Wer ist Chris?
„Hier sind wir! Bitte schön, darf ich vorstellen, unser Speisesaal! Nicht gerade das, was man Luxusrestaurant nennt, aber ganz okay“, sagte Sophia.
Und Lucy setzte hinzu: „Komm Jana. Wir setzen uns schon mal an unseren Tisch da drüben. Wir teilen ihn mit den Mädels aus Zimmer 3. Sonst geht man eigentlich immer erst an die Essensausgabe und setzt sich danach mit dem Essen an seinen Platz. Aber nach den Ferien wird diese Zusammenkunft aller Schüler zu einer Begrüßung durch Ghandi, dem Direx, und unseren Schülersprecher genutzt.“
Sie zog mich an einen Tisch in die Mitte des Saals, an dem schon vier andere Mädchen saßen. Am Tisch daneben entdeckte ich sechs Jungen unter anderem Mike, aber leider auch den schwarzhaarigen Typen, der mich heute Mittag angerempelt hatte. Die beiden saßen nebeneinander und unterhielten sich mit einem dritten blonden Jungen
Während Sophia und Lucy von allen herzlich begrüßt wurden, stand ich etwas verloren daneben und kam mir ein bisschen einsam vor. Aber dieser Moment hielt nur kurz an, dann nahm mich Mike auch schon in Beschlag.
„Hey, Jana. Na wie geht’s? Wie verstehst du dich mit Lucy und Sophia?“
„Mir geht’s gut und ich versteh mich mit den beiden echt klasse.“
„Hab ich doch gesagt. Aber jetzt stell ich dir erst mal meine Freunde vor. Also, das hier ist Nicklas Spider, ein geborener Engländer aus Hamburg, genannt Nick.“
Nick schüttelte mir die Hand und murmelte ein „Hallo!“ Er hatte braune Haare und auffallend eisblaue Augen und er schien ein eher ruhiger und schüchterner Typ zu sein.
„Und das hier sind die Zwillinge Julius und Fabian Freyheyt, beide aus Emden und die unangefochtene Scherzkekse der Schule.“
Die beiden einfach unmöglich auseinander zu haltenden Zwillinge sprangen auf und begrüßten mich mit großem Trara. Sie verbeugten sich leicht, ließen im Chor ein „Herzlich Willkommen, liebe Jana“ los und brachen dann in Lachen aus. Anschließend umarmten mich beide kurz und sagten: „Da siehst du wie verrückt man auf diesem Internat wird.“ Da musste auch ich lachen und bemerkte kurz aus den Augenwinkeln, dass der Schwarzhaarige alles mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete. Dann zog mich Mike weiter zu ihm und dem letzten der sechs, dem Blonden. Den stellte Mike mir auch sofort vor.
„Das ist Charlos Frakos aus Erfuhrt, genannt Charly und Halbspanier.“
Als dieser aufstand, um mich zur Begrüßung zu umarmen, stellte ich erschrocken fest, dass er sehr, sehr groß war. Er empfing mich mit den Worten; „Freut mich. Endlich mal ein neues Gesicht.“
Blieb noch der Schwarzhaarige
Moment mal! Hatte Mike nicht gesagt, dieser Chris wäre auch einer seiner besten Freunde? Aber er hatte ihn mir noch gar nicht vorgestellt…Oh nein! Bitte nicht.
Doch Mikes Worte machten all meine Hoffnung zunichte:
„Und zu guter Letzt, ich hab dir ja schon von ihm erzählt, Chris Maky, der Mädchenschwarm vom Reiterhof!“
Verdammt, also war er wohl doch nicht so nett, sondern so arrogant, wie es sich angehört hat: Mädchenschwarm, Sportskanone, Klassensprecher…, pah, oder kurz und einfach: Macho! Das passt viel besser. Naja, hoffentlich macht er jetzt keine Szene, so wie heut Mittag.
Doch zum Glück sagte er gar nichts, sonder nickte mir nur zu. Ich nickte auch und wandte mich zum Tisch, an dem meine Zimmerkameradinnen Platz genommen hatten. Mike sah zwischen mir und Chris irritiert hin und her. Er setzte schon an etwas zu fragen, aber ich sah wie Chris ihm einen warnenden Blick zuwarf.
„Hey, und wie findest du die ganzen Jungs? Ach, setzt dich doch erst mal.“
Ich setzte mich und antwortete dann noch leise, weil sich Ghandi schon erhob um alle zu begrüßen: „Sind alle ganz nett, außer dieser Chris; mit dem hab ich heute Mittag schon eine unangenehme Begegnung gehabt.“ Sie sah mich erstaunt und ungläubig an. „ Erzähl ich dir später, aber ich hab noch eine Frage, gehen die alle in die zehnte Klasse?“
„Mike, Charly und Chris schon. Die Quatschkopf Zwillinge und Nick sind bei uns.“
„Na, bin ja mal gespannt, wie das hier alles wird.“ Sophia grinste. Dann drehten wir uns beide nach vorne und sahen aufmerksam den Direx an.
