warteten, dass das Teil unter ihnen umkippte.
Szene für Szene prägte die Sylphe sich ein, da sie genau wusste, dass sie in absehbarer Zeit weit weg sein würde. Niemand entkam den Söldnern von Ballygannon auf Dauer.
Wieder bahnten sich Tränen ihren Weg über ihr hübsches, blasses Gesicht, dabei gab es mehr als einen Grund, der sie so traurig machte.
Ohne etwas bewusst wahrzunehmen, änderte sie die Richtung, marschierte über die Küstenstraße, ging eine Weile an den Dünen entlang, ehe sie eine Treppe fand. Schnell stieg sie die Stufen hoch, blickte sich noch einmal um, ehe sie den Weg zu einem ganz besonderen Baum fortsetzte.
Am Stamm der Birke setzte sie sich, konzentrierte sich, um die Verwandlung einzuleiten. Mit einem eleganten Bogen flog sie in die Baumkrone, ließ sich auf einem der Äste nieder, um kurz darauf die Augen zu schließen. Hier konnte sie schlafen, denn sie war zu Hause.
Trotz der drohenden Gefahr schlief sie ein, doch sie träumte von starken Händen, die sie festhielten. Unruhig wehrte sie sich im Traum gegen den harten Griff, der sich alles andere als unangenehm anfühlte, obwohl sie genau wusste, warum man sie packte.
Eine sanfte Stimme drang in ihr Bewusstsein ein, was sie dazu brachte, die Augen zu öffnen.
„Victoria, wach auf, du hattest einen Albtraum“, erklärte ihre Schwester Miriam ihr, als sie diese fragend ansah.
„Die Söldner sind gelandet“, stieß die Sylphe hervor, dann biss sie die Zähne aufeinander.
„Aber wenn sie denken, sie brauchen nur zu erscheinen und ich folge gehorsam, haben sie sich geschnitten“, zischte sie kämpferisch.
Die Dryade sah sie nur traurig an, ehe sie eine raue Hand auf ihren Arm legte.
„Versuch mit ihnen zu reden. Erklär ihnen, was hier los ist. Sie sind die einzigen Wesen, die uns noch helfen können“, bat Miriam eindringlich.
Augenblicklich peitschte ein harscher Wind um den Baum, auf dem sich die beiden Naturgeister befanden, gleichzeitig schüttelte Victoria wild den Kopf.
„Auf gar keinen Fall! Du weißt, warum!“
Damit schwebte sie von dem Ast, um sich kurz drauf zu materialisieren.
Besorgt sah Miriam ihr hinterher. Sie liebte die Sylphe wie eine Schwester, nannte sie sogar so, obwohl sie selbstverständlich nicht miteinander verwandt waren, doch jetzt verrannte Victoria sich, davon war sie absolut überzeugt.
Nur konnte sie ihr zurzeit nicht hinterherlaufen, da sie es kaum wagte, ihren Baum zu verlassen. Natürlich war sie in der Lage sich zu entfernen, allerdings rieten die besonderen Umstände ihr, besser an Ort und Stelle zu bleiben.
Seufzend lehnte sie sich an die Rinde der Birke, um mit ihr zu verschmelzen, sie durfte einfach kein Risiko eingehen.

~~°~~

Die erste Nacht in der Wohnung verlief sogar für Patrick ruhig, da es besonders für ihn noch keine Aufgaben gab. Sie hatten die Zimmer unter sich aufgeteilt, Magda versichert, dass sie alles besaßen, was sie brauchten, anschließend waren Logan und David zum Strand gegangen. Natürlich brachten sie nichts in Erfahrung, was niemanden verwunderte, die Sylphe stand wohl kaum bereit, um sie zu empfangen.
Das Frühstück beendeten sie, trotz einer deutlich zu spürenden Spannung, ziemlich locker, danach machten sie sich auf die Jagd.
Jeder nahm sich einen anderen Abschnitt des Gebietes vor, dabei benahmen sie sich wie die restlichen Touristen auch, nur mit dem Unterschied, dass sie besonders auf den plötzlichen Wind achteten.
Solange die Sylphe ruhig blieb, hatten sie keine Chance sie zu erkennen, es sei denn, sie zeigte sich in ihrer sichtbaren Gestalt. Magische Wesen erkannten sich instinktiv, doch diesen Gefallen würde sie ihnen bestimmt nicht tun.
So lief Patrick in dem Moment über den Strand, dabei trug er seine Sportklamotten und war gezwungen, in einem gemächlichen Tempo zu joggen. Selbst in seiner menschlichen Form konnte er auf die Fähigkeiten seines inneren Panthers zugreifen, somit war er schneller als jeder andere Mensch.
Für ihn fühlte es sich an, als ob er sich in Zeitlupe bewegte, was seine Nervosität anstachelte oder war seine Gefährtin vielleicht sogar in der Nähe? Wie gerne hätte er laut geflucht oder sich so richtig ausgepowert, doch auf beides musste er verzichten.
Leise grummelnd lief er weiter, passierte Gerry und Lea, die Händchen haltend am Wasserrand standen. Ein gutes Stück in Richtung des Kurhauses erkannte er David und Emily, die in einem Café saßen, von wo sie den Strand im Auge behalten konnten.
Caitlin kreiste über dem Wasser, während Brian und Logan sich für das Surfen entschieden hatten. So waren sie in der Lage, den gesamten Bereich vom Atlantikwall bis zum Leuchtturm zu überwachen. Dabei hofften sie, dass die Sylphe sich heute schon verriet.
Nach einer knappen Stunde trafen sie sich in der Wohnung wieder, um ihre Beobachtungen auszutauschen.
Patrick verschwand als Erster unter der Dusche, zumal er auch der Einzige war, der sich wirklich etwas angestrengt hatte.
„Wie sollen wir vorgehen, falls sie sich zeigt?“, erkundigte Brian sich, als sie an dem großen Tisch zusammensaßen.
„Ich habe eine magische Fußfessel, sobald sie sich materialisiert, kann ich sie damit unter Kontrolle bekommen“, bemerkte Logan.
„Das heißt?“, hakte Patrick nach, der es nur mit Mühe schaffte, sich zu konzentrieren.
„Wir werden sie beobachten, im Hintergrund bleiben, bis sie ihre menschliche Gestalt annimmt. Dann dürfte es kaum ein Problem sein, sie zu überwältigen und ihr die Fessel anzulegen. Anschließend sperren wie sie hier in der Wohnung ein, um mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen“, erklärte David ruhig.
Er war der Ruhepol in der gesamten Gruppe, ihn aus der Fassung zu bringen, schaffte normalerweise nur seine Wildkatze Emily.
„Wir haben keine andere Wahl, als sie nach Irland zu schaffen, dazu brauchen wir ihre Einwilligung, da wir sie kaum durch die Kontrollen zwingen können. Bei den Überwachungsanlagen versagen sogar unsere Techniken“, erinnerte Brian.
„Mir tut sie leid. Bestimmt gibt es einen Grund, warum sie sich so verhält. Vielleicht wurde sie von den Normalen verletzt“, mischte Lea sich ein.
Gerry zog sie liebevoll an sich, dabei schüttelte er nachsichtig den Kopf.
„Keiner will ihr was tun, aber wir müssen sie aufhalten. Stell dir vor, einer der Menschen ertrinkt“, führte er ihr vor Augen.
„Natürlich halten wir sie auf, allerdings möchte ich, dass wir ihr eine Chance geben. Wer weiß, was sie erleben musste“, bat der Engel sich aus.
Die gesamte Truppe lächelte, denn genau dieses Verhalten machte sie aus, etwas anderes hätte niemand von Lea erwartet.
„Versprochen, sie wird, wie alle Wesen, fair behandelt.“
Damit beendete David das Gespräch.
„Wir verteilen uns erneut am Strand, wobei Logan und Patrick sich hinter den Dünen umsehen. Naturgeister halten sich am liebsten dort auf, wo weniger Menschen sind, was im Moment am Wasser kaum gegeben ist.“
Sofort erhob sich die Gruppe, um dem Befehl des Wolfes nachzukommen. Während die restlichen Mitglieder der Einheit das Gebiet am Meer unter sich aufteilten, eilte Logan zusammen mit dem jungen Panther auf die Dünenlandschaft zu.
Schnell fanden sie eine Treppe, die direkt neben dem Atlantikwall zu dem gewünschten Abschnitt führte.
Der Atlantikwall war im Zweiten Weltkrieg eine Verteidigungslinie der Deutschen und ein Stück dieser Linie, die als Museum aufbereitet worden war, erstreckte sich am Strand von Raversijde. Etliche Geschütze, Aussichtstürme und sogar einen riesigen Scheinwerfer sah man bereits von der Strandpromenade aus, was etwas Bedrohliches hatte. Selbst die zwei Gestaltwandler konnten einen Schauder kaum unterdrücken, als sie an einem Flakgeschütz vorbeikamen.
Schnell durchquerten sie die Dünen, auch um diese unheilvollen Zeitzeugen hinter sich zu lassen, wobei beide sich zu gut an den Krieg erinnerten.
Aufmerksam beobachteten sie die Umgebung, versuchten mit ihren besonderen Sinnen herauszufinden, ob ein magisches Wesen in der Nähe war, doch noch bekamen sie keinen klaren Hinweis.
„Irgendwo hier ist etwas“, murmelte Logan.
„Stimmt, allerdings sind die Signale so schwach, dass es alles Mögliche sein könnte. Hast du es jemals mit einer Sylphe zutun gehabt?“, erkundigte sich Patrick neugierig.
Er war mit seinen 115 Jahren erheblich jünger als seine Kameraden, mit Ausnahme von Brian, der erst 110 Lenze zählte. Somit war es verständlich, dass er gerne auf die Erfahrungen des Partners zurückgriff.
Doch jetzt schüttelte Logan nachdenklich den Kopf. In seinen 500 Lebensjahren hatte er in der Tat nie einen der Luftgeister zu Gesicht bekommen.
„Dummerweise nicht. Es wird also für uns alle ein besonderes Erlebnis werden.“
Schweigend liefen sie weiter, jeder in seinen Gedanken gefangen. Patrick war froh sich bewegen zu dürfen, weil er so mit seiner Nervosität einfach besser umgehen konnte.
Plötzlich streckte Logan einen Arm aus, um ihn zu stoppen.
„Hier ist es“, raunte er ihm zu.
Der Panther sah ihn nur zustimmend an, gleichzeitig sog er die Luft tief ein, um auch ja keinen Hinweis zu übersehen. Sein Blick schärfte sich, seine Pupillen veränderten sich, was allerdings nur einem sehr genauen Beobachter auffiel. Der Jaguar griff auf ähnliche Weise auf seine besonderen Sinne zurück.
Stumm nickten sie sich zu, dabei hielten sie auf einen Baum zu. Ihr Ziel stand etwas Abseits und wurde von einer magischen Aura umgeben, die ihnen zeigte, dass sie auf dem richtigen Weg waren.
In einem weiten Bogen umrundeten sie die Birke, immer darauf bedacht nicht zu dicht heranzukommen. Es brachte ihnen kaum einen Vorteil, die Bewohner aufzuschrecken, außerdem mussten sie die Sylphe in ihrer menschlichen Gestalt erwischen.
Nach einer kleinen Weile fluchte Patrick leise, was den Jaguar zu ihm rüber blicken ließ, aber er schüttelte nur leicht den Kopf. Schnell entfernten sie sich von dem Baum, um die restliche Gegend hinter den Dünen zu erkunden.
„Du bist ruhig geworden“, stellte Logan fest, als sie ein ganzes Stück gegangen waren.
Seufzend stimmte Patrick zu, in ihm keimte der Verdacht auf, dass seine Gefährtin ausgerechnet die Sylphe war, auf die sie Jagd machten.
Sein Kumpel beendete das Thema augenblicklich, zumal es keinen Grund gab in ihn zu dringen. Jeder Gestaltwandler wusste, dass er seinem Schicksal in diesem Fall kaum entkommen konnte.

