Ich lebe in einem großen Haus, das sich inmitten eines riesigen Gartens befindet, dessen Grenzen ich bis zu diesem Tage noch nie überschritten habe. Niemals ließ mein Vater mich ohne Aufsicht das Haus verlassen – entweder begleiteten er oder meine stumme Amme mich. Ja, Sie haben richtig gehört: Sie war stumm. Oder zumindest sprach sie kein Wort mit mir. Al-les, was sie mir verbot, und ihr Handeln bestand zumeist aus einer Restriktion, teilte sie mir durch Gesten oder einem kräftigen Ziehen an meinem Oberarm mit. Selten ohrfeigte sie mich, um mir anschließend bei einem besonders üblen Vergehen mit ihrem Zeigefinger vor der Nase herumzuwedeln. Freunde waren mir unbekannt. Dass es noch andere Kinder außer mir gab, wusste ich nicht. Meine Welt bildete sich aus Erwachsenen und dabei im Wesentlichen aus meinem Vater sowie meiner stillen Bonne.
Dies änderte sich an meinen siebten Geburtstag, als er morgens an mein Bett kam und mir mit einem zynischen Lächeln erklärte: „Du, nur du allein trägst die Schuld an ihrem Tod!“ Dann verschwand er ohne eine weitere Erklärung und verschloss die Tür hinter sich. Mein Kindes-verstand wusste nicht, was und wen er meinte. Mein Vater hatte zuvor nie etwas von ihr erzählt und sie stets verschwiegen, so dass mir meine Mutter verständlicherweise unbekannt war. Und auch die Verwandten, die uns an einigen Tagen im Jahr besuchten, hatten nie von ihr gespro-chen und mich über meine wahre Herkunft im Unklaren gelassen. Wie hätte ich also begreifen sollen, worauf mein Vater hinaus wollte? Dass ein jedes Lebewesen dem Leib eines Weibes entsprang, wusste ich nur dumpf.
Mit diesem Tag verschlimmerte sich mein ohnehin schon kümmerliches Dasein. Besuche fan-den nicht mehr statt, zumindest vernahm ich sie nicht mehr, der ich die meiste Zeit einge-schlossen in meinem Zimmer verbachte. Auch Ausflüge in den Garten wurden mir nicht mehr gestattet und die schweigsame Amme verschwand, ohne sich von mir verabschiedet zu haben. Meine Spielsachen wurden entfernt. Lediglich zu den Mahlzeiten durfte ich das Zimmer verlas-sen. Dann saß ich allein in unserem Speisesaal an dem riesigen Mahagonitisch, auf dem die kärglichen Speisen für mich bereit standen. Ohne dass es mir jemand sagte, stand ich nach dem Essen auf und begab mich zurück in den ersten Stock, legte mich auf mein Bett und warte-te darauf, dass meine Tür geschlossen und der Schlüssel von außen her gedreht wurde. Meine Toilette verrichtete ich in der kleinen, eigens dafür hergerichteten Kammer, die an meinen Raum grenzte und lediglich von diesem zu erreichen war. Meinen Vater sah ich ebenfalls selte-ner – einmal am Tag, meistens am frühen Abend, kam er herein und sprach einen einzigen Satz zu mir: „Du, nur du allein trägst die Schuld an ihrem Tod!“
Wie viele Wochen sich dieser ewige Verlauf wiederholte, vermag ich nicht zu sagen. Obgleich ich immer noch nicht verstand, wagte ich nicht zu fragen, für wessen Verlust er mich verantwort-lich machte. Und obwohl er mich tagtäglich auf dieselbe Weise aufsuchte, erschauderte ich je-des Mal wieder und bekam die wohlbekannte Gänsehaut, sobald er mich anklagte. Binnen kur-zem fürchtete ich mich vor ihm dermaßen, dass ich bereits beim Mittagsmahl trotz Hungers nichts mehr zu mir nehmen konnte, musste ich doch an die bevorstehende Begegnung denken. Es folgten enorme Magenschmerzen und Krämpfe im Unterleib, die irgendwann nicht mehr auf-hören wollten, sodass ich mich in meinem Bett qualvoll hin- und herwand. Ich war nicht mehr in der Lage, zu den Mahlzeiten mein Zimmer zu verlassen und mein dünner und schwacher Kör-per verlor rasch an Gewicht und Stärke. Ich lag im Sterben. Weswegen er mich ins Leben zu-rückholte, ist mir bis zum heutigen Tage ein Rätsel.
Seine Besuche stellte er ein, sodass ich fortan völlig isoