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Der Tag, der alles verändert



Oh, man! Ich glaub es nicht! Einen so verfluchten Tag wie heute habe ich noch nie erlebt und ich werde ihn nie vergessen, denn er hat mein gesamtes Leben verändert.
Aber ich fange lieber von vorne an. Also, als ich heute Morgen aufstand, fühlte ich schon, dass dieser Tag etwas ganz besonderes werden würde. Es sind gerade Ferien und so konnte ich ausschlafen, wurde jedoch von lauter Musik geweckt.
Natürlich! Leonie, meine kleine Schwester! Sie war mit ihren zwölf Jahren schon ziemlich selbstbewusst und hatte öfters diese Phasen, in denen sie schon frühmorgens bei lauter Musik ihre Kreativität entdeckt, Gedichte schreibt oder ausgefallene Bilder malt. Sonst brachte mich das immer auf die Palme, doch heute machte es mir wundersamer Weise nicht das Geringste aus.
Ich wusste, ich konnte jetzt nicht mehr weiterschlafen und sah auf den Wecker: 10:00 Uhr. Also gut, dachte ich, quälte mich aus dem Bett und torkelte zum Badezimmer. Auf dem Weg dorthin sah ich nach draußen: Strahlender Sonnenschein und wolkenloser blauer Himmel; wunderbares Badewetter! Und nicht zu heiß, 28 – 30 ° C sollten es heute werden.
Meine Laune stieg auf einen Höchstpunkt und selbst mein kleiner Bruder Tom, der mal wieder das Bad blockierte, konnte sie mir nicht verderben.
Als ich an die Badezimmertür klopfte, schallte es von drinnen: „Nur noch fünf Minuten!“ Das sagte er immer, mein kleiner Bruder. Er kam erst in die fünfte Klasse und war schon sehr auf sein Äußeres bedacht. Andererseits war er ein kleiner Junge, der sich wie alle anderen nur für Computer und Autos interessierte.
Sonst fand ich sein ständiges Bad gehen total nervig, vor allem war er immer dann drin, wenn ich mich frisch machen wollte. Und jedes Mal wenn er sagte: „Nur noch fünf Minuten!“, dauerte es noch mindestens eine halbe Stunde. Heute machte ich mir jedoch nichts daraus und ging zurück in mein Zimmer, um Florian per SMS zu fragen, ob wir heute ins Schwimmbad gehen wollen:

Hey, Süßer!
Lust bei dem schönen Wetter
mit mir ins Schwimmbad zu gehen?
Nur du und ich!
Ohne Clara oder deine Freunde!
Lieb dich!
Bussi, Jana!



Florian! Er war seit Beginn der Sommerferien mein Freund und ich hatte jede freie Minute mit ihm verbracht. Was meine Eltern und Clara auf den Plan rief. Denen gefiel das nämlich gar nicht: Clara, meiner besten und einzigen wirklichen Freundin, nicht, weil ich sie dadurch ziemlich vernachlässigt habe. Meinen Eltern ging es auch um die viele Zeit, die ich mit Flori verbrachte. Denn die sollte ich eigentlich für Schularbeiten verwenden.
In der Schule bin ich mittelmäßig. Im letzten Zeugnis, dem Jahreszeugnis der achten Klasse, hatte ich in den meisten Fächern Dreien, Vieren oder auch manchmal Zweien, außer in Englisch und Französisch. Da hatte ich zwei Fünfen, weil ich mir die Vokabeln nie behalten konnte, egal wie viel ich lernte. Allerdings konnte ich das mit meinen Einsen in Mathe und Geschichte ausgleichen und bin gerade so in die neunte Klasse versetzt worden. Meine Eltern haben gedroht mich in ein Internat zu schicken, gaben mir jedoch die Chance, ich solle in den Ferien die versäumten Vokabeln nachholen. Dann dürfe ich weiterhin hier auf die Schule gehen. Ich habe es ihnen versprochen, jedoch kaum gelernt. Stattdessen war ich immerzu mit Florian oder auch mal mit Clara unterwegs. Mama und Papa dürften das aber gar nicht bemerkt haben, da sie beide Ärzte sind und immer viel zu tun haben.
Kurz nachdem ich die SMS abgeschickt hatte, rief Tom: „Du kannst!“ Verblüfft stellte ich fest, dass es wirklich nur fünf Minuten waren, die er gebraucht hat. Froh wie nie zuvor begab ich mich ins Bad.
Später stimmte Florian per SMS meinem Vorschlag, Schwimmen zu gehen, zu; und wir verabredeten uns für zwei Uhr mittags vorm Schwimmbad.