~~°~~

Am Abend trafen sie sich wieder in der Wohnung, wo die Frauen etwas zu Essen zauberten.
„Den Abwasch erledigt Brian zusammen mit Patrick“, ordnete David an.
Sofort blitzte der Werwolf seinen Chef zornig an.
„Und wieso? Nur weil wir die Jüngsten sind?“, fauchte er.
Ein leichter Schlag auf den Hinterkopf lenkte ihn ab, sodass er direkt in Logans Augen blickte.
„Nein, wir teilen die Arbeiten immer auf und heute seid ihr eben dran“, erklärte ihm der Jaguar spöttisch.
Patrick verkniff sich eine Bemerkung, stattdessen packte er einen Stapel Teller, um sie zur Küchenzeile rüber zu tragen. Mit einem breiten Grinsen öffnete er die Spülmaschine, räumte das Geschirr hinein, wobei er mit den Achseln zuckte.
„Wenn es mehr nicht ist“, brummelte er, anschließend holte er das restliche Geschirr, während er Brian kopfschüttelnd ansah.
Caitlin ließ Wasser ins Becken und begann die Sachen zu spülen, die kaum in die Maschine passten, wie zum Beispiel die Töpfe.
Endlich gab auch Brian seinen Widerstand auf, nahm ein Trockentuch, um abzutrocknen, wobei ihn ein spöttisches Lächeln seiner Kameraden begleitete.
„Möchtest du uns etwas mitteilen?“, erkundigte David sich, als sie alle zusammensaßen, dabei sah er Patrick aufmerksam an.
Verlegen wandte sich der Panther, weil ihm klar war, dass es unfair wäre, seinen Brüdern die Wahrheit vorzuenthalten. Sein Blick glitt zu Logan, der eine undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte, die zeigte, dass er sich raushalten würde.
„Meine Gefährtin ist in der Nähe, die Nervosität ist weg“, begann er zögernd.
Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn, neugierig, teils erwartungsvoll und natürlich freuten sich seine Leute für ihn.
Lea war es, die seine Befürchtungen aussprach, da sie einen sechsten Sinn für solche Situationen hatte.
„Du denkst, dass es sich um die Sylphe handelt, oder?“, hakte sie vorsichtig nach.
Zerknirscht nickte der junge Panther, der kaum länger in der Lage war, seine Ängste in Worte zu fassen.
„Habt ihr sie gesehen?“, erkundigte David sich.
„Nein, wir fanden lediglich einen Baum, bei dem wir ganz deutlich spürten, dass dort magische Wesen leben. Frag mich jetzt nicht, um was für Gestalten es sich handelt. Wir haben Abstand gehalten, um sie in Sicherheit zu wiegen“, kam Logan seinem Kumpel zur Hilfe.
„Sie wird längst wissen, dass wir uns wegen ihr hier aufhalten. Jeder in unserer Welt kennt den Jet und weiß, wer die Söldner von Ballygannon sind. Von daher wäre es gar nicht schlecht, wenn die Sylphe zu Patrick gehört, so bekommen wir wenigstens eine Chance sie zu fangen“, fasste Brian die Situation zusammen.
Sofort knurrte Patrick ihn an, seine unsensible Bemerkung brachte den Panther in ihm zum Kochen.
„Falls du glaubst, dass ich meine Gefährtin an euch ausliefere, hast du dich getäuscht“, rief er aufgebracht.
Logan legte eine Hand auf die Schulter des jungen Hackers.
„Ganz ruhig, egal was passiert, du weißt, dass wir hinter dir stehen. Noch gibt es keinen Beweis, dass die Sylphe wirklich in dem Baum war“, stoppte er ihn.
Verlegen stimmte Patrick ihm zu.
„Natürlich weiß ich es nicht, aber allein der Gedanke, dass ihr etwas passieren könnte, macht mich fürchterlich wütend.“
Seine Freunde blickten zu ihm herüber, in ihren Augen erkannte er deutlich, dass sie auf seiner Seite standen, egal was es mit dem Luftgeist auf sich hatte. Erleichtert atmete er auf.
„Danke Leute“, stieß er hervor.
Brian rempelte ihn freundschaftlich mit der Schulter an.
„Du weißt, dass wir zusammenhalten!“
Damit war das Thema abgeschlossen.

~~°~~

Victoria spürte die Anwesenheit der Söldner so deutlich, dass sie am liebsten geschrien hätte. Überall an ihrem geliebten Strand stieß sie auf die Gestaltwandler, die sie natürlich nur erahnen, aber keinesfalls sehen konnten.
Selbst in der Nähe ihres Baumes lungerten die Kerle herum, nur dass sie hier noch etwas anderes fühlte, ein Gefühl, das sie schnellstmöglich verdrängte. Es durfte nicht wahr sein, dass ausgerechnet eines dieser Tierwesen zu ihr gehören sollte. Augenblicklich schüttelte sie den Gedanken ab, versuchte zu ignorieren, was ihr Herz ihr sagte.
Die Männer waren nur aus einem Grund in Ostende, um sie zu fangen und vor ein Gericht zu stellen, wo sie zweifelsohne auch hingehörte.
Eine ganze Weile ließ sie sich vom Wind treiben, spürte die Sonne, die an dem Tag von einem wolkenlosen Himmel strahlte, und sah den Wellen zu.
Obwohl es ein wirklich schöner Tag war, sah für sie die Welt grau aus. Ihre Zukunft erschien ihr bedrohlich, zumal sie sich in ihren Problemen gefangen fühle. Es gab keinen Ausweg, auf irgendeine Art musste sie immer leiden.
Bei diesem Gedanken schob sich das Bild des schwarzhaarigen, schlanken Mannes vor ihre Augen, der sich in der Nähe ihres Zuhauses umgesehen hatte. In seinem Gesicht zeichneten sich Sorgenfalten ab, aber ebenso sah sie die Lachfältchen, den sinnlichen Mund und das eindringliche Grün seiner Iriden.
Wenn sie doch nur frei wäre, dann würde sie den Gestaltwandler mit Freude kennenlernen. Eine Träne lief ihr über die Wange, als ihr bewusst wurde, auf welches Glück sie verzichtete.
Victoria drehte noch eine Runde über ihren geliebten Strand, anschließend flog sie zurück zu Miriam, die sich gerade von der Rinde der Birke löste.
„Hast du sie gesehen? Sie waren hier, ganz nah“, rief die Dryade aufgeregt. Lächelnd nickte ihre Schwester.
„Ja, ich war in der Nähe. Es handelt sich um fünf Männer und drei Frauen, wobei eine der Frauen als Falke über dem Meer kreist. Wir müssen uns von ihnen fernhalten“, erinnerte die Sylphe sie ernst.
„Wieso? Sie sind die Wächter von Ballygannon! Ihre Aufgabe ist es für Ordnung und Gerechtigkeit zu sorgen“, begehrte Miriam auf.
Nachsichtig schüttelte Victoria den Kopf.
„Du weißt, warum es für uns keinen Ausweg geben wird. Egal was wir tun, ich habe gegen die Geheimhaltung verstoßen“, blockte sie ab.
„Vicky, du bist gezwungen worden ...“, begann ihre Freundin, doch die Sylphe hob nur eine Hand.
Die Situation war bedrückend genug, da brauchte sie kaum noch unerfüllte Wünsche oder Hoffnungen. Für sie war es unmöglich glücklich zu werden, denn nicht mal die Söldner von Ballygannon konnten ihr helfen, ebenso wenig war es ihnen möglich, über ihre Verfehlungen hinwegzusehen.
Während die Schwestern über die Begebenheiten diskutierten, schlenderte ein unscheinbarer kleiner Mann heran.
„Wie ich sehe, bist du nicht auf deinem Posten“, unterbrach er die zwei Naturgeister.
Sofort schreckten die beiden Frauen hoch, blickten ihn an, dabei versuchten sie gleichzeitig, sich zu entschuldigen.
„Ich habe sie aufgehalten“, begann Miriam.
„Mir steht wohl eine Pause zu“, stieß Victoria zeitgleich hervor.
Lauernd sah der Kerl sie an, in seinen Iriden stand die pure Bosheit, während er in einer scheinheiligen Geste die Hände faltete.
„Es hat natürlich nichts damit zu tun, dass die Versager von Ballygannon hier sind, oder?“, hakte er fast freundlich nach.
„Auch“, gab die Sylphe zu.
„Überlass sie mir! Ich kümmere mich darum und jetzt scher dich an die Arbeit! Die letzten Tage hast du dich kaum mit Ruhm bekleckert“, rief er aufgebracht, und ehe die Schwestern etwas erwidern konnten, stapfte er wütend den Weg entlang.
Victoria brach in Tränen aus, sie war es leid Menschen in Gefahr zu bringen. Abgesehen davon wollte sie doch nur in Frieden leben.
Miriam schlang ihre Arme um sie, drückte ihren Kopf an ihre Schulter, während sie beruhigende Worte in ihr Ohr flüsterte.
„Wir finden einen Weg, meine Süße. Ganz bestimmt“, versprach sie leise.
„Ich sehe keinen Ausweg. Es gibt kein Entrinnen“, antwortete die Sylphe schluchzend, gleichzeitig klammerte sie sich an die Dryade.
Es war einfach hoffnungslos.
Langsam löste Victoria sich aus der Umarmung ihrer Schwester, trocknete sich die Tränen ab, um ihr Herz Stück für Stück zu verschließen.
„Ich muss los.“
Mit diesen Worten verschwammen ihre Konturen.
„Es ist bereits Abend, nicht mehr lange und es dämmert“, wies Miriam sie auf das Offensichtliche hin, doch sie schwebte schon in Richtung Strand.
Verzweifelt versuchte Vicky, den bitteren Klos in ihrem Hals herunterzuschlucken. Die Aufgabe, die vor ihr lag, erschien ihr von Mal zu Mal widerlicher, zumal sie immer noch das Bild des jungen Gestaltwandlers vor ihrem inneren Auge hatte. Sie spürte mit all ihren Sinnen, dass er zu ihr gehörte, allerdings wusste sie, dass sie auf verschiedenen Seiten des Gesetzes standen. Niemals würde er sie als Gefährtin dulden können, weil sie eine gemeine Verbrecherin war.
Der magische Rat kannte keine Gnade, wenn es sich um die Geheimhaltung handelte, da konnte ihr nicht mal einer der Söldner helfen.
Seufzend flog sie über die Promenade, hielt Ausschau nach ihrem nächsten Opfer, dabei betete sie, dass der Mensch auch dieses Mal mit dem Leben davonkam. Ihr war es zuwider unschuldigen Wesen ein Leid anzutun.
Endlich erblickte sie einen Mann, der alleine am Ufer spazieren ging. Sofort rief sie den Wind herbei, bündelte die Windstärke und leitete sie zu dem Spaziergänger.
Victoria biss sich fest auf die Lippen, verbot sich darüber nachzudenken, was sie da gerade tat, gleichzeitig schottete sie ihre Gefühle komplett ab.
Zuerst schien ihr Plan aufzugehen, doch dann stemmte der Typ sich gegen die Mauer aus Luft, die ihn ins Wasser schieben wollte. Langsam hob er den Kopf, blickte in die dunklen Wolken, die sich um ihn herum gebildet hatten und in seinen Augen stand eine klare Herausforderung.
Erschrocken bemerkte Vicky, dass sie sich genau den Kerl ausgesucht hatte, dessen Bild sich ständig in ihr Bewusstsein drängte.
„Hör auf und rede mit mir“, schrie der Söldner ihr entgegen.
Wie gerne wäre sie dem Befehl gefolgt, aber es war zu gefährlich. Auf keinen Fall konnte sie dem süßen Verlangen in ihr nachgeben.
Erneut verstärkte sie die Macht des aufkommenden Sturms. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie keinesfalls einen Wächter bedrohen durfte, wenn sie auch nur den Hauch einer Chance behalten wollte, aus der Nummer herauszukommen. Eine solche Aktion würde ihre Situation nur verschlimmern.
Augenblicklich löste sie die Wolken auf, sorgte dafür, dass der Wind nur noch einem lauen Lüftchen glich. Für einen Moment gab sie ihre Tarnung auf, sah ihm, mit tränenumflortem Blick, direkt in die Augen, dann flog sie, so schnell sie konnte zu ihrem Baum.
In der Krone materialisierte sie sich, Tränen strömten über ihre Wangen, während Sorgen und Trauer sie zerrissen.
Das Gesicht von Miriam erschien im Stamm der windschiefen Birke, gleichzeitig schlangen sich einige Äste um die Sylphe. Worte waren unnötig, die Schwestern verstanden sich auch so.

~~°~~

Patrick traute seinen Augen kaum, als er die Wolken sah, die sich direkt vor ihm aufbauten. Würde dieser verrückte Luftgeist es wirklich wagen, ihn anzugreifen? Konnte es sein, dass sie ihre Magie nicht mehr unter Kontrolle hatte? Aber warum vergriff sie sich dann am Eigentum der Opfer?
Mit aller Kraft stemmte er sich gegen den Wind, hob den Kopf, um vielleicht einen Blick auf sie zu erhaschen, dabei rief er ihr zu, dass sie mit ihm reden sollte.
Sie musste doch auch spüren, dass zwischen ihnen eine Verbindung bestand. Jedes magische Wesen erkannte seinen Gefährten beim ersten Treffen, was vieles vereinfachte. Nur in seinem Fall sah es ganz anders aus.
Die tiefe Trauer in ihren Augen ließ sein Herz bluten, irgendetwas machte ihr sehr zu schaffen, das konnte er genau sehen.
„Ich werde dir helfen“, rief er grimmig, allerdings war er sich nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte.
In ihm tobten die verschiedensten Gefühle, allen voran die Sehnsucht dieses Wesen in seine Arme zu schließen und vor Gefahren zu beschützen. Noch einmal stieß er einen deftigen Fluch aus, dann lief er zurück zu dem Appartement, aus dem er vor ein paar Minuten erst geflohen war.
Die Vermutungen, was auf ihn zukam und warum ausgerechnet seine Gefährtin sich so benahm, trieben ihn aus dem Haus, wobei er kaum mit so einer Begegnung gerechnet hatte.
„Was ist passiert?“, erkundigte Lea sich, als er sich in einen Sessel fallen ließ.
Der Engel spürte instinktiv, dass den jungen Panther etwas aus der Bahn geworfen hatte.
„Ich habe sie gesehen“, brachte er leise hervor.
Sofort besaß er die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Brüder, die ihn wortlos anstarrten.
„Du meine Güte, sie hat versucht mich ins Wasser zu treiben, dabei konnte ich ihr für einen ganz kurzen Moment in die Augen sehen“, erzählte er genervt.
„Aber das ist fantastisch. Sie hat sich dir gezeigt, also muss sie doch auch spüren, dass etwas zwischen euch ist“, bemerkte Emily naiv.
Zischend stieß Patrick die Luft aus, was ihm einen warnenden Blick von David einbrachte.
„Sie kam mir sehr aufgewühlt vor, sodass sie bestimmt nicht wusste, wer ich bin. Erst als ich mich gewehrt habe, ist ihr aufgefallen, dass sie es mit einem magischen Wesen zu tun hat. In ihren Augen stand so viel Traurigkeit, so viel Verzweiflung“, brachte der Panther gequält hervor.
Lea legte eine Hand auf seinen Arm, sandte ihm auf diese Weise Hoffnung, außerdem signalisierte sie ihm ihr Verständnis.
„Ich glaube kaum, dass sie wirklich böse ist. Versuch mit ihr zu reden“, schlug sie sanft vor.
„Das habe ich, genau in dem Moment ist sie verschwunden“, bemerkte Patrick zerknirscht.
„Aber jetzt wissen wir zumindest, dass sie deine Gefährtin ist. Somit können wir sicher sein, dass sie sich auch in dem Baum hinter den Dünen aufhält“, fasste Logan zusammen.
„Ja, leider“, flüsterte der Panther.
Sein Blick schweifte zu seinen Kameraden rüber, sie alle hatten, auf die eine oder andere Weise, um ihre Gefährtinnen kämpfen müssen. Wieso also sollte es ihm besser ergehen?
„Eventuell macht es Sinn zu ihr zu gehen. Sie fühlt es doch bestimmt, dass sie meine Gefährtin ist“, murmelte er.
„Vielleicht wartest du bis morgen, schau mal es dämmert bereits und dort hinten zieht ein Unwetter auf“, stoppte Caitlin ihn vorsichtig.
Verwundert sah Patrick aus dem breiten Panorama-Fenster. In der Tat hatte der Horizont sich dunkel verfärbt, gleichzeitig zogen sich über dem Meer schwere Wolken zusammen.
Leises Donnergrollen ertönte und die ersten Blitze zuckten über den Himmel. Wind kam auf, trieb die dunkle Unwetterfront auf das Ufer zu, während sich immer öfter elektrische Ladungen über ihnen entluden.
„Sie muss sehr verzweifelt sein“, bemerkte Lea traurig.
Ihnen war klar, dass dieses Unwetter keinen natürlichen Ursprung hatte.
Mittlerweile war die gesamte Umgebung schwarz, nicht mal die nächsten Häuser zeichneten sich noch ab, nur die Lichtblitze sah man deutlich. Dazu kam ein Wetterleuchten, das die Naturgewalt unterstrich.
Der Donner brüllte regelrecht, kaum dass ein Blitz erloschen war.

~~°~~

Victoria wartete, bis die Dämmerung einsetzte, dann flog sie zurück zum Meer. Immer weiter entfernte sie sich vom Ufer, und erst als sie sicher war, niemanden zu gefährden, ließ sie ihre Gefühle frei.
Ihre aufgestaute Wut, die Trauer sowie die Hoffnungslosigkeit entluden sich in einem gigantischen Gewitter. Sie türmte eine dunkle Wolkenfront um sich herum auf, sodass der Himmel eine einzige schwarze Fläche bildete. Der Wind peitschte ihr die langen, weißen Haare ins Gesicht, gleichzeitig hielt er das Unwetter an dieser Stelle. In dem Moment, in dem sie überprüft hatte, dass kein Lebewesen gefährdet wurde, entfesselte sie die Naturgewalt.
Blitze erhellten den Himmel, zuerst erkannte man sie nur durch die Wolken hindurch, was einen bizarren Anblick abgab, dann zerschnitten sie die Dunkelheit, wie Risse im Universum.
Der Donner begann mit einem leisen Grollen, steigerte sich aber immer mehr, bis zu einem ohrenbetäubenden Krachen.
Mittendrin schwebte Victoria, den offenen liebevollen Blick des Gestaltwandlers vor Augen, die Sehnsucht, sich ihm anvertrauen zu dürfen im Herzen und das Wissen, dass sie das nie durfte, im Kopf.
Ihre gesamte Verzweiflung entlud sich in diesem Unwetter, das nicht nur die Söldner von ihrem Wohnzimmer aus bestaunten.
Sie erkannte von Weitem die Blitze der Kameras aus den Ferienwohnungen. Viele Urlauber fotografierten die außergewöhnliche Erscheinung, doch ihr war es egal. Victoria achtete peinlich genau darauf, dass ihre Tarnung erhalten blieb.
Kurz nach Mitternacht löste sie die Wolken wieder auf, atmete tief durch und flog zu Miriam zurück.
„Das war beeindruckend, aber unnötig. Ich glaube kaum, dass du die Aufmerksamkeit der Söldner auf dich lenken musst“, teilte sie ihr lächelnd mit.
„Das war auch nicht Sinn der Sache“, fauchte Victoria, anschließend schwebte sie zur Krone, ließ sich auf ihrem Lieblingsast nieder, um erschöpft die Augen zu schließen.
Miriam sah ihr nach, sie selbst stand in ihrer menschlichen Gestalt vor der Birke, trotzdem sah sie die Schwester deutlich. Zu gerne wäre sie zu dem widerlichen Kerl gegangen, um ihm zu sagen, was sie von ihm hielt, doch er hatte zu viel gegen sie in der Hand.
Als Dryade konnte sie sich zwar von ihrem Baum entfernen, aber je weiter sie ging, desto mehr schwanden ihre Kräfte. Sollte sie die Verbindung zu der Birke verlieren, würde sie sterben, was es für sie unmöglich machte, Belgien zu verlassen.
Früher lief sie oft mit Victoria zum Strand, bei dieser Strecke merkte sie keine Veränderung, nur im Moment traute sie sich das nicht.
Seufzend blickte sie zum Himmel, wenn es ein höheres Wesen gab, dann wünschte sie sich von Herzen, dass dieses den jungen Gestaltwandler zu ihr schickte. Sie wollte mit ihm reden, ihm so viel erzählen, wie möglich, ohne gegen ihren Erpresser zu rebellieren. Vielleicht konnte er ihnen helfen.
Noch einmal wandte sie den Blick zu den Sternen, in der Hoffnung, dass ihr von dort Hilfe gesandt wurde, ehe sie mit dem Baum hinter ihr verschmolz.
Als sie am Morgen erwachte, war Victoria bereits verschwunden. Betrübt dachte Miriam darüber nach, warum ihre Vertraute sich weigerte, zu den Wächtern zu gehen.
Natürlich erkannte sie die Ängste der Sylphe, die den ihren in nichts nachstanden, dennoch war sie der Meinung, dass es Zeit wurde, sich endlich zu wehren. Sollte noch mal einer der Söldner an der Birke vorbeikommen, wollte sie die Gelegenheit keinesfalls ungenutzt verstreichen lassen!