Er begrüßte die alten, wie die neuen Schüler, hielt eine kurze Rede und übergab dann an den Schulsprecher, der sich als der Zwölftklässler Jan Maky vorstellte (wieso kam mir der Nachname nur so bekannt vor?) und alle dazu anhielt mit Problemen ruhig zu ihm zu kommen.
Während des restlichen Abendessens lernte ich dann noch meine Tischgenossinnen aus Zimmer 3 kennen. Zwei von ihnen gingen in die Zehnte: Sandy Pagels, beste Freundin von Lucy auch aus Emden und Lea Becker aus Bremen. Die zwei anderen, Marina Salamon aus Mainz und Kassadra Weber aus Stuttgart, gingen wiederum mit uns in eine Klasse.
Alle vier waren sehr nett. Es verlief alles ruhig und wir unterhielten uns. Und Chris ignorierte mich einfach, ich machte es genauso.
Vielleicht war er ja heut Mittag nur so gemein zu mir, weil er schlecht gelaunt war. Ich hoffe es zumindest.
Wieso ist es so still? Und warum kommt mir alles so fremd vor?
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, brauchte ich etwas Zeit um mich daran zu erinnern, dass ich im Internat war und gerade meine erste Nacht im neuen Bett hinter mir hatte. Ich tastete mit meiner Hand verschlafen nach meinem Wecker und guckte, wie viel Uhr wir hatten. Es war sechs Uhr morgens. Alles war noch still im Zimmer. Nur ein wenig Licht fiel durch die zugezogenen Vorhänge. Was hatte Sophia gestern gesagt? Um acht würde der Unterricht beginnen und ab sieben gäbe es Frühstück. Also mussten wir um halb sieben aufstehen, um Punkt sieben frisch und wach im Speisesaal aufzutauchen.
Die Fünft- bis Achtklässler wurden von einem Gong geweckt. Aber von uns wurde erwartet selbstständig aufzustehen. Auch wohnten bei den Kleinen im Haus noch Betreuer dabei, die deren Tagesablauf und Zimmer stärker kontrollierten. Bei uns Älteren jedoch guckte nur abends ein Lehrer vorbei und sah nach, ob alle im Bett waren. Diese Regelungen fand ich allesamt äußerst angenehm.
Es war erst sechs Uhr, also hatte ich noch eine halbe Stunde bis der Rest aus den Federn kam. Und einschlafen konnte ich jetzt sowieso nicht mehr. Also stand ich auf, schlich zum Schrank und holte meine Sachen. Dann verließ ich leise das Zimmer und machte mich auf den Weg zum Bad, das gleich um die Ecke lag.
Die Mädchen und die Jungen der neunten und zehnten Klasse wohnten in einem Teil des Gebäudes, das sie sich mit den Oberstufenschülern teilten. Der Saal, in dem in beiden Teile zusammenliefen, war der Speisesaal der Neunt- bis Dreizehntklässler. Die Jungen wohnten im oberen Stockwerk und die Mädchen unten. Die Badezimmer lagen genau übereinander direkt am Treppenhaus.
Als ich in den Waschraum trat war sonst noch niemand da, also konnte ich mich in Ruhe fertig machen.
Als ich dann zwanzig Minuten später soweit war, kamen langsam immer mehr Mädchen in die Gänge. Ich wollte jedoch noch etwas alleine sein. Also ging ich ins Treppenhaus. Doch auch dort war ich leider nicht wie erhofft alleine. Auf der Treppe, die vom Stock der Jungen herunter kam saß ein Junge und starrte vor sich hin. Er kam mir bekannt vor und ich wollte schon zu ihm gehen und ihm Hallo sagen, als ich merkte, dass es Chris war. Da hielt ich in der Bewegung inne. Er hatte mich anscheinend noch nicht bemerkt. Also konnte ich noch einen Rückzieher machen. Nach kurzer Überlegung entschied ich mich jedoch zu versuchen mit ihm zu reden und fing einfach an, bevor mich der Mut wieder verließ.
„Hey Chris! Ich weiß, wir hatten einen sehr schlechten Start. Aber ich hab kein Bock auf Streitigkeiten gleich von Anfang an, also würde ich vorschlagen, wir fangen noch mal bei Null an.“
Erst reagierte er nicht, doch dann hob er langsam den Kopf. Und er fuhr mich an: „Was willst du denn? Hast wohl Angst ohne deinen Papi, der dir helfen könnte, hm? Du Baby. Lass mich gefälligst einfach in Ruhe. Klar?“
Dann rannte er die Treppe. Er hatte zischend gesprochen und bemüht möglichst cool und einschüchternd zu klingen. Doch ich merkte einfach, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Ich glaube sogar, ich habe in seinen Augen noch Tränen glitzern sehen. Ich war mir jedoch gar nicht sicher. Aber was war denn mit dem überhaupt los? Er hatte doch keinen Grund mich so blöd anzumachen.