Ich war schon früher zum Aufbruch fertig und sehnte das Treffen mit Flori herbei. Also fuhr ich bereits jetzt schon mit dem Fahrrad zum Schwimmbad, obwohl ich dorthin nur höchstens zehn Minuten brauchte. Ich nahm die Abkürzung durch den kleinen Wald, der zwischen meinem Wohnviertel und dem Schwimmbad lag.
Als ich dann um halb zwei ankam, schlich ich mich zwischen den Büschen hindurch. Vielleicht war Flori ja auch schon da, dann könnte ich ihn überraschen. Plötzlich entdeckte ich sein Fahrrad. Es stand nur ein paar Meter von meinem Versteck entfernt, aber ihn selbst konnte ich nicht sehen. So schlich ich noch ein bisschen weiter und tatsächlich, da stand er. Er befand sich zwar ein Stück entfernt, aber ich konnte ihn sofort an seinem hellblonden Haarschopf und seiner Lieblingskleidung, die er diesen Sommer nur selten ablegte, einem dunkelblauen T-Shirt und einer hellen Shorts, erkennen.
Mein Gott sah der heute wieder gut aus. Und er war mein Freund, meiner ganz allein.
Da kamen in mir plötzlich wieder Erinnerungen hoch; Erinnerungen, die ich nie vergessen werde: Wie wir uns kennen lernen, wie er mir zuhört und mich im Arm hält, wie er mit mir lacht, wie wir zusammen Spaß haben und natürlich wie wir uns küssen, sanft, zärtlich, leidenschaftlich… Er ist einfach so süß und so lieb! Das alles dachte ich bestimmt schon zum tausendsten Mal in diesen Ferien, aber es sollte auch das letzte Mal sein. Denn auf einmal wurde ich durch das Erscheinen eines Mädchens aus meinen Träumen gerissen. Es schlenderte genau auf Florian zu.
Das konnte doch nicht sein! Aber sie war es tatsächlich: Clara, unverkennbar an der seidig blonden, langen Haarmähne und ihrer Gangart. Das konnte nur meine beste Freundin sein. Total erstaunt, beobachtete ich, wie mein Freund meine beste Freundin erst in den Arm nahm und dann auf die Wangen küsste. Jetzt war ich vollends verwirrt! Erstens, weil ich mich doch mit Flori allein treffen wollte und zweitens, weil sich die beiden sonst kaum beachteten.
Schon die ganzen Ferien, also seit ich Florian und Clara das erste Mal einander vorgestellt habe und sie sich damals schon nicht richtig mochten; Flori fand Clara sei eine eingebildete Ziege („Ist das wirklich deine beste Freundin? Ich glaub's nicht. Die ist doch nur auf Klamotten und Schminke fixiert.“) und diese wiederum hielt ihn für einen oberflächlichen Macho („Der will doch nur seinen Spaß mit dir!“), versuchte ich, dass die beiden sich besser verstanden. Aber leider ohne Erfolg: Wenn sie sich einmal über den Weg liefen, unterhielten sie sich nur kurz angebunden und mit kühlstem Unterton, und das aber auch nur gezwungenermaßen, wenn ich dabei war. Wenn ich nicht wäre, würden sie sich gar nicht beachten.
Warum war Clara also hier und traf sich mit Flori, meinem Flori? Lief am Ende zwischen den beiden etwas?
Ich wurde zusehends misstrauisch, rief mich jedoch zur Vernunft:
Ach, Quatsch! Was sollte denn das ganze Theater? Alles nur Hirngespinste und blödsinnige Gedanken. Clara ist bestimmt nur rein zufällig hier. Immerhin gehen an so einem Tag nicht nur ich und Flori ins Schwimmbad, sondern fast die ganze Stadt. Warum also nicht Clara???
Da schlich sich eine flüsternde Stimme in meine Gedanken: Warum verhalten sich die beiden dann so, als wären sie die besten Freunde? Und das auch noch gerade dann, wenn ich nicht dabei war?
Ich wurde hin und her gerissen zwischen dem Verdacht eines Betrugs und der Vermutung eines reinen Missverständnisses.
Jetzt unterhielten sie sich. Ich konnte jedoch nichts verstehen, da ich zu weit weg war. Also verließ ich meine botanische Deckung und mischte mich unter die Menschenmenge, die sich inzwischen vor dem Schwimmbad angesammelt hatte. Vorsichtig schob ich mich immer weiter vor. Ich war gerade nahe genug um zu sehen, wie die beiden sich ansahen. Buchstäblich wurde mir etwas klar.
Diese beiden Menschen vor mir hassen sich auf keinen Fall. Und sie sind auch nicht nur gute Freunde. Das konnte ja sogar ein Blinder sehen.
Ich war verzweifelt, traurig, enttäuscht und wütend zugleich. Aber ich stand einfach nur da und wusste nicht, was tun.
Da nahm die Wut überhand: Jetzt reicht's! Die kriegen was zu hören, und zwar sofort! Und wenn ich mit ihnen fertig bin, werden sie sich vor schlechtem Gewissen nicht mehr retten können.
Ich wollte schon auf sie zustapfen und los schreien, als der endgültige Beweis für meine Feststellung kam: Sie küssten sich, leidenschaftlich!!!
Verrat!!!
Das war das einzige Wort, das ich in meinem Kopf fand. Jetzt war alles unbestreitbar. Jetzt gab es keine Ausreden mehr: Mein Freund und meine beste Freundin machten hinter meinem Rücken miteinander rum!
Da empfand ich nur noch Wut und Traurigkeit. Ich wollte nur eines, heim. Ich wusste später nicht mehr, wie ich dann heimkam oder was ich dachte und empfand. Ich wusste nur noch verschwommen, dass Clara und Florian mich bemerkt, sich zu mir umgedreht und mich angestarrt hatten. Aber ich wollte keinen der beiden sehen oder mir ihre Erklärungen anhören.
Und wenn während der nächsten Tage einer vor der Tür stehen oder anrufen würde, würde ich meine Eltern ausrichten lassen, ich wäre nicht da. Das würden sie zwar bestimmt nicht glauben, aber mir fiel nichts Besseres ein.