Kapitel 2

 

Patrick joggte lustlos über den Strand, dabei fluchte er leise. David hatte ihm schlichtweg verboten, sich der Birke hinter den Dünen zu nähern. Sein Boss war der Auffassung, dass sie den Luftgeist in Sicherheit wiegen sollten und seiner Meinung nach, war der Panther dazu ungeeignet.
Im Moment liefen Gerry und Lea auf die kleine Treppe zu, die sie genau in das Gebiet bringen würde, in dem sie die Sylphe vermuteten.
Ein Windhauch ließ ihn in den Himmel blicken, ohne dass es seinen Lauf stoppte. Hoffnungsvoll starrte er in das helle Blau, aber nichts deutete auf seine Gefährtin hin.
„Wäre ja auch zu schön gewesen“, murmelte er, ehe er etwas schneller rannte.
Die restliche Mannschaft verteilte sich am Strand, dabei teilten sie die Abschnitte unter sich auf, wie sie es gestern bereits getan hatten.
Caitlin zog über dem Meer ihre Kreise, was natürlich erheblich auffälliger war, allerdings auch um einiges effektiver. Elegant schwebte sie über dem tiefblauen Wasser. Ihr Gefieder schimmerte, ihre Schwingen breitete sie gekonnt aus, um die Thermik des Windes perfekt auszunutzen. Als Falke fühlte sie sich freier, Gefühle verblassten, wobei sie sich trotzdem auf ihre Aufgabe konzentrierte.
Lea drückte Gerrys Hand, als sie endlich hinter den Dünen verschwanden. Sofort besaß sie die Aufmerksamkeit des Luchses.
„Lass mich mit ihr reden, bitte“, stieß sie hervor.
Gleichzeitig sah sie ihren Liebsten mit einem Blick an, dem er schlecht widerstehen konnte.
Zögernd schüttelte der Arzt den Kopf.
„David meint ...“, begann er, aber sein Engel atmete schon abfällig zischend aus.
„Unser Anführer ist hochintelligent, besonnen und ein cleverer Mann, nur von Gefühlen versteht er so viel, wie eine Kuh vom Lesen.“
Damit entkräftete sie seine Gegenwehr.
In dem Punkt hatte Lea Recht, der Werwolf war Emotionen gegenüber hilflos ausgeliefert, was besonders seine Gefährtin Emily schamlos ausnutzte.
Die Luft summte leise, als sie sich der alten, windschiefen Birke näherten, was Lea ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Sie erkannte den uralten Naturzauber sofort, dabei erinnerte sie sich an ein Zusammentreffen mit einigen Naturgeistern vor über 400 Jahren.
„Erzählst du mir, was dich so amüsiert?“, erkundigte Gerry sich aufmerksam.
„Eine Geschichte, an die ich mich immer gerne erinnere. Luftgeister sind ebenso nachtragend, wie dankbar und ich hatte das Glück, vor langer Zeit, einem von ihnen helfen zu dürfen“, fasste sie leise zusammen.
Die Kurzform genügte dem Luchs fürs Erste, zumal sie fast direkt vor dem Baum standen, von dem aus dieses magische Sirren zu hören war.
Ehe sie etwas tun oder sagen konnten, löste sich aus der Rinde der Birke eine hellhäutige Frau, die noch die Maserung des Holzes im Gesicht hatte.
„Guten Morgen, ich bin Miriam und ihr müsst zu den Wächtern von Ballygannon gehören“, begrüßte die Gestalt sie.
Ein warmherziges Lächeln umspielte Leas Lippen augenblicklich, während sie zustimmte. Ihr gefiel es viel besser als Wächter gesehen zu werden, als den Titel Söldner zu tragen.
„Ja das ist richtig! Ich vermute mal, dass du genau weißt, warum wir hier sind“, antwortete Gerry in der universellen Sprache der magischen Wesen.
Es handelte sich quasi um die Muttersprache der Zauberwesen, die sie von Geburt an verstanden. Dabei kam es natürlich darauf an, ob es um Mischlinge oder reinrassige Übernatürliche ging. Emily, zum Beispiel, besaß nur einen ganz geringen Anteil Dämonenblut. Sie musste täglich Vokabeln pauken, um sich mit allen unterhalten zu können.
Betrübt nickte die kleine Frau, doch dann hob sie den Blick, um den riesigen Gestaltwandler hoffnungsvoll anzusehen.
„Ihr seid gekommen, um für Gerechtigkeit zu sorgen, stimmt es?“, erkundigte sie sich mit großen Augen.
Ehe ihr Liebster etwas erwidern konnte, bejahte Lea die Aussage bereits.
„Das ist unsere Aufgabe, allerdings müssen wir dafür wissen, was los ist. Bisher haben wir lediglich die Information, dass eine Sylphe Menschen ins Wasser treibt, um sie auszurauben. Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um dich.“
Der Engel sah den Naturgeist offen an, wobei ihr klar war, dass ihr Vorgehen von ihrem Gefährten absolut nicht geschätzt wurde. Es beinhaltete immer ein Risiko, die Karten auf den Tisch zu legen, doch in diesem Fall schien es ihr der beste Weg zu sein.
„Kleine Quasselstrippe“, raunte Gerry ihr zu, allerdings sah er sie gleichzeitig so liebevoll an, dass sie direkt wusste, wie es um seine Laune bestellt war.
„Wenn ich Ehrlichkeit haben möchte, sollte ich als gutes Beispiel vorangehen“, flüsterte sie ihm zu, ehe sie ihren Blick erneut auf die Dryade richtete.
„Du hast recht, ich bin es nicht, doch ich kenne sie und ich weiß, warum sie es tut“, ertönte in dem Augenblick die Stimme von Miriam.
Aufmunternd nickte Lea ihr zu.
„Leider darf ich darüber kein Wort verlieren. Es steht für mich alles auf dem Spiel, wenn du verstehst, was ich meine“, blockte sie die stumme Bitte des Engels energisch ab.
„Kein Problem, aber dir sollte bewusst sein, dass wir die Einzigen sind, die helfen können“, brachte Gerry es auf den Punkt, der die Andeutungen sehr wohl verstanden hatte.
Wieder nickte sein Gegenüber, dabei schluckte sie schwer, gleichzeitig erschien ein trauriger Zug in ihrem Gesicht, der ihre verfahrene Situation widerspiegelte.
„Möchtest du uns vielleicht begleiten? Wir haben eine Wohnung ganz in der Nähe, wo wir uns ungestört unterhalten könnten“, schlug Lea spontan vor.
Miriam verlor augenblicklich jede Farbe, wich reflexartig zurück und begann bereits mit dem Baum zu verschmelzen, als der Engel bittend die Hand hob.
„So war das nicht gemeint. Es handelt sich lediglich um eine Einladung, bitte bleib“, bat sie leise.
Sofort trat die Dryade einen Schritt nach vorne und blickte die beiden Gestaltwandler verlegen an.
„Tut mir leid, ich bin mit der Zeit sehr misstrauisch geworden. Um ehrlich zu sein, traue ich mich kaum von meinem Baum weg. Nur darf ich die Gründe keinesfalls nennen“, blockte sie ab, als sie bemerkte, dass der Luchs bereits Luft holte.
„Ich kann es euch nicht erzählen, allerdings benötige ich ein paar Informationen. Könnt ihr versuchen, mir zu vertrauen, wenigstens ein bisschen?“, bat sie hoffnungsvoll.
Einen langen Augenblick sahen die magischen Wesen sich lediglich an, loteten aus, ob sie geradewegs in eine Falle tappten oder sich hier wirklich eine Lösung des Problems bot. Endlich nickte Gerry vorsichtig.
„Aber solltest du uns hintergehen, mach dich auf eine harte Strafe gefasst“, warnte er grollend.
Sofort hob Miriam abwehrend die Hände, so etwas würde sie gerade bei einem Wächter von Ballygannon nicht wagen.
Behutsam legte Lea ihre Fingerspitzen auf seinen Unterarm, gleichzeitig schüttelte sie leicht den Kopf. Sie spürte, dass dieses Wesen ehrlich um Hilfe bat.
„Wie können wir dir helfen?“, erkundigte sie sich sanft.
Die Dryade rang mit sich, überlegte noch einen Moment, dann sprang sie ins kalte Wasser, da es nur den einen Ausweg gab.
„Wie sieht es aus, wenn jemand gezwungen wird, die Geheimhaltung zu verletzen?“, platzte sie heraus.
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Engels, denn das war natürlich eine logische Erklärung für das Verhalten der Sylphe. Dumm nur, dass sie nicht vorher darauf gekommen waren.
„Es kommt ganz auf die Art des Zwangs an, aber in dem Fall könnte ich mir vorstellen, dass Ronwe Gnade walten lässt. Miriam ... es geht hier um Gerechtigkeit und den Schutz aller, nicht um Willkür und Macht“, führte Gerry ihr ernst vor Augen.
Erleichtert nickte die Dryade, dann stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
„Wie wollt ihr vorgehen, um meine Schwester zu fangen? Euch ist sicherlich bewusst, dass sie eure Ankunft bemerkt hat“, wagte sie sich einen Schritt weiter vor.
Bitter lachte der Gestaltwandler auf, dabei sah er seine Gefährtin eindringlich an, damit sie den Mund hielt.
„Ich bin kaum befugt, dir diese Antwort zu geben. Oder hältst du uns für so dumm, dass wir unsere Strategie jedem erzählen, dem wir begegnen?“, höhnte der Arzt.
Gerry fühlte sich unwohl, zumal er die Frau vor sich nur schlecht einschätzen konnte. Irgendwie wirkte sie ehrlich auf ihn, aber allein mit der Behauptung, dass die Sylphe ihre Schwester sei, hatte sie gelogen.
„Ich möchte nur meiner Seelenschwester helfen. Victoria und ich leben schon sehr lange Seite an Seite. Natürlich sind wir nicht wirklich verwandt, doch wir fühlen uns so. Bitte, wir fürchten uns, dabei setzen wir mehr aufs Spiel, als ihr“, erklärte Miriam mit Tränen in den Augen.
„Bist du wahnsinnig?“, ertönte in dem Moment eine zarte Stimme aus der Baumkrone.
Wie an Fäden gezogen hoben sich alle Köpfe in die Richtung, in der man eine blassblaue, durchsichtige Gestalt ausmachen konnte.
„Victoria hör auf mit dem Unsinn und komm her“, befahl die Dryade energisch, doch sie erntete nur ein höhnisches Lachen.
„Wir haben unsere Probleme bisher immer alleine gelöst, so soll es auch bleiben“, rief die Sylphe herunter.
„Bitte rede mit uns. Vielleicht können wir helfen“, bat Lea.
Schweigen hüllte den Baum und seine Besucher ein, während sie deutlich den Blick des Luftgeistes auf sich spürten.
„Ein Engel?“, ertönte Victorias Stimme, wie der Hauch des Windes.
„Sie ist ein Erdenengel, aber sie gehört auch zu den Wächtern. Deshalb lass diesen Mist und komm endlich her“, rief Miriam erneut herrisch in den Baumwipfel hinauf.
Zögerlich sank die bläuliche Wolke zuerst an den Ästen, dann am Stamm entlang zu Boden, ehe sich eine zierliche Person vor ihnen materialisierte.
„Das ist Victoria, meine Schwester“, stellte die Dryade sie vor, während die Sylphe die Besucher mit verschränkten Armen misstrauisch musterte.
„Es freut mich, dich kennenzulernen.“
Lea strahlte die junge Frau an, machte jedoch keine Anstalten, ihr die Hand zu reichen oder sie sonst zu berühren.
Der Erdenengel wusste genau, dass sie sofort geflohen wäre, falls sie eine falsche Bewegung in ihre Richtung auch nur andeutete.
„Die Freude ist ziemlich einseitig. Mir ist es lieber, wenn die Wächter sich raushalten“, erwiderte Victoria eisig.
Verständnislos sah Miriam sie an, so kannte sie die liebevolle Gefährtin nicht.
„Was ist los mit dir? Sonst bist du freundlich und zuvorkommend. Es gibt einen Weg, zumal du gezwungen wurdest, dich zu zeigen“, tadelte die Dryade sie.
Mit gerunzelter Stirn wandte der Luftgeist sich zu seiner Seelenschwester.
„Bist du so blind oder siehst du wirklich nicht, was sie versuchen? Sie haben eine Aufgabe zu erledigen, die sie nur mithilfe einer guten Taktik erfüllen können. Glaubst du ehrlich, dass ausgerechnet die Wächter von Ballygannon mir helfen wollen?“
Höhnisch blickte sie von einem zum anderen, dabei zeigte sie deutlich, dass sie keinem traute.
Lea überlegte einen kleinen Moment, dann lächelte sie breit.
„Du denkst, dass dein Gefährte tatenlos zusieht, wie wir dich in eine Falle locken?“, erkundigte sie sich.
Victoria zuckte erschrocken zusammen, daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Außerdem rechnete sie kaum damit, dass der Kerl mit seinen Kollegen über seine Gefühle gesprochen hatte. Die Verwunderung stand ihr ins Gesicht geschrieben, gleichzeitig sah man ihr an, dass sie verzweifelt nach einer Antwort suchte.
„Wir verhalten uns wie eine große Familie. Jeder steht für jeden ein. Natürlich wissen wir über eure Verbindung Bescheid“, mischte sich jetzt auch Gerry ein.
„Es gibt keine Bindung, ihr täuscht euch“, zischte Vicky, anschließend lösten sich ihre Konturen auf und sie war im nächsten Moment verschwunden.
Staunend sah Miriam ihr hinterher, dann schnalzte sie vergnügt mit der Zunge.
„Das sind ja mal Neuigkeiten, die der ganzen Sache eine völlig andere Perspektive geben“, murmelte sie.
„Sie hat dir verschwiegen, dass einer unserer Männer ihr Gefährte ist?“, hakte der Luchs verständnislos nach.
Langsam nickte sie, obwohl ihr dieses Zugeständnis überhaupt nicht passte. Bisher hatten sie sich alles erzählt, Geheimnisse existierten zwischen ihnen nicht.
„Weißt du denn, dass sie versucht hat, ihn ins Meer zu zwingen?“, erkundigte sich Gerry weiter.
Erschrocken hob sie den Blick, dabei wurde sie blass, was die Maserung in ihrem Gesicht erneut deutlich hervortreten ließ.
„Sie hat einen Wächter bedroht?“
Miriam schloss verzweifelt die Augen, falls das der Wahrheit entsprach, konnte die Sylphe keine Gnade erwarten. Niemand griff einen Mann von Ballygannon ungestraft an.
„Keine Sorge, ihm ist nichts passiert. Es wird keinerlei Folgen für euch haben, ganz im Gegenteil. Seit gestern Abend ist Patrick darauf aus, deine Schwester zu beschützen. Es wäre nur fair, wenn sie ihm eine Chance gäbe“, beschwichtigte Lea sie sofort.
„Ich spreche mit ihr! Sie wird einsehen, dass ihr uns helfen wollt“, versprach Miriam, dann trat sie zurück, um endgültig mit ihrem Baum zu verschmelzen.
„Bitte seid mir nicht böse, aber ich muss über diese veränderte Situation nachdenken. Kommt doch später wieder“, bat sie die beiden Wächter, dabei hörte sich ihre Stimme wie ein Rascheln im Wind an.
„Wir bleiben in der Nähe. Sollte Victoria mit uns reden wollen, findet sie uns im Bel Horizon“, antwortete Gerry.
Fürsorglich nahm er Leas Arm, um sie zu ihrer Unterkunft zurückzuführen. Eventuell war die Dryade die einzige Möglichkeit, um an die Sylphe heranzukommen, zumal diese genau wusste, weshalb die Söldner in Ostende waren.

