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Kapitel 1 - Dublins Straßen

„Macht euch fertig! Abfahrt in zehn Minuten“, erklang Davids Stimme.
Gerry hörte ihn, obwohl die Tür geschlossen war und sein Boss bestimmt nicht laut gesprochen hatte. Ein großer Vorteil, wenn man Gestaltwandler war, niemand hier im Hauptquartier musste schreien.
Mit einem erleichterten Grinsen lief er in sein Zimmer, nahm sich einen Seesack und packte seine Kleidung ein. Wie immer wusste keiner, wie lange der Einsatz dauern würde und die Details bekamen sie erst im Flugzeug. Trotzdem war für ihn alles besser, als herumzusitzen, zumal ihn in der letzten Zeit eine ungewöhnliche Unruhe plagte.
Zusammen mit seinen Klamotten und persönlichen Gegenständen schnappte er sich noch die Arzttasche, die ständig gepackt in seinem Zimmer stand.
Mittlerweile war er 530 Jahre alt und wusste alles, was es über Medizin zu wissen gab, egal ob es sich um menschliche oder magische Wesen handelte. In seiner Funktion als Arzt begleitete er die erste Einheit der Gestaltwandler, die durchgeknallte Zauberwesen einfing. Natürlich beherrschte er auch verschiedene Kampftechniken und seine tierischen Sinne, halfen ihm ebenso. In vielen Situationen hatte es seine Vorteile, wenn er sich in einen Luchs verwandelte, dabei musste er vorsichtig sein, da die Menschen nichts von der Existenz der übernatürlichen Welt wusste.
Kurz darauf saß er mit seinen Kameraden in einem großen Van, der von Logan, dem Jaguar gefahren wurde. Sie alle waren erfahrene Söldner im Dienst ihrer Regierung, die nichts mit den Normalsterblichen zu tun hatte.
Neben Logan saß Patrick, ein Panther und gleichzeitig ein begnadeter Hacker. Seine Gefährtin Joleen, die normalerweise diesen Platz hatte, musste zuhause bleiben, da sie ein Baby erwartete. Gerry hatte ihr strengstens verboten zu fliegen, weil es in den ersten Monaten möglich war, dass es zu Komplikationen führte.
Gerrys Blick glitt erneut über seine Freunde in diesem Van, der wie ein Kleinbus aufgebaut war, aber viele spezielle Extras enthielt. Die Technologie der magischen Welt war wesentlich weiter entwickelt, als jeder Mensch es sich vorstellen konnte. So gab es in diesem Wagen eine Einrichtung, die nicht nur vor Kontrollen warnte, sondern die Blitzgeräte sogar ausschaltete. Sie alle besaßen so ein Gerät, da es keinen Gestaltwandler gab, der auf Geschwindigkeit verzichtete.
Angespannt klopfte der Arzt einen unrhythmischen Takt auf sein Bein und drängte in Gedanken Logan schneller zu fahren, obwohl er genau wusste, dass es kaum gegen seine ungewöhnliche Stimmung half.
„Du bist doch nicht etwa nervös oder?“, wollte jetzt David, der Wolf, von ihm wissen, dabei grinste er breit.
Gerry verdrehte die Augen und verfluchte sich selbst, wieso hatte er ihm auch von seiner Theorie erzählt. Er glaubte, dass diese seltsame Unruhe als Vorbote auftauchte, denn immer wenn einer seiner Kameraden sich so verhielt, traf er kurz darauf die Frau, die für ihn bestimmt war.
Wobei es sich nur um eine Vermutung handelte, da nur Logan und David sich bisher gebunden hatten.
„Ja bin ich und ja ich werde besonders aufmerksam sein“, gab er kühl von sich.
Emily, Davids Gefährtin sah ihn fragend an, doch er schüttelte nur leicht den Kopf. Auf keinen Fall wollte er Gerüchte in die Welt setzen, zumal die Welpen Patrick und Brian auch noch im Wagen waren.
„Logan, wieso fährst du eigentlich nicht mit deinem Jaguar zum Flughafen?“, erkundigte Gerry sich, um von sich abzulenken.
„Der ist zur Inspektion“, brummte der Angesprochene, der ohne seine Partnerin nicht gerade gut gelaunt klang.
Jeder wusste, dass er immer mit seinem eigenen Sportwagen fuhr, wenn es sich machen ließ.
Patrick und Brian waren die jüngsten in ihrer Gruppe, obwohl Patrick Joleen ausgebildet hatte. Sein bester Kumpel Brian, ebenso ein Werwolf kümmerte sich darum, dass Emily ihre Kenntnisse im Schlösserknacken verbesserte.
Kurz darauf parkten sie auf dem Flughafengelände und machten sich auf den Weg zu dem Flugzeug, welches ihnen von der Regierung zur Verfügung gestellt wurde. Es war schon praktisch, zumal es im Inneren jedes technische Gerät gab, das sie brauchten, um die erste Lagebesprechung durchzuführen. Auch das Einchecken ging schnell und unkompliziert vonstatten.
„Okay Leute, mal herhören. Wir fliegen nach Island, dort in Varmahlíð gibt es ein Problem mit einem Troll“, teilte David seinen Jungs mit, als sie sich in der Luft befanden.
„Scheiße“, rutschte es Brian heraus, der alles andere als begeistert war.
Die meisten Trolle verhielten sich wie gutmütige Teddybären, nur wenn man sie ärgerte und sie außer Kontrolle gerieten, musste man sich in acht nehmen.
„Er hat zwei Touristen entführt und sich auf einem Hof im Umland verschanzt“, erklärte der Werwolf weiter.
Auch Logan stieß jetzt die Luft aus, er war der Kämpfer in der Gruppe, aber alleine konnte er es auf keinen Fall mit einem wütenden Troll aufnehmen. Gott sei Dank war diese Gattung nicht gerade die hellste und mit ein wenig Geschick, brachten sie ihn dazu aufzugeben.
„Hat jemand versucht Kontakt mit ihm aufzunehmen?“, wollte Gerry wissen.
„Nein, es traut sich niemand an den einsamen Hof heran. Der Elfenbeauftragte ist vor Ort, weigert sich aber ohne Unterstützung an das Wohnhaus heranzugehen. Die Touristen waren alleine mit zwei Pferden unterwegs. Beide Tiere sind wohlbehalten wieder in dem Mietstall angekommen und bisher mussten die Angehörigen nicht informiert werden“, berichtete David weiter.
„Schöne Scheiße“, murmelte Patrick, dem es auch an die Nieren ging in weniger als drei Stunden, einem Troll gegenübertreten zu müssen.
„Die Schwierigkeit wird sein, die Menschen unbeschadet rauszuholen. Trolle verhalten sich immer so unberechenbar“, bemerkte der Arzt seufzend.
Es war nicht der erste Einsatz, bei dem sie mit einem stärkeren Gegner konfrontiert wurden. Allerdings war ihnen allen klar, dass sie perfekt zusammenarbeiten mussten.
„Gerry halt auf jeden Fall deine Arzttasche bereit, wir wissen aktuell nicht, in welchem Zustand die beiden Frauen sind“, wies David ihn ruhig an.
„Kein Problem, ich hoffe nur sie leben noch“, antwortete der Arzt, ehe er sich wieder in den Sitz sinken ließ.
Die innere Unruhe machte ihn ziemlich fertig, außerdem war er absolut neugierig, was ihn erwartete und ob seine Vermutung stimmte.

~~°~~

Lea sah gedankenverloren aus dem Fenster, nur bemerkte sie die Schönheit der Natur ringsherum kaum. Nach über zwölf Jahren hatte man ihr gekündigt und jetzt stand sie ohne Job da. Sie liebte ihren Beruf als Krankenschwester, auch wenn es manchmal extrem hart war.
Umstrukturierungen nannten sie es, aber jedem war klar, dass Gelder eingespart werden mussten. Selbstverständlich könnte sie sich einen Anwalt nehmen und diesen Rauswurf anfechten, doch sie wusste, dass das nichts bringen würde.
Außerdem hatte sie bereits zu lange gewartet, die Kündigung lag schon fast zwei Monate hinter ihr. Zuerst wollte sie sich sofort einen neuen Job suchen, irgendetwas gegen diese Ungerechtigkeit tun oder sich zumindest arbeitslos melden, aber ihr Freund Dorian stoppte sie.
Seine Mutter war schwer krank, sodass sie eine Rundumbetreuung brauchte. Zuverlässige Leute fand man kaum und so übernahm sie diese Aufgabe, obwohl sie ein ungutes Gefühl dabei hatte. Es lag ihr so gar nicht von ihm abhängig zu sein, zudem hatte er sie auch noch überredet, bei ihr einzuziehen.
Ihre Gedanken schweiften zu ihrem Lebensgefährten und ein Seufzer entkam ihr. Dorian war Programmierer, verdiente genug und sah ganz gut aus, aber die Liebe zu ihm wurde von Tag zu Tag weniger. Lea war schon seit einem halben Jahr klar, dass sie sich von ihm trennen sollte, nur wollte sie auf den richtigen Zeitpunkt warten. Nur der schien irgendwie nie zu kommen.
Auf diese Reise nach Irland hatten sie gespart und vor drei Monaten gebucht, kurz bevor ihr persönlicher Albtraum wahr wurde. Nie hätte sie gedacht, dass man ihr kündigte. Wieder drehten sich ihre Gedanken im Kreis, was sie dazu brachte, ihren Blendzauber aufzulösen.
Dorian wollte noch ein paar Schritte laufen und eine Zigarette rauchen, ehe sie rüber nach Dublin fuhren. Heute Abend stand das Nachtleben der Hauptstadt auf dem Plan, etwas wonach ihr überhaupt nicht zumute war, aber ihr Freund freute sich so sehr darauf.
Ein erstickter Aufschrei ließ Lea aus ihren Grübeleien hochfahren. Als sie sich umdrehte, sah sie den entsetzten Gesichtsausdruck ihres Lebensgefährten und in dem Moment wurde ihr klar, dass er ihre Flügel und ihre wahre Gestalt sehen konnte.
„Bitte Dorian, lass es mich erklären“, bat sie leise, doch er schüttelte nur wild mit dem Kopf.
„Was bist du? Ein verdammter Mutant?“, rief er aufgebracht.
Lea ging einen Schritt auf ihn zu, wollte ihn berühren, aber er wich zurück, als ob sie die Pest hätte.
„Nein, ich bin keineswegs mutiert. Ich bin ein Erdenengel und das dürfte ich dir normalerweise nicht mal sagen“, antwortete sie ruhig.
Bittend sah sie ihn an, ehe sie den Blendzauber wieder über ihre Gestalt legte, sodass die Flügel für seine Augen verschwanden und ihre pummelige Figur zurückkehrte. Das war dann wohl das Ende ihrer Beziehung, vielleicht musste es einfach so kommen.
„Raus hier“, befahl er eiskalt und deutete auf die Tür.
„Ich habe diese Ferienwohnung ebenso bezahlt. Du kannst mich nicht rauswerfen“, bemerkte sie traurig.
Wieso glaubte sie immer an das Gute in den Menschen? Sie sollte es doch mittlerweile besser wissen. Irgendwie hatte sie gehofft, dass er über ihre äußere Erscheinung hinweg sehen würde, falls er sie zu Gesicht bekam.
„Du hast keine Rechte, du bist ein Monster. Mach, das du rauskommst, ehe ich dir den Hals umdrehe“, schrie Dorian sie an und trat einen Schritt auf sie zu.
Erschrocken sah Lea ihn an, so kannte sie ihn nicht. Beschwichtigend hob sie die Hände, dabei sah sie ihn wieder bittend an. Doch er reagierte gar nicht auf ihren Blick, sondern packte sie hart am Arm und zog sie aus der Wohnung. Ehe sie sich versehen hatte, gab er ihr einen Stoß, rannte zurück und warf die Tür zu.
Tränen traten ihr in die Augen, auch wenn sie ihn kaum noch geliebt hatte, tat diese Trennung unendlich weh. Außerdem hatte sie keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte, ihr Geld, ihre Kleidung und die persönlichen Dinge waren alle in dem Appartement.
„Lass mich rein und gib mir meine Sachen“, rief sie, als sie erneut an die Tür klopfte.
„Hau bloß ab, du Missgeburt. Ich muss dir gar nichts geben, immerhin hast du die letzten Monate auf meine Kosten gelebt“, schrie Dorian ihr durch die geschlossene Haustür zu.
Etwas in ihr zerbrach, so stand es also um seine Gefühle für sie und sie hatte sich seit einem halben Jahr Gedanken gemacht, wie sie sich von ihm trennen konnte. Außerdem verletzte es sie, wie eine Abscheulichkeit, behandelt zu werden.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und ihre Reisetasche flog ihr vor die Füße. Erleichtert nahm sie die Tasche an sich, durchsuchte sie und stellte fest, dass sie jetzt absolut mittellos war. Nicht mal das Rückflugticket fand sie, nur ihr Smartphone, ihre Kleidung und die Toilettensachen.
Unglücklich und gleichzeitig schuldbewusst drehte sie sich um und ging auf die Straße zu. Es brachte nichts hier herumzustehen und darauf zu hoffen, dass er es sich überlegte. Bestimmt war es besser so, als das Spiel ewig weiterzutreiben. Als Erdenengel wusste sie mehr über Gefühle als jedes andere Wesen, somit war ihr bewusst, dass sie falsch gehandelt hatte. Diesen Rauswurf verdiente sie, obwohl es sie traurig machte und vor ein paar echte Probleme stellte.
Einen Moment legte sie den Kopf in den Nacken, blickte in den Himmel, der langsam dunkel wurde und Tränen traten ihr in die Augen. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt, um nach Hause zurückzukehren.
Sie lebte schon so lange Zeit unter den Menschen, brachte ihnen Heilung, Trost und auch die Erlösung, nur bekam sie in den seltensten Fällen etwas zurück. Selbst wenn sie den Tod herbeirief, weil der Kranke einfach nicht mehr konnte und es keine Chance auf eine Genesung gab, wurde sie oft genug mit Vorwürfen konfrontiert.
Natürlich wusste sie, dass es jedem schwerfiel, eine geliebte Person gehen zu lassen, aber bei diesen Patienten ging es nur um eine endlose Quälerei.
In ihrem Privatleben hatte es immer nur so Typen wie Dorian gegeben, die auf den eigenen Vorteil bedacht waren. Nur heute erreicht die Kaltherzigkeit die Spitze. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er sie so behandeln würde und in ihr ein Monster sah.
Nach einer kleinen Weile senkte sie den Blick wieder, schloss kurz die Augen, um Kraft zu schöpfen. So wie es aussah, blieb es ihre Aufgabe und ihr Schicksal weiterhin ohne echte Liebe zu leben.
Es gab für sie in dieser Situation nur eine Möglichkeit, sie musste nach Dublin zur deutschen Botschaft. Allerdings stünde sie in Deutschland vor ebenso großen Problemen, da sie kein Geld besaß und keinen Ort hatte, an den sie gehen konnte. Unterstützung gab es für sie auch kaum, denn ihre Verwandten hatten es vorgezogen, die Erde zu verlassen. Lea kam immer mehr zu der Überzeugung, dass eine Rückkehr nichts nutzte, aber hier in Irland stand sie genauso mittellos da.
Zu allem Überfluss setzte ein leichter Nieselregen ein, der sie dazu brachte, sich ihren Weg in die Hauptstadt auf dem Smartphone zu suchen.
Laut Routenplaner dauerte es gut zwei Stunden zu Fuß von Dalkey nach Dublin.
Seufzend hängte sie sich ihre Reisetasche über die Schulter und machte sich auf den Weg. Bisher hatte sie immer eine Lösung gefunden, darüber hinaus wusste sie, dass es für irgendetwas gut war.

~~°~~

Der Privatjet mit den Gestaltwandlern setzte auf isländischem Boden auf und die Einheit machte sich zum Abmarsch fertig. Vor dem Flughafengebäude standen zwei Geländewagen, Nissan Patrol für sie bereit, damit sie möglichst schnell von Akureyri zu ihrem Einsatzort kamen.
Gerry teilte sich ein Fahrzeug mit Brian und Patrick, während Emily, Logan und David im anderen Wagen saßen.
Die Fahrt dauerte eine knappe Stunde, ehe sie von der geteerten Straße auf einen ziemlich holprigen Kiesweg einbogen. Kurz hinter der Abfahrt parkte schon ein alter Lada und ein Herr lehnte an dem Auto.
Der Werwolf stieg aus und ging auf den Mann zu.
„Guten Abend, Sie müssen Bjarki Arnarsson sein. Wir sind die Verstärkung aus Irland. Mein Name ist David Mc´Dorrell“, begrüßte er ihn.
Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Isländers und er drückte dem Gestaltwandler erleichtert die Hand.
„Ja das stimmt. Gott sei Dank sind sie hier. Mit dem Troll ist nicht zu spaßen, er ist mächtig sauer“, bemerkte er besorgt.
Das waren keine erfreulichen Nachrichten, allerdings hatte er sich das schon gedacht. Kein Troll entführte einfach so Touristen, denn normalerweise zeichneten sich diese Wesen durch ihre Gutmütigkeit aus.
„Was ist passiert, dass er so wütend ist?“, wollte David gerade wissen, als auch Gerry zu den beiden trat.
„Sie haben eine große Halle gebaut und dazu ausgerechnet sein Land benutzt. Meine Warnungen wurden ignoriert und darüber gelacht. Es sind eben dumme Menschen. Viel mehr konnte ich nicht tun, zumal Razi sich weigerte mit mir zu reden“, erklärte Bjarki und begrüßte Gerry.
„Glauben Sie, dass wir mit Verletzten oder Toten rechnen müssen?“, erkundigte der Arzt sich jetzt.
Bedauernd schüttelte der Elfenbeauftragte den Kopf, es war alles möglich. Der Troll hatte die beiden Frauen ins Haus gezerrt und seit dem gab es keine Neuigkeiten über den Zustand der Entführten.
David sah dem Mann noch einmal in die Augen und stellte fest, dass auch er zu den magischen Wesen gehörte. Das erklärte natürlich einiges, zumal man in seinen Pupillen deutlich sehen konnte, dass er ein Elf war.
„Gut, dann wollen wir mal schauen, ob er mit uns redet“, bemerkte der Werwolf und straffte die Schultern.
„Hol schon mal deine Tasche, sollten wir zu den Opfern durchkommen, wirst du sie bestimmt brauchen“, befahl der Wolf leise.
Gerry teilte diese Einschätzung und nickte leicht, anschließend ging er zum zweiten Geländewagen rüber.
Kurz darauf standen sie vor dem Wohnhaus des Hofes und atmeten noch einmal tief durch. Patrick hatte die Arme vor der Brust verschränkt, für ihn gab es hier keine Aufgabe. Nur für den Fall, dass der Troll auf einen Kampf aus war, hielt er sich bereit.
„Brian, Logan und Patrick gehen zur Hintertür. Versucht sie so leise wie möglich zu knacken. Emily öffnet uns die Vordertür, anschließend werde ich mit ihm sprechen“, erklärte David im Flüsterton.
Gerry sah ihn fragend an.
„Willst du nicht vorher mit ihm reden? Immerhin schützt uns alle eine Hauswand vor ihm“, bemerkte er ruhig.
„Ich glaube kaum, dass er darauf reagiert, außerdem möchte ich unseren kleinen Vorteil nutzen. Sobald er weiß, dass wir es auf ihn abgesehen haben, wird er versuchen zu fliehen oder kämpfen. Vielleicht können wir ihn so überrumpeln und er redet mit uns“, hielt David dagegen.
„Du meinst, er hätte uns bisher übersehen? Das halte ich für ein Gerücht. Dafür sind wir viel zu dicht herangefahren“, wies Logan ihn auf das Offensichtliche hin.
Wieder überlegte der Anführer und seufzte unhörbar.
„Natürlich weiß er, dass wir hier sind, aber er rechnet nicht damit, dass wir die Türen aufbrechen. Und ich denke, wir können ihn so ablenken, dass Gerry sich um die beiden Frauen kümmern kann“, erklärte er.
Seine Freunde nickten verstehend, es gab immer Vor- und Nachteile bei so einem Vorgehen.
Leise schlichen sie sich zu der Haustüre und Emily zog ihr Werkzeug hervor. Das Schloss war keine Herausforderung für sie, sodass sie kurz darauf in einen kleinen Flur blicken konnten.
„Gut gemacht, Kätzchen“, lobte David sie mit einem Leuchten in den Augen.
Er war verdammt stolz auf seine Gefährtin, doch schnell konzentrierte er sich wieder auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Mit einer Handbewegung scheuchte er Emily in eine Ecke, in der sie einigermaßen sicher war, dann nickte er Gerry und Patrick zu. Ein gezielter Tritt öffnete eine Zimmertür, hinter der sie gedämpfte Stimmen hörten.
„Entschuldigung, ich hoffe, ich störe nicht“, bemerkte er in der universellen Sprache der magischen Welt.
Sofort drehte der riesige Troll sich herum und sah ihn wütend an, doch David hob beschwichtigend die Hände.
„Ich bin nur hier, um nach dem Rechten zu sehen“, teilte er ihm mit.
„Sie wollen mich gefangen nehmen, obwohl ich derjenige bin, der bestohlen wurde“, grollte der Kerl und seine Augen glühten rot vor Wut.
Der Troll war zwei Meter zwanzig groß, seine Haut glich dunkelbraunem Leder und Hauer ragten aus seinem Mund, dabei zierte sein Gesicht etliche Falten, was nichts über sein Alter aussagte.
„In erster Linie möchte ich wissen, was geschehen ist und ob es den beiden Frauen gut geht“, stellte der Werwolf richtig.
Es war ein Wunder, dass überhaupt ein Gespräch zustande gekommen war, aber er wertete es als positives Zeichen.
„Was passiert ist, kann ich Ihnen gerne erzählen. Ich besitze seit Urzeiten ein Stück Land unterhalb des Flusses. Und als ich gestern von einem Besuch bei meinen Eltern wiederkam, musste ich sehen, dass jemand eine Halle darauf gebaut hatte“, stieß der Troll grollend hervor.
Gerry versuchte einen Blick auf die beiden Opfer zu erhaschen, doch der Körper des Kerls war zu groß, er verdeckte alles.
„Geht es den Frauen gut? Sie können nichts dafür“, mischte sich der Arzt besorgt ein.
Wieder ertönte ein wütendes Schnauben und David schüttelte leicht den Kopf, damit sein Kumpel sich zurückhielt. Die Situation war mehr als explosiv.
„Die Menschen gehen mich nichts an, doch ich bin kein Mörder“, bemerkte der Troll, allerdings runzelte er sorgenvoll die Stirn.
„Darf ich nach ihnen sehen?“, wagte Gerry sich weiter vor.
Einen Moment sah man, wie er überlegte, dann stimmte er vorsichtig zu.
„Aber nur du und die restlichen Soldaten verlassen so lange das Gebäude. Auch die, die durch die Hintertür gekommen sind“, verlangte er.
Gerry nickte deinem Boss zu und trat einen Schritt in Richtung des Trolls, dabei war ihm alles andere als wohl. Er hatte gegen dieses Bollwerk aus Kraft und Wut keine Chance.
„Ich vertraue darauf, dass meinem Mann nichts passiert“, bemerkte David, ehe er seine Gefährtin an sich zog und das Haus verließ.
Logan hatte ihn gehört und schloss bereits die Tür, dann ging er um das Gebäude herum.
„Denkst du, es ist klug, Gerry mit diesem Monster alleine zu lassen?“, wollte Emily gerade wissen, als der Rest um die Ecke bog.
„Er muss nach den Frauen sehen, danach können wir überlegen, wie wir vorgehen, denn ich glaube nicht, dass der Troll freiwillig mitgeht“, erklärte David ruhig.
Der Elfenbeauftragte trat zu ihnen und sah die Einheit mit großen Augen an.
„Razi hat jemandem erlaubt, im Haus zu bleiben? Damit hätte ich niemals gerechnet“, murmelte der Mann.
Sofort besaß er die Aufmerksamkeit aller.
„Wieso ist es eine solche Überraschung?“, wollte Logan wissen.
„Er ist sehr misstrauisch und vorsichtig. Bisher hat er niemanden in seiner Nähe geduldet, mit Ausnahme seiner eigenen Sippe“, antwortete Bjarki.
Verstehend nickte David und ein ungutes Gefühl beschlich ihn, dabei hoffte er, dass er keinen Fehler gemacht hatte.