Das war aber nicht alles Unheil dieses Tages. Ich dachte schon, schlimmer könne es nicht mehr kommen. Doch als ich nach Hause kam, wurde ich eines Besseren belehrt:
Ich wollte mich, in unserem Haus angekommen, schon in mein Zimmer, das gleich hinter der Haustür lag, verdrücken und einfach nur allein sein, als mein Vater aus der Tür des Wohnzimmers am Ende des Flurs guckte und mich zur wöchentlichen Familienkonferenz rief. Ich stöhnte. Nach einer Versammlung der ganzen Familie war mir jetzt wirklich nicht zumute, aber wie sollte ich mich drücken.
Eine Familienkonferenz war für meine Eltern etwas Heiliges, weil das einer der wenigen Momente war, in denen mal die ganze Familie beisammen saß. Zu diesen zählten auch die Essenszeiten. Der Sinn einer solchen Sitzung bestand darin, Beschwerden vorzubringen, Probleme zu lösen und Ankündigungen zu machen.
Meine Geschwister beschränkten sich dabei meist auf materielle Wünsche oder spezielle Erlaubnisse. Genauso auch heute: Mein Bruder wollte schon seit Wochen die neueste Version seines Lieblingscomputerspiels „Black and White“ und meine Schwester wollte heute Abend unbedingt ins Kino, nachdem sie letzte Woche schon nicht in die Disco durfte.
Das lehnten meine Eltern, nachdem sie Erkundigungen eingeholt hatten, mit wem und Leonies Begleiter, überwiegend drei Jahre ältere Jungen, für nicht gut befunden hatten, ab. Anders hätte ich auch protestiert, denn ich hätte so was in Leonies Alter auch auf keinen Fall gedurft. Auch der Wunsch meines Bruders wurde prinzipiell abgewiesen. Argument meiner Eltern: „Zu teuer!“ Ganz meine Meinung! Ich äußerte mich schon lange nicht mehr bei einer solchen Versammlung. Denn ich klärte meine Probleme selbst und wenn mich etwas störte, sagte ich es der betreffenden Person direkt.
Ich mochte diese Familieneinkünfte nicht und versuchte mich möglichst oft davor zu drücken, was meistens sowieso nicht klappte, aber heute versuchte ich es erst gar nicht, da mein Vater ungewöhnlich angespannt und nervös war. Außerdem sprach der halb enttäuschte, halb strenge Blick, mit dem mich mein Vater bedachte, Bände.
Was ist denn heute wieder los? So sieht mein Vater mich doch nur an, wenn etwas Wichtiges und meist für mich Unangenehmes anliegt. Oh man, das kann ja was werden. Mehr Stress kann ich heute wirklich nicht gebrauchen.
Nachdem meine Geschwister ihre Wünsche vorgetragen hatten und ich nichts sagen wollte, schickten meine Eltern Leonie und Tom in ihre Zimmer: „Würdet ihr bitte Jana und uns allein lassen. Wir müssen etwas Wichtiges klären. Also geht schon.“ Dann war ich mit meinen Eltern allein und ich fühlte mich ziemlich unwohl. Doch als sie nichts sagten, beschloss ich zu beginnen, da ich so schnell wie möglich in meinem Zimmer und alleine sein wollte.
„Was gibt's denn?“
„Nur nicht so vorlaut, Jana. Zuerst möchten wir dich etwas fragen und eine ehrliche Antwort haben!“, entgegnete mein Vater.
Meine Mutter sprach für ihn weiter: „Also gut. Jana, hast du in den Ferien wie abgesprochen gelernt?“
Oh, shit! Sie haben also doch etwas gemerkt. Aber das ist doch gar nicht möglich. Wahrscheinlich hat mich einer der beiden Kleinen verraten.
„Antworte Jana!“
„Ja, habe ich, Papa.“
„Fräulein, hör mal du sollst ehrlich sein. Und uns nicht für blöd halten. Es hat dich auch keiner deiner kleinen Geschwister verraten. Denkst du etwa, wir würden dir eine Chance geben und dann nicht gucken, ob du sie auch nutzt? Also hast du oder hast du nicht?“