~~°~~

Patrick sah seine Freunde bereits, als sie über die Treppe kamen und die Dünen verließen. Hoffnungsvoll drehte er sich um, rannte über die Straße, um kurz darauf in dem Hochhaus zu verschwinden, in dem ihre Wohnung lag.
Ihm war es egal, was David dazu zu sagen hatte, er wollte sofort wissen, ob sie mit seiner Gefährtin reden konnten.
„Und?“, bestürmte er die beiden, kaum dass sie das Appartement betraten.
„Setz dich, dann erzählen wir dir gerne mehr über die Sylphe“, befahl Gerry ruhig.
„Sie heißt übrigens Victoria“, mischte Lea sich mit einem sanften Lächeln ein.
Der Name zerging ihm wie Butter auf der Zunge, allerdings wollte er sich keinesfalls nur mit einem Vornamen begnügen. Ungeduldig rutschte er auf dem Sessel herum, der den beiden gegenüberstand.
„Macht es doch nicht so spannend“, begehrte der Panther auf.
„Wir konnten mit ihr sowie ihrer Schwester sprechen, nur werde ich kaum schlau aus ihnen. Keine Ahnung, ob wir den zwei Naturgeistern trauen dürfen“, begann der Luchs vorsichtig.
„Das heißt?“
Patrick zwang sich, ruhig zu bleiben und den Freund höflich zu behandeln, obwohl es ihm schwerfiel. Am liebsten hätte er ihn geschüttelt, damit er endlich weitersprach.
David kam mit Emily zur Tür herein und setzte sich zu ihnen, gleichzeitig nickte er dem Arzt zu, sodass dieser auch den Rest erzählte.
Der junge Panther sog jedes Wort begierig auf, erst als Lea zu der Stelle kam, an der Victoria ihre Gefühle verleugnete, zuckte er getroffen zusammen.
„Aber sie muss doch etwas gespürt haben“, stieß er fassungslos hervor.
Beschwichtigend legte sie ihre Hand auf seinen Arm, gleichzeitig schüttelte sie behutsam den Kopf.
„Das hat sie auch, davon bin ich überzeugt, dummerweise will irgendwas oder irgendjemand verhindern, dass sie sich Hilfe sucht. Sie hat einfach Angst, panische Angst, deshalb verleugnet sie jedes Gefühl für dich“, stoppte sie ihren Freund.
„Sicher?“
Ihr breites Lächeln ließ den gesamten Raum in einem goldenen Licht erstrahlen, als sie nachdrücklich nickte. Mit diesem speziellen Lächeln sandte Lea Hoffnung und Liebe in die Herzen der Anwesenden, was sie genau in dem Moment tat. Patrick blickte sie dankbar an, eine Aufmunterung kam gerade richtig.
„Absolut sicher. Ihre Augen haben eine ganz andere Sprache gesprochen, außerdem wurde Miriam sofort aufmerksam. Sie ist genauso überzeugt, dass die Sylphe etwas gespürt hat. Im Übrigen ist sie die Verbündete, die wir dringend brauchen“, versicherte der Engel ihm.
Ein wenig beruhigt lehnte Patrick sich zurück, allerdings sah er ziemlich angefressen auf David.
„Und wann bitte, darf ich meine Gefährtin sehen? Was hat der große Boss geplant?“
Sein Ton zeigte deutlich, dass es ihm nicht passte, dass er sich von dem Luftgeist fernhalten sollte.
„Kein Grund zickig zu werden, wie ein Waschweib“, konterte der Werwolf ruhig, dabei fixierte er ihn mit seinem Blick.
Empört schnaubte Patrick auf, doch er war besonnen genug, seinen Vorgesetzten keinesfalls weiter anzugreifen.
„Du tust so, als ob ich Spaß daran hätte, dir das Leben schwer zu machen“, begann David.
„Es kommt mir auch so vor. Glaubst du wirklich, sie weiß nicht, dass wir wegen ihr hier sind? Besonders nachdem Gerry und Lea mit ihr gesprochen haben? Trotzdem hältst du mich von ihr fern. Was versprichst du dir davon?“, platzte es aus dem jungen Söldner heraus.
„Bis eben wusste ich nicht mal, dass bereits jemand mit ihr geredet hat. Allerdings befürchte ich, dass sie sich ihren Gefühlen zu dir kaum stellen wird. Es würde dich extrem verletzen, falls sie dir die kalte Schulter zeigt, glaub mir“, rechtfertigte er sich, was er sonst tunlichst vermied.
Nachdenklich blickte Patrick seinen Freund und Chef an, dann sackte er in sich zusammen.
„Ich fürchte, ich bin der Einzige aus unserer Gruppe, der auf seine Gefährtin verzichten muss“, flüsterte er fast panisch.
„Wenn du so schnell aufgibst, nur weil sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, könnte das passieren“, bestätigte Gerry trocken, was ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen von seiner Liebsten einbrachte.
„Wieso bist du nur so gefühllos? Er leidet oder siehst du das nicht?“, tadelte sie ihn aufgebracht.
„Ja das sehe ich natürlich, aber Aufgeben ist keinesfalls eine Option! Eine Lektion, die mir durch Azrael erteilt wurde“, konterte er geschickt.
„Leute, keinen Streit. Gerry du hast recht, ich habe mich hängen lassen, was absolut doof ist. Ich werde gleich zu diesem Baum gehen, um mit ihr zu sprechen“, beschloss Patrick.
„Meinst du das es eine gute Idee ist? Sie wird von irgendjemandem erpresst, sieht keinen Ausweg und traut sich nicht um Hilfe zu bitten. Sie wird weder mit dir reden noch auf dich eingehen“, warnte Lea behutsam.
„Was soll ich denn tun? Ich kann wohl kaum hier in der Wohnung sitzen und warten, bis ihr sie mit Gewalt gefangen habt“, konterte er energisch.
„Doch genau das solltest du tun. Wir liefern sie dir sogar frei Hause“, witzelte Gerry, aber er erntete nur einen bösen Blick seines Freundes.
„Wenn du unbedingt willst, dann schau, ob du etwas erreichst“, gab David endlich nach.
Er wusste, dass er seinen Schützling keinesfalls vor allen negativen Gefühlen bewahren konnte, außerdem verstand er ihn. Als Emily vor ihm geflohen war, hielt ihn auch nichts mehr im Büro. Allein die Vorstellung, dass seine Leute nach ihr suchten, während er auf Nachrichten wartete, war damals undenkbar gewesen.
Sofort sprang Patrick auf, und ehe jemand noch etwas sagte, stürmte er schon aus der Haustür. David, Emily, Lea und Gerry blickten ihm besorgt hinterher. Sie hofften von ganzem Herzen, dass sich die Geschichte schnell zum Guten wenden würde, dummerweise sah es im Moment völlig anders aus. Zumal sie auch nur die Aussage der Dryade hatten, was die Sache mit der Geheimhaltung anging. Keiner wollte sich ausmalen, was passierte, wenn sie gelogen hatte.