~~°~~

Gerry ging langsam auf die Frauen zu, die im hinteren Teil des Zimmers auf einer Couch kauerten. Er spürte den Troll in seinem Nacken, aber jetzt war es einfach wichtiger, sich um die zwei Opfer zu kümmern.
Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, beide zu betäuben und dem Kerl einzureden, dass sie gestorben seien, doch dann entschied er sich dagegen. Gerade die isländischen Trolle besaßen einen ausgezeichneten Geruchssinn, er würde es riechen und es wäre fatal ihn zu unterschätzen.
„Geht es Ihnen so weit gut?“, wollte der Arzt leise wissen, als er bei den Frauen ankam.
„Nein, meine Freundin ist bewusstlos und ich habe fürchterliche Angst. Was ist das? Bitte holen Sie uns hier raus“, flüsterte die Blondine erstickt.
Erst jetzt sah Gerry, dass die zweite Person blass und mit geschlossenen Augen auf dem Sofa zusammengesunken war.
„Ganz ruhig, wir sind da, um Ihnen zu helfen, aber Sie müssen die Nerven behalten“, raunte er zurück.
Vorsichtig schob er die Frau zum Ende der Couch, dann hob er ihre Freundin auf seine Arme und legte sie auf der Sitzfläche ab. Routiniert prüfte er den Puls, hob ihre Augenlider an und hörte auch ihr Herz ab.
„Was ist passiert, dass sie bewusstlos ist?“, wollte er jetzt von dem Troll wissen.
„Sie hat geschrien und nicht mehr aufgehört. Ich habe ihr gesagt, dass sie still sein soll, aber sie reagierte gar nicht. Erst als ich ihr den Mund zuhielt, war sie ruhig“, antwortete er.
Der Herzschlag der Patientin war kraftvoll und gleichmäßig, ebenso gab es keine Auffälligkeiten in ihrem Puls, doch das würde der Arzt erstmal für sich behalten.
Gerry sah der Blondine noch einmal in die Augen, zwinkerte ihr zu, dann wandte er sich wieder an den Troll.
„Ich muss sie sofort in ein Krankenhaus bringen. Hier ist es unmöglich herauszufinden, warum sie nicht mehr aufwacht“, verlangte er energisch.
Augenblicklich schüttelte Razi wild den Kopf.
„Auf keinen Fall, ohne die Geiseln nehmt ihr mir mein Land und ebenso meine Freiheit weg“, brüllte er aufgebracht.
Gerry hielt ihm stand, während die blonde Frau sich ganz klein machte und leise wimmerte.
„Im Moment hast du eine Chance. Du weißt, unsere Gesetze sind anders, als die der Menschen. Es ist nichts Schlimmes passiert und es gibt kaum Zeugen, außer den beiden Entführten“, führte er ihm vor Augen.
Wie gut, dass sie in einer Sprache miteinander kommunizierten, die das Opfer weder kannte noch verstand. So brauchte er keine Rücksicht zu nehmen, was er sagen konnte und was er besser für sich behielt. Immerhin wollte er sie beruhigen und keinesfalls weiter verängstigen.
„Du willst mir erzählen, dass das Gericht über diese Entführung hinweg sieht oder?“, erkundigte der Troll sich in dem Augenblick spöttisch.
„Nein, wegsehen wird bestimmt niemand, aber ich glaube kaum, dass es auf eine Haftstrafe hinausläuft. Dummerweise bin ich kein Richter oder Rechtsanwalt“, bemerkte Gerry im Plauderton.
„Geh jetzt, ich muss nachdenken“, verlangte Razi.
Der Arzt stand auf und sofort klammerte sich die Blondine an ihn.
„Bitte bleiben Sie. Lassen Sie mich nicht mit diesem Monster alleine“, rief sie panisch.
Sanft streifte Gerry ihre Hand von seinem Arm, dabei sah er ihr tief in die Augen.
„Ich bin ganz in der Nähe. Versprochen, meine Einheit steht direkt vor der Tür“, murmelte er.
Wild schüttelte sie den Kopf, sah ihn so flehend an, dass er Mitleid bekam und stehen blieb. Es gab noch keinen Weg sie mitzunehmen, das würde der Troll bestimmt nicht Fall zulassen.
„Ich habe gesagt, dass du jetzt gehen sollst“, knurrte Razi, doch in dem Moment klammerte sich die Blondine erneut an Gerrys Arm.
„Es tut mir leid, aber so wie es aussieht, wird sie mich kaum freiwillig loslassen. Allerdings könnte ich ihr ein Beruhigungsmittel geben, damit sie schläft, bis wir zurückkommen. Und glaub mir, wir kommen wieder“, antwortete der Arzt ruhig.
Einen Augenblick überlegte der riesige Kerl, anschließend nickte er zustimmend, alles war besser, als eine schreiende, hysterische Frau um sich zu haben.
„Ich werde Ihnen etwas injizieren, dann können Sie schlafen. In dieser Zeit wird er Sie auf jeden Fall in Ruhe lassen“, erklärte Gerry der Blondine.
Vorsichtig stimmte sie ihm zu und sah ihn noch einmal flehend an. Schnell nahm er ein Medikament, eine Spritze und eine Kanüle aus seiner Tasche, zog das Beruhigungsmittel auf und desinfizierte ihren Arm. In dem Augenblick, als der Troll wieder knurrte, setzte er ihr die Spritze.
Wie erwartet dauerte es nur ein paar Minuten und die Frau schlief ein, erst jetzt verließ der Arzt das Haus.

~~°~~

Lea seufzte leise, als sie ihre Reisetasche von der rechten Schulter auf die linke schob. Ihre Schuhe waren für diese Wanderung nicht so sonderlich gut geeignet, aber was blieb ihr anderes übrig. Ihre langen braunen Haare hingen ihr nass ins Gesicht und der Regen durchweichte bereits ihre leichte Sommerjacke. Natürlich hatte sie keine passende Kleidung dabei, um bei schlechtem Wetter stundenlang durch die Gegend zu wandern. Dorian lehnte ausgiebige Fußmärsche kategorisch ab und außerdem war es erst Anfang September, da rechnete sie kaum mit Dauerregen. Ein Fehler, den sie jetzt ziemlich bereute.
Mittlerweile war es dunkel geworden, sodass sie öfter über die Unebenheiten am Boden stolperte. Wie gerne wäre sie einfach geflogen, nur das kam auf keinen Fall in Frage. Solange irgendein Mensch sie sehen konnte, musste sie auf diese Fähigkeit verzichten. Sie wollte nicht mal daran denken, was man mit ihr machen würde, wenn man hinter ihr Geheimnis käme. Außerdem gab es in der magischen Welt ebenso Gesetze, an die man sich besser hielt. Eins davon besagte, dass man die Gesellschaft zu schützen hatte, in dem man niemals einen Außenstehenden einweihte. Natürlich gab es Ausnahmen, aber auch da gab es klare Regeln.
Lea stolperte weiter, dabei überlegte sie fieberhaft, wo sie die Nacht verbringen sollte. Es war für sie kein Problem ohne Schlaf auszukommen, nur ihre Füße taten weh und die Vorstellung in Dublin herumzulaufen, bereitete ihr Kopfschmerzen.
Sie blieb einen Moment am Straßenrand stehen, stellte die Tasche ab und leuchtete mit dem Smartphone hinein, vielleicht konnte sie ein Tuch finden, was sie über ihren Kopf binden wollte. Schnell schob sie die Sachen auseinander und bemerkte, dass ihre Kleider zu allem Überfluss feucht waren. Der Stoff der Reisetasche hielt dem Regen nicht länger stand, zumal sich der anfängliche Nieselregen zu einem echten Landregen ausgewachsen hatte. War ja klar, wenn irgendetwas schief ging, dann richtig.
Müde, verletzt und traurig schloss sie die Tasche wieder und setzte ihren Weg fort. Sie fror und fühlte sich elend. Die Abscheu in Dorians Augen verfolgte sie bei jedem Schritt, was ihr das Herz zerriss.
Wieso benahmen die Menschen sich so? Sie hatte keinem was getan, ganz im Gegenteil. Immer war sie zur Stelle, half, wo sie konnte, benutzte ihre Fähigkeiten, von denen niemand etwas wissen durfte, und spendete Trost an alle, die ihn brauchten. Aber wo steckte ihr Beistand? Wo bekam sie Hilfe und Unterstützung, jetzt da sie diese dringend benötigte?
„Bitte, helft mir“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen, dabei hob sie noch einmal den Kopf zum Himmel.
Langsam ging sie weiter, stolperte mehr als sie lief und versuchte die Tränen unter Kontrolle zu bekommen. Egal wie sehr ihre Gefühle für Dorian abgenommen hatten, diese Ablehnung tat ihr unheimlich weh.
Endlich erschienen die ersten Häuser von Dublin und Lea atmete erleichtert auf. Vielleicht fand sie einen Ort, an dem sie in Ruhe nachdenken konnte, ohne dass der Regen sie durchnässte. Nach einer ganzen Weile, die sie durch die Vorstadt gewandert war, erreichte sie eine Bushaltestelle. Hier stellte sie erschöpft ihre Tasche ab und setzte sich auf die Bank.
Wollte sie wirklich nach Deutschland zurück? Dort wartete weder eine Wohnung, noch Freunde, ein Job oder Geld auf sie. Doch wie sah die Alternative aus? Würde sie in Irland einen Arbeitgeber überzeugen können, dass der sie ohne Papiere anstellte? Vor allem musste sie jemanden finden, der sie einstellte, bevor er ihre Zeugnisse gesehen hatte.
Natürlich konnte sie von Dorian die Herausgabe ihrer persönlichen Sachen fordern, aber ob er sich darauf einließ, stand auf einem völlig anderen Blatt. Außerdem stellte es ein ernstes Problem dar, nach Deutschland zu kommen und irgendetwas in ihr sagte ihr, dass das eine ganz dämliche Idee war.
Auf ihre Intuition war schon immer Verlass, also beschloss sie, erst einmal in Irland zu bleiben und sich nach einem Job umzuhören. Zu dumm, dass sie nur diese Empfindungen hatte und nicht wirklich die Gabe hatte, in die Zukunft zu sehen.
Einen Moment lang schloss sie die Augen, horchte tief in sich hinein und ihr Gefühl bestätigte ihr erneut, dass sie ihr Glück hier versuchen sollte. Sie wusste aus einigen Berichten, dass die Dublin Simon Community an vielen Stellen in der Stadt Essen verteilten und den Obdachlosen half, eine Wohnung zu mieten. Zumindest musste sie so keinesfalls verhungern und vielleicht hatte diese Gruppe ja auch einen Schlafsack für sie.
Ein wenig aufgemuntert griff sie nach ihrer Tasche und machte sich auf den Weg, denn die Hilfe fand sie wohl kaum in der Vorstadt, sondern eher im Stadtzentrum.
Ihre menschliche Gestalt besaß etliche Kilos zu viel, die ihr jetzt auf den letzten Metern ins Zentrum von Dublin schmerzlich bewusst wurden. Sie selbst bezeichnete sich nicht als fett, aber es gab schon einige Polster an Bauch und Hüfte, auf die sie lieber verzichtet hätte. Außer Atem stellte sie die Reisetasche immer wieder kurz ab, ehe sie endlich die Abbey Street erreichte. Natürlich war es längst zu spät und von den freundlichen Helfern sah sie niemanden. Dafür gab es jede Menge ausgelassen feiernde Touristen, die in Strömen auf den Temple Bar Bezirk zu liefen.
Seufzend ging Lea weiter, irgendwie musste sie die Nacht herum bekommen, dabei hoffte sie, dass der Regen langsam aufhörte. Sie war mittlerweile nass bis auf die Haut und in ihrer Tasche befand sich auch nichts Trockenes mehr.
Auf der Rosie-Hacket-Brücke ließ sie sich müde auf eine der Steinbänke fallen. Ihr taten die Füße weh und sie war hundemüde. Einen Moment wollte sie sich ausruhen und dann sehen, ob sie ein trockeneres Plätzchen fand. Die Aussicht eine Nacht lang bei dem Wetter auf dieser Bank zu sitzen, war alles andere als schön.
Nachdenklich starrte sie auf den Liffey, als ob sie dort die Lösung ihrer Probleme finden würde. Aber leider zeigte der Fluss ihr auch keinen Ausweg.
Zwei junge Mädchen setzten sich neben sie, dabei unterhielten sie sich lautstark.
„Wenn ich dir doch sage, die Soldaten von Ballygannon sind immer mal wieder im Hogans. Mein Bruder arbeitet da als Barkeeper“, bemerkte die eine aufgeregt.
Sie hatte pink gefärbte Haare, war sehr schlank und schätzungsweise gerade mal achtzehn Jahre alt. Ihre Augen blitzten begeistert auf, als sie von diesen Typen erzählte.
„Ich hab schon so viel von denen gehört, nur ob das alles wahr ist? Die sollen da oben ein spezielles Krankenhaus mit zugehörigem Pflegeheim betreiben, aber keiner weiß wen sie dort behandeln“, entgegnete jetzt ihre Freundin skeptisch.
Auch sie hatte die Haare gefärbt, allerdings leuchteten sie bei ihr in einem kräftigen Gelb. Sie hielt einen Schirm über beide Frauen und schien ein wenig älter zu sein.
„Du meine Güte, bei den Kerlen kann es uns doch egal sein, was die in ihrem Krankenhaus treiben. Ich will Spaß haben, solange ich noch jung genug dazu bin“, wischte die Pinkfarbene die Argumente zur Seite.
„Ich würde nicht mal da arbeiten, wenn sie mir den doppelten Lohn zahlen. Die sind unheimlich und es wird erzählt, dass dort Experimente an Menschen durchgeführt werden. Wer weiß, was diese Typen überhaupt darstellen, bestimmt sind das Mutanten“, stieß die zweite Frau hervor und schüttelte sich.
Lea hörte aufmerksam zu, ihr war es ziemlich egal, was diese Männer waren, zumal sie ja wusste, dass es mehr als nur menschliche Wesen auf der Welt gab. Doch vielleicht bekam sie bei diesen Soldaten einen Job. Wenn die Gerüchteküche so brodelte, würden die Leute ihnen wohl kaum die Tür einrennen.
„Entschuldigt, könnt ihr mir sagen, wo ich das Hogans finde? Ich wollte mich dort mit meinem Bekannten treffen, aber ich habe mich hoffnungslos verlaufen“, sprach Lea die beiden Mädchen an.
Sofort wandten sie sich ihr lächelnd zu und erklärten ihr hilfsbereit den Weg. Dann standen sie auf und liefen in Richtung der Temple Bar los.
Lea überlegte nicht lange, sonder machte sich ebenso auf den Weg. Je eher sie einen Job bekam, desto besser. Außerdem hatte sie die Nase voll davon, im Regen auf der Brücke zu hocken.
Eine gute Viertelstunde später fand sie den Pub, nur half ihr das kaum weiter, denn sie wusste ja nicht mal, wie die Männer aussahen. Lea stellte seufzend ihre Reisetasche neben sich ab und sah auf das Gebäude vor sich. Sie konnte ja schlecht jeden Kerl ansprechen, bei dem sie vermutete, dass er zu den Soldaten gehörte. Zu dumm, dass die beiden Mädchen kein Wort darüber verloren hatten, allerdings mussten diese Typen sie ja schwer beeindruckt haben, so wie die Jüngere ins Schwärmen geraten war.
Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen, so ging sie auf die gegenüberliegende Straßenseite, legte ihre Tasche auf den Boden und setzte sich darauf. Hier saß sie halbwegs geschützt, die Kneipe lag direkt vor ihr und zur Not würde sie an dieser Stelle die Nacht verbringen können.
Die nächsten Stunden schienen gar nicht mehr zu enden, die Zeit zog sich und Lea nickte ein. Ihr fiel es schwer, die Hoffnung beizubehalten, außerdem kamen Zweifel an ihrer Entscheidung auf. Endlich schlief sie doch ein.

~~°~~

Gerry verließ zügig das Haus und ging zu seiner Einheit rüber, die ihn schon erwartungsvoll ansah.
„Die beiden Frauen sind so weit ich es beurteilen kann gesund. Die eine ist bewusstlos, aber ihre Vitalwerte waren in Ordnung. Der anderen hab ich nach Absprache mit dem Troll ein Beruhigungsmittel gespritzt, sie wird eine ganze Weile schlafen“, berichtete er und sah in die neugierigen Gesichter von Logan und David.
„Und?“, erkundigte sich der Werwolf ungeduldig.
Irritiert sah der Luchs seinen Boss an, bis ihm klar wurde, was der von ihm wissen wollte. Genervt verdrehte er die Augen und schüttelte leicht den Kopf.
„Es ist eine Vermutung und keine Tatsache. Aber nein, diese Damen gehören bestimmt nicht in mein Leben“, knurrte Gerry, dann drehte er sich um und verstaute seine Tasche erstmal im Geländewagen.
„Der Troll meinte, er müsse nachdenken und hat mich mehr oder weniger rausgeworfen“, beendete der Arzt seinen Bericht, als er wieder zu seinem Boss trat.
David rieb sich müde über das Gesicht, so wie es aussah, gab es keine schnelle Lösung. Sie mussten diesen Kerl irgendwie überrumpeln, denn ein Kampf war nur der allerletzte Ausweg.
„Wir haben für sie Zimmer in der Stadt reserviert“, bemerkte Bjarki jetzt freundlich.
„Danke, ich denke, wir sollten uns zurückziehen und in Ruhe überlegen, wie wir vorgehen können“, stimmte der Wolf ihm zu.
Der Elfenbeauftragte beschrieb ihnen den Weg, dann verabschiedete er sich, nachdem er ihnen seine Visitenkarte mit seiner Telefonnummer gegeben hatte, falls sie ihn brauchten.
Kurz darauf saßen sie in einer kleinen Pension und überlegten, wie man den Troll überreden könnte, seine Gefangenen laufen zu lassen. Anschließend sollten sie ihn irgendwie einsperren, damit er nicht loszog, um neue Touristen einzufangen. Ihn mit nach Irland zu nehmen, war keine Option, da sie ihn niemals durch den Zoll oder überhaupt über die Grenze bekamen.
Was nach der Gefangennahme mit ihm passierte, war Gott sei Dank nicht ihr Problem. Aber das was vor ihnen lag, reichte absolut, denn einen Troll wegzusperren ohne das dieser sich wehrte, dazu musste man sich ziemlich geschickt anstellen.
Mittlerweile war Mitternacht vorbei, die Stimmung fiel mit jeder Minute. Emily schaffte es kaum noch, die Augen aufzuhalten. Sie hatte schon zwei Mal mit Joleen telefoniert, die sich bereit erklärte auf ihren Sohn Billy aufzupassen. Ihr machte es jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich nicht selbst um ihn kümmern konnte, obwohl er sich in den besten Händen befand.
David legte einen Arm um ihre Schultern und sie zuckte leicht zusammen, da sie übersehen hatte, dass er aufgestanden war.
„Wir gehen besser schlafen. Heute fällt uns bestimmt nichts Brauchbares ein. Morgen reden wir mit Bjarki, hier in diesem dünn besiedelten Land, sollte es doch eine Möglichkeit geben, einen Troll halbwegs gut unterzubekommen“, ordnete der Werwolf an.
Der Rest stimmte ihm nur zu gerne zu, der Tag war wirklich lang und anstrengend gewesen. Schnell verabschiedeten sie sich und kurz darauf war Emily mit David alleine.
„Müssen wir ihn den unbedingt einsperren? Immerhin wehrt er sich nur. Jeder von uns wäre sauer, wenn man ihm seine Heimat oder sein Land wegnimmt“, bemerkte sie, als sie vor der Badezimmertür stehen blieb.
Nachdenklich sah der Wolf ihr hinterher, als sie die Tür hinter sich zuzog. Seine Wildkatze hatte Recht, vielleicht konnte man eine Wiedergutmachung an den Troll leisten und ihn so dazubekommen, dass er die Menschen in Zukunft in Ruhe ließ.
Die zwei Frauen kamen in ihr Krankenhaus. Dort würden die Ärzte den Teil der Erinnerung entfernen, der mit der magischen Gesellschaft zu tun hatte und die beiden Damen wären anschließend davon überzeugt, einen Reitunfall gehabt zu haben.
Gleich morgen wollte er mit einem der Richter sprechen, ob diese Idee eine Möglichkeit darstellte, oder ob eine Verhandlung wirklich nötig war. Dann sollten sie herausfinden, welcher Landstrich zum Tausch angeboten werden konnte. Dazu mussten sie mit Bjarki reden, er kannte sich bestens hier in Island aus.
Emily kam aus dem Badezimmer, in dem er jetzt verschwand, und lächelte vor sich hin. Auch wenn sie früher von Einbrüchen gelebt hatte, ertrug sie Ungerechtigkeiten nur sehr schlecht. Schnell schlüpfte sie unter die Decke, dabei seufzte sie erleichtert auf, denn der Tag war lang und anstrengend gewesen. David kam kurz darauf zu ihr und zog sie fest in seine Arme, ehe sie erschöpft einschliefen.

~~°~~

Am nächsten Morgen trafen sich die Söldner zum Frühstücken in einem großen Speisesaal, wo ihr Anführer ihnen Emilys Überlegungen mitteilte.
„Das könnte ein Weg sein, immerhin ist ja nicht wirklich was passiert. Um die beiden Frauen kümmern wir uns und außer Bjarki hat ja niemand etwas gesehen“, fasst Gerry die Situation zusammen.
„Dummerweise ist es nicht unsere Aufgabe darüber zu entscheiden. Ich werde gleich mit einem der Richter Kontakt aufnehmen und ihn fragen, ob er dieses Vorgehen genehmigt. Anschließend müssen wir uns mit Bjarki besprechen, er kennt die Insel am besten“, stoppte David weitere Mutmaßungen.
Natürlich wollten sie alle einen friedlichen Weg und keiner war darauf erpicht einen Troll gegen seinen Willen irgendwo festzuhalten. Doch in ihrer Gesellschaft musste das Gericht oder in dem Fall einer der obersten Richter die Sache entscheiden. Die Gestaltwandler besaßen ihre eigene Regierung, ebenso ihre eigene Rechtsprechung und Gesetze, an die sie sich zu halten hatten. David und seine Einheit stellten eine Art Polizeieinheit dar, die dafür sorgte, dass jedes Wesen die Regeln einhielten.
Nach dem Frühstück setzten sie sich in Davids Zimmer zusammen, dabei herrschte eine angespannte Stimmung, während ihr Anführer schnell eine Telefonnummer auf seinem Smartphone aufrief.
„Guten Morgen Eure Lordschaft. Es tut mir leid, dass ich störe, aber ich brauche eine Genehmigung. Es geht um den Troll, der zwei Frauen gefangen hat“, begann der Wolf, als sich jemand meldete.
Jedem war klar, dass er sich an den obersten Richter der magischen Welt wandte, denn nur ihm stand diese Anrede zu. Außerdem kannten sie den Erzdämon gut und wussten, dass er gerecht handelte.
„Wir konnten in Erfahrung bringen, dass er von den Menschen um einen Teil seines Landes gebracht wurde. Deshalb ist er natürlich wütend und wir möchten ihm gerne ein anderes Stück im Austausch anbieten, vorausgesetzt, dass er Ruhe gibt. Die beiden Frauen nehmen wir anschließend mit nach Ballygannon und überstellen sie ins Krankenhaus“, schlug David vor.
Die gesamte Truppe hielt die Luft an, wenn Ronwe jetzt zustimmte, könnten sie eventuell schon morgen nach Hause fliegen und entgingen dem Kampf mit dem Troll.
Ernst nickte der Anführer, während er dem Dämon zuhörte, dann hellte sich sein Gesicht auf.
„Vielen Dank Eure Lordschaft. Wir werden uns gleich darum kümmern und später Bericht erstatten“, damit verabschiedete der Werwolf sich.
„Er hat zugestimmt“, stieß er erleichtert hervor, als er das Gespräch beendet hatte.
Jeder in dem Raum atmete auf und die beiden Welpen grinsten breit. Jetzt mussten sie nur noch Razi überzeugen, dass er auf diesen Handel einging, dazu brauchten sie ein geeignetes Stück Land, das sie ihm anbieten konnten.
Kurz darauf rief David Bjarki an, der versprach, so schnell wie möglich bei ihnen zu sein.
Emily nutzte die Wartezeit, um sich bei Joleen zu melden. Auf keinen Fall wollte sie den Eindruck erwecken, dass sie ihren Sohn vernachlässigte. Das war auch der Grund gewesen, warum sie ihren Gefährten am Anfang ihrer Beziehung in den Wahnsinn getrieben hatte. Durch Davids Verhalten glaubte sie, dass er Kinder als störend empfand und sie verheimlichte ihm, dass es Billy gab. Immer wieder verschwand sie, um nach ihrem Kleinen zu sehen, der in dieser Zeit bei ihrem Bruder lebte. Als das Geheimnis aufflog, nahm der Wolf ihn als seinen Sohn an. Emily erinnerte sich noch zu gut an die Strafe, die darauf folgte, ihr Hintern hatte etliche Tage heftige Striemen aufgewiesen.
„Mama, stell dir vor, Joleen hat mir eine riesige Wasserpistole gekauft. Und von Ellie hab ich gestern eine extragroße Portion Eis bekommen“, erklang Billys helle Stimme kurz, nachdem sie ihre Freundin begrüßt hatte.
„Das ist toll, aber denk daran, dass du das Spielzeug nicht mit in den Kindergarten nimmst“, ermahnte Emily ihren Sohn.
Er maulte leise, beruhigte sich schnell wieder, besonders weil er zu gerne in den Kindergarten ging. Zu lange hatte er die Gesellschaft von Gleichaltrigen entbehren, da er auch ein Gestaltwandler war und seine Mutter nicht wusste, wie sie ihn auf diese Zeit vorbereiten sollte.
Gott sei Dank hatten Logan und David sich um das Problem gekümmert. Sie brachten ihm alle Regeln bei, die er wissen musste, und trainierten mit ihm, damit er seine speziellen Fähigkeiten unter Kontrolle bekam.
Mittlerweile verwandelte er sich nur noch in einen Marder, wenn er ganz sicher war, dass kein Mensch ihn sah. Meistens schloss er sich allerdings seinem Vater und seinen Freunden an, die mit ihm über die Wiese hinter dem Hauptquartier tobten.
„Billy, wir sollten los“, hörte Emily Joleens Stimme.
„Ich muss los Mama, gib Papa einen Kuss“, rief der Kleine, anschließend war die Leitung tot.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf, doch dann atmete sie tief aus. Ihr war es einfach wichtig, dass es ihm gut ging.
Grinsend lief sie zu David rüber, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und grinste ihn an.
„Von Billy“, erklärte sie.
Jetzt lachte auch ihr Gefährte, der den kleinen Knirps liebte, wie seinen eigenen Sohn.
Schnell zog er Emily an sich, doch genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Bjarki stand im Türrahmen.
„Guten Morgen die Herren, ihr braucht meine Hilfe?“, wollte er wissen.
Sofort rückte Patrick ihm einen Stuhl zurecht und deutete darauf.
„Ja, wir wollen dem Troll ein Stück Land zum Ausgleich anbieten. Dafür muss er allerdings versprechen keine Touristen mehr zu entführen“, kam David gleich zur Sache.
Bjarki runzelte die Stirn, dann nickte er langsam.
„Das könnte sogar klappen. Razi war die ganze Zeit nicht so glücklich, dass die Menschen ihre Häuser immer näher an seinem Gebiet bauten“, bemerkte er nachdenklich.
Patrick beamte eine Landkarte an die Wand, dazu benutzte er sein spezielles Smartphone, das er als Hacker besaß.
„Kannst du uns ein Stück Land zeigen, dass wir ihm anbieten können? Gibt es eine Fläche, die noch frei ist?“, wollte Logan wissen und alle sahen den Elfenbeauftragten erwartungsvoll an.
Aufmerksam ließ Bjarki seinen Blick über die Karte schweifen, bis er auf einmal breit lächelte. Daran hätte er sofort denken müssen.
„Es existiert sogar ein perfekter Ort für einen Troll. Hier in Ódáðahraun ganz in der Nähe des Vulkans Trölladyngja. Dort findet man nichts Interessantes für die Menschen, obwohl sie ab und zu durchreiten, aber das dürfte ihn kaum stören“, bemerkte er und deutete auf das entsprechende Gebiet.
„Und in dieser Wüste gehört auch keinem magischen Wesen das Land?“, hakte David noch einmal nach.
„Nicht dass ich wüsste. Die Gegend ist rau und unwirtlich, niemand außer einem Troll fühlt sich dort wirklich wohl“, antwortete Bjarki gutgelaunt.
Ihm war es ebenso lieber, wenn Razi zu seinem Recht kam und nicht irgendwo weggesperrt wurde.
„Gut, dann fahren wir jetzt zu dem Troll. Drück uns die Daumen, dass er auf den Handel eingeht“, befahl der Wolf.
Innerhalb von fünf Minuten saßen sie in den Geländewagen, die vor dem kleinen Hotel standen. Diesen Auftrag wollen sie gerne so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Die Fahrt zu dem verlassenen Hof dauerte fast eine Viertelstunde, die ihnen wie eine Galgenfrist vorkam. David sah Emily eindringlich an, als er den Wagen parkte.
„Du bleibst mit Patrick hier im Auto. Ich werde nur Gerry und Logan mitnehmen. Falls es doch zum Kampf kommt, brauchen wir euch vielleicht später“, bestimmte er.
Seine Gefährtin nickte stumm, sie hatte den Troll ja am Tag zuvor gesehen und war nicht sonderlich erpicht darauf, ihm erneut zu begegnen. Schon gar nicht, wenn er sich auch noch beleidigt fühlte.
David stieg aus und ging zusammen mit Logan zu Gerrys Geländewagen rüber.
„Brian, du hältst genau wie Emily und Patrick die Stellung, sollte ich euch brauchen, rufe ich euch. Gerry, deine medizinischen Kenntnisse benötigen wir auf jeden Fall, um die Opfer zu versorgen“, damit drehte der Werwolf sich zu dem Haus herum.
Zu dritt liefen sie zur Haustüre und klopften an. Zuerst herrschte Totenstille, dann hörten sie eine Frau völlig verängstigt um Hilfe schreien. Kurz darauf öffnete ein sichtlich genervter Razi die Tür.
„Sie schreit schon den ganzen Morgen“, teilte er Gerry mit, ohne die anderen Soldaten auch nur zu beachten.
„Das ist nur natürlich, sie hat Angst. Aber vielleicht können wir sie dir abnehmen“, schlug der Arzt ruhig vor.
Einen Moment überlegte der riesige Troll, ob es eine Falle war, doch bei den durchdringenden Schreien der Frau, konnte er keinen klaren Gedanken fassen.
„Wir sind hier, um dir einen Vorschlag zu machen, der die Situation löst“, mischte David sich jetzt ein.
„Zuerst muss sie jemand zum Schweigen bringen. Ich halte das nicht mehr aus“, bemerkte er gequält und sah auf Gerry.
Dieser nickte nur und schob sich durch die Tür ins Innere des Hauses, dabei ließ er Razi nicht aus den Augen. Die zwei Frauen saßen immer noch auf der Couch, doch dieses Mal blickten sie ihm beide völlig verängstigt entgegen. Als die Blondine ihn erkannte, hörte sie auf zu schreien und sah ihn flehend an.
„Bitte helfen Sie uns“, flüsterte sie dem Arzt zu.
„Wir sind hier, um sie herauszuholen, dafür muss allerdings Ruhe herrschen. Mit ihrem Geschrei machen Sie den Troll nur wütend“, bemerkte Gerry leise.
Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, auf keinen Fall wollte sie das Monster auch noch zornig erleben.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte er sich jetzt bei der zweiten Frau.
Diese nickte nur leicht, dabei war sie leichenblass und zitterte, aber immerhin war sie bei Bewusstsein.
„Bitte bleiben Sie ruhig und vor allem seien Sie still. Mit ein wenig Glück können wir Sie heute schon in unser Krankenhaus bringen, wo sie sich von dem Erlebnis erholen“, teilte er ihnen mit.
Razi sah zu der kleinen Gruppe über und man bemerkte deutlich, dass auch er aufatmete, weil die Frau nicht länger schrie. Aufmerksam sah er Gerry an.
„Was soll das heißen, dass ihr mir meine Geiseln nehmen wollt?“, knurrte er aufgebracht.
Beschwichtigend hob der Arzt die Hände und sah ihn eindringlich an.
„Bitte, wir wollen doch nicht, dass sie wieder einen hysterischen Anfall bekommt oder? David unser Boss wird dir alles erklären und ich denke, du wirst den Vorschlag begeistert annehmen“, beschwichtigte Gerry den Troll.
„Ich würde gerne bei den Frauen bleiben, während du zu meinen Leuten gehst und dir anhörst, was wir als Lösung anbieten können. Damit wir nicht verschwinden, kannst du die Tür ja offen lassen“, bat er ruhig.
Noch einmal sah der Troll ihn an, runzelte die Stirn, dann murmelte er etwas und ging nach draußen in den Flur, um sich den Plan der Gestaltwandler anzuhören.
David atmete tief durch, als Razi vor ihm stand, anschließend bot er ihm das Stück Land in der Missetäterwüste an.
„Wir würden dafür sorgen, dass die beiden Frauen die magische Welt vergessen. Im Gegenzug versprichst du niemanden mehr zu entführen und dich den Menschen nie wieder zu zeigen“, verlangte der Werwolf ernst.
Ungläubig sah der Troll ihn an, sein Gehirn arbeitete krampfhaft, was man an seinem Blick bemerkte. Irgendwo vermutete er einen Haken, aber er fand ihn nicht.
„Du meinst, es gibt keine Gerichtsverhandlung, weil ich die Geheimhaltung missachtet habe? Ich bekomme ein Stück Land am Fuße des Trölladyngja?“, fragte er nach.
„Ja, ich besitze die Genehmigung von Ronwe, dir den Handel vorzuschlagen. Natürlich lassen sie dir ebenso einen Vertrag zukommen, in dem schriftlich festgehalten wird, dass dir das Gebiet am Rande des Vulkans von diesem Moment an gehört“, bestätigte der Wolf.
Ein breites Grinsen glitt über Razis Gesicht, dann nickte er.
„Das ist genial. Allerdings werde ich erst bei Anbruch der Dunkelheit losziehen können“, erinnerte er den Gestaltwandler.
Das war David klar, denn der kleinste Sonnenstrahl würde den Troll in Stein verwandeln, deshalb blieb er auch jetzt immer im Haus, mied das Tageslicht.
„Das ist kein Problem. Wir nehmen die Frauen sofort mit und du verschwindest, sobald die Sonne untergegangen ist. Deal?“, erkundigte der Werwolf sich und hielt ihm die Hand hin.
Begeistert schlug Razi ein, ehe er die Tür etwas weiter öffnete, damit David und Logan hereinkommen konnten.
„So meine Damen, es ist Zeit hier aufzubrechen“, bemerkte Logan, als er an die Couch herantrat.
Gerry atmete auf, anschließend halfen sie den zwei Entführungsopfern aus dem Haus und in einen der Geländewagen.
„Wir sorgen dafür, dass Sie sicher nach Irland in unser Krankenhaus gebracht werden. Dort gibt es Spezialisten, die ihnen helfen das Erlebte zu verarbeiten“, erklärte der Werwolf ruhig.
Die beiden Frauen nickten nur erschöpft und sanken in den Polstern des Autos zurück.
„Wo sind ihre Sachen? Sie brauchen ihren Personalausweis und ihre Kleidung wollen Sie doch bestimmt noch abholen oder?“, erkundigte Logan sich jetzt, als er sich auf den Fahrersitz schwang.
David ging zum zweiten Geländewagen rüber, wo Emily auf ihn wartete. Gerry und Logan würden auch ohne ihn mit den Damen zurechtkommen.
Die Blondine nannte ihnen eine Adresse, die der Jaguar in sein Navi einprogrammierte. Zuerst wollten sie das Gepäck der beiden holen, anschließend mussten sie die Frauen mit in ihre Hotel nehmen. Von dort konnten sie klären, wie sie am schnellsten nach Hause kamen.
Der Hof, in dem die Touristinnen abgestiegen waren, lag ziemlich abseits und es dauerte fast eine Stunde, ehe sie ankamen.
Sofort kam der Besitzer heraus und versuchte die Opfer auszufragen, aber Gerry hielt ihn sanft zurück.
„Ich bin Arzt und wurde gerufen, als man die Zwei gefunden hat. Sie sind sehr erschöpft und müssen schnellstens ärztlich behandelt werden. So einen Unfall sollte man nicht unterschätzen“, erklärte er ihm eindringlich.
Der Mann nickte zustimmend, dabei sah man ihm an, dass er sich echte Sorgen um seine Gäste gemacht hatte.
Logan ging, um das Gepäck der Frauen zu holen, während Gerry sich den Fragen des Hofbesitzers stellte. Auf keinen Fall durften sie zulassen, dass die beiden Opfer mit irgendjemandem über ihre Entführung sprachen.
Endlich waren die Koffer verladen und sie machten sich auf den Weg zurück zum Hotel, in dem sie schon von David und Emily erwartet wurden.
„Wir müssen diese Nacht noch hierbleiben, ein Linienflug ist nicht zu bekommen und unsere Maschine ist gerade anderweitig unterwegs“, teilte der Werwolf ihnen mit.
Es gab schlimmere Nachrichten als länger in Island zu bleiben und so nickten die Männer nur. Auch die beiden Frauen freuten sich in erster Linie, dem Troll entkommen zu sein und ließen sich ohne weitere Fragen in ein Zimmer bringen. Gerry verabreichte ihnen jeweils eine Beruhigungsspritze, die sie sofort dazu führte, dass sie einschliefen.
Aufatmend zog er die Zimmertür hinter sich zu und setzte sich zu seinen Kameraden.
„Sie werden bis morgen durchschlafen und gegen Mittag können wir sie im Krankenhaus abgeben“, bemerkte er.
Die Anspannung war von ihnen abgefallen und Scherzworte flogen schon wieder durch den Raum. Die ganze Sache hatte ein besseres Ende gefunden, als sie dachten und jeder Einzelne atmete auf.

~~°~~

Die ersten Sonnenstrahlen weckten Lea und sie sah sich benommen um. Dass sie wirklich auf der Straße schlafen konnte, hätte sie nie gedacht.
Langsam rappelte sie sich auf, gestern Abend war niemand in der Kneipe gewesen, der nur annähernd nach Soldat ausgesehen hatte. Wer wusste schon, was der Bruder dieses Mädchen für Märchen erzählte. Zitternd rieb sie sich über die Arme, ihre Kleidung war immer noch feucht und mit einem Blick in ihre Tasche bemerkte sie, dass auch die restlichen Sachen nicht besser aussahen. Ihr Smartphone zeigte außerdem einen schwachen Akku an, wenn etwas schief ging, dann richtig.
Müde, einsam und traurig überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie musste unbedingt neue Papiere beantragen, denn ohne einen Personalausweis würde sie kaum eingestellt werden.
In einem Büro der Touristeninformation bekam sie einen Stadtplan, sodass sie das Handy erstmal ausschalten konnte. Seufzend schätzte sie die Entfernung zur Botschaft ab und stellte fest, dass ihr ein langer Fußmarsch bevorstand. Nur nutzte es alles nichts und so machte sie sich auf den Weg.
Leas restlicher Tag verlief mehr als unerfreulich. An einer Bushaltestelle ruhte sie sich eine ganze Zeitlang aus, dabei überlegte sie, ob es klug war jetzt schon den Weg auf sich zu nehmen, um ihre Papiere zu beantragen. Aber es aufzuschieben war auch keine Alternative. Sie müsste es früher oder später doch tun und so hatte sie wenigstens eine Beschäftigung.
Der Weg bis zur Botschaft zog sich ziemlich in die Länge und sie war immer öfter gezwungen die Tasche abzusetzen, an der sie ihren Schlafsack angeknotet hatte. Ihre Füße taten weh, die Müdigkeit machte ihr zu schaffen und zu allem Überfluss regnete es wieder. Sie brauchte über eine Stunde, ehe sie den Bezirk erreichte, in dem das Amtsgebäude zu finden war.
Außerdem dachte sie an ihre Freundinnen, die sie früher mal gehabt hatte. Doch durch ihren Schichtdienst entfremdeten sie sich immer weiter. Als sie Dorian kennen lernte, kam auch noch die Pflege seiner Mutter hinzu und sie hatte gar keine Zeit mehr ihre Freundschaften aufrecht zu halten.
Sich in dieser Situation bei den Frauen zu melden, fühlte sich völlig falsch an, und wenn sie ehrlich war, schämte sie sich sie um Hilfe zu bitten. Was sollte sie ihnen denn sagen, warum ihr Freund sie in Irland ausgesetzt hatte? Jede Zelle in ihr sträubte sich, den Kontakt gerade jetzt wieder aufzunehmen.
Irgendwie hatte sich alles gegen sie verschworen, doch endlich kam sie an dem nüchternen Gebäude an. Einen Moment sah sie eingeschüchtert an dem großen Tor hoch, dann holte sie tief Luft und versuchte es zu öffnen, aber es rührte sich nicht. Mittlerweile war sie komplett durchnässt, fror erbärmlich und zu allem Überfluss war sie auch noch völlig erschöpft.
Mit Tränen in den Augen setzte sie sich vor das Tor und wartete, zu müde, um sofort den Rückweg anzutreten.
Etliche Menschen versammelten sich jetzt vor dem Eingang und Lea war gezwungen, wieder aufzustehen. Zusammen mit den anderen stand sie vor dem Zaun und hoffte, dass sie endlich hereingelassen wurden.
Erst am frühen Nachmittag erschien ein Mann, der das Tor aufschloss und sie in einen kleinen Warteraum ließ. Es war eng und durch die vielen Leute stank es, zum Gott erbarmen.
Lea drückte sich an eine Wand und versuchte sich irgendwie zu orientieren. Aber es gab wohl nur diesen einen Raum und so reihte sie sich in der Schlange ein, damit sie am Schalter ihr Anliegen vorbringen konnte.
Wieder musste sie eine gefühlte Ewigkeit warten, dann stand sie vor einem mürrischen Angestellten, der nicht mal aufblickte.
„Ich bin bestohlen worden und brauche einen neuen Ausweis“, brachte sie leise hervor.
Jetzt sah der Beamte auf und seufzte genervt.
„Sie müssen sich telefonisch anmelden“, ranzte er sie an.
„Es tut mir leid, aber mein Handy hat keinen Strom mehr. Ich habe kein Geld, weil mir alles gestohlen wurde. Ich bin seit zwei Tagen in Dublin und musste den ganzen Weg bis hierher zu Fuß gehen. Bitte helfen Sie mir doch?“, bat sie vorsichtig.
Wieder traf sie ein Blick voll Abscheu und der Mann verzog geringschätzig das Gesicht.
„Wo kommen wir denn hin, wenn wir ständig Ausnahmen machen? Außerdem sind uns die Hände gebunden, da Sie weder die Gebühren zahlen können, noch haben Sie die erforderlichen Unterlagen. Sie benötigen Passbilder, ein Anzeigenprotokoll der Polizei und einen Identitätsnachweis, sonst könnte ja jeder behaupten, er sei deutscher Staatsbürger. Und jetzt gehen Sie zur Seite, da gibt es andere Leute, die ihre Ausweise abholen wollen“, damit scheuchte er sie weg.
Verwirrt und traurig sah sie ihn erneut an, dann schob sie sich durch die Menge nach draußen. Diesen Weg war sie völlig umsonst gegangen. Wie sollte sie denn mittellos, ohne die nötigen Papiere und mit einem Smartphone, das kaum noch geladen war, einen Termin vereinbaren und einen Pass beantragen?
So wie es aussah, hatte sie im Moment überhaupt keine Wahl, sie musste in Irland bleiben, zumal sie ja nicht mal in der Botschaft auf Hilfe hoffen konnte. Seufzend machte sie sich auf den Weg zurück in die Hauptstadt. Welche Alternative gab es sonst für sie? Der Regen durchnässte sie bis auf die Knochen und ihre Sachen in der Tasche blieben auch dieses Mal nicht verschont. Die ganze Lauferei hatte ihr allerdings so weit geholfen, dass es fast Abend war, als sie endlich wieder in der Nähe des Hogans ankam. So brauchte sie keine Möglichkeit zu finden, um die Zeit totzuschlagen. Zu ihrem Glück verteilten einige Helfer in einer Seitenstraße eine heiße Suppe an die Obdachlosen, schnell schluckte sie ihren Stolz herunter und stellte sich an. Ihr Magen zog sich schon schmerzhaft zusammen und sie hatte einen enormen Durst.
Nachdem sie halbwegs satt war, bedankte sie sich noch einmal bei den Leuten, dann ging sie zu ihrem Platz gegenüber des Pubs. Am nächsten Morgen wollte sie unbedingt zur Obdachlosenhilfe gehen, vielleicht konnten man ihr dort helfen.

Kapitel 2 - Vom Pech verfolgt

 

Auch an dem Abend hatte sie kein Glück, es kamen nur wenige Gäste und niemand erweckte den Eindruck, ein außergewöhnlicher Soldat zu sein. Ihr Mut sank, aber was blieb ihr anderes übrig, so wie es im Moment aussah, waren diese Söldner ihre einzige Chance.
Erschöpft von der unbequemen Nacht und ziemlich durchgefroren machte sie sich am nächsten Morgen auf den Weg zur Obdachlosenhilfe. Sie fand zwar das Büro, doch man erklärte ihr, dass sie als deutsche Staatsbürgerin zur Botschaft gehen solle.
„Das habe ich gestern versucht und man hat mich einfach weggejagt. Ich brauche einen Identitätsausweis, Geld und ein Anzeigenprotokoll der Polizei, keins dieser Papiere kann ich vorlegen. Man hat mir alles gestohlen bis auf die Tasche hier und es gibt niemanden in meiner Heimat, der mich irgendwie unterstützen könnte“, berichtete sie leise und völlig verzweifelt.
„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich möchten wir helfen, aber Sie erhalten viel schneller Hilfe, wenn Sie sich noch einmal an die Botschaft wenden. Außerdem benötigen Sie einen Ausweis, sonst werden Sie keinesfalls nach Deutschland zurück können“, erklärte die freundliche Mitarbeiterin ihr.
„Das weiß ich ja, nur wie soll ich das bewerkstelligen? Ich hab ja kein Geld, um die Gebühren zu zahlen und einen Identitätsnachweis bekomme ich hier auch nicht“, hielt Lea ihr entgegen.
Die Angestellte verstand sie zu gut. Aber die Mitarbeiter der Obdachlosenhilfe bekamen täglich die verschiedensten Geschichten zu hören und eine Touristin, die in ihrem Umfeld überhaupt niemanden hatte, der ihr half, war mehr als unglaubwürdig. Außerdem sah die Frau jetzt schon aus, als ob sie seit Tagen auf der Straße leben würde. Es gab darüber hinaus feste Regeln, was sie an Geldmitteln an die Leute rausgeben konnten und was eben nicht.
„Wenn Sie die Papiere haben, dann kommen Sie wieder. Die Gebühr strecken wir Ihnen vor. Allerdings benötigen wir dazu einen Nachweis, dass es sich auch um die Wiederbeschaffung ihres Passes handelt“, erklärte sie immer noch freundlich, da sie Mitleid mit der jungen Frau hatte.
„Können Sie mir bitte etwas über das Krankenhaus in Ballygannon sagen? Ich bin ausgebildete Krankenschwester und würde gerne arbeiten, bis ich zurück kann“, wechselte Lea das Thema, als sie merkte, dass sie kaum Hilfe wegen ihres Ausweises erwarten konnte.
Entsetzt sah die Dame sie an und schüttelte den Kopf.
„Das ist nicht ihr Ernst oder? Niemand weiß so ganz genau, was in dieser Anstalt vor sich geht. Aber ich rate ihnen dringend ab, sich bei denen vorzustellen. Soweit wir wissen, gibt es keine ordentlichen Abrechnungen und die Leute, die dort arbeiten, erzählen nie etwas über ihren Arbeitsalltag“, blockte sie fast schon unfreundlich ab.
„Es ist mir egal, ob ich eine Lohnabrechnung bekomme, ich möchte nur eine Anstellung haben. Ist es denn weit weg von hier? Und wie finde ich das Krankenhaus?“, ließ Lea nicht locker.
Wieder schüttelte die Frau hinter dem Tresen den Kopf und verzog ärgerlich das Gesicht.
„Es ist mit dem Auto eine gute Stunde entfernt, aber man kommt nicht an das Gebäude heran, weil ein Stacheldrahtzaun und eine Überwachungsanlage das Gelände schützt. Das sagt doch alles oder?“, antwortete sie abschätzig.
Einen Augenblick blickte sie auf ein paar Papiere, anschließend sah sie in ihren Computer, ehe sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf die pummelige Obdachlose richtete.
„Wir sind leider im Moment komplett überlastet, daher kann ich Ihnen keinen Platz in einem Obdachlosenasyl anbieten. Aber kommen Sie ruhig morgen her, vielleicht finden wir bis dahin eine Lösung“, wechselte sie geschickt das Thema.
Mit hängendem Kopf und Tränen in den Augen nickte Lea, ehe sie sich zur Tür umdrehte. Sie musste es, wieder einmal, alleine schaffen.
Gerade als sie das Gebäude verlassen wollte, hielt die Angestellte sie mit einem Lächeln zurück und drückte ihr einen Schlafsack in die Hand. Außerdem gab sie ihr etwas zu essen und einen Zehn-Euro-Schein.
„Mehr kann ich wirklich nicht für Sie tun. Kommen Sie morgen auf jeden Fall rein, vielleicht gibt es dann bessere Neuigkeiten“, verabschiedete sich die Frau von ihr.
Dankbar lächelte Lea ihr zu, anschließend verließ sie die Obdachlosenhilfe endgültig. So wie es aussah, könnte sie wenigstens die nächsten Nächte halbwegs warm und trocken schlafen, denn der Schlafsack war vom Militär und würde die Feuchtigkeit abhalten.
Die Lebensmittel verstaute sie in ihrer Reisetasche, den Geldschein schob sie in ihre Jeanstasche und den Schlafsack rollte sie ordentlich auf. Sie beschloss noch einmal ihr Glück im Hogans versuchen, irgendwann mussten die ominösen Söldner ja auftauchen. Falls sie dort weiterhin keinen Erfolg hatte, wollte sie einen Weg zu diesem Krankenhaus oder einen anderen Job finden.
Etwas verloren lief sie durch die Innenstadt, dabei wusste sie nicht so genau, was sie tun sollte. Mit ihrer schweren Reisetasche konnte sie schlecht die Touristin spielen, außerdem war sie nicht so leichtsinnig, ihr Geld für ein solches Vergnügen auszugeben. Immer wieder blieb sie stehen, um die Tasche für einen Augenblick abzusetzen, dazu kam, dass die Sonne von einem wolkenlosen Himmel schien und ihr den Schweiß aus den Poren trieb.
Seufzend setzte sie sich einen Moment auf den Sockel eines Denkmals. Erst musste sie stundenlang dem Regen standhalten, jetzt schwitzte sie und es gab natürlich weit und breit keine Dusche, die sie benutzen konnte. Ihr Mut einen Job zu finden schwand, denn so verwahrlost, wie sie bereits aussah, würde man ihr nicht mal zuhören. Schnell band sie ihre langen braunen Haare zu einem Zopf zusammen, anschließend hob sie den Kopf ein kleines Stückchen höher. Keinesfalls wollte sie sich von ihrem Plan abbringen lassen, zumindest nahm sie sich vor, mit diesen Söldnern zu sprechen.
In einem Supermarkt kaufte sie sich eine Flasche Mineralwasser und trank sie fast sofort aus, nachdem sie bezahlt hatte. Danach ging es ihr besser und sie blickte ein wenig fröhlicher in die Zukunft. Wenn die Leute ein Krankenhaus und ein Pflegeheim betrieben, dann mussten sie einfach auch ein Herz haben.
Lea schlenderte an vielen Häusern vorbei, bewunderte die prächtigen Fassaden und blieb eine ganze Weile vor dem Dublin Castle stehen. Zu gerne würde sie es besichtigen, doch im Moment war es unmöglich.
Langsam umrundete sie das riesige Gebäude und lächelte leicht, als sie den Park betrat. Hier fiel sie nicht zu sehr auf, wenn sie sich hinsetzte und wartete, denn überall saßen Menschen auf der Parkfläche, unterhielten sich oder beschäftigten sich mit Büchern, einige malten auch.
Schnell ließ sie ihre Tasche fallen und setzte sich ins Gras, dabei sah sie sich aufmerksam um. Der Anblick des großen Turms, der noch von der Normannenfestung übrig geblieben war, die vor so vielen Jahren an dieser Stelle gestanden hatte, war überwältigend, ebenso wie die Front der Kirche, die sich nahtlos anschloss.
In Lea keimte die Gewissheit auf, dass ihre Entscheidung in Irland zu bleiben die Richtige war. Ihr Handy piepte und zeigte ihr eine eingehende SMS an. Neugierig, wer etwas von ihr wollte, holte sie es aus der Hosentasche und öffnete das entsprechende Fenster.
„Komm erst gar nicht auf die Idee dich in meiner Wohnung blicken zu lassen, du Monster. Deine Sachen werfe ich weg oder spende sie der Wohlfahrt. Solltest du dich in meine Nähe wagen, sorge ich dafür, dass du als Laboräffchen endest“, las sie entsetzt.
Damit war klar, dass sie absolut nichts mehr besaß und sie zweifelte keinen Moment daran, dass Dorian seine Drohung wahr werden ließ. Traurig dachte sie an seine Mutter, die er jetzt in ein Pflegeheim abschob. So gut kannte sie ihren Ex-Freund, dass er sich keinesfalls mit der schwerkranken Frau abgab. Ilse konnte nach einem Schlaganfall weder laufen noch sich selbst versorgen und nur bedingt sprechen.
Das Verhalten seiner Mutter gegenüber hatte unter anderem auch dazu beigetragen, dass Lea immer mehr an ihren Gefühlen zu ihm zweifelte. Er begegnete ihr so kalt und herzlos, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Jetzt würde sich kaum jemand um sie kümmern, denn die Pflegeheime waren restlos unterbesetzt.
Seufzend schob sie die traurigen Gedanken zur Seite und überlegte, ob sie dem ungerechten Kerl antworten sollte, doch in dem Moment blinkte ihr Handy kurz auf, um sich dann abzuschalten. Das Akku war endgültig leer, aber so blieb ihr die Entscheidung erspart.
Mit einem müden Lächeln erhob Lea sich nach ein paar Stunden wieder und schlenderte weiter durch die geschichtsträchtige Innenstadt. An einem Touristeninformationsbüro suchte sie sich einige interessante Broschüren aus, die sie ansehen konnte, solange sie wartete. So würde sie wenigstens einen kleinen Eindruck über Irland erfahren, außerdem lenkte es sie ein wenig ab. Den Tag herum zu bekommen, wenn man so gar nichts zu tun hatte, war kein leichtes Unterfangen und bisher gab es für Lea immer etwas zu tun.
Nachdem sie schon zum zweiten Mal an „The Spire“, der Gedächtnissäule vorbei gelaufen war, beschloss sie zum Parkgelände des Castle zurückzugehen und dort in Ruhe die Prospekte zu lesen. Dabei wollte sie eins der Sandwiches essen, ehe es sich lohnte, zum Pub zu gehen.
Im Park des Schlosses war es mittlerweile leerer geworden, aber Lea störte es weniger. Sie breitete den Schlafsack aus und setzte sich drauf, dann machte sie sich daran, die Broschüren anzusehen. Genüsslich aß sie eins der belegten Brote, was ihren knurrenden Magen besänftigte.
Obwohl sie es genoss, sich einmal um sich selbst zu kümmern, wurde sie ständig unruhiger. Es war einfach nicht ihre Art faul herumzusitzen, außerdem bedrückte sie die Situation immer mehr. So gar nicht zu wissen, was auf sie zu kam und wie sie die zahlreichen Probleme lösen sollte, zerrte an ihren Nerven.
Endlich wurde es Zeit für Lea und sie ging wieder zu ihrem Platz, gegenüber des Hogans. Hier hüllte sie sich in den Schlafsack und wartete, ob sich jemand sehen ließ, der in irgendeiner Weise nach Soldat aussah. Auch an diesem Abend kam sie ihrem Ziel keinen Schritt näher, die meisten Gäste waren Touristen, was sie deutlich an der Sprache hörte. Seufzend schloss sie einen Moment die Augen, sollte das jetzt wirklich das Aus für sie sein? Endete sie als Obdachlose in Dublin oder musste sie ebenso mittellos nach Deutschland zurückkehren?
Als sie die Lider wieder hob, sah sie, wie einer der Barkeeper gerade die Tür zum Pub abschloss. Schnell wickelte sie sich aus dem Schlafsack, packte ihre Sachen und ging entschlossen auf ihn zu.
„Entschuldigen Sie bitte, mir wurde gesagt, dass die Soldaten von Ballygannon sich in diesem Lokal treffen“, begann sie, ehe der Kerl sie verscheuchen konnte.
Mit hochgezogener Augenbraue musterte er sie, ehe er gleichgültig mit den Schultern zuckte.
„Und wenn schon? Ich glaube kaum, dass David und seine Jungs Interesse an dir finden“, bemerkte er, doch dann blitzte Mitleid in seinen Augen auf.
„Was willst du denn von denen?“, erkundigte er sich wesentlich freundlicher.
„Ich habe gehört, dass sie ein Krankenhaus und ein Pflegeheim betreiben, da möchte ich nach einem Job fragen. Bitte, ich bin ausgebildete Krankenschwester, obwohl es nicht so aussieht“, fügte sie schnell hinzu.
Der Barkeeper sah sie jetzt neugierig an, zuerst hatte er befürchtet, dass sie ihren Körper zu verkaufen oder einfach nur betteln wollte. Seltsamerweise glaubte er ihr, dabei gab es keine offensichtlichen Beweise für ihre Aussage.
„David und seine Jungs kommen ab und an her, das stimmt. Allerdings sind sie ziemlich speziell und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sie dich einstellen werden. Trotzdem sage ich ihm gerne Bescheid, dass du mit ihm sprechen willst“, bot er ihr freundlich an.
Lea schenkte ihm ein erleichtertes Lächeln, auch wenn sie wohl ein paar weitere Nächte aushalten musste, aber es war immer noch eine Option.
„Vielen Dank, vielleicht könnten Sie mir beschreiben, wie der Mann aussieht. Ich möchte ihn auf keinen Fall verpassen. Außerdem habe ich keine Adresse, die ich Ihnen geben kann“, gab sie verlegen zu.
Verstehen nickte der Barkeeper, das hatte er sich fast gedacht.
„David ist sehr groß, knapp zwei Meter würde ich schätzen. Er ist durchtrainiert, drahtig, doch das sind sie alle. Du erkennst die Gruppe sofort, denn oft sieht man solche Kerle nicht. Dave hat blonde Haare und an seiner Seite ist Emily. Diese Wildkatze hat eine lange schwarze Mähne, ist klein und zierlich, aber mit einem Mundwerk bestückt, das einem das Fürchten lehrt“, antwortete er grinsend.
Damit konnte Lea schon etwas anfangen und sie dankte ihm, dann verabschiedete sie sich. Obwohl sie heute nicht mit den Männern gesprochen hatte, gab es doch wieder Hoffnung für sie. Schnell ging sie ein paar Straßen weiter, wo sie einen Lieferanteneingang für ein Kaufhaus fand. Hier würde sie bis zum Morgen bleiben, zumal sie in diesem Eingang auch vor Regen geschützt war. Mit einem Lächeln wickelte sie sich in ihren Schlafsack, legte sich ihre Tasche unter den Kopf und schaffte es tatsächlich einzuschlafen.

~~°~~

Die Gestaltwandler atmeten auf, als sie die Nachricht bekamen, dass ihre Maschine gegen Mittag auf dem Flughafen von Akureyri für sie bereitstand. „Wir bringen Sie heute nach Irland, dann kann sich ein Mediziner um Sie kümmern“, teilte Gerry den beiden Frauen mit, als sie sich zum Frühstück trafen.
Sybille hieß die Blonde, die ihn jetzt verführerisch anlächelte. Allerdings fand er sie alles andere als anziehend. Für ihn war sie zu aufgetakelt, zu sehr geschminkt und absolut zu aufdringlich.
„Aber Sie sind doch auch Arzt, können Sie uns nicht helfen?“, säuselte sie ihm zu.
Schnell schüttelte er den Kopf, selbst wenn er dafür königlich bezahlt würde, wollte er keine Minute länger in ihrer Nähe sein, als unbedingt nötig. Ihm fiel diese Person jetzt schon auf die Nerven mit ihren ständigen Versuchen ihn anzumachen und ihrer Oberflächlichkeit.
Logan hustete, da er sich an seinem Kaffee verschluckte, ihm ging es ganz ähnlich, nur dass ihn die zweite Dame anhimmelte. Sie hieß Irmgard, was sie ihm bereits am gestrigen Abend mitgeteilt hatte.
„Ich kann die Aufgabe nicht übernehmen, weil ich mich mit der menschlichen Psyche nur notdürftig auskenne“, griff Gerry zu einer Notlüge.
Natürlich wusste er alles über Medizin, was man sich vorstellen konnte, allerdings war er kaum in der Lage, den entscheidenden Eingriff bei diesen Frauen vorzunehmen. Dazu mussten sie in das Krankenhaus gebracht werden.
„Aber Sie haben uns schon so sehr geholfen. Vielleicht brauchen wir ja gar keinen Psychiater, sondern nur noch ein wenig ihre Gesellschaft“, bat Sybille mit einem Augenaufschlag, der ihm deutlich zeigte, was sie unter Gesellschaft verstand.
„Es ist wirklich besser, wenn einer unserer anderen Ärzte nach Ihnen sieht. Bestimmt wird Gerry Sie gerne begleiten, doch ich fürchte, wir müssen auf diesen Untersuchungen bestehen“, mischte sich David jetzt ein und erntete einen bitterbösen Blick seines Freundes.
Endlich war es Zeit, um zum Flughafen zu fahren, wobei Irmgard sich sofort bei Logan einhakte. Natürlich hatte er ihr erzählt, dass er in festen Händen sei, aber das kümmerte sie kein bisschen, wie er schnell feststellen musste. Immer wieder fasste sie ihn an, strich bewundernd über seinen Oberarm und zeigte ihm mit allen Mitteln, wie interessiert sie an ihm war.
Im Wagen verfrachteten sie die zwei Nervensägen auf die Rückbank, sodass sie wenigstens jetzt ihre Ruhe bekamen. Logan knurrte sogar leise, dass man sie besser zu Razi zurückbrachte, doch das war leider keine Option.
Gott sei Dank kamen sie ohne Probleme durch die Abfertigung und saßen kurze Zeit später in ihrer Maschine, wo die beiden Frauen erneut ihre Annäherungsversuche starteten. Die Welpen mussten sich ein Lachen verkneifen und auch David biss sich auf die Lippen, damit er nicht laut lachte. Nur Emily sah immer wieder warnend zu den Freundinnen rüber.
„Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie uns Dublin auf eine ganz besondere Weise zeigen, Logan“, bemerkte Irmgard jetzt und Emily platzte der Kragen.
„Er hat Ihnen bereits mehrfach gesagt, dass er in festen Händen ist. Joleen ist übrigens meine Freundin und sie erwartet sein Kind. Sollten Sie also die Anbaggerversuche nicht sein lassen, werde ich dafür sorgen, dass man Sie postwendend zu dem Troll zurückschickt“, fauchte sie die Zwei an.
Augenblicklich wurde es still in dem Flugzeug und Irmgard schluckte schwer, zu gut erinnerte sie sich, wie dieses Monster ihr den Mund so lange zugehalten hatte, bis sie bewusstlos war.
„Das dürfen Sie wohl kaum“, bemerkte Sybille jetzt hochnäsig und sah sie bösartig an.
„Ach was? Das darf ich nicht? Wer will es mir denn verbieten? Wie Sie mittlerweile herausfinden konnten, sind wir eine Spezialeinheit ausgebildet genau für solche Fälle. Woher wollen Sie wissen, was für Befugnisse wir haben?“, schoss Emily zurück.
David zog sie liebevoll in seine Arme.
„Lass es, es lohnt sich nicht. In ein paar Stunden geben wir sie im Krankenhaus ab und sind sie los“, raunte er ihr so leise zu, dass nur sie in der Lage war, ihn zu hören.
Wütend stieß sie die Luft aus, dann stimmte sie ihm zu. Es bedeutete wirklich vergebene Liebesmüh, dennoch lächelte Logan ihr dankbar zu.
Die beiden Frauen schienen zumindest etwas verunsichert und blieben den restlichen Flug über still, trotzdem freute sich die gesamte Gruppe darauf, dass sie diese Nervensägen bald los waren.
Gerry schloss sogar kurz die Augen, dabei war er der geduldigste, aber Sybille trieb ihn mit ihrem Gekicher und dem sinnlosen Geplapper in den Wahnsinn. Sie wollte ihn noch überreden, dass er morgen nach ihr sah, doch dann lag sie im OP. Sollte alles gut gehen, würde sie danach nicht mehr wissen, dass es ihn überhaupt gab.
Als sie endlich im Hauptquartier ankamen, lieferten sie ihren Bericht bei Steward ab, anschließend verabschiedeten sich David, Emily und Logan. Sie wohnten knappe fünfzehn Kilometer vom Hauptquartier in einer kleinen Siedlung, wo auch Joleen und Billy auf sie warteten.
Ellie wollte sie noch überreden zum Essen zu bleiben, aber die Drei lehnten es energisch ab. Während es Emily und David zu ihrem Sohn zog, sehnte sich Logan nach seiner Gefährtin.
Gerry ging in sein Büro, in dem er die eigenen Leute behandelte. Hier bestückte er seine Arzttasche mit neuen Medikamenten und stellte sie in einer Ecke ab, dann ließ er sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen.
Die Unruhe war nicht besser geworden, allerdings war er heilfroh, dass es nicht Sybille oder ihre Freundin war, die an seine Seite gehörte. Diese beiden Frauen hatten wirklich nur Oberflächlichkeiten im Sinn, ihre größte Sorge war, ob sie sich einen Fingernagel abbrachen.
Müde schloss er die Augen und atmete tief durch. Heute wollte er früh schlafen gehen und morgen sollte er vielleicht mit seinen Kumpeln ins Hogans fahren. Ein wenig Ablenkung tat ihm bestimmt gut.
Ellie rief zum Abendessen und ihr folgte man besser, außerdem bekam er langsam Hunger. Also machte er sich auf den Weg ins Esszimmer, wo er die Sticheleien der Welpen ruhig überhörte. Nur einmal zog er lediglich eine Augenbraue hoch, als Patrick mit seinem Mut vor dem Troll prahlte.
„Du hast ihm gegenübergestanden ohne Angst zu haben?“, wollte der Luchs nachdenklich wissen.
Sofort schluckte der Panther und zuckte verlegen mit den Schultern.
„Ich wäre reingegangen, aber David hat mich nicht gelassen“, verteidigte er sich schwach, ehe er schnell das Thema wechselte.
Gerry grinste leicht und warf Steward einen wissenden Blick zu, beide wussten, dass die Welpen noch viel zu lernen hatten.
Während des Essens blickte der Arzt in die Runde. Ihm fehlten David und Logan und ihre Gefährtinnen ebenso, doch er verstand, dass sie es vorzogen, in ihren eigenen vier Wänden zu bleiben.
Nach dem Abendessen zog er sich in sein Zimmer zurück, an diesem Abend verspürte er einfach keine Lust auf Gesellschaft, darüber hinaus fühlte er sich wirklich müde. Die Begegnung mit dem Troll hatte ihm zugesetzt, obwohl man ihm nichts anmerkte.
Außerdem fehlten ihm seine Freunde, natürlich waren Steward, Peter und Richie auch noch da, aber normalerweise verbrachte er seine Zeit eher mit David und Logan. In der kleinen Siedlung gab es einige Häuser, die zum Verkauf standen und er überlegte ernsthaft, ob er ein Cottage dort kaufen sollte. Die Idee gefiel ihm immer besser, vor allem wenn er darüber nachdachte, dass diese seltsame Unruhe vielleicht wirklich mit einer Gefährtin zu tun hatte. Es gab etliche Dinge, die dafür sprachen und so nahm er sich vor, den Makler direkt am nächsten Morgen anzurufen.
Seine Gedanken schweiften zu einer möglichen Partnerin und er runzelte leicht die Stirn. In seinem langen Leben hatte er so manche gute Freundin bis zum bittren Ende begleitet. Es tat auch heute noch weh, sobald er daran dachte, wie viele in seinen Armen gestorben waren. Obwohl er bisher die Frau nicht gefunden hatte, die sein innerer Luchs an seiner Seite akzeptierte, ging er oft trotzdem eine Beziehung ein. Die menschlichen Eigenschaften in ihm verhinderten, dass er Einzelgänger blieb.
Die Vermutung, dass seine Gefährtin eventuell ein Mensch wie Emily sein könnte, ließ ihn zusammenzucken. Allein die Vorstellung, dass er seine große Liebe überlebte, sorgte dafür, dass sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog. Schnell verbot er sich die Überlegungen, erstens wusste er ja noch gar nicht, ob er in der nächsten Zeit seine Partnerin finden würde und zweitens gab es immer eine Lösung. Über diesen Gedanken schlief er endlich ein.

~~°~~

Der kommende Morgen zeigte sich ziemlich kühl und windig, sodass Lea sehr zeitig erwachte. Zu gerne würde sie sich duschen oder wenigstens waschen und die Zähne putzen. Sie beschloss noch einmal zur Obdachlosenhilfe zu gehen und dort darum zu bitten, das Bad benutzen zu dürfen. Wenn sie mal musste, hatte sie entweder auf die Kundentoiletten in den Einkaufszentren zurückgreifen müssen oder sie hatte sich nachts hinter Müllcontainer gehockt, was anderes blieb ihr nicht übrig.
Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg, allerdings gestaltete sich ihr Vorhaben ohne das Navi in ihrem Handy als fast unmöglich. Mehrfach verlief sie sich, obwohl sie einen Stadtplan aus der Touristeninfo besaß, doch in dem Plan fehlten leider etliche Straßen.
Nachdem sie über eine Stunde herumgeirrt war, traf sie auf einen Bauarbeiter, den sie höflich nach dem Weg fragte.
Der Mann lächelte sie an und erklärte ihr genau, wie sie zum Büro der Obdachlosenhilfe fand. Sie befand sich noch ziemlich weit entfernt und seufzte leise auf.
„Danke schön“, damit verabschiedete sie sich und machte sich wieder auf den Weg.
Ihr Magen knurrte laut und die Tasche schien immer schwerer zu werden, aber aufgeben war einfach keine Option für sie, besonders, da sie endlich eine Beschreibung der Söldner hatte. Es gab sie also wirklich und sie spürte deutlich, dass diese Männer ihre Chance darstellten.
Nach einer weiteren Stunde kam sie erschöpft an dem Büro an, doch dort war um die frühe Morgenstunde noch niemand.
Müde setzte sie sich auf die Treppenstufen und wartete, was anderes blieb ihr im Moment nicht übrig.
Endlich kam eine Angestellte, lächelte sie freundlich an und bat sie hereinzukommen.
„Vielen Dank, ich war schon einmal hier und ich wollte nur fragen, ob ich mich etwas waschen oder sogar duschen darf“, erklärte Lea ihr Auftauchen.
Bedauernd schüttelte die Frau den Kopf.
„Ein Badezimmer gibt es leider nicht, aber ich könnte schauen, ob in unserem Frauenhaus ein Platz für Sie frei ist“, bot sie an.
Wie gerne würde Lea wieder unter einem Dach schlafen. Menschen finden, die ihr halfen, regelmäßige Mahlzeiten essen, doch sie wusste auch, dass es in den Obdachlosenasylen recht strenge Regeln gab. In den meisten Häusern musste man spätestens um 22:00 Uhr anwesend sein und dann gab es keine Möglichkeit die Söldner anzusprechen. Außerdem wollte sie sich diese Option aufheben, bis sie alles ausprobiert hatte, um einen Job zu bekommen.
„Ich bin eine deutsche Touristin. Die Botschaft hat mir mitgeteilt, dass ich einen Identitätsnachweis und andere Papiere brauche, die ich nicht besitze, abgesehen von finanziellen Mitteln. Ihre Kollegin hat mir gesagt, dass sie zurzeit keinen Platz in einer Einrichtung hat. Sie meinte, ich solle ruhig wiederkommen und noch einmal nachfragen, allerdings habe ich beschlossen, hier in Irland eine Anstellung zu suchen. Aber so wie ich im Moment aussehe ...“, sie ließ den Satz unvollständig.
Lea wusste nicht, wie sie reagieren sollte, falls jetzt ein Bett in einem Frauenhaus offen war, doch sie wollte die Dame hinter dem Tresen keinesfalls verärgern.
Die andere Frau murmelte verstehend vor sich hin.
„Meine Kollegin hatte Recht, wie ich sehe, gibt auch heute leider keinen Platz, aber geben Sie bitte nicht auf, in ein paar Tagen haben wir bestimmt etwas für Sie frei. Wenn Sie möchten, können Sie das Waschbecken im Gästeklo benutzen“, damit deutete sie auf eine kleine Tür.
Dankbar nickte Lea, stellte ihre Sachen ab, holte ihren Kulturbeutel heraus und verschwand in dem winzigen Raum.
Ihre braune Mähne hing ihr strähnig und fettig über den Rücken, doch daran konnte sie im Moment nichts ändern. Das Becken war kaum geeignet, um dort die Haare zu waschen. Schnell bürstete sie ihre sonst so glänzende Haarpracht, anschließend wusch sie ihr Gesicht und putzte sich die Zähne.
Es war ein gutes Gefühl endlich wieder frischen Atem zu haben und sich ein ganz kleines bisschen sauberer zu fühlen.
Einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihr Vorhaben mit dem Krankenhaus in Ballygannon verwerfen sollte, aber dann schüttelte sie erneut den Kopf. Diese Option wollte sie wenigstens noch ausschöpfen, ehe sie sich wirklich um einen Platz in einem Frauenhaus bemühte.
Sie verließ die Toilette und bedankte sich bei der Mitarbeiterin, die ihr ein Lunchpaket und eine detaillierte Straßenkarte reichte.
„Bitte kommen Sie wieder, wenn wir Ihnen helfen können. Wir gehen gerne mit Ihnen zur Botschaft“, bot sie ihr freundlich an.
„Vielen Dank, ich werde bestimmt darauf zurückkommen, sollte ich es alleine nicht schaffen“, versicherte Lea, ehe sie die Eingangstür hinter sich zuzog.
Auf dem Weg in die Innenstadt aß sie hungrig eins der Brote, die sich in dem Paket befanden. Als sie halbwegs satt war, sah die Welt auch schon etwas fröhlicher aus.
An einer Bushaltestelle ruhte sie sich eine ganze Zeitlang aus, dabei überlegte sie, wie sie den Tag verbringen wollte. Sehr viele Optionen standen ihr nicht zur Verfügung, aber da es heute trocken blieb, beschloss sie sich wieder in den Schlosspark zu setzen. Ein paar Prospekte hatte sie noch und eine andere Beschäftigungsmöglichkeit kostete Geld, das sie besser zusammenhielt.