Naja, wenn er so weitermacht, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als ihm versuchen aus dem Weg zu gehen. Aber ich würde mich auch wehren, denn ich ließ mich nicht so von ihm demütigen. Darauf hatte ich echt keine Lust.
Die nächsten Tage versuchte ich dann auch, immer wenn Chris auftauchte, zu verschwinden, aber es klappte nicht so richtig. Wir trafen uns ziemlich häufig; beim Essen, auf den Gängen, in den Pausen, im Park…und immer wenn wir uns begegneten, konnten wir es einfach nicht lassen und traktierten uns gegenseitig zumindest die ersten zwei Tage. Doch dann schwiegen wir uns nur noch an und ignorierten uns gegenseitig. Die anderen verstanden überhaupt nicht, was zwischen uns abging und versuchten anfangs noch zu schlichten. Doch dann ließen sie es bleiben, weil es so oder so nichts brachte. Ich hasste ihn einfach, warum, wusste ich selbst nicht genau. Und auch die anderen konnten nichts daran ändern, indem sie sagten, sonst würde er sich mit allen total gut verstehen und er wäre eigentlich immer sehr nett. Er hatte immerhin angefangen.
Die meiste Zeit in den nächsten Tagen verbrachte ich mit Mike, Sophia und den anderen. Ich verstand mich eigentlich mit allen gut, außer mit Kassandra, die mir Vorwürfe machte. Denn sie war unsterblich in Chris verliebt und glaubte, das wüsste keiner. Aber Sophia hatte mir erzählt, dass Chris es sogar selbst wusste und sie keine Chance bei ihm hatte. Er würde ihr das jedoch nicht sagen, um sie nicht zu verletzen. Kassandra ist sehr naiv und glaubt sie könnte hundertprozentig mit Chris zusammenkommen. Auf jeden Fall warf sie mir jetzt vor, ich würde ihn durch meine Streiterei mit ihm vertreiben und von ihr fernhalten.
Absurd!!! Hirnrissig!!!
Lea, die beste Freundin von Kassandra, die auch nur über deren Naivität seufzen konnte, versuchte ihr das anfangs auszureden, was allerdings nicht funktionierte. So gab sie schnell verzweifelt auf und verschwand in den Musiksälen. Lea war nämlich nicht nur ein reines Musikgenie, sondern auch eine begnadete Klavierspielerin.
In dieser ersten Woche fanden noch keine AGs, Nachhilfeunterricht etc. statt, da sie zum eingewöhnen diente. Im Unterricht kam ich ganz gut mit. Wir bekamen nicht allzu viele Hausaufgaben auf. Der Stoff basierte größtenteils auf Wissensgrundlagen, die auch ich besaß. Und dort, wo es haperte, half mir Sophia, mit der ich mich super verstand. Sie hatte eine sehr spontane und sarkastische Art, mit der ich gut klar kam. Ich verstand mich mit ihr sogar besser als mit Clara. Wir wurden schon in der ersten Woche zu guten Freundinnen. Und auch Marina war oft bei uns. Die meiste Zeit hing ich mit den beiden, den Zwillingen und Nick ab. Die konnten mich immer aufheitern und ich machte ihren Quatsch oft mit. Mit Mike traf ich mich auch noch, doch da er in einer anderen Stufe war, sah ich ihn nicht so oft. Lucy steckte immer mit Sandy zusammen und man merkte, dass auch sie nicht in meine Klasse ging.
Wegen dem Schwimmtraining hatte ich mich bei meiner Klassenlehrerin Frau Makland, die sich um jeden kümmerte, der Probleme hatte, und zu der jeder Vertrauen hatte, informiert. Sie war meine Französisch und Sportlehrerin, und zufälligerweise auch die Leiterin des Schwimmteams. Auf meine Anfrage hat sie sich im Sportunterricht meine Schwimmfertigkeiten angesehen und sofort ihre Einwilligung zu meinem Eintritt ins Schwimmteam gegeben: „ Das Training findet montags und freitags, immer jeweils zwei Stunden statt und ich mag es überhaupt nicht, wenn man eine Trainingsstunde verpasst.“ Als ich Sophia und Marina erzählte, dass ich ins Schwimmteam kommen würde, erfuhr ich, dass auch Marina im Schwimmteam ist, was mich verdammt freute.
Jetzt hatten wir Freitagabend und morgen war endlich Wochenende. Ich lag im Bett und war so glücklich und erschöpft wie lange nicht. Ich hatte wirklich so etwas wie ein neues Leben angefangen. Morgen war Wochenende und manche Schüler, die im Umfeld wohnten, gingen für diese zwei Tage nach Hause, so auch die Zwillinge, Chris und Sandy. Ich wäre gern heimgefahren, obwohl es mir im Internat, mal abgesehen von der Sache mit Chris, gut gefiel. Meine Eltern und sogar meine kleinen Geschwister fehlten mir einfach. Doch in ein paar Wochen war ja Besuchstag. Da kommt meine ganze Familie her. Über diesen Gedanken schlief ich dann auch ein.
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Tag der Veröffentlichung: 09.10.2009
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