~~°~~

Patrick dachte keine Sekunde darüber nach, was ihn erwartete, ihn trieb einzig und allein der Gedanke an, dass er sie endlich sehen würde. So schnell er konnte, ohne aufzufallen, lief er zu der windschiefen Birke, wo er erst jetzt überlegte, was er sagen sollte. Immerhin war es keine gute Idee zu ihr zu gehen, ihr mitzuteilen, dass sie zu ihm gehörte, und erwarten, dass sie glücklich in seine Arme sank. So naiv war nicht mal er.
Verlegen stand er vor dem Baum, spähte in die Baumkrone, während er von einem Bein auf das andere trat.
Wie dumm, dass sie in ihrer magischen Gestalt für ihn unsichtbar war. Vielleicht beobachtete sie ihn oder traute sich einfach nicht sich zu zeigen.
Gerade als er nach ihr rufen wollte, löste sich eine Person von der Rinde der Birke. Die Maserung des Holzes lief über ihre Haut, jedenfalls soweit er es erkennen konnte. Mit blitzenden braunen Augen musterte sie ihn, gleichzeitig huschte ein verschmitztes Grinsen über ihr Gesicht.
„Wow, was für ein Prachtkerl, da hat meine Schwester ja mal wirklich Glück“, murmelte sie, als ob Patrick ein Zuchtbulle auf einer Ausstellung wäre.
Ärgerlich holte er Luft, um sie zurechtzuweisen, doch dann besann er sich. Wenn er an Victoria herankommen wollte, sollte er ihre Vertraute besser nicht verärgern.
„Freut mich, dass ich dir gefalle“, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
Obwohl er sich bemühte neutral zu bleiben, hörte man deutlich, dass er über diese Musterung alles andere als erfreut war.
„Oh ja, aber das tut kaum etwas zur Sache. Vicky ist die Person, die du suchst“, erinnerte die Dryade ihn lachend.
Als ob er es nicht selbst wüsste! Gewaltsam riss er sich zusammen, brachte sogar ein Lächeln auf seine Lippen, ehe er fragend an dem Baum hochsah.
„Und wo ist sie?“, erkundigte er sich so freundlich, wie er konnte.
„Nicht hier“, teilte der Naturgeist ihm grinsend mit.
Sie spielte mit ihm, was ihm deutlich gegen den Strich ging. Genervt stieß er die Luft aus, knurrte leise und trat einen Schritt auf sie zu.
„Pass auf, ich habe wirklich keine Nerven für deine Spielchen. Ich muss dringend mit ihr sprechen! Also wo ist sie?“
Offen sah sie ihn an, dann zuckte sie mit den Schultern.
„Sie meldet sich bei mir selten ab. Aktuell weiß ich nur, dass sie zum Strand gegangen ist. Es könnte aber auch sein, dass sie irgendwo in den Dünen herumgeistert oder in den unterirdischen Gängen des Atlantikwalls. Sie liebt die Verbindungstunnel, besonders die, die noch nicht öffentlich zugänglich sind. Dort hat sie nämlich ihre Ruhe“, erklärte die Dryade spöttisch.
Miriam wollte dem Kerl ein wenig auf den Zahn fühlen, immerhin ging es um ihre beste Freundin, ihre Seelenschwester. Außerdem machte es ihr höllischen Spaß ihn zur Weißglut zu bringen. Daran sollte er sich besser schon mal gewöhnen, denn Vicky beherrschte dieses Verhalten genauso gut.
„Bitte Miriam, du bist doch Miriam oder?“, hakte Patrick jetzt bemüht freundlich nach.
„Ja, die bin ich und du musst Patrick sein, der Gestaltwandler. Wächter von Ballygannon“, antwortete sie fröhlich.
„Das stimmt, damit hätten wir die Vorstellungsrunde wohl hinter uns gebracht. Deine Schwester spielt ein sehr risikoreiches Spiel und ich werde keinesfalls zulassen, dass sie sich weiter in Gefahr begibt. Ebenso wenig sehe ich tatenlos zu, wie sie gegen unsere Gesetze verstößt, egal warum“, teilte er der Dryade eindringlich mit.
„Dein Bestreben ist edel, nur müsstest du sie erst mal in die Finger bekommen. Im Moment macht sie, was sie für richtig hält.“
Damit hatte Miriam den wunden Punkt getroffen, denn so lange Victoria sich nicht dazu herabließ wenigstens mit ihm zu reden, waren ihm die Hände gebunden.
„Möchtest du, dass sie in Irland vor ein Gericht gestellt wird? Ich kann mir kaum vorstellen, dass du in der Lage bist, sie zu begleiten.“
Patrick ging zum Gegenangriff über, es musste einfach einen Weg geben, zumindest diesen Naturgeist zu überzeugen.
Entsetzen huschte über Miriams Miene, was ihm deutlich zeigte, dass er sich auf dem richtigen Weg befand.
Doch schnell fing sie sich wieder, setzte ein unbeteiligtes Lächeln auf, gleichzeitig zuckte sie mit den Schultern.
„Auch dazu müsstet ihr sie erst einmal einfangen. Sie ist nicht so dumm, euch in ihrer menschlichen Gestalt entgegen zu laufen“, teilte sie ihm mit, während sie ein paar Schritte vor ihrem Baum auf und ab ging.
„Uns ist in all den Jahren noch niemand entkommen, glaub mir. Kannst du mir denn überhaupt etwas Hilfreiches sagen oder bist du so sehr darauf erpicht dein Spielchen mit mir zu spielen?“, griff Patrick sie jetzt doch harsch an, da er langsam die Nase voll hatte.
Er sorgte sich um seine zukünftige Gefährtin, wollte sie lieber sofort in Sicherheit bringen, allerdings würde er seine Karten hier kaum auf den Tisch legen. Es war seiner Meinung nach besser, wenn die Dryade ihn nicht so genau einschätzen konnte.
Beleidigt sah sie ihn an, presste die Lippen aufeinander und man erkannte deutlich, dass sie überlegte, wie sie reagieren sollte.
„Da ich so wenig hilfreich bin, kann ich ja verschwinden“, maulte sie.
Erwartungsvoll blitzten ihre Augen für einen Moment auf, was Patrick natürlich sofort sah. Gespielt gleichgültig zuckte er mit den Schultern, zauberte seine arroganteste Miene in sein Gesicht, dabei tat er so, als ob es ihn nicht interessierte, was sie vorhatte.
„Da du mir nicht helfen willst, werde ich besser gehen. Vielleicht finde ich Victoria auf eigene Faust“, setzte der Panther noch eins drauf.
Langsam drehte er sich um, doch ehe er auch nur einen Schritt in Richtung der Dünen gegangen war, stand Miriam schon hinter ihm.
Sie wurde sich erst jetzt bewusst, dass die Lage verdammt ernst war, außerdem konnte es kaum schaden, wenn sie zumindest einen der Wächter auf ihrer Seite hatten.
Bei Gerry und Lea war sie sich unsicher, da der Gefährte des Engels sehr misstrauisch reagierte. Ihn würde sie zuerst überzeugen müssen und er beherrschte seine Partnerin völlig.
„Sorry, ich habe es wohl übertrieben, dabei bin ich gar kein solches Miststück“, entschuldigte die Dryade sich eilig.
„Bitte bleib“, schob sie hinterher.
Mit verschränkten Armen drehte Patrick sich um, sah sie auffordernd an, während er eine Augenbraue hochzog.
„Dann schieß los, wo finde ich Victoria“, forderte er sie kalt auf.
So schnell konnte er ihr nicht verzeihen, dass sie ihn zum Narren gehalten hatte. Außerdem sollte sie erst mal beweisen, dass sie ihre Entschuldigung ernst meinte.
„Das weiß ich wirklich nicht. Sie ist ziemlich durch den Wind, verleugnet ihre Gefühle zu dir und hat fürchterliche Angst“, gab Miriam leise zu.
Darauf war er auch bereits gekommen, besonders weil sie ihm offensichtlich aus dem Weg ging.
„Warum fürchtet sie sich? Was genau befürchtet sie? Wieso treibt sie harmlose Menschen ins Meer? Weshalb zeigt sie sich, wenn sie die Leute ausraubt?“
Seine Fragen prasselten auf sein Gegenüber nieder, wie Regen bei einem Wolkenbruch, doch sie hob nur abwehrend die Hände.
„Es tut mir leid, ich darf darüber nicht reden. Glaub mir, hier geht es um mehr als um einen dummen Streich“, blockte sie traurig ab.
Genervt stieß Patrick die Luft aus, aber dann erkannte er, dass auch Miriam vor Furcht zitterte.
„Versuch bitte uns zu vertrauen, wir sind die Guten in dem Spiel“, bat er sanft, dabei sah er ihr tief in die Augen.
„Hey, baggerst du mich etwa an?“, rief sie aufgebracht, gleichzeitig wich sie einen Schritt zurück.
Am Rande seiner Geduld angekommen, schloss der Panther kurz die Lider, dann schüttelte er den Kopf.
„Natürlich mache ich dich nicht an. Was für einen Sinn sollte das haben? Du weißt genau, dass ich der Gefährte deiner Freundin bin“, begehrte er auf.
Irgendwie lief das Gespräch völlig anders, als er es sich vorgestellt hatte. Wieso konnte diese eigenwillige Person ihm nicht endlich weiterhelfen? So verlor er nur wertvolle Zeit.
Gerade als er noch einmal ansetzte, ihr eine Antwort zu entlocken, kam ein kleiner, ziemlich wütender Mann auf sie zu gerannt.
„Was willst du von ihr? Lass sie sofort in Ruhe! Verschwinde“, rief er aufgebracht.
„Oh jetzt gibt es Ärger“, murmelte Miriam betroffen, ehe sie sich an den Stamm der Birke lehnte.
Ihre Kontur nahm bereits die Farbe des Baumes an, als der Kerl sich zwischen Patrick und sie schob. Bittend blickte sie zum Wächter, schüttelte leicht den Kopf, ehe sie völlig verschwand.
Als ob der Tag nicht unerfreulich genug wäre, musste der Panther sich auch noch mit diesem aufgebracht schnaufenden Etwas abgeben.
„Ich habe gesagt, dass du verschwinden sollst“, schrie er mit sich überschlagender Stimme.
Fast schon amüsiert musterte der Gestaltwandler das Kerlchen, dann lächelte er nachsichtig.
„Ein kleiner Zauberer will mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe? Amüsant“, antwortete er gelassen.
Mit seinen magischen Sinnen erfasste er sofort, welche Art Wesen vor ihm stand. Genauso erkannte er, ob eine Gefahr von seinem Gegenüber ausging oder nicht. In diesem Fall hatte er kaum etwas zu befürchten.
„Unterschätze mich besser nicht, ich kann dich jederzeit vernichten“, rief der Mann bösartig.
„Verschwinde lass die Dryade und die Sylphe in Ruhe, sie gehören nur mir! Verstanden?“, wiederholte er seinen Befehl.
Auf Patrick machte er eher den Eindruck eines zornigen, ziemlich unterbelichteten Gnoms, der sich gewaltig überschätzte. Einen Moment musterte er ihn, auch um sicherzugehen, dass er keine magische Fähigkeit übersah.
Ohne große Anstrengung schob er das Männchen von der Birke weg, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm des Baumes, dabei blickte er ihn gelangweilt an.
„So und wie bitte willst du das anstellen? Ehe du irgendwas gegen mich unternommen hast, habe ich dich zerfleischt“, konterte er, danach zeigte er sein mittlerweile verwandeltes Gebiss.
Erschrocken wich der Gnom einen Schritt zurück, dummerweise gab er immer noch nicht nach. Erneut baute er sich vor dem jungen Gestaltwandler auf, schob die Schultern nach oben, um größer zu erscheinen, gleichzeitig hob er den Kopf an.
„Mach dir keine Mühe, ich habe dich längst durchschaut, du bist lediglich ein Halbling. Eine Mischung aus Zwerg und Mensch, der auch nur einen geringen Prozentsatz an magischen Fähigkeiten mitbekommen hat.“
Damit ließ Patrick ihn auflaufen, was dazu führte, dass dieser bedenklich rot anlief, empört nach Luft schnappte und mit dem Fuß aufstampfte, wie ein kleines Kind.
„Das nimmst du zurück, du dummes Tier“, kreischte er.
„Mach ihn bloß nicht noch wütender“, raunte es hinter ihm, während über ihm ein paar Blätter raschelten.
„Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du dich mir in den Weg stellst“, schrie der Zwerg, dabei sah er aus, als ob ihm gleich Dampf aus den Ohren steigen würde.
„Gut, dann werde ich es eben erleben und jetzt möchte ich mein Gespräch ungestört fortsetzen. Entschuldigst du uns bitte“, bemerkte der Panther spöttisch.
Das war zu viel für den kleinen Kerl! Zornig rannte er auf Patrick zu, doch ehe er ihn erreicht hatte, streckte dieser eine Hand aus, legte die Handfläche an seine Stirn, so hielt er ihn locker auf Abstand. Einen kurzen Moment kämpfte der Gnom gegen diese Blockade an, bis er gedemütigt zurückwich. Noch einmal blitzte er seinen Gegner wütend an, ehe er davon stob. Erst jetzt stieß der Panther sich von dem Baumstamm ab, drehte sich um, dabei blickte er auffordernd zur Baumkrone.
„Komm bitte her und erzähl mir, was das gerade war“, bat er verwirrt.
Diesen Auftritt wusste er so gar nicht einzuschätzen, zumal der Typ eine Lachnummer war. Seine magischen Kräfte reichten kaum aus, um wirklich etwas zu bewirken, das spürte der Gestaltwandler deutlich.
Miriam konnte es sich keinesfalls verkneifen, sich vor Patrick aus der Rinde zu schälen, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen.
„Ich bin hier, nicht dort oben“, erklärte sie grinsend, doch sofort verhärteten sich ihre Züge.
„Wieso musstest du ihn verärgern? Du hast keine Ahnung, was du damit angerichtet hast“, tadelte sie ihn traurig.
„Im Ernst? Du glaubst, dass dieser Wichtigtuer in der Lage ist, irgendetwas gegen uns auszurichten?“, hakte Patrick fassungslos nach.
„Seine Magie ist weniger beeindruckend, aber er hat effektivere Mittel. Ich darf nicht darüber reden“, gab sie kleinlaut zu.
„Solange ihr beide schweigt, wird sich kaum etwas ändern. Wir können euch nur helfen, wenn wir wissen, was überhaupt los ist“, führte er ihr vor Augen.
„Ich muss erst mit Vicky sprechen, kannst du bitte so lange Geduld haben?“, bat sie zerknirscht.
Patrick wusste, dass es ihn keineswegs weiterbrachte, sollte er auf einer Antwort bestehen. Die Dryade würde wahrscheinlich nur in ihrem Baum verschwinden.
Ein starker Luftzug streifte ihn, was dazu führte, dass er sofort hoffnungsvoll den Blick hob. Dieses Mal hatte er sogar Glück, denn ein bläulicher Dunst senkte sich gerade auf einen Ast über ihm nieder.
„Was willst du hier?“, erkundigte Victoria sich feindselig, als sie sich so weit materialisiert hatte, dass er sie sehen konnte.
„Ich möchte nur mit dir reden“, antwortete Patrick ruhig, gleichzeitig streckte er die Hände mit den Handflächen nach oben aus.
Ihr Anblick ließ sein Herz höherschlagen. Er beobachtete sie, während er sie am liebsten in seine Arme gezogen und sofort weggebracht hätte.
„Ich dachte, meine Warnung am Strand wäre deutlich genug gewesen. Halt dich von uns fern“, zischte Vicky ihn an, dabei sandte sie ihm einen harten Windstoß.
„Bitte, ich will euch wirklich nur helfen. Sag mir wenigstens, warum du diese Leute gefährdest“, wagte er sich einen kleinen Schritt vor.
Augenblicklich peitschte der Wind um die alte Birke, traf ihn genau im Magen, was ihn jedoch kaum tangierte. Patrick spannte die Muskeln gerade rechtzeitig an, da er die Attacke erahnt hatte. So blockte er ihren Schlag gekonnt ab, wobei sich das Nahkampftraining jetzt doppelt auszahlte.
„Spürst du denn gar nicht?“, erkundigte er sich sanft, gleichzeitig legte er seine Gefühle in seinen Blick.
Für einen kurzen Moment erschien so etwas wie Bedauern in den Augen der Sylphe, ehe sie spöttisch auflachte.
„Glaubst du wirklich, ich würde mich mit einem Tier verbinden? Keine Ahnung, was du dir einbildest, ich fühle bestimmt keine Zuneigung zu dir“, höhnte sie jetzt.
Getroffen zuckte Patrick zurück. Konnte er sich so sehr täuschen? Aber was war mit seiner Nervosität und dem extremen Beschützerinstinkt? Aufmerksam versuchte er, in ihrem Blick zu lesen, doch ihre Konturen lösten sich immer mehr auf.
„Schade, dass du so ein Feigling bist“, rief er ihr zu, ehe sie komplett verschwunden war.
Da sie auf die sanfte Tour nur mit Spott reagierte, entschloss er sich, seine Taktik zu ändern. So wie es aussah, klappte es auch, denn sie erschien augenblicklich wieder, schwebte sogar herab, um sich vor ihm aufzubauen.
So also konnte er sie aus der Reserve locken, indem er sie bei ihrem Stolz packte. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, sie würde freiwillig mit ihm reden, aber im Moment wollte er jede Möglichkeit ausnutzen.
Bewundernd glitt sein Blick über ihre schlanke, grazile Gestalt, nahm die Details ihrer Erscheinung in sich auf. Der ebenmäßige, helle Teint, die weißen, langen Haare und die eisblauen Iriden faszinierten ihn, dabei hätte er schwören können, dass er noch nie einem so hübschen Geschöpf begegnet war.
„Wenn du genug gegafft hast, hör mir besser zu, ich wiederhole mich nur ungern“, herrschte sie ihn an.
Ihr Ton klang aggressiv, aber in ihrem Blick erkannte er ihre Unsicherheit, ebenso wie die Tatsache, dass sie sich verstellte.
„Ich möchte nichts mit dir zu tun haben. Es gibt keinen Grund für dich hier herumzulungern und meine Schwester oder mich zu belästigen, klar?“
Lächelnd verschränkte Patrick die Arme vor der muskulösen Brust, dabei ließ er sie nicht aus den Augen.
„Da täuscht du dich gewaltig. Abgesehen davon, dass du meine Gefährtin bist, haben wir den Auftrag dich nach Irland zu bringen. Wie du bestimmt weißt, hast du mehrfach gegen die Geheimhaltung verstoßen“, korrigierte er sie sachlich.
Diesen Kampf mit der Wildkatze würde er gerne aufnehmen, zumal er sich sicher war, am Ende zu gewinnen. Außerdem fühlte es sich fantastisch an, einfach nur in ihrer Nähe zu sein.
Dummerweise hatte er die Wirkung seiner Worte unterschätzt, denn ehe er noch etwas sagen konnte, löste sie sich bereits auf.
„Wenn das so ist, sollte ich dir besser aus dem Weg gehen. Vergiss die Gefährtinnen-Sache, darin täuscht du dich“, raunte sie ihm zu, ehe sie völlig verschwunden war.
„Vicky warte, sei nicht so störrisch“, rief Miriam, die sich bis jetzt zurückgehalten hatte, doch auch den Ruf ihrer Freundin ignorierte die Sylphe.
Seufzend sah sie den Gestaltwandler an, zuckte bedauernd mit den Schultern und schüttelte leicht den Kopf.
„Tut mir leid, manchmal ist sie wirklich schwierig, aber ich werde mit ihr reden“, versprach sie, ehe sie sich in den Baum zurückzog.
Damit war Patrick wohl entlassen. Missmutig machte er sich auf den Weg zu der Wohnung, wo seine Leute bereits auf ihn warteten.