~~°~~

Gerry erwachte am nächsten Morgen ausgeschlafen und einigermaßen gut gelaunt. Es war wohl doch die richtige Entscheidung gewesen, früh ins Bett zu gehen. Er ging duschen, und als er den Weg ins Esszimmer antrat, hörte er schon Billys helle Stimme, die durch den Flur klang.
Oft frühstückten David, Emily und Billy mit dem Rest der Mannschaft, ehe sie ihren Sohn in den Kindergarten brachten. Jeder liebte den Kleinen, der nie aufdringlich wurde und der sich für einen fünfjährigen ausgezeichnet benahm.
Schnell lief Gerry die letzten Stufen runter und betrat das Zimmer.
„Guten Morgen Gerry“, rief ihm Billy zu, ehe einer seiner Freunde ihn auch nur gesehen hatte.
„Hallo Kumpel, alles klar bei dir?“, antwortete der Arzt mit einem Grinsen.
Der Junge nickte eifrig, dann widmete er sich wieder seinem Frühstück, während der Rest ihm ebenfalls einen Morgengruß zurief.
Besorgt sah er Joleen an, die ziemlich blass aussah. Sofort ging er zu ihr rüber.
„Was ist mit dir?“, wollte er wissen.
Schnell zauberte sie ein Lächeln auf ihr Gesicht und schüttelte leicht den Kopf.
„Ja, ich leide nur ein wenig unter der Morgenübelkeit“, antwortete sie leise.
Verstehend nickte er, trotzdem sah er sie noch einmal eindringlich an.
„Ich möchte dich gleich in meinem Behandlungszimmer sehen. Sicher ist sicher“, bemerkte er.
Jo seufzte genervt, doch dann stimmte sie zu. Zwischen ihnen gab es ein ganz besonderes Band, seit Gerry ihr das Leben gerettet hatte. Ohne ihn wäre sie an den Verletzungen gestorben, die ein Dämon ihr zufügte. Der Luchs befahl Logan damals sie zu wandeln, was den einzigen Ausweg darstellte.
Heute etwa vier Monate später war sie in der Lage sich in einen Jaguar zu verwandeln, so wie ihr Gefährte auch. Außerdem erwartete sie ihr erstes Kind, was sie ein wenig nervös machte, deshalb freute sie sich über die Unterstützung des Arztes, jedenfalls meistens.
Gerry setzte sich wieder an seinen Platz und frühstückte. Sein Dienst begann erst um 13:00 Uhr, daher hatte er genug Zeit sich um Jo zu kümmern.
Jeder hier im Hauptquartier musste einige Stunden mit Wache schieben verbringen, allerdings beschränkte es sich darauf, dass sie die Monitore im Auge behielten, damit niemand unbefugt auf das Gelände kam.
Die Welpen waren ab und zu unaufmerksam, so gelang es Emily vor zwei Monaten, in ihr Territorium einzudringen. Sie wollte Fotos machen, um zu beweisen, dass es bei den Söldnern von Ballygannon nichts Außergewöhnliches gab. In dem Punkt hatte sie sich gründlich getäuscht, aber gleichzeitig fand sie in David ihren Gefährten.
Wieder überfiel ihn diese seltsame Nervosität und er hoffte, dass es bald aufhörte, denn es nervte ihn gewaltig, nicht alles im Griff zu haben.
Nach dem Frühstück zog er sich mit Jo in sein Behandlungszimmer zurück, dabei sah ihnen Logan mürrisch hinterher, da er erstmal Wache schieben musste.
„Bitte Gerry, es geht mir wirklich gut und meinem Baby ebenso“, bemerkte Joleen, als er die Tür hinter ihr schloss und sie bat, sich auf die Untersuchungsliege zu legen.
„Das glaube ich dir nicht. Du bist verdammt blass und ich werde gerade bei dir kein Risiko eingehen“, blockte er ab, dann untersuchte er sie gründlich.
Nach einer kleinen Weile sah er sie an und schüttelte den Kopf.
„Du musst mehr essen. Jo denk auch an dein Kind“, ermahnte er sie.
Unglücklich sah sie ihn an. Sie war schlank, aber ihre Figur schuldete sie ihrem täglichen Training in dem Fitnessraum, der den Gestaltwandlern zur Verfügung stand.
„Logan hat mir verboten zu trainieren, und wenn ich nichts tue, werde ich einfach nur fett“, brachte sie leise hervor.
Gerry zog sie freundschaftlich in eine Umarmung.
„Im Moment solltest du es ruhig angehen lassen. Logan hat Recht, dass er aufpasst, damit du dich nicht überanstrengst. Sobald das Kind da ist, verpasse ich dir einen Trainingsplan, der dich ganz schnell wieder in Form bringt“, versprach er ernst.
„Ja stimmt, aber mir ist besonders morgens wirklich schlecht“, fügte sie seufzend hinzu.
Das war oft der Fall und dagegen konnte er auch nichts tun, außer ihr zu raten, dass sie sich ausruhte, bis die Übelkeit sich legte.
„Danke Gerry“, murmelte sie, anschließend umarmte sie den Freund und ging in das Büro der Hacker, wo ihre Aufgaben auf sie warteten.
Der Arzt sah ihr lächelnd hinterher, doch dann wurde er vom Klingeln des Telefons abgelenkt. Freundlich meldete er sich, aber seine gute Laune verflog augenblicklich, als er hörte, dass Sybille sich weigerte, sich weiter behandeln zu lassen, ehe sie nicht mit ihm gesprochen hatte.
„Ich komme sofort rüber“, versprach er.
Seufzend machte er sich auf den Weg ins Krankenhaus, dazu verzichtete er dieses Mal auf seinen Hummer, stattdessen lief das kurze Stück, dabei nutzte er die Schnelligkeit des Luchses. Er hatte kaum vor lange zu bleiben, sondern nur die aufdringliche Frau zur Räson zu bringen.
Er war nicht mal verschwitzt, als er das Gebäude betrat. Eilig ging er auf die entsprechende Station und er sah die erleichterten Mienen der Krankenschwestern, als er auftauchte.
„Oh mein Gott, so schlimm?“, wollte er wissen, als er das kollektive Aufseufzen hörte.
„Noch schlimmer. Die Patientin benimmt sich, als ob wir ihre Diener seien. Seit gestern hängt sie uns in den Ohren, dass du bitte nach ihr sehen sollst“, bemerkte Schwester Astrid, eine Gestaltwandlerin, die sich in einen Milan verwandeln konnte.
„Ich gehe sofort zu ihr. Aber die Pfleger halten sich schon mal bereit, falls ich sie nicht überreden kann, sich behandeln zu lassen. Ich befürchte, dass wir sie mit Gewalt betäuben müssen“, wies er an, anschließend ließ er sich von Astrid die Zimmernummer nennen.
Höflich klopfte er an, dann öffnete er die Tür und Sybille sah ihn strahlend an. Ihre Freundin saß auf einem Stuhl und lackierte sich die Fingernägel, ein seltsamer Anblick in diesem Krankenhaus.
„Wie schön, dass Sie endlich da sind. Die Ärzte hier können Ihnen kaum das Wasser reichen und da haben wir beschlossen, dass wir uns nur noch von Ihnen behandeln lassen“, rief sie ihm entgegen.
Am liebsten hätte Gerry mit den Augen gerollt und den Raum verlassen. Woher wollte sie denn wissen, wie kompetent die Leute waren? So wie er sie einschätzte, lag ihr IQ knapp unter dem Durchschnitt.
„Das geht nicht, außerdem sind meine Kollegen gerade, was die psychischen Erkrankungen angeht unschlagbar“, stoppte er ihren Redefluss.
Beleidigt sah sie ihn an, dann zog sie ihre Lippen zu einem Schmollen zusammen, was wohl erotisch aussehen sollte, doch seine Wirkung auf ihn völlig verfehlte.
„Bisher hat es niemand für nötig gehalten, sich um uns zu kümmern. Keiner wollte wissen, was wir erleben mussten, dafür wurden wir ausgemessen, gewogen und über Allergien ausgefragt“, beschwerte sie sich empört.
„Das sind Routineuntersuchungen und gestern haben die Kollegen Ihnen einfach Zeit gelassen hier anzukommen“, erklärte Gerry.
„Aber immer wenn ich an diesen schrecklichen Troll denke, muss ich weinen und weiß nicht, wie ich mich beruhigen soll“, klagte sie mit einer schmollenden Miene.
Der Arzt wusste genau, dass sie ihm etwas vorspielte, da sie völlig ruhig auf dem Bett saß und keinerlei Anzeichen für einen hysterischen Anfall aufzeigte. Auch jetzt wo sie sogar von Razi sprach, lächelte sie ihn nur an.
„Dann sollte ich Ihnen ein Beruhigungsmittel geben, damit Sie zur Ruhe kommen“, ging er auf das Schauspiel ein.
Für ihn konnte es nicht besser laufen, da er so in der Lage war den Frauen ein Betäubungsmittel zu verabreichen, sodass sie in einer halben Stunde im OP sein würden.
„Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Man hat uns noch kein Frühstück gebracht. Ich glaube fast, die Leute hier wollen uns verhungern lassen“, erzählte sie ihm mit weinerlicher Stimme.
„Das ist kein Problem. Nachdem ich Ihnen die Spritze gegeben habe, sorge ich dafür, dass man Ihnen ihr Frühstück bringt. Anschließend werden Sie ruhig genug sein, um es essen zu können“, beschwichtigte Gerry sie.
Sybille stimmte zu, dabei himmelte sie ihn an. Ihre Freundin willigte ebenso ein, aber sie war in der Tat nervös und sah immer wieder zum Fenster, als ob der Troll jeden Moment dort erscheinen könnte.
„Vielleicht sollten wir mit Ihnen anfangen Irmgard? Sie scheinen sehr nervös zu sein“, schlug der Luchs vor.
Die andere Frau nickte eifrig, dann schraubte sie ihren Nagellack zu und blies auf ihre Nägel, anschließend sah sie den Arzt aufmerksam an.
„Ich hole eine Schwester und die Medikamente, damit Sie etwas zu essen bekommen und wir unterhalten uns später“, flunkerte er und war auch schon aus dem Raum.
Eilig lief er zum Schwesternzimmer, rief nach Astrid und teilte ihr mit, was er brauchte, um die zwei Damen augenblicklich in den OP zu schaffen.
Kurz darauf gingen beide in das Zimmer zurück. Irmgard lag jetzt auf dem Bett und Gerry trat direkt zu ihr.
Geschickt legte er ihr den Stauschlauch an, bat sie ein paar Mal die Finger zur Faust zu ballen, dann desinfizierte er die Stelle und gab ihr die Spritze. Anschließend lächelte er ihr noch einmal gezwungen zu.
„Bleiben Sie auf jeden Fall liegen, sonst wird Ihnen schwindelig“, befahl er, ehe er sich Sybille zuwandte.
Auch hier spritzte er ihr ein starkes Beruhigungsmittel, das schnell wirkte. Schon als er seine Sachen zusammensuchte, um den Raum zu verlassen, waren die beiden Damen kaum mehr in der Lage sich zu konzentrieren. In ein paar Minuten würden sie eingeschlafen sein.
„Na endlich, ich sage direkt im OP Bescheid. Danke Gerry“, meinte Astrid aufatmend.
Er schüttelte nur den Kopf, dann machte er sich wieder auf den Weg zu seinem eigenen Behandlungszimmer. Im Krankenhaus gab es im Moment sehr wenig zu tun, sodass er dort nicht gebraucht wurde. Einen Umstand, den er begrüßte, zumindest solange er so unruhig war. Er brachte die Geduld mit den Patienten einfach nicht auf.
Nach dem Wachdienst wollte er seine Trainingseinheit im Fitness-Studio absolvieren. So wie jeder Gestaltwandler im Hauptquartier liebte er das Training und es musste schon einiges passieren, dass er darauf verzichtete. Sie brauchten diese Möglichkeit sich auszupowern.
Der Tag verging für ihn schneller als er erwartet hatte. Ehe er sich versah, rief Ellie zum Abendessen, was sie dieses Mal alle zusammen einnahmen, ausgenommen die Jungs, die Dienst schoben.
„Was haltet ihr davon später ins Hogans zu gehen?“, fragte er in die Runde.
Logan und Joleen waren mit von der Partie, ebenso wie Steward, David und Emily. Billy blieb in der Obhut der Haushälterin, die ihn abgöttisch liebte und ihn die ganze Zeit verhätscheln würde.
„Wir bleiben aber auf keinen Fall so lange, ich möchte Billy nicht die halbe Nacht alleine lassen“, bemerkte Emily.
David legte einen Arm um sie und zog sie dicht an sich.
„Er ist in den besten Händen und freut sich auf einen Abend hier im Hauptquartier. Nicht nur Ellie wird ihn ohne Ende verwöhnen“, erinnerte er sie leise.
Seine Wildkatze hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie ein paar Stunden ihrem eigenen Vergnügen nachging.
„Es ist in Ordnung Mama. Ich bin doch schon groß“, meldete sich Billy jetzt, der zwischen seinen Eltern saß und breit grinste.
Die Köchin hatte ihm eine extragroße Portion Pommes mit Ketchup hingestellt, was dem kleinen Kerl natürlich enorm gefiel.
Emily strich ihm liebevoll über die Haare und lächelte ihm zu, dann nickte sie leicht.
„Ja du bist fast erwachsen und wir werden dich einfach bei Brian, Patrick und Ellie lassen“, stimmte sie zu.
Billy jubelte laut auf. Er liebte es mit den Welpen zu spielen, besonders weil die beiden ja selbst noch nicht trocken hinter den Ohren waren und ihm einiges mehr erlaubten, als seine Eltern.
Sie beendeten das Abendessen, räumten den Tisch ab, dann machten sich die Freunde auf den Weg ins Hogans.
Wie immer stellte Gerry seinen riesigen Hummer in einem Parkhaus ganz in der Nähe ab, da dieser Wagen die Straße fast komplett versperrte, sollte er ihn am Straßenrand abstellen.
David bockte seine Ducati direkt vor dem Pub auf, während Logan und Steward ihre Autos in einer Seitenstraße parkten. Anschließend gingen sie zusammen in das Lokal, wo sie freudig begrüßt wurden.
„David, eine junge, verwahrloste Frau hat nach dir gefragt“, bemerkte der Barkeeper, als jeder einen Drink in der Hand hielt.
Erstaunt blickte der Werwolf den Mann an und runzelte fragend die Stirn.
„Es ist eine Obdachlose, die seit ein paar Tagen immer an der Hauswand, drüben auf der anderen Straßenseite, campiert. Gestern hat sie mich angesprochen und sich erkundigt, ob ihr wirklich hier verkehrt und wie du aussiehst. Sie möchte einen Job in eurem Krankenhaus, da sie Krankenschwester ist“, erklärte er offen.
„Und wo ist sie jetzt? Ich sehe niemanden an der Wand gegenüber“, stellte David fest.
Er glaubte, dass Tom ihn nur auf den Arm nehmen wollte, nur den Witz an der Sache sah er noch nicht.
„Ich denke, sie wird später wiederkommen“, antwortete Tom ruhig, dann kümmerte er sich um die restlichen Gäste.
Emily sah ihren Gefährten fragend an, ebenso wie der Rest der Truppe, doch der zuckte nur leicht mit den Schultern. Er konnte sich auf diese Ansage keinen Reim machen. Schnell schob er die Gedanken an diese ominöse Frau zur Seite und widmete sich aktuelleren Themen, zumal Gerry in dem Moment interessiert nach einem Cottage fragte.
„Willst du zu uns in die Siedlung ziehen? Ich finde die Idee klasse“, bemerkte Jo gerade, die den Arzt freundlich anlächelte.
Zwischen Joleen und Gerry bestand von Anfang an eine ganz besondere Freundschaft, die sich natürlich vertiefte, als er ihr das Leben rettete.
Nach einer kleinen Weile gesellten sich auch andere Bekannte zu den Söldnern und jetzt flogen Scherzworte durch den Raum. Außerdem versorgten sie die Männer mit dem neusten Tratsch.

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Lea war völlig in den Prospekten versunken und so entging ihr, dass der Park immer leerer wurde. Als sie endlich hochsah, war sie die einzige Besucherin und es dämmerte bereits. Erschrocken, dass sie die Zeit so vergessen hatte, räumte sie eilig ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Hogans.
Hoffnungsvoll sah sie das schwarze Motorrad vor dem Pub stehen, als sie dort ankam. Ebenso bemerkte sie den Mercedes und den Jaguar, die in der Seitenstraße parkten. Ihr Herz schlug etwas schneller und sie hoffte so sehr, dass die Wartezeit vorbei war.
Wie auch die letzten Nächte breitete sie den Schlafsack an der gegenüberliegenden Hauswand über ihrer Tasche aus und setzte sich darauf. Aufmerksam beobachtete sie jeden neuen Gast und natürlich genauso die Menschen, die den Pub verließen.
An diesem Abend war es richtig voll in der Gaststätte und sie hörte Gelächter und Gesprächsfetzen, die ihr hart vor Augen führten, dass sie komplett alleine war. Wieder schweiften ihre Gedanken zu ihren beiden Freundinnen, die sie das letzte Mal vor über zwei Jahren gesehen hatte. Wie konnte es nur so weit kommen, dass sie alles außer ihrem Job vernachlässigte? Natürlich war es schwer Freunde zu besuchen, wenn man ständig zwischen Nachtschicht und Frühschicht wechselte.
Schnell schob sie die Überlegungen zur Seite, man hatte ihr schon früh beigebracht, dass sie als Engel andere Aufgaben erfüllen musste, als Freundschaften zu pflegen. Nur der Mensch in ihr sehnte sich nach Gesellschaft und Verständnis.
Die Tür des Lokals ging auf und der Barkeeper erschien mit einem großen, blonden Mann, der seine Freunde und zwei Frauen im Schlepptau hatte. Als er Typ auf sie deutete, rutschte ihr das Herz in die Hose. Nicht nur die Kerle sahen beeindruckend aus, die beiden Damen verunsicherten sie ebenso. Sie waren schlank, obwohl die Rothaarige offensichtlich ein Kind erwartete und sie strahlten so viel Selbstbewusstsein und Glück aus, dass Lea schlucken musste.
Sie nahm ihren gesamten Mut zusammen, stand auf und ging auf die kleine Gruppe zu, wobei der Barkeeper ihr freundlich zulächelte, ehe er wieder im Pub verschwand.
„Entschuldigen Sie, sind Sie David? Einer der Soldaten von Ballygannon?“, sprach Lea den großen Kerl an.
Dieser nickte und sah auf sie herunter, dabei ließ er kein Detail von ihr aus. Er scannte sie in zwei Sekunden und ein misstrauisches Blitzen erschien in seinen Augen, als er erkannte, dass sie ein Engel war.
„Ja, der bin ich und was kann ich für dich tun?“, wollte er distanziert wissen.
„Ich suche nach einem Job. Ich bin Krankenschwester, auch wenn ich gerade sehr verwahrlost aussehe“, stammelte sie verschüchtert und blickte auf den Boden.
Lea traute sich nicht länger, seinem Blick standzuhalten. Sie wusste, dass die Engel die Außenseiter der magischen Welt darstellten, da sie sich völlig darauf konzentrierten den Menschen zu helfen. Niemand in ihrer Gesellschaft verstand, warum sie diese Aufgabe auf sich nahmen, wobei sie meistens keine Anerkennung bekamen. Außerdem misstraute man ihnen, da sie stärker waren als alle anderen Wesen, was sich nicht auf die körperlichen Fähigkeiten beschränkte.
Ihre Chancen schwanden mit jeder Sekunde, die David sie nur betrachtete und stumm vor ihr stand. Ihre Hoffnung sank immer schneller und sie schluckte schwer, weil sie genau spürte, dass er ihr Ansinnen ablehnen würde. Ihre einzige Möglichkeit entpuppte sich als Wunschtraum und die Demütigung traf sie so hart, dass sie es bereute, ihn angesprochen zu haben.
„Ich glaube nicht ...“, begann er, dann brach er den Satz ab.
Irritiert sah Lea auf und bemerkte einen großen, dunkelhaarigen Mann, der eine Hand auf Davids Arm legte.
„Warte, ich könnte eine Assistentin brauchen“, stoppte der Typ ihn jetzt.
Sein Kumpel schaute ihn ungläubig an, so als ob er den Verstand verloren hätte.
„Du weißt schon, dass sie ein Engel ist oder?“, raunte der Anführer seinem Freund zu, sodass nur dieser und Lea in der Lage waren ihn zu hören.
Die magischen Wesen erkannten sich gegenseitig, sobald sie einander in die Augen sahen und bei Lea war es mehr als offensichtlich, besonders durch den goldfarbenen Ring um ihre braunen Iriden.
Ungeduldig nickte der dunkelhaarige Mann und trat einen Schritt vor. Vorsichtig nahm er Leas Kinn in seine große, warme Hand und sah ihr tief in die Augen. Die Welt schien stillzustehen, während er in ihre goldumrahmten, braunen Pupillen sah.
David grinste mittlerweile breit und beobachtete seinen Kumpel gespannt. Auch die anderen Leute aus der Gruppe starrten erwartungsvoll auf diese Szene.
„Ich könnte eine Arzthelferin brauchen, traust du dir das zu?“, wollte der Mann jetzt von Lea wissen.
Sofort nickte sie, in ihrem langen Leben hatte sie einige Jobs gemacht und als Krankenschwester war es kein Problem einem Arzt zu assistieren.
„Gut komm morgen früh in unser Hauptquartier. Wenn du klingelst, dann frag nach Gerry“, befahl er ihr und ließ sie abrupt los.
Die kleine Gruppe drehte sich schon um, doch Lea legte schnell eine Hand auf seinen Ärmel, sodass er sie fragend ansah.
„Es tut mir leid, ich kann nicht nach Ballygannon kommen“, flüsterte sie beschämt und zog sofort ihre schmutzigen Finger zurück, da ihre Fingernägel dicke Trauerränder zierten.
Sie schämte sich zuzugeben, dass sie kein Geld für die Busfahrt dorthin hatte, aber sie musste bei der Wahrheit bleiben, wenn sie diese Gelegenheit nutzen wollte.
Unsicher blickte sie von einem zum anderen, dabei sah sie den Söldnern und ihren Frauen flehend in die Augen.
„Bitte, ich brauche diese Chance und ich verspreche, dass Sie es nicht bereuen werden“, brachte sie hervor, während sie mit ihrer Scham kämpfte.
Die schwarzhaarige Schönheit stieß Gerry mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Du kannst sie doch kaum hier auf der Straße lassen“, bemerkte sie auffordernd.
„Habe ich auch nicht vor“, antwortete er ruhig.
David grinste jetzt breit und schlang einen Arm um die Frau, die gerade Partei für sie ergriffen hatte. Der andere Typ zog die Schwangere an sich, während der Arzt einen Schritt auf sie zuging.
„Komm“, murmelte er und hielt ihr eine Hand hin.
Hoffnungsvoll sah sie ihn an, dann legte sie ihre zitternden Finger in seine Hand, die sich sofort um ihre schloss.
„Wir fahren schon mal, sagt Stew bitte Bescheid, dass ich morgen mit ihm rede“, erklärte Gerry seinen Freunden, anschließend drehte er sich um und zog Lea mit sich.
Die kleine Gruppe ging wieder auf den Pub zu, in dessen Tür gerade ein weiterer Mann erschien, der ebenso beeindruckend aussah, wie der Rest der Söldner. Doch ehe Lea ihn richtig erkennen konnte, war er auch bereits in der Gaststätte verschwunden.
„Bitte, meine Sachen liegen da vorne. Kann ich sie noch schnell holen?“, bat sie verschüchtert.
Der Arzt strahlte eine solche Dominanz aus, das sie sich kaum traute was zu sagen. Etwas Ähnliches hatte sie bisher nicht erlebt, außerdem hielt er ihre Hand fest umschlossen.
Gutmütig nickte er, ging mit ihr zu der Hauswand, um ihre Habseligkeiten aufzuheben. Ehe sie sich rühren konnte, hatte er sich die Reisetasche und den Schlafsack schon über die Schulter geworfen und griff wieder nach ihr.
„Ich kann die Tasche selbst tragen“, bemerkte sie leise.
Ein abschätzender Blick traf sie und der Mann schüttelte nur leicht den Kopf.
„Nein, ich glaube nicht. Du siehst aus, als ob du nicht nur eine Dusche, sondern auch ein ordentliches Bett brauchst“, antwortete er mit seiner dunklen Stimme, die ihr eine Gänsehaut bescherte.
Stumm liefen sie die Straße entlang bis zu einem Parkhaus, wo er sie zu einem riesigen, schwarzen Hummer brachte. Er entriegelte die Zentralverriegelung, öffnete den Kofferraum und warf ihre Sachen hinein.
„Könnte ich den Schlafsack mit nach vorne nehmen? Ich möchte verhindern, dass ich die Sitze schmutzig mache“, bat sie verlegen, dabei senkte sie gedemütigt den Kopf.
Wieder packte er ihr Kinn, hob es an, bis sie ihm in die Augen sehen musste.
„Du brauchst dich nicht zu schämen. Ich bringe dich erstmal in unser Hauptquartier, damit du duschen kannst und etwas zu essen bekommst, dann schläfst du aus. Morgen werden wir uns sehr lange und genauso intensiv unterhalten“, erklärte er ihr mit einem Blick, der ihr durch und durch ging.
Höflich brachte er sie zur Beifahrerseite, öffnete ihr die Tür und half ihr beim Einsteigen. Erleichtert bemerkte Lea, dass der Geländewagen Ledersitze hatte. Schnell schnallte sie sich an, während der Arzt sich hinter das Steuer fallen ließ.
Mit einem satten Röhren erwachte der Motor des Hummers und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Trotzdem zog Lea unwillkürlich den Kopf ein, weil sie das Gefühl hatte, das Auto würde jeden Moment an die Decke des Parkhauses stoßen.
„Ganz ruhig, ich parke hier öfter“, murmelte Gerry mit einem Lächeln.
Lea versuchte sich zu entspannen, aber das gelang ihr keine Sekunde. Auf der einen Seite konnte sie ihr Glück kaum fassen, dass sie wirklich diese Chance bekam, andererseits faszinierte und ängstigte sie dieser Mann gleichzeitig.
Langsam fuhren sie durch Dublin, wobei Lea ständig zusammenzuckte, weil sie dachte, dass sie mit einem anderen Fahrzeug kollidieren würden. Sie war es einfach nicht gewohnt, mit einem so großen und breiten Auto zu fahren. Auf der Landstraße wurde es noch schlimmer, denn jetzt gab Gerry Gas und Lea sah sich ein paar Mal im Graben mit zerschmetterten Knochen.
Der Mann neben ihr griff immer wieder nach ihrer Hand, doch sie zuckte jedes Mal zurück, versuchte seiner Berührung auszuweichen, was ihn nicht gerade entmutigte.
„Wie heißt du?“, wollte er plötzlich wissen.
„Lea Anderson“, antwortete sie leise.
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht und er sah sie kurz an, was sie entsetzt aufstöhnen ließ, da er nicht daran dachte abzubremsen.
„Das ist ein schöner Name. Wie ich bereits sagte, heiße ich Gerry. Du wirst erst einmal bei uns im Hauptquartier wohnen und arbeiten. Allerdings könnte es sein, dass du ab und zu im Krankenhaus oder im Pflegeheim aushelfen musst“, erklärte er ihr sachlich.
„Das ist kein Problem, ich besitze viel Erfahrung in der Pflege. In den letzten zwei Monaten habe ich eine Schlaganfallpatientin gepflegt“, antwortete sie, denn jetzt war sie in ihrem Element.
Sie arbeitete bereits so lange als Krankenschwester, obwohl diese Bezeichnung früher kaum benutzt wurde. In dem Beruf machte ihr niemand etwas vor, was oftmals zu Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten führte, die es nicht gerne sahen, wenn eine Angestellte so ein großes Wissen mitbrachte.
„Danke“, murmelte sie nach einer kleinen Weile.
„Schon gut, ich kann wirklich jemanden brauchen“, versuchte Gerry sie abzuweisen, aber sie wusste, dass sie ihm den Job verdankte.
„Keiner hätte mir eine Chance gegeben, selbst David wollte mich nicht mal anhören. Ich bin überglücklich und dankbar für diese Möglichkeit“, bemerkte sie leise.
„Dann möchte ich, dass du mich beim Vornamen nennst und auf das Sie verzichtest“, verlangte der Arzt schnell.
Ihm passte es gar nicht, dass sie ihn so auf Abstand hielt, allerdings konnte er es gut verstehen.

~~°~~

Immer wieder blickte Gerry zu der Frau hinüber, die sich so ängstlich in den Beifahrersitz drückte, als wolle er ihr etwas antun.
Er spürte deutlich, dass sie seine Gefährtin war, obwohl er kaum mit einem Engel gerechnet hatte. Aber im Endeffekt gab es nichts gegen sie einzuwenden. Seine innere Unruhe verschwand in dem Augenblick, in der sie vor David gestanden hatte, das untermauerte seine Theorie, trotzdem würde er es gerade vor den Welpen verheimlichen. Sie mussten zuerst lernen, ihre normalen Gefühle zu verstehen.
Gerry versuchte sich vorzustellen, wie Lea aussah, wenn sie ausgeschlafen, geduscht und ruhig war. Im Moment schämte sie sich in Grund und Boden, wegen ihres desolaten Zustandes, doch er war davon überzeugt, dass sie nicht wirklich etwas dafürkonnte.
„Du bist keine Irin, woher stammst du?“, wollte er wissen.
Sie unterhielten sich in der Sprache der magischen Welt, trotzdem hörte er heraus, dass sie aus dem Ausland kam.
„Ich bin Deutsche. Jedenfalls habe ich einige Jahrhunderte dort gelebt. Aber jetzt gibt es für mich keinen Weg zurück“, antwortete sie ehrlich, dabei musste sie ein Gähnen unterdrücken.
Die Wärme in dem Auto, die Spannung, die sich langsam auflöste und der Gedanke, dass sie eine echte Chance bekam, ließen sie ihre Müdigkeit spüren. Außerdem hatte sie in den letzten Nächten nicht wirklich viel geschlafen.
„Du kannst ruhig schlafen, ich wecke dich, sobald wir im Hauptquartier angekommen sind“, bot Gerry ihr leise an.
Er sah deutlich, wie erschöpft sie war und dass sie sich dringend ausruhen sollte. Ebenso ging er davon aus, dass sie liebend gerne duschen würde und etwas zu essen brauchte. Morgen wollte er mit ihr reden, herausfinden, warum sie auf der Straße lebte und ihr klarmachen, dass das nie wieder eine Option für sie war.

Kapitel 3 - Die Söldner von Ballygannon

 

Lea lehnte sich zurück und ihr fielen die Augen zu. Sie war nicht länger in der Lage wach zu bleiben, die letzten Tage verlangten ihren Tribut. Außerdem spürte sie mit ihren Engelinstinkten, dass sie Gerry vertrauen durfte und er etwas Besonderes für sie darstellte, allerdings traute sie ihrem Instinkt nicht, wenn es um ihre Person ging. Ihr Misstrauen und die Verletzung durch Dorian hinderte sie ebenfalls daran, sich ihm zu öffnen.
Seine leise Stimme hüllte sie ein, gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit, in das sie sich jetzt gerne fallen ließ. Langsam dämmerte sie weg, wohl auch, weil sie sich seit langem wirklich sicher fühlte.
Gerry sah immer wieder zu ihr rüber, fasziniert beobachtete er sie, denn im Schlaf entspannte sie sich und sah trotz ihres Zustandes wunderschön aus.
Während er den Hummer über die Straßen jagte, versuchte er sich vorzustellen, wie sie unter ihrem Blendzauber aussah. Er wusste, dass sie Flügel hatte, aber ansonsten konnte sie jede Gestalt haben, von dick bis dünn. Seine Gedanken schweiften zu seinem Kumpel David, der alles andere als begeistert schien, was der Luchs ihm nicht übel nahm.
Engel waren verdammt mächtig und darüber hinaus auch noch ziemlich fehlerfrei. Sie besaßen in der magischen Welt einen sehr guten Ruf, obwohl sich keiner freiwillig mit ihnen abgab. Sie verhielten sich einfach zu selbstlos im Umgang mit ihrem Gegenüber, egal welcher Gattung. Dazu kam, dass sie sich den Menschen verschrieben hatten. In was für einem Schlamassel sie steckten oder wie viele Fehler sie machten, immer standen die Engel für sie ein. Sie halfen und bügelten die Schandtaten aus, was niemand in ihrer Gesellschaft nur annähernd verstand.
Wieder musste er lächeln, denn diese Gefährtin würde nicht in seinen Armen sterben, da sie genauso langsam alterte wie er.
Als er den Schotterweg erreichte, der ihn ins Hauptquartier brachte, bremste er vorsichtig ab. Natürlich gab es keinen Grund, Rücksicht auf seinen Wagen zu nehmen, der hatte bereits ganz andere Strecken in hohem Tempo hinter sich, aber er wollte Lea nicht erschrecken.
Gemächlich fuhr er auf das große Gebäude zu, dass schon seit etlichen Jahren sein Zuhause darstellte. Mit der Schlüsselkarte entsicherte er das Tor und parkte kurz darauf seinen Hummer vor dem Eingang.
Der Motor erstarb mit einem leisen Grollen, dann war es totenstill, bis auf Leas regelmäßige Atemzüge.
Gerry stieg aus, umrundete das Fahrzeug, öffnete die Beifahrertür und hob Lea vorsichtig heraus.
Sie schlug die Augen auf, doch sie brauchte einen Moment, ehe sie wusste, wo sie war. Sofort versteifte sie sich in seinen Armen.
„Bitte lassen Sie mich runter“, murmelte sie verschämt.
Sie war sich zu bewusst, dass sie seit Tagen kein Bad mehr von innen gesehen hatte. Die Fürsorge dieses Mannes gefiel ihr, aber sie fühlte sich so unendlich schmutzig, darüber hinaus war sie zu schwer.
„Beruhige dich, ich bringe dich rein, dann kannst du duschen, essen und schlafen“, versprach er ihr, ohne auf ihren Einwand zu hören.
Verlegen hielt sie sich an ihm fest, dabei verbarg sie ihr Gesicht an seiner Brust und atmete seinen frischen Geruch ein. Diese Nähe verunsicherte sie, weil in ihr Gefühle hochkamen, die sie so noch nie gespürt hatte. Außerdem kam er nicht mal auf der Treppe außer Atem, eine beachtliche Leistung, wie Lea insgeheim feststellte.
Schnell brachte er sie in den ersten Stock, wo er die erstbeste Tür mit dem Ellenbogen aufstieß. Vorsichtig ließ er sie auf das Bett gleiten und sah ihr einen Moment tief in die Augen.
„Das ist vorerst dein Zimmer. Das Bad findest du, wenn du den Flur runtergehst, es ist der dritte Raum auf der linken Seite. Hier im Schrank sind Kleider in den verschiedenen Größen, bedien dich. Ich gehe in die Küche und besorge dir was zu essen“, damit drehte er sich zur Tür um und verschwand, ehe sie etwas sagen konnte.
Benommen sah Lea sich um. So ganz geheuer war es ihr nicht, dass sie jetzt in dem berüchtigten Söldnerlager saß, allerdings wusste sie ja, was es mit den Gerüchten auf sich hatte.
Immer noch müde stemmte sie sich hoch, öffnete den Kleiderschrank und suchte sich frische Sachen heraus, ebenso fand sie hier Duschgel, Zahnpasta und eine Zahnbürste. Ihre Reisetasche lag in Gerrys Geländewagen, aber auch wenn sie an ihre Kleider herankommen würde, es gab nichts in der Tasche, das halbwegs trocken und brauchbar war.
Eilig lief sie ins Badezimmer, verriegelte die Tür hinter sich, dann streifte sie die verdreckten Klamotten ab und stellte sich unter die Dusche. Seufzend schloss sie die Augen und genoss das heiße Wasser, das auf sie herunterprasselte.
Ihre Muskeln entspannten sich und sie seufzte leise auf, nie hätte sie gedacht, dass es sich so toll anfühlen konnte, wenn man sich endlich sauber fühlte.
Sorgfältig wusch sie sich, ehe sie ihre Haare einschäumte und wieder ausspülte, bis sie zwischen ihren Fingern vor Sauberkeit quietschten.
Nach einer ganzen Weile stellte sie das Wasser ab, stieg aus der Dusche und wickelte sich in ein Badetuch, das sie in einem Regal fand. Ein normales Handtuch schlang sie um ihren Kopf, da sie auf den ersten Blick keinen Föhn oder Ähnliches entdeckte. Außerdem war sie viel zu müde und zu hungrig, um sich um ihre Frisur zu kümmern.
Schnell rubbelte sie sich trocken, schlüpfte mit einem erleichterten Seufzen in die Kleider und ging in das Zimmer zurück.
Es war schon seltsam, wie sehr man sich über Normalität und alltägliche Dinge freuen konnte, wenn man sie eine Zeitlang entbehrt hatte.
Auf dem Tisch in dem Raum fand sie ein Tablett, von dem ein verführerischer Duft ausging, der ihren Magen knurren ließ. Neugierig hob sie die Abdeckung hoch und schnupperte genüsslich, die Asia-Pfanne, die zum Vorschein kam, sah genauso gut aus, wie sie roch.
Neben dem Teller lag eine Notiz von Gerry, auf der er ihr mitteilte, dass er sie morgen zum Frühstück abholen würde. Ansonsten wünschte er ihr schon einmal eine erholsame Nacht.
Lächelnd setzte sie sich und machte sich über das Essen her, das ihr besser schmeckte, als alles, was sie jemals gegessen hatte. Nach der Hälfte der Portion war sie absolut satt und sie legte das Besteck zur Seite. Müde gähnte sie, sah sich erneut in dem Zimmer um, doch sie war nicht länger in der Lage wach zu bleiben und so beschloss sie, einfach schlafen zu gehen. Es würde himmlisch sein endlich wieder in einem Bett einzuschlafen.
In dem Kleiderschrank fand sie ein Nachthemd, das sie schnell überzog, dann schlüpfte sie unter die Bettdecke. Ihre Gedanken schweiften zu Gerry zurück, der sie trotz der Bedenken seines Bosses mitgenommen hatte. Sofort sah sie das markante Gesicht des Arztes, seine dunklen, schwarzbraunen Haare und die rauchgrauen Augen, die sie so gütig angesehen hatten.
Seine Dominanz erschreckte sie, gleichzeitig fühlte sie sich von ihm angezogen, etwas das sie so noch nicht kannte. In ihr kam eine Hoffnung hoch, die sie lieber gleich wieder vertrieb, oder durfte sie wirklich glauben, dass er ihre Zwillingsseele war? Augenblicklich schob sie die Gedanken zur Seite, normalerweise gab es für Engel keine Gefährten. Jedenfalls kam es nicht sehr oft vor, dass sie ihn auf der Erde fanden.
Trotzdem schlug ihr Herz schneller, wenn sie nur an ihn dachte oder sich an seine ruhige, dunkle Stimme erinnerte. Mit den Bildern im Kopf schlief sie lächelnd ein.

~~°~~

Gerry stellte das Tablett mit dem Essen auf den Tisch in Lea´s Schlafzimmer, dann legte er seine Notiz dazu. Natürlich würde er am liebsten gleich bei ihr bleiben, doch er spürte deutlich, dass es zu früh war. Diese erste Nacht sollte sie einfach nur ausschlafen und sich erholen. Eine Art Welpenschutz, ehe er ihr zeigte, dass sie zu ihm gehörte, in jeder Weise.
Die Unruhe war auch jetzt nicht wiedergekommen und so pfiff er leise vor sich hin, während er in sein Zimmer schlenderte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es gerade mal Mitternacht war, aber er zog es vor, ebenfalls Schlafen zu gehen, zumal seine Freunde im Hogans steckten.
So gut wie in dem Moment hatte er sich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gefühlt. Immer wieder glitten seine Gedanken zu Lea, die nur ein Stockwerk von ihm getrennt in ihrem Bett lag. Diese Frau ging ihm dermaßen unter die Haut, das hatte er noch nie erlebt und ihr Geruch benebelte seine Sinne, selbst vorhin, als sie ungewaschen vor ihm stand.
Zufrieden ließ er sich auf die Matratze fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und freute sich zum ersten Mal seit langem auf das, was da auf ihn zukam.
Gleich am nächsten Tag würde er den Makler anrufen und sich eins der Häuser sichern, die in der kleinen Siedlung, in der auch seine Freunde lebten, zum Verkauf standen. Der Gedanke zusammen mit Lea das Cottage einzurichten und sofort dort einzuziehen gefiel ihm sehr gut, allerdings glaubte er kaum, dass er sie davon jetzt schon begeistern konnte.
Ihre zurückhaltende Art fiel ihm ebenso ein, wie die Tatsache, dass sie im Auto ständig zusammengezuckt war, sobald er sie berührte. Irgendetwas musste ihr zugestoßen sein, denn die wenigen Engel, die er kannte, benahmen sich nicht so schreckhaft.
In ihren Augen hatte er lesen können, wie in einem Buch. Irgendjemand hatte sie sehr verletzt und in ihr schlummerte eine Traurigkeit, die ihr zuschaffen machte. Aber er sah auch die Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe, die er gerne erfüllen wollte.
Gerry hörte, wie Steward zusammen mit David und Emily zurückkehrt, die die Nacht im Hauptquartier verbrachten. Logan und Jo zogen es vor, in ihren eigenen vier Wänden zu schlafen. Trotzdem würde er sie zum Frühstück sehen, da sie es sich nicht nehmen ließen, mit ihren Freunden zu essen.
Endlich schlief auch er ein, während er immer wieder an die traurigen, braunen Augen seines Engels dachte.

~~°~~

Lea erwachte mit dem ersten Sonnenstrahl, da sie vergessen hatte, die Rollos herunter zu ziehen. Sie streckte sich und kuschelte sich noch einmal genüsslich in die Kissen. Es war etwas völlig anderes in einem Bett schlafen zu können, anstatt auf der harten, kalten Straße.
Bei diesem Gedanken schob sich direkt wieder der eindringliche Blick des Arztes vor ihr inneres Auge. Es schien, als ob er an ihr interessiert war, aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein und sie brauchten hier wirklich eine Krankenschwester.
Einen Moment überlegte sie, wann sie so unsicher geworden war. Früher gab es solche Überlegungen nicht. Sie wusste schon beim ersten Kontakt, was sie von ihrem Gegenüber halten konnte. Erst Dorian schaffte es, sie immer mehr zu verunsichern und ihr das Selbstbewusstsein zu rauben.
Natürlich kamen die vielen Begegnungen mit undankbaren, teils feindlichen Menschen dazu. Es motivierte kaum, wenn die eigene Leistung nie gewürdigt wurde, nur gab es für sie keine andere Aufgabe auf dieser Welt.
Leise seufzend setzte sie sich auf und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Die Wände waren in einem schlichten Weiß gehalten und die Möbel bestanden aus einem Kleiderschrank, dem Bett in dem sie lag, einem Stuhl und einem Tisch. Ihr kleines Reich war sauber und praktisch eingerichtet, obwohl sie sich etwas mehr Farbe gewünscht hätte, denn auch die restliche Einrichtung beschränkte sich auf Cremefarben und Hellgrau.
Allerdings stellte sie bestimmt keine großen Ansprüche. Besonders nach der Zeit auf der Straße freute sie sich, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Vielleicht half Gerry ihr sogar, ihren Ausweis zurückzubekommen oder einen neuen zu beantragen, doch im Moment war das zweitrangig und so schob sie diese Überlegungen energisch zur Seite.
Ihr fiel ein, dass er sie zum Frühstück abholen wollte, aber sie hatte keine Ahnung, wann die Söldner aufstanden, geschweige denn, wie spät es war. Gleich nach dem Essen musste sie ihn um ihre Sachen bitten, damit sie ihr Smartphone aufladen konnte. Außerdem gab es bestimmt irgendwo eine Möglichkeit ihre Kleider zu waschen, die es dringend nötig hatten.
Mit einem feinen Lächeln schnappte sie sich frische Unterwäsche, Duschgel, Zahnbürste, Zahnpasta und die Kleidung vom Vortag, anschließend ging sie ins Badezimmer. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal verwahrlost und ungepflegt vor den Männern stehen.
Lea bedauerte es, dass sie ihre Toilettensachen nicht benutzen konnte, denn in ihrer Tasche lag auch ein Rasierer. Unzufrieden bemerkte sie, dass eine Rasur dringend nötig war, aber dann schüttelte sie den Kopf, wer würde sie schon nackt sehen?
Dieses Mal genoss sie die Dusche zwar ebenso, wie am vergangenen Abend, doch sie beeilte sich, da sie Gerry auf keinesfalls warten lassen wollte. Erneut seifte sie sich ordentlich ein, gab Shampoo in ihre Haare und spülte alles gründlich ab, weil sie ständig das Gefühl hatte, dreckig zu sein. Ihre Haare rubbelte sie in ihrem Zimmer trocken und kämmte sie notdürftig mit den Fingern, da sie keine Bürste gefunden hatte. Nervös lief sie durch den Raum, dabei überlegte sie, was man wohl heute von ihr erwartete. Außerdem verfolgte sie der eindringliche Blick des Gestaltwandlers förmlich, immer wieder schob sich sein kantiges Gesicht vor ihr inneres Auge.
Ehrlich gestand sie sich ein, dass dieser Mann sie ziemlich beeindruckte, besonders durch seine ruhige, beherrschte Art.
Dorian war völlig anders gewesen, unbeherrschter, zorniger. Er verlor schnell die Fassung, dann schrie er herum und einmal warf er sogar einen Teller an die Wand.
Was tat sie denn da? Sie verglich tatsächlich ihren Ex-Freund mit einem Typen, den sie kaum kannte. Wer wusste schon, ob Gerry nicht auch irgendwann ausrastete, laut oder handgreiflich wurde. Aber allein diese Überlegung schien absolut absurd.
Die Stimme ihrer Mutter erklang wieder in ihr. Sie gab ihr bereits vor fast zwei Jahrhunderten den Rat endlich auf ihren Instinkt zu hören. Lea gehorchte ihr, doch der versagte, sobald es um sie ging. So war sie damit etliche Male bösartig auf die Nase gefallen und jetzt traute sie sich nicht mehr, nur ihrem Gefühl zu folgen.
Bei ihren Aufgaben als Krankenschwester und im Umgang mit den Menschen ließ ihre Intuition sie nie im Stich, nur wenn es sich um ihr Liebesleben oder ihre persönliche Situation handelte.
Seufzend setzte sie sich auf den Stuhl und stützte die Ellenbogen auf den Tisch, während sie ihr Kinn mit den Handflächen abstützte. Ihre Gedanken schweiften zurück und jetzt mit der nötigen Distanz erkannte sie, dass sie sich immer auf halbherzige Beziehungen eingelassen hatte. Keiner der Männer, mit denen sie liiert war, stellte ihre Zwillingsseele dar. Irgendwie wusste sie es auch sofort, nur verschloss sie zu gerne die Augen davor, zumal sie die Einsamkeit nur schwer ertrug.
Ein leises Klopfen ließ sie zusammenzucken, doch schnell fing sie sich wieder, erhob sich und öffnete die Tür. Vor ihr stand Gerry, der sie eindringlich ansah. Verlegen wich sie zurück, dabei machte sie eine einladende Handbewegung. Mit ihm hatte sie noch gar nicht gerechnet.
„Du bist schon fertig? Alles in Ordnung?“, wollte er besorgt wissen, als er näher kam.
Lächelnd nickte sie und versuchte seinem Blick standzuhalten.
„Es ging mir nie besser, vielen Dank“, murmelte sie leise.
Nachdenklich sah er sie an, während er dicht vor ihr stehen blieb. In ihren Iriden erkannte er ihre Unsicherheit und die Angst Fehler zu machen, aber ebenso die tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit.
Vorsichtig zog er sie an sich, legte beide Arme um sie und lächelte leicht, als sie ihre Wange an seine Brust schmiegte.
„Ich passe ab jetzt auf dich auf“, teilte er ihr ernst mit.
Lea schloss die Augen, seine Umarmung tat ihr so unendlich gut. Sie wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so beschützt gefühlt hatte. Wahrscheinlich noch nie!
Nach ein paar Minuten versuchte sie von ihm abzurücken, da ihr eingefallen war, dass sie besser auf Abstand blieb. Auf keinen Fall wollte sie mit einem gebrochenen Herzen enden oder wieder auf der Straße landen.
Bedauernd legte sie die Hände an seinen Brustkorb und drückte gegen ihn, nur damit erreichte sie lediglich, dass er sie ein wenig fester an sich presste.
„Entspann dich, Engelchen. Es wird dir bei mir nie etwas passieren“, flüsterte Gerry ihr zu und strich ihr leicht über den Rücken.
Wenn sie ihm nur so einfach glauben könnte! Ihr Verstand schrie auf, dass sie das Risiko kein weiteres Mal eingehen sollte. Wohingegen ihr Gefühl ihr genau das Gegenteil riet.
Verunsichert hob sie den Kopf und sah den breitschultrigen Mann bittend an. Sie wollte ihn weder verärgern noch zurückweisen, doch sie schaffte es nicht, mit dieser Situation umzugehen.
Seufzend löste er die Arme von ihr, nur sein Blick hielt sie gefangen.
„Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber ich meine es ernst, ab sofort passe ich auf dich auf“, bemerkte er bestimmend.
Lea schluckte und sah ihn mit großen Augen an, nicht in der Lage ihm zu antworten. Endlich brachte sie ein Nicken zustande.
„Keine Sorge, wir besitzen alle Zeit der Welt und hier bist du in Sicherheit. Komm wir gehen frühstücken. Du hast doch bestimmt Hunger oder?“, erkundigte er sich liebevoll.
„Ja habe ich, obwohl ich besser weniger essen sollte“, stieß sie heiser hervor, dann senkte sie den Blick.