„Ihr wisst es doch eh schon!“
„Antworte gefälligst!“
„Aber…!“
„Jana, bitte“, mischte sich meine Mutter kurz ein.
„Nein, ich habe nicht gelernt. Wenn ihr es unbedingt wissen wollt. Kann ich jetzt endlich gehen?“
Da rastete mein Vater aus: „NEIN!!! Was denkst du dir eigentlich? Du bleibst hier hocken, bis wir mir dir fertig sind. Klar? Und danach wird es dir nicht gerade besser gehen. So zunächst erklärst du uns bitte, wieso du nicht gelernt hast!“
„Mensch, es sind Ferien. Ich war immer beschäftigt. Und hab sogar zwei-, dreimal gelernt, aber ich konnte mir nichts merken. Es bringt einfach nichts bei mir; da kann ich machen, was ich will.“
„Mit was warst du denn beschäftigt??“
„Ich hab zufällig einen Freund, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Und mit dem war dann immer unterwegs und wenn ich mal nicht mit Flori getroffen habe, dann war ich mit Clara unterwegs.“
„Was deinen Freund betrifft: Du weißt, dass ich von Anfang an fand, dass du für so etwas zu jung bist. Und Clara ist sicher froh, wenn du weiterhin mit ihr in eine Klasse gehen würdest.“
„Wieso wollt ihr mich etwa zurückstufen oder wirklich ins Internat schicken?? Das habe ich euch nie abgenommen. So etwas würdet ihr nicht tun. Und was Clara und Flori angeht, mit ihnen ist es aus. Ich hasse sie, und zwar alle beide. Falls ihr es genau wissen wollt, haben die zwei mich die ganze Zeit betrogen. Ich hab es heut raus gekriegt, als ich sie vorm Schwimmbad knutschen gesehen habe.“
Mein Vater und ich waren beide aufgestanden und hatten uns angeschrien. Er platzte gleich vor Wut und ich war den Tränen nahe. Ich konnte nicht mehr.
Da stellte sich meine Mutter zwischen uns, beruhigte erst meinen Vater und wandte sich dann mir zu:
„Jana, setz dich bitte hin, beruhige dich und hör mir gut zu. Okay?“
Ich nickte.
„Dein Vater hat ja schon unmissverständlich klar gemacht, um was es geht. Ich verstehe auch dein Verhalten, aber reiß dich bitte zusammen. Also, du hast uns nicht ernst genommen, als wir sagten, dass du ins Internat kommst, falls das mit dem Lernen nicht klappen sollte. Aber wir haben es genau so gemeint, wie wir es gesagt haben. Du hast keine Probleme in der Schule außer diesem einen, aber gerade das ist ein Problem, das man nicht mit Nachhilfeunterricht beheben kann. Das musst du selbst in den Griff bekommen. Und wir haben überlegt, was wir dagegen tun können. Dann hat dein Vater von einem Arbeitskollegen dieses Internat empfohlen bekommen. Dort gibt es bestimmte Methoden mit solch schulischen Problemen fertig zu werden und es ist die perfekte Lösung für dich. Natürlich wollen wir dich nicht aus dem Haus haben. Wir wollen nur dein Bestes. Deshalb haben wir dir auch diese eine Chance gegeben, obwohl wir schon ahnten, dass das nicht klappen würde. Also, haben wir dich gestern auf diesem Internat angemeldet. Und wir möchten dir wirklich nichts Böses. Wir lieben dich doch. Denk darüber nach. Ich denke, du hattest für heute genug Aufregung. Aber es ist trotzdem endgültig: Du gehst ab Montag auf das Internat. Es gibt leider keine andere Möglichkeit mehr.“
Mit diesen Worten entließ sie mich. Mein Vater nickte nur zustimmend.
Also ging ich in mein Zimmer, wie in Trance. Diesen Tag musste ich erst einmal verdauen.

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Tag der Veröffentlichung: 15.07.2009

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