~~°~~

Victoria flog, so schnell sie konnte, zum Museum des Atlantikwalls, dabei streifte sie einige Besucher, die sich verwirrt nach dem plötzlichen Wind umsahen. Natürlich erkannte sie niemand, was ihr in dem Moment allerdings auch egal war. Sie musste nur weg von diesem Mann, der ihr Gefühlsleben so durcheinanderwirbelte.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, was nur seinem Anblick geschuldet war, dennoch durfte sie sich nicht auf ihn einlassen. Die gesamte Situation war viel zu gefährlich, außerdem stand Miriams Leben auf dem Spiel.
Gewaltsam hielt sie die Tränen zurück, die jetzt wieder in ihren Augen brannten, aber sie war der Meinung, dass sie genug geflennt hatte.
Endlich erreichte sie einen verlassenen Verbindungsgang, der noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben war.
Routiniert materialisierte sie sich, ließ sich an der kalten, modrigen Wand herunterrutschen und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Was, um alles in der Welt, hatte sie verbrochen, dass sie so bestraft wurde?
Natürlich spürte sie deutlich, dass dieser Gestaltwandler zu ihr gehörte. Jede Faser ihres Herzens schrie danach zu ihm zurückzufliegen, um sich in seine Arme zu werfen. Gleichzeitig schaltete sich ihr Verstand ein, der ihr immer wieder zu flüsterte, dass sie mit dem Leben ihrer Schwester spielte. Ständig musste sie daran denken, dass die Leute von Ballygannon hier waren, um sie zu fangen und wohl kaum um sie zu retten.
Sie war die Verbrecherin, die die gegen das Gesetz verstoßen hatte. Würde man ihr ihre Geschichte überhaupt glauben, falls sie die Möglichkeit bekam zu reden? Oder verurteilte man sie direkt, vielleicht sogar ohne Gerichtsverhandlung?
Gerüchte, um Machtmissbrauch und Willkür schwirrten genug herum. Bisher hatte sie die Ohren davor verschlossen, aber jetzt fiel ihr jedes einzelne wieder ein. In dem Fall, dass man sie einsperrte, hatte Miriam keine Chance gegen ihren Widersacher. Sie konnte ja nicht mal wirklich weglaufen, da sie an ihren Baum gebunden war.
Vielleicht sollte sie sich stellen, nur vorher die Bedingung aushandeln, dass man die Dryade schützte? Dieser Gedanke kreiste in ihrem Kopf. War das die Lösung, nach der sie so lange gesucht hatte? Eventuell bekam sie tatsächlich mildernde Umstände, wenn sie ihre Version der Geschehnisse erklären durfte.
Sie erinnerte sich, dass der Kerl, der am Morgen mit seiner Gefährtin bei ihnen gewesen war, sagte, dass es um Gerechtigkeit ginge. Falls es keine Finte war, hatte sie eine ehrliche Chance, zumindest Miriam aus der Sache herauszuhelfen. Mit viel Glück kam sie vielleicht auch mit einem blauen Auge davon.
Die unsinnige Hoffnung, dass die Wächter ihnen tatsächlich helfen könnten, schlich sich in ihre Gedanken.
Gab es wirklich einen Weg, diesem Gnom Einhalt zu gebieten? Zuerst wollte sie die Überlegung zur Seite schieben, doch dann dachte sie erneut darüber nach.
Was hatte der Kerl genau gegen sie in der Hand? Kaum etwas, denn seine Magie reichte gerade mal, um sie sehen zu können, allerdings besaß er eine Axt und darin lag ihr Problem.
Natürlich war sie bereit ständig bei ihrer Schwester zu bleiben, um ihn davon abzuhalten, ihr zu schaden, nur dummerweise gab es mehrere von ihnen.
„Du bist nicht länger alleine“, summte es in ihrem Kopf, doch darauf wollte und konnte sie sich kaum verlassen.
Die Wächter interessierten sich in der Regel nur für ihre Aufgaben, das war allgemein bekannt. Miriam müsste sich ebenfalls in ihren Schutz begeben, was für eine Dryade fast unmöglich war. Sobald ihr Baum gefällt wurde, starb sie.
Immer wieder überlegte Victoria, ob sie mit dem Gestaltwandler reden sollte oder besser nicht. Wenn dann nur mit ihm und auf jeden Fall alleine! Sie konnte es sich keinesfalls leisten, Fehler zu machen.
Aber zuerst hatte sie noch ein Hühnchen mit ihrer Seelenschwester zu rupfen, was fiel ihr eigentlich ein, so vertraulich mit dem Kerl zu sprechen? Sie wusste doch genau, was auf dem Spiel stand.
Mit genug Wut im Bauch, um ihre Verzweiflung für den Moment zu vergessen, löste sie sich erneut auf, um den Gang zu verlassen. Eilig flog sie zu ihrem Zuhause zurück.

~~°~~

Miriam lehnte unsichtbar an ihrem Baum, träumte vor sich hin, dabei hoffte sie, dass sie ihre Schwester zur Vernunft bringen konnte. Selbst wenn der Gnom es schaffte, die Birke zu fällen, würde wenigstens Victoria frei sein.
Ihre Gedanken kreisten um die Wächter von Ballygannon und die Hoffnung, dass sich jetzt endlich alles zum Guten wendete, keimte immer mehr auf.
Neidlos gab sie zu, dass der Gefährte von Victoria eine echte Augenweide war. Sportlich schlank, mit Muskeln an den richtigen Stellen, aber nicht zu aufgeblasen, gleichzeitig erschien er dominant genug, um mit der Sylphe umgehen zu können.
„Und einen Knackarsch hat er“, dachte sie kichernd, als Vicky sich neben ihr niederließ.
„Darf ich mitlachen?“, erkundigte sie sich.
Sofort schüttelte Miriam den Kopf, auf keinen Fall wollte sie ihrer Schwester erzählen, dass sie über den Hintern des Gestaltwandlers nachgedacht hatte. Das war nun wirklich zu peinlich!
„Nein, das ist zu kindisch. Aber gut, dass du kommst, wir müssen dringend reden“, blockte sie ernst ab, dabei sah sie die Freundin an.
Selbst in ihrer natürlichen Gestalt erkannten die Naturgeister sich problemlos, daher verzichteten sie darauf, sich zu materialisieren. Darüber hinaus schützten sie sich so auch vor vorbeikommenden Menschen, die manchmal sehr nervig sein konnten.
„Stimmt, wir haben einiges zu bereden. Was fällt dir eigentlich ein, dem Kerl so viel von uns zu erzählen? Willst du sterben?“, herrschte Victoria sie an.
Miriam verdrehte die Augen, das war typisch für die Sylphe, immer musste sie alles theatralisieren. Zudem war ihr die außergewöhnliche Begegnung mit dem Gnomen ja entgangen.
„Was sollte ich denn tun? Ihn wegjagen? Dazu reichen meine Kräfte nicht aus und ein Erdbeben kommt im Moment ebenso wenig infrage. Außerdem habe ich ihm kaum etwas berichtet, das hat Bodo erledigt“, verteidigte sie sich hitzig.
„Der Zwerg war hier? Was ist passiert?“, rief Victoria besorgt, gleichzeitig sprang sie auf.
Hektisch flog sie vor der Dryade hin und her, dabei sah sie diese auffordernd an.
„Kannst du dich bitte wieder setzen? Du machst mich wahnsinnig“, forderte Miriam sie unwirsch auf.
„Ja, er rannte wie ein wütender Zwergstier auf uns zu, schrie herum, wobei er Patrick bedrohte. Er ging ihn sogar an, aber der war cool. Dein Gestaltwandler streckte lediglich die Hand aus, damit konnte er ihn auf Abstand halten. Der Gnom ist anschließend wutbebend davon gestampft. Ich hoffe, er erleidet einen Herzinfarkt“, berichtete die Dryade spöttisch.
„Er ist nicht mein Gestaltwandler“, murmelte Vicky, nur dieses Mal hörte man das Bedauern heraus.
„Das ist nur eine Frage der Zeit, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass er sich von dir fernhält. Der Kerl ist dir absolut verfallen, glaub mir. Sie haben sich übrigens im Bel Horizon eingemietet, falls du doch mit ihm reden willst“, fügte Miriam hinzu, dabei beobachtete sie die Freundin genau.
Victoria schüttelte schnell den Kopf, die Nachricht, dass der Gnom den Wächter angegriffen hatte, änderte einiges. Zumindest machte es ihre Geschichte glaubhafter.
Als hätten ihre Gedanken ihren Widersacher herbeigerufen, stampfte Bodo in dem Moment auch schon heran. Bereits von Weitem erkannte man, dass er wütend war, außerdem begleiteten ihn vier seiner Männer. Diese Tatsache ließ die Naturgeister misstrauisch werden, jetzt hieß es, auf der Hut zu sein.

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Tag der Veröffentlichung: 01.09.2017

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