~~°~~

Gerry wusste, dass es nichts nutzte, jetzt mit ihr über ihre Figur zu sprechen, deshalb schüttelte er nur leicht den Kopf und nahm ihre kalte Hand.
„Komm“, befahl er ruhig.
Seine Finger verschränkten sich mit ihren, so brachte er sie aus dem Raum raus und führte sie in das Erdgeschoss, wo er eine Tür öffnete, hinter der sie Gemurmel hörte.
Langsam löste er seinen Griff, legte eine Hand in ihren Rücken und ließ ihr höflich den Vortritt, doch Lea blieb wie angewurzelt stehen. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Neben David erkannte sie auch die beiden Frauen und den Mann mit den blond-schwarzen Haaren, die sie gestern zum ersten Mal getroffen hatte.
Verlegen versuchte sie sich umzudrehen und die Flucht antreten. Besonders dem Boss ihres Begleiters wollte sie lieber nicht begegnen, seine Meinung kannte sie zu genau.
„Keine Angst“, raunte der Arzt ihr zu.
„Guten Morgen Gerry. Ist das deine Freundin?“, ertönte in diesem Moment die helle Stimme von Billy.
Ein breites Grinsen huschte über Gerrys Gesicht, als der Kleine das Offensichtliche so deutlich aussprach. Emily zuckte entschuldigend mit den Schultern, während sie ihren Sohn tadelte.
„Ist schon okay, er hat jedes Recht Fragen zu stellen“, verteidigte der Luchs das Kind.
„Ja, das ist meine Freundin Lea und ich hoffe, du wirst auch ihr Freund“, antwortete er Billy.
Begeistert nickte dieser und grinste die fremde Frau breit an, dann wurden seine Augen groß. Natürlich wusste er nicht, dass sie ein Engel war, aber er spürte ihre mächtige Aura sehr gut. Ehe er noch etwas sagen konnte, ermahnte David ihn, dass er sein Frühstück essen sollte.
Lea atmete tief durch und erwiderte das Lächeln des Kindes. Anschließend sah sie seinem Vater offen in die Augen, doch statt der erwarteten Ablehnung erkannte sie Herzlichkeit, Freude und ebenso Neugier.
Unnachgiebig schob Gerry sie weiter in den Raum hinein, bis sie vor dem leeren Platz neben David stand.
„Setz dich“, befahl er leise und rückte ihr den Stuhl zurecht.
Gehorsam setzte sie sich, hier vor den anderen Gestaltwandlern vermied sie es zu diskutieren, aber richtig fand sie es nicht, dass sie dem Arzt den Stammplatz wegnahm.
„Ich hole schnell ein neues Gedeck“, damit verließ er das Esszimmer und ließ sie ziemlich unsicher zurück.
„Es tut mir leid, dass ich gestern so abweisend war. Bitte verzeih mir, es war eine dumme Reaktion“, begann David und sah sie freundlich an.
Sofort schüttelte sie den Kopf, ihr war klar, wie sie auf ihn gewirkt haben musste.
„Nein, keine Angst, ich sah ja auch kaum vertrauenerweckend aus“, beruhigte sie ihn, doch er hob leicht die Hand.
„Das war mir egal. Ich schaue selten nach dem Äußeren, und wenn jemand Hilfe braucht, kommt es nicht drauf an, wie er aussieht. Ich war einfach zu überrascht, ein Wesen deiner Art in dem Zustand zu sehen. Es entschuldigt mein Verhalten keineswegs, aber Gott sei Dank hat Gerry eingegriffen“, erklärte er aufrichtig.
Diese Ehrlichkeit nötigte ihr Respekt ab und sie lächelte ihn spontan an, ohne daran zu denken, dass spätestens jetzt jeder wusste, was sie war.
Das gesamte Esszimmer wurde in ein warmes gelbes Licht getaucht, das Ruhe und Frieden brachte.
David grinste erleichtert zurück, während Billy und die Welpen sie nur mit offenem Mund anstarrten.
„Danke, dass du meine Entschuldigung angenommen hast. Ich bin wirklich kein solches Arschloch“, bemerkte er, gerade als Gerry wieder zu ihnen trat.
Fragend sah er von Lea auf seinen Boss, doch ehe er eine Antwort bekam, meldete sich Emily.
„Wurde auch Zeit, dass wir endlich weibliche Verstärkung bekommen. Ich bin Emily und hier neben mir ist Joleen“, stellte sie sich vor.
Jo lächelte Lea zu, sie war ebenso glücklich darüber, dass eine weitere Frau zu ihnen gestoßen war. Oft genug kamen sie gegen die geballte Testosteronfront kaum an.
„Schön dich kennenzulernen und noch mehr freut es mich, dass Gerry seine Gefährtin offensichtlich gefunden hat“, begrüßte Jo sie.
Verlegen zuckte Lea mit den Schultern, es war für sie zu früh, um sich als Partnerin des Arztes zu sehen.
„Vielen Dank für das freundliche Willkommen. Ich bin wirklich sehr froh, dass ich die Chance bekomme, hier zu arbeiten, aber ich bin nicht mit Gerry zusammen“, stellte sie die Aussage richtig.
Emily und Jo lachten laut auf und auch in den Gesichtern der anderen Anwesenden sah sie ein Schmunzeln, was sie dazu veranlasste, das Thema augenblicklich fallen zu lassen.
„Iss was“, mischte der Luchs sich ein und deutete auf die Brötchen direkt vor ihr.
Dankbar für die Ablenkung griff sie zu, dabei hoffte sie, dass niemand mehr von ihrer möglichen Beziehung zu Gerry redet, doch da kannte sie die beiden Frauen schlecht.
„Mach dir nichts draus, ich habe auch eine Zeit gebraucht, bis ich wusste, dass Logan und ich zusammengehören“, bemerkte Jo nach einer kleinen Pause.
„Im übrigen ist er der große Kerl mit den gescheckten Haaren neben mir, nur das hast du dir sicherlich bereits gedacht“, fügte sie grinsend hinzu.
Ihr Gefährte schüttelte gespielt streng den Kopf und legte einen Arm um ihre Schultern.
„Freut mich, dich kennenzulernen. Jo und Emily sind leider ein wenig zu direkt, aber ich hoffe, du verzeihst den beiden“, bat Logan mit einem freundlichen Lächeln.
„Es gibt nichts zu verzeihen, so wie wir hereinkamen, musste man genau diese Rückschlüsse ziehen“, murmelte Lea.
Jeder hier dachte offensichtlich, dass sie zu dem Arzt gehörte oder zumindest bald gehören würde, nur sie war sich da keinesfalls sicher.
„Lasst sie doch einfach in Ruhe etwas essen. Ich verspreche, dass sie nicht gleich weglaufen wird und ihr könnt Lea in den nächsten Tagen kennenlernen, da sie meine Assistentin ist“, stoppte Gerry jetzt weitere Fragen oder Diskussionen.
Dankbar sah Lea ihn an, sie freute sich natürlich, dass die Gestaltwandler sie so freundlich aufnahmen, aber alles andere ging ihr viel zu schnell.
„Wir müssen los, Billy sollte in einer Viertelstunde im Kindergarten sein. Bis später“, verabschiedete sich Emily kurz darauf.
Ihr Sohn protestierte lautstark, dass er auch zum Team gehörte und Lea kennen lernen wollte, doch ein Blick von David reichte, um ihn umzustimmen.
„Wir sehen uns bestimmt heute Nachmittag oder spätestens morgen zum Frühstück wieder“, versprach Lea dem Kleinen und schenkte ihm ein Lächeln.
Glücklich winkte er ihr von der Tür aus zu und hüpfte neben seiner Mutter aus dem Raum. Versonnen sah sie ihm nach, Kinder waren etwas ganz besonderes.
„Wir sollten auch los“, bemerkte Gerry und sie sah ihn fragend an.
„Ich möchte dir Ellie unsere Köchin, Haushälterin und gute Seele des Hauses vorstellen. Außerdem zeige ich dir das Hauptquartier, anschließend werden wir uns intensiv unterhalten“, beantwortete er ihr stumme Frage.
Mit einem Knoten im Magen nickte sie ihm zu, stand auf und lief vor ihm aus dem Raum. Wieder legte er eine Hand in ihren Rücken und schob sie so vor sich her, dabei spürte sie deutlich die Wärme, die von ihm ausging. Ein Gefühl von Geborgenheit breitete sich in ihr aus, welches sich noch verstärkte, als er vor der Tür ihre Hand in seine nahm.
Zusammen gingen sie zur Küche, wo sie auf Ellie trafen.
„Guten Morgen, ich möchte dir meine neue Assistentin Lea vorstellen“, machte sich Gerry bemerkbar, schmunzelnd verzichtete er extra drauf zu erwähnen, dass er viel mehr in der jungen Frau sah.
Die Haushälterin drehte sich um und lächelte, während sie sich die Gefährtin des Arztes genau ansah. Niemand musste ihr erklären, dass sie bereits das Herz des Luchses erobert hatte. Herzlich umarmte Ellie den Erdenengel, wobei sie spürte, dass es sich um ein spezielles Wesen handelte. Die Hausdame besaß keine magischen Fähigkeiten, sondern nur ihre Menschenkenntnis.
„Schön, dass du hier bist. Wenn du etwas benötigst, komm zu mir. Ist nicht immer ganz einfach unter den Männern zu sein“, bemerkte Ellie, als sie Lea aus ihrer Umarmung entließ.
„Danke sehr, ich brauche in der Tat eine Waschmaschine. Leider ist meine Reisetasche undicht und die Kleider sind alle nass“, antwortete Lea mit einem Lächeln.
Ein breites Grinsen huschte über das Gesicht der Haushälterin, dann sah sie auf den Luchs, der vorsichtig einen Arm um die Schultern seines Engels legte.
„Du redest nicht etwa von dem blauen Rücksack, den Gerry mir vorhin gegeben hat?“, erkundigte Ellie sich belustigt.
Erschrocken riss Lea die Augen auf. Auf keinen Fall wollte sie, dass jemand ihre Arbeit tat oder sie bediente.
„Die Tasche ist blau, aber ich möchte bestimmt nicht, dass Sie das für mich machen“, brachte sie stotternd hervor.
Jetzt lachte die ältere Frau laut auf und schüttelte den Kopf.
„Das Sie kannst du dir ruhig schenken, wir sind hier wie eine große Familie und meine Aufgabe ist es genau für solche Sachen zu sorgen. Ich koche und wasche für die Jungs und ihre Gefährtinnen. Außerdem gibt es noch ein paar Küchen- und Haushaltshilfen, die mir zur Hand gehen und das Haus sauber halten“, erklärte sie freundlich.
Damit hatte Lea nicht gerechnet und so bedankte sie sich bei Ellie, ehe Gerry sie aus dem Raum brachte.
„Mach dir keine Gedanken. Alle haben ihre Arbeiten und du gehörst jetzt dazu, also darfst du genauso die Hilfe von anderen annehmen“, versuchte er sie zu beruhigen.
„Darum geht es nicht, ich kann mich sehr gut selbst um meine Wäsche kümmern. In meinem Leben gab es niemanden, der mir hinterher geräumt hat, ebenso wenig werde ich mich bedienen lassen“, erklärte sie kühl, als sie den Flur runter liefen.
Amüsiert bemerkte Gerry, dass sie zwar wütend auf ihn war, aber seine Berührung trotzdem akzeptierte. Diese Kleinigkeit ließ ihn darauf schließen, dass ihr seine Gegenwart gefiel, obwohl sie sauer war.
Er zeigte ihr die Bücherei, das Fitness-Studio, das Schwimmbad, die Sauna und das gemeinsame Wohnzimmer, anschließend brachte er sie in seinen Untersuchungsraum.
Lea fiel auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und atmete tief durch. Mit vielem hätte sie gerechnet, aber kaum mit so einem Luxus, der sie fast erschlug. Allerdings war sie genauso begeistert, dass sie in ihrer Freizeit Sport treiben oder sich fortbilden konnte.
„Magst du etwas trinken?“, erkundigte Gerry sich höflich.
Schnell schüttelte sie den Kopf, im Moment war sie satt und wollte jetzt gerne mehr über ihre Aufgaben wissen. Langsam wurde sie auch nervös, da er so gar nicht darüber sprach, wann sie mit ihrer Arbeit anfangen sollte. Hatte er vielleicht entschieden, dass sie doch nicht die Richtige für den Job war?
Der Arzt lehnte sich an seinen Schreibtisch, sodass er direkt vor ihr stand, und sah sie eine kleine Weile einfach nur an.
Lea knetete ihre Finger, senkte den Blick und versuchte ihm zu verheimlichen, was sie gerade fühlte, nur darin versagte sie hoffnungslos.
„Was ist los? Warum bist du so nervös?“, erkundigte er sich ruhig.
Hilflos sah sie ihn an. Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie schlichtweg Angst hatte, aber lügen kam für sie noch weniger infrage. Unruhig rutschte sie auf dem Sitz hin und her, während sie schwer schluckte.
Vorsichtig packte Gerry ihr Kinn und hob es etwas an, dabei sah er ihr eindringlich in die Augen.
„Raus mit der Sprache, was bedrückt dich?“, hakte er nach.
Sein Blick fesselte sie und in dem Moment spürte sie überdeutlich die Finger an ihrem Kinn.
„Ich habe Angst“, stieß sie hervor, ehe sie die Augenlider schloss.
Ihr ganzer Körper bebte und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich beruhigen sollte. Alle erwarteten von den Engeln Perfektion, doch das war ein Trugschluss und sie wollte keinesfalls wieder auf die Straße zurück. Außerdem befürchtete sie, dass sie ihrem Instinkt nachgab und sich auf den smarten, dominanten Mann einließ, aber wer wusste schon, ob er sie nicht anschließend fallen ließ?
Ruhig schüttelte Gerry den Kopf, löste seine Finger von ihrem Kinn und hockte sich vor den Stuhl. Vorsichtig nahm er ihre kalten Hände in seine.
„Schau mich an, Engelchen“, befahl er liebevoll.
Unsicher lenkte sie den Blick auf ihn, dabei spürte sie die Wärme und Geborgenheit, die von ihm ausging. Diese Gefühle machten ihr viel mehr Angst, als die Sorge zu versagen.
„Ich passe auf dich auf, egal was kommt. Du musst dich vor mir nie fürchten“, versprach er eindringlich.
In ihren Augen trat die Trauer deutlich hervor, denn Sätze, wie den hatte sie in ihrem langen Leben schon so oft gehört und genauso oft war sie enttäuscht worden.
„Du wirst lernen zu vertrauen, glaub mir. Außerdem werde ich dafür sorgen, dass diese Traurigkeit aus deinem Blick verschwindet“, bemerkte er fast wie zu sich selbst.
Wenn sie sich getraut hätte, würde sie spöttisch auflachen, aber dazu fehlte ihr eindeutig der Mut. Schnell schüttelte sie nur den Kopf.
„Ich möchte nur hier arbeiten“, brachte sie leise hervor.
Mit einem heiseren Fluch stand Gerry auf, hob sie auf seine Arme und setzte sich mit ihr zusammen wieder auf den Stuhl. Er rückte sie so, dass sie bequem saß, und nötigte sie, sich an ihn zu lehnen.
Lea versuchte sich zu wehren, wollte abrücken, doch er hielt sie mit sanfter Gewalt an ihrem Platz. Das Gefühl der Geborgenheit machte sich in ihr breit und trotzdem erlaubte sie sich nicht, wenigstens diesen einen Moment zu genießen.
„Bleib ruhig, ich tue dir nichts. Entspann dich und erzähl mir von deiner Angst“, befahl er unnachgiebig, während er fast träge über ihren Rücken strich.
Seufzend schloss sie die Augen, lehnte sich ein wenig mehr an ihn und atmete tief durch. Ihr gefiel es viel zu gut in seiner Umarmung, aber das konnte nur in einer Katastrophe enden. Engel fanden ihre Zwillingsseelen nur in ganz seltenen Ausnahmen auf der Erde.
„Ich fürchte mich zu versagen“, gab sie endlich zu.
„In welcher Hinsicht? Erzähl mir, was dich bedrückt“, fordere er hart.
Bei seinem ernsten Ton zuckte sie erschrocken zusammen und versteifte sich in seinen Armen, doch er streichelte unbeirrt weiter über ihre Wirbelsäule.
„Von uns Engeln wird immer erzählt, dass wir fehlerlos und perfekt sind. Nur handelt es sich dabei um Märchen. Wir machen auch Fehler, unter- oder überschätzen uns. Ich habe einfach Angst, hier nicht erwünscht zu sein und wieder auf der Straße zu landen. Bisher hast du noch kein Wort über meine Aufgaben verloren oder mir gesagt, wann ich anfangen soll“, stieß sie nervös hervor.
Das war nur die halbe Wahrheit, das war ihr klar. Nur konnte sie diesem fremden Mann doch unmöglich sagen, dass sie sich davor fürchtete, sich in ihn zu verlieben und dann enttäuscht zu werden.
„Der Job hier ist dir sicher, mach dir da bitte keine Sorgen. Aber ich sehe, wie erschöpft du bist und das dir etwas auf der Seele liegt. Deshalb möchte ich dir ein paar Tage zur Eingewöhnung geben. Außerdem habe ich dir gestern gesagt, dass wir uns heute lange und intensiv unterhalten“, erinnerte er sie mit einem feinen Lächeln.
Müde legte sie die Wange an seine Brust. Sie war es so satt immer stark sein zu müssen, nie jemanden zu haben, an den man sich anlehnen konnte. Wie sehr sehnte sie sich nach Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit. In diesem Augenblick schaffte sie es nicht, Abstand zu halten, dafür fühlte es sich in seinen Armen zu gut an.
„Du bist oft ziemlich dominant, und als du mich eben so eindringlich angesehen hast, befürchtete ich, dass du mich wegschickst“, gab sie verlegen zu.
Ein leises Lachen ließ seinen Brustkorb vibrieren.
„Ich werde dich nie wegschicken, Engelchen. Spürst du denn nicht, dass da ein besonderes Band zwischen uns ist?“, wagte er sich einen Schritt vor.
„Doch, aber ich traue mich kaum, mich auf meine Intuition zu verlassen. Zu oft bin ich auf die Nase gefallen“, murmelte sie, dabei lief ihr eine Träne über die Wange.

~~°~~

Gerry konnte es nicht sehen, da sie ihr Gesicht fest an seine Brust drückte, dennoch spürte er, wie sie krampfhaft darum kämpfte, die Tränen zurückzuhalten. Er dachte sich bereits, dass sie ihr Vertrauen verloren hatte, aber daran würden sie arbeiten, außerdem wollte er ihr zeigen, dass er es verdammt ernst mit ihr meinte.
„Wieso traust du dich nicht, dich auf deine Gefühle zu verlassen? Habt ihr Engel damit ein Problem allgemein?“, hakte er weiter nach.
Lea atmete tief aus, was ihm zeigte, dass dieses Thema an ihr nagte, doch er musste wissen, was sie für Sorgen mit sich schleppte, um ihr helfen zu können.
„Nein, ich bin die Ausnahme. Wir erkennen normalerweise sofort, ob uns jemand anlügt, oder ob wir demjenigen vertrauen dürfen. Bei mir ist es anders, solange es sich nicht um mich persönlich handelt oder besser gesagt, falls ich es schaffe, mein Herz rauszuhalten, weiß ich genau, woran ich bin. Sobald es um meine Gefühle geht, verrenne ich mich, gebe mich mit den falschen Leuten ab und werde am Ende verletzt. Vielleicht bin ich eine Mutation oder habe einen Gendefekt“, erzählte sie ihm offen.
Es erstaunte Gerry, dass sie ihm ihre Sorgen so anvertraute, obwohl sie ihn gerade erst kennen lernte, aber es freute ihn ebenso.
„Ich denke nicht, dass du aus der Art geschlagen bist. Du bist perfekt, so wie du bist, nur ein wenig zu leichtgläubig“, beschwichtigte er sie.
Lea hob den Kopf, um ihm fragend in die Augen zu sehen. Meinte er das ernst? War sie für ihn makellos, das konnte sie kaum glauben.
Der Luchs sah die Spuren, die die Tränen hinterlassen hatten und er strich behutsam mit dem Daumen darüber. Sein Blick beruhigte sie seltsamerweise, obwohl er so eindringlich war, als ob er in ihrer Seele lesen wollte.
Vorsichtig senkte er den Kopf, streifte mit seinen Lippen federleicht über ihre, dabei hielt er sie nicht fest. In dem Augenblick sollte sie selbst entscheiden, wie weit sie ihn gehen ließ.
Erstaunt riss Lea die Augen auf, mit dieser Zärtlichkeit hatte sie nicht gerechnet, ganz im Gegenteil.
Gerry drückte erneut sanft seine Lippen auf ihre, leckte verlangend an ihrer Unterlippe entlang und drang in ihren Mund ein, als sie ihn leicht öffnete.
Ihr Geschmack flutete seine Sinne und er stöhnte leise auf. Das ein einfacher Kuss so intensiv sein konnte, hätte er sich nie träumen lassen. Liebevoll strich er über ihre Zunge, zog sich ein wenig zurück, um sie gleich noch einmal auf diese Weise zu erobern.
Ohne zu überlegen, legte er eine Hand an ihren Hinterkopf, vergrub die Finger in ihren Haaren, hielt sie genau in der Position, in der er sie haben wollte. Auch jetzt wehrte Lea sich nicht, ganz im Gegenteil.
Zaghaft kam sie ihm entgegen, schloss die Lider und gab sich völlig seinem Kuss hin. Bei der Leidenschaft, die in ihm loderte, konnte er sich kaum beherrschen, und bevor er die Kontrolle verlor, ließ er von ihr ab.
Verwirrt öffnete sie die Augen und sah ihn an. Unsicherheit im Blick und genauso Angst.
„Keine Sorge, Engelchen. Aber falls du nicht gleich unter mir in meinem Bett liegen möchtest, dann ist es besser, dass ich früh genug aufhöre“, murmelte er lachend.
Verlegen senkte sie den Kopf, doch ein Lächeln umspielte ihren Mund. Dieser Kuss hatte ihr also gefallen, folgerte Gerry und schmunzelte ebenso.
„Gut, wo waren wir stehen geblieben?“, hakte er leise nach.
„Dass ich vielleicht zu leichtgläubig bin“, antwortete Lea.
Das Stichwort passte ihm auf keinen Fall, denn sobald sie sich daran erinnerte, würde sie versuchen ihn wieder auf Abstand zu halten.
„Erzähl mir, wieso du glaubst, unvollkommen zu sein“, bat er sie, während er sie zärtlich an sich gedrückt hielt.
Lea zuckte leicht mit den Schultern.
„Jeder von uns erkennt sofort, wenn die Person, mit der er sich einlässt, nicht gut für ihn ist. Niemand, den ich kenne, ist dermaßen verletzt worden, weil er sich in die falschen Leute verliebt hat“, gab sie offen zu, obwohl es ihr schwerfiel.
Gerry überlegte einen Moment. Er hatte geglaubt, dass gerade die Engel mehr über Gefühle und Liebe wussten, als alle restlichen Wesen zusammen. Interessiert sah er sie an.
„Hast du als Erdenengel keine besonderen Fähigkeiten, die dich vor solchen Individuen schützen?“, wollte er wissen.
Schnell zuckte sie mit den Schultern und lachte leise auf.
„Über uns sind so viele Gerüchte im Umlauf, dass es mich schaudert. Ja jeder Engel hat so seine Kräfte, aber auch wir können einem anderen Wesen nur vor den Kopf schauen und keine Gedanken oder Emotionen lesen. Wir erkennen sofort, wenn uns jemand nur vorspielt, uns zu mögen oder gar zu lieben. Allerdings erwarten wir ebenso besonders tiefe und ehrliche Gefühle und das ist das Problem“, erklärte sie, anschließend hob sie den Blick, um zu sehen, ob er sie verstanden hatte.
Nachdenklich nickte der Luchs, das leuchtete ein. Die magische Welt wussten viel zu wenig über diese Spezies, denn bisher hatte diese Art sich von allen anderen Lebewesen ferngehalten.
„Man sagt, dass Engel sehr mächtig sind, aber wenn ich dich gerade so ansehe, dann begreife ich nicht, warum ich dich fürchten sollte“, bemerkte er provozierend.
Lea lachte wieder und rückte ein Stückchen von ihm ab, um ihm besser in die Augen sehen zu können.
„Hat Macht immer etwas mit Angst zu tun?“, entgegnete sie ihm.
Verlegen zuckte er mit den Schultern, mächtige Wesen wurden bei allen Rassen sehr vorsichtig behandelt, da war es doch naheliegend, dass man sie fürchtete.
„Wir haben die Fähigkeit Kriege zu beenden, Ruhe und Frieden zu bringen und ebenso die größten Streithähne zu besänftigen. Nein fürchten muss man uns wohl kaum und dennoch können wir in viele Situationen eingreifen. Bei uns existiert kein Hass, kein Neid und genauso wenig der Wunsch ein anderes Lebewesen zu verletzten, ganz im Gegenteil. Allerdings beschützen wir, was wir lieben, mit allem, was uns zur Verfügung steht. Vielleicht sind wir deshalb die Außenseiter, weil wir die Macht der Liebe nutzen“, erklärte sie ruhig.
Als sie ihm jetzt in die Augen sah und wieder offen lächelte, spürte er die Ruhe, die sich über ihn legte. Er sah das gelbe Licht, das er auch schon im Esszimmer bemerkt hatte. Das war in der Tat eine große und mächtige Gabe und es musste ein sehr starker Charakter dahinter stecken, wenn sie ihre Begabungen nicht ausnutze.
„Das sind die Kenntnisse, die jeder Engel hat. Einige nutzen sie intensiver, andere weniger“, fügte sie hinzu und sah ihn ernst an.
Jetzt war das Strahlen im Zimmer verschwunden, trotzdem fühlte Gerry weiterhin diese Ruhe und Zufriedenheit. Sein kleiner Erdenengel faszinierte ihn immer mehr.
„Wenn ihr in der Lage seid, Kriege zu beenden, wieso gibt es dann noch so viele?“, platzte Gerry heraus.
Sofort sah er sie entschuldigend an, doch sie nickte verstehend.
„Jedes Wesen hat einen freien Willen und wir sind verhältnismäßig wenige, im Vergleich zu denen, die Kriege, Leid und Unterdrückung wollen. Einen Streit oder auch einen Krieg zu beenden schaffen wir nur, wenn die Beteiligten bereit sind. Leider ist der Hass in dieser Welt extrem präsent, jeder versucht die Schuld bei den anderen zu suchen, statt sich selbst infrage zu stellen“, erklärte sie, ehe der Luchs seine Frage widerrufen konnte.
Verstehend nickte er, unter diesen Umständen musste es belastend sein, nicht helfen zu können.
„Magst du mir sagen, welche besonderen Kräfte du noch hast?“, hakte er vorsichtig nach.
Lächelnd nickte sie, es war kein Geheimnis und bei den magischen Wesen gab es kaum einen Grund ihre Kenntnisse zu verschweigen.
„Ich habe die Fähigkeit zu trösten, zu heilen und falls nötig, den Tod herbeizurufen“, antwortete sie aufrichtig, jedoch ohne Stolz in der Stimme.
„Wenn ich meine echte Gestalt annehme, kann ich ebenso fliegen“, fügte sie der Vollständigkeit halber hinzu.
„Wow das ist eine Menge und jetzt begreife ich auch, weshalb du Krankenschwester geworden bist. Aber ich verstehe immer weniger, wieso du auf Dublins Straßen landen konntest“, bemerkte Gerry und hoffte, dass er das Thema nicht zu voreilig angesprochen hatte.
Die Frau auf seinem Schoß beeindruckte ihn zu tiefst und ein Glücksgefühl durchströmte ihn, dass er derjenige war, der zu ihr gehörte. Genau so stellte er sich seine perfekte Gefährtin vor. Es war, als ob sie nur für ihn gemacht war.
„Das hat mit meinem mangelndem Instinkt zu tun“, gab sie leise zu.
Lea schämte sich, weil sie gerade auf Dorian so hereingefallen war. Außerdem musste sie zugeben, dass sie von Anfang an gespürt hatte, dass er der Falsche war. Ganz anders als jetzt. In Gerrys Nähe fühlte sie sich so unendlich geborgen und sicher.
„Magst du es mir erzählen? Oder möchtest du zuerst etwas über mich erfahren?“, erkundigte Gerry sich.
Keinesfalls wollte er sie überfordern oder Wunden aufreißen, die sie im Moment noch nicht verarbeiten konnte.
„Ich dürfte mich gar nicht so intensiv mit dir unterhalten, das übersteigt ein Angestelltenverhältnis. Genauso wenig ist es in Ordnung so auf deinem Schoß zu sitzen, du bist mein Vorgesetzter“, murmelte sie, gleichzeitig kuschelte sie sich enger an ihn.
Beschützend legte er beide Arme um sie und zog sie an seine breite Brust. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass sie ihn nur als Chef oder bestenfalls den befreundeten Boss sah.
„Doch, diese Gespräche solltest du mit mir führen und ebenso tut es dir gut, die Nähe anzunehmen. Denn ich glaube, dass dir genau das gefehlt hat. Sag mir, wann hat sich das letzte Mal jemand um dich gekümmert?“, wollte er wissen.
Gerry sah deutlich, wie sie überlegte, allein daran erkannte er, dass es schon eine ganze Weile her war, seit sie ihre Sorgen abgeben durfte.
Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern, sie schaffte es nicht mehr sich an so eine Situation zu erinnern, aber das würde sie im Moment keinesfalls zugeben.
„Das dachte ich mir fast. Wir haben also noch eine Menge zu tun“, kommentierte er ihre Geste mit einem ernsten Blick.
Erschrocken weiteten sich ihre Augen, sie war hier, um zu arbeiten und kaum, um ihre eigenen Probleme zu lösen. Außerdem war es nicht ihre Aufgabe glücklich zu werden, sondern den Menschen zu helfen. Sie hatte sich die Tatsache wie ein Mantra ständig vorgebetet. Wieso sonst lernte sie nur die gefühlskalten und gleichgültigen Männer kennen?
„Wir sollten langsam zum Krankenhaus gehen oder? Bestimmt warten deine Patienten auf dich oder sonstige Pflichten“, bemerkte sie leise, um von dem Thema abzulenken.
Gerry spürte genau, wie unangenehm es für sie war, sobald sich das Gespräch um ihre Person drehte. Diese Frau wurde in den letzten Jahrzehnten, wenn nicht sogar noch länger sträflich vernachlässigt. Aber er konnte die Probleme kaum an einem Vormittag lösen, darüber hinaus stimmte er ihr zu, er sollte sich langsam um einige Dinge kümmern. Steward erwartete einen Bericht, da das, was er beim Frühstück mitbekommen hatte, ihm bestimmt nicht reichte. Außerdem musste er den Makler anrufen, denn jetzt wollte er das Cottage mehr als je zuvor.
„Du hast Recht, ich werde die wichtigsten Sachen erledigten, danach sehen wir uns wieder. Du wirst dich erstmal ein paar Tage erholen und an das Leben bei uns gewöhnen. Emily und Jo brennen darauf, dich richtig kennenzulernen. Sie können dir die Zeit vertreiben, solange ich Dienst habe“, stimmte er ihr zu.
Schnell schüttelte Lea den Kopf, so funktionierte das keinesfalls. Sie war nicht hier, um einen Urlaub zu verbringen, sondern um ihre Arbeit zu tun. Ganz bestimmt würde sie sich nicht auf Kosten der Anderen ausruhen.
Ehe sie in der Lage war, etwas zu sagen, legte Gerry ihr schon einen Finger auf die Lippen.
„Widerspruch dulde ich nur, wenn es um Dinge geht, die dir schaden könnten oder falls ich dich missverstehe. Und Lea, glaub mir, ich bin sehr gut darin mich auf die verschiedensten Weisen verständlich zu machen“, damit stoppte er ihren Einwand, während seine Iriden verlangend glitzerten.
Lea schluckte schwer, denn sie begriff instinktiv, worauf er hinaus wollte. Die Dominanz, die er ausstrahlte, war ihr am ersten Abend schon aufgefallen, jetzt trat sie wieder deutlich hervor.
Leicht streichelte er über ihre Wange, sah ihr tief in die Augen und bat mit seinem Blick um ihr Vertrauen.
„Keine Angst, egal was ich tue, ich werde dich keinesfalls überfordern und dir ganz bestimmt niemals schaden“, versprach er rau.
Mehr als ein Nicken brachte sie in dem Moment nicht zustande, denn sie spürte, wie die Erregung in ihr hochkochte, etwas, dass sie schon sehr lange vermisste. Ihr Mund wurde trocken und sie fühlte die Nähe dieses Mannes noch intensiver. Doch wie war das möglich? Im Prinzip verlangte er absoluten Gehorsam und das nicht einmal während der Arbeit, sondern besonders was ihr Privatleben anging.
„Was meinst du damit, wenn du sagst, dass du dich auf die verschiedensten Weisen ausdrücken kannst?“, wollte sie wissen, dabei klang ihre Stimme verdächtig heiser.
Der Luchs lächelte auf eine Art, die sie schlucken ließ, aber ihr Herzschlag beschleunigte sich, was kaum mit Angst zu tun hatte.
„Falls es nötig ist, werde ich dich übers Knie legen und glaube mir, ich habe dann auch noch Spaß daran“, raunte er ihr zu.
Verstehend nickte sie, also hatte sie ihn doch nicht missverstanden. Wieso sie allein der Gedanke an eine Strafe von seiner Hand dermaßen anmachte, war ihr ein völliges Rätsel.
Gerry beugte seinen Kopf leicht, sodass sie seinen Atem an ihrem Hals spürte.
„Und du ebenso“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Eine Gänsehaut vor Erregung kroch Lea über den Rücken, während sie den Blick nicht von seinen Lippen nehmen konnte. Irgendwas war hier im Gange und sie traute sich nicht, das Offensichtliche zu sehen.
Sanft schob er sie von seinem Schoß und stand auch auf.
„Ich muss einiges erledigen, deshalb bringe ich dich ins Wohnzimmer und schicke Emily oder Jo zu dir. Sie können dir am besten Gesellschaft leisten“, bestimmte er, dann legte er ihr eine Hand an die Wirbelsäule und führte sie zur Tür heraus.

~~°~~

Lea fühlte sich wie nach einer rasanten Achterbahnfahrt, sie war völlig aufgewühlt und in ihrem Kopf tobten die verschiedensten Gedanken, während ihr Herz immer noch aufgeregt schlug.
Gehorsam ließ sie sich von Gerry ins Wohnzimmer bringen, denn sie brauchte einfach ein paar Momente für sich selbst, um das Chaos in ihrem Inneren in den Griff zu bekommen.
Sie sah aus dem riesigen Panoramafenster hinaus aufs Meer. Der Anblick war überwältigend, zumal sie ihre Elemente Wasser und Luft hier deutlich sehen konnte. Einige Regenwolken hingen am Himmel, was für Irland ziemlich typisch war und voraussichtlich würden sie in einer Viertelstunde verschwunden sein.
Ein wenig verloren schlang Lea die Arme um den Oberkörper, in ihr tobte ein Sturm aus Gefühlen und Gedanken, die sie irgendwie unter Kontrolle bringen musste. Aber durfte sie ihrem Instinkt dieses Mal wirklich trauen? Und wie passte das alles zu ihrer Aufgabe als Erdenengel? Ihr Verstand schrie ihr zu, dass sie sofort auf Abstand gehen sollte, während ihr Herz ihr riet, diesen Mann festzuhalten und nie wieder loszulassen.
Eine zierliche Hand legte sich vorsichtig auf ihre Schulter und Lea drehte sich erschrocken um. Joleen stand direkt hinter ihr und lächelte ihr zu.
„Tut mir leid, du warst so in Gedanken, dass du mich nicht gehört hast. Gerry meinte, du könntest weibliche Unterstützung benötigen“, bemerkte sie.
Schnell schüttelte Lea den Kopf, bisher gab es keine echten Freunde, die ihr beigestanden hätten. In ihrem verdammt langen Leben war sie immer alleine klargekommen. Die Option ihre Probleme auch nur mit jemand anderem zu besprechen gab es nicht.
Verständnisvoll lächelte Jo ihr zu, denn irgendwie erinnerte sie die gesamte Situation an ihren ersten Tag hier im Hauptquartier. Sie konnte die Zweifel und bohrenden Gedanken in Lea´s Gesicht ablesen.
„Wie wär es, wenn wir uns erstmal setzen und kennen lernen? Ich glaube kaum, dass Gerry dich so schnell gehen lässt und da ist es ganz gut, falls man Verbündete hat“, bemerkte sie grinsend.
Seufzend stimmte Lea ihr zu, zumal es äußerst unhöflich wäre, Jo einfach wegzuschicken.
„Pass auf, ich habe keine Ahnung, wer du bist oder wie dein Leben bisher aussah, aber wir hier sind wie eine große Familie. Klar gibt es Leute, die einem mehr am Herzen liegen und welche mit denen man weniger zu tun hat. Doch sobald es nötig wird, steht jeder für den anderen ein“, erklärte Jo ernst, dabei sah sie Lea fest in die Augen.
„So etwas kenne ich nicht. Als Erdenengel stehe ich meistens alleine da. Wenn wirklich mal jemand an meiner Seite ist, hält er es dort nicht lange aus“, gab Lea leise zu, jedoch traute sie sich kaum, hochzusehen.
„Magst du mir vielleicht was darüber sagen? Ich habe so gar keine Vorstellung von einem Engel. Ich bin durch einen Biss von Logan gewandelt worden“, bat Joleen vorsichtig.
Entsetzt sah Lea sie an und schüttelte den Kopf.
„Du bist immer noch hier, obwohl er dich dieser Lebensgefahr und der Qual ausgesetzt hat?“, stieß sie fassungslos hervor und sah sie jetzt doch an.
Jo lachte laut auf, aber dann wurde sie ernst, denn an diese Momente dachte sie nur ungern zurück. Es war die Hölle und die Schmerzen vergaß sie in ihrem ganzen Leben niemals wieder.
„Ja es war gefährlich und es hat extrem wehgetan, allerdings gab es keine Alternative. Ein Dämon verletzte mich und ich lag im Sterben. Gerry war mit seinem Wissen am Ende, wenn er Logan nicht dazu gebracht hätte, mich zu beißen, wäre ich wohl kaum noch hier“, erzählte sie leise.
So sah die Sache schon anders aus und Lea senkte beschämt den Blick, gerade als Engel sollte sie vorurteilsfrei sein, was sie in solchen Situationen gerne vergaß. Sobald ein Thema sie berührte, reagierte sie impulsiv, statt überlegen.
„Es tut mir leid, dass ich deinen Partner so falsch eingeschätzt habe“, murmelte sie verlegen.
Interessiert sah Jo sie jetzt an.
„Sag mal kann es sein, dass du von dir selbst verlangst, ständig perfekt zu sein? Ist das sowas, was man euch Engeln beibringt? Jeder, der die magische Welt kennt, hätte genauso reagiert, doch kaum einer würde sich für diese Reaktion entschuldigen“, hakte Jo nach.
Sie spürte, dass Lea ein paar Probleme mit sich herumschleppte, die ihr das Leben unnötig schwer machten.
„Wir sollten so sein, fehlerfrei, immer neutral, bis wir alle Fakten kennen, darüber hinaus mitfühlend und hilfsbereit“, gab sie zu.
„Aber ich bin alles andere als perfekt. Schau mich an, es beginnt bei meiner Figur, die einfach nur fürchterlich ist und endet bei meiner fehlgeleiteten Intuition“, fügte sie leise hinzu.
Spontan legte Jo einen Arm um die Frau und drückte sie leicht an sich, was ihr einen staunenden Blick einbrachte.
„Vielleicht vergisst du einen Moment mal, dass du ein Engel bist. Menschen machen Fehler, keiner von uns ist fehlerfrei. Du hast einen menschlichen Körper, den ich kaum als Katastrophe bezeichnen würde. Falls du dich so nicht wohlfühlst, bitte Gerry um einen Trainings- und Ernährungsplan. Er ist dafür absolut der Richtige“, riet sie ihr.
Augenblicklich färbten sich Lea´s Wangen rot und sie schüttelte den Kopf. Jeden könnte sie nach einem solchen Plan fragen, aber keinesfalls den smarten Arzt, dazu tobte er zu sehr in ihren Gedanken und ihrem Herzen herum.
„Tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht, er ist ja dein Gefährte, da fällt es dir bestimmt ziemlich schwer. Darüber hinaus bist du in der Lage ja auch selbst was zu machen. Wir können auf ein Schwimmbad zurückgreifen, das gut geeignet ist, um Bahnen zu ziehen. Und wenn du Ellie einen kleinen Tipp gibst, wird sie beim Kochen darauf achten, dass es für dich fettfrei bleibt“, bemerkte Jo.
„Nein, ich kann doch keine Extrawürste verlangen, wo ich gerade angekommen bin. Außerdem möchte Gerry noch nicht, dass ich mit meiner Arbeit anfange. Ich komme mir vor, als ob ich ein Schmarotzer bin“, lehnte Lea beschämt ab.
Der Vorschlag des Arztes, erst einmal anzukommen und die Geschehnisse zu verarbeiten, gefiel ihr auf der einen Seite, andererseits sträubte sich alles in ihr dagegen. Sie hatte immer für ihren Lebensunterhalt gearbeitet und so schlimm war die letzte Woche auch wieder nicht gewesen.
„Am liebsten würde ich dich ein wenig schütteln. Niemand sieht in dir einen Schmarotzer, ganz im Gegenteil. Wir haben dich auf der Straße in Dublin gesehen, schon vergessen? Du hast dir ein paar Tage Erholung absolut verdient. Emily und ich waren zuerst ebenso nur mit unseren Gefährten zusammen. Keiner von uns hat sofort angefangen zu arbeiten. Bei mir hat es sogar eine ziemliche Weile gedauert, ehe ich Logan dazu überreden konnte, mir eine Ausbildung bei Patrick zu ermöglichen. Bitte Lea, sei nicht so streng mit dir“, bat Jo eindringlich.
In dem Moment ging die Tür auf und Emily stürmte in den Raum. Sie hatte Billy in den Kindergarten gebracht und dann eine Lektion im Schlösserknacken von Brian bekommen.
„So jetzt habe ich auch etwas Zeit, um dir ein wenig beizustehen. Hier im Hauptquartier ist definitiv zu viel Testosteron“, bemerkte sie lachend.
Lea musste mit ihr lachen, die Lebensfreude, die diese Frau ausstrahlte, tat ihr gut, ebenso wie das Mitgefühl von Jo.
„Lea meint, sie sollte sofort anfangen zu arbeiten, weil sie uns sonst allen auf der Tasche liegt“, klärte Joleen die Freundin auf.
„Das ist ein Scherz oder? Erstens besitzen die Jungs mehr als genug Geld. Zweitens bist du die Gefährtin von Gerry, das gibt dir das Recht hier zu sein, ohne deinen Unterhalt zu verdienen“, bemerkte Emily und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Unglücklich sah Lea auf die beiden Frauen, sie war so absolut nicht davon überzeugt, dass der Arzt wirklich sie an seiner Seite haben wollte.
„Und was, wenn ich gar nicht seine Partnerin bin, sondern es ein Fehler ist? Vielleicht liegt es daran, dass ich ein Engel bin und jeder deshalb denkt, dass ich die Richtige bin?“, hielt sie den Zweien entgegen.
Emily holte tief Luft und Jo schüttelte den Kopf.
„Diese Gedanken plagten uns am Anfang genauso, glaub mir. Emily hat sich eingebildet, dass sie David auf keinen Fall etwas von Billy sagen dürfte und ich selbst fühlte mich hin- und hergerissen. Logan hat mich mehr oder weniger hier eingesperrt. Gerry sagt, dass du seine Gefährtin bist, dann ist das so. Er hätte dich keinesfalls mitgenommen, wenn er sich nicht sicher wäre“, erklärte Jo ihr jetzt eindringlich, dabei nahm sie den Arm von ihren Schultern.
„Wieso lässt du deine Gefühle nicht einfach zu? Du wirst sehen, dass er niemals mit dir spielen wird, ganz im Gegenteil. Allerdings gewöhn dich an den Gedanken, dass er dominant und vielleicht auch sadistisch veranlagt ist, so wie alle in dem Irrenhaus“, mischte Emily sich ein.
Das war Lea bewusst, zumal er ihr schon die entscheidenden Tipps in diese Richtung gegeben hatte.
„Mit seiner Dominanz oder seinem Sadismus komme ich klar, glaube ich. Aber ich weiß nicht, ob ich die Nähe zulassen darf. Wir Engel unterliegen bestimmten Regeln und bisher gab es kaum einen von uns, der seinen Gefährten hier auf der Erde gefunden hat. Außerdem habe ich wohl einen Gendefekt, denn ich vertraue immer den falschen Männern“, flüsterte Lea leise, so als ob sie sich nicht trauen würde, offen mit den Frauen zu reden.
„Gut, ich fasse mal zusammen. Du hasst deine Figur, du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man sich auf andere Personen verlassen kann. Darüber hinaus fürchtest du, dass du dich in Gerry täuschst, richtig?“, wollte Jo wissen.
Seufzend nickte Lea, so in etwa stimmte es, aber es klang unproblematischer, als es sich anfühlte.
„Da gibt es nur einen Weg. Wir zeigen dir, wie es ist, echte Freundinnen zu haben und unterstützen dich dabei abzunehmen. Dann sind schon mal zwei Probleme bezwungen. Und unser Arzt wird dir beweisen, dass er der perfekte Partner für dich ist, da mache ich mir keine Gedanken“, bemerkte Emily gut gelaunt.
„Die Idee ist gut, allerdings möchte ich von dir dein Wort, das du Bescheid sagst, wenn du das Bedürfnis nach Gesellschaft hast oder reden willst, ebenso sobald du Hilfe brauchst. Sonst funktioniert das nicht. Außerdem gibst du Gerry eine faire Chance“, verlangte Jo hart.
Irgendwie fühlte es sich für Lea richtig an, ihr das Versprechen zu geben. Darüber hinaus, was hatte sie schon zu verlieren? Im schlimmsten Fall wurde sie einmal mehr enttäuscht und im besten Fall bekam sie nicht nur einen Gefährten, sondern zwei Freundinnen obendrauf.
„Gut, aber das Gleiche gilt für euch. Wenn ich helfen kann, dann sagt ihr es mir“, forderte Lea und sah die beiden anderen Frauen eindringlich an.
Lachend stimmten sie zu und Emily hielt ihr zuerst die Hand hin.
„Abgemacht!“
Lea schlug ein, danach gab sie auch Jo den Handschlag und in dem Moment fühlte es sich überhaupt nicht verkehrt an, ganz im Gegenteil.

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Tag der Veröffentlichung: 25.08.2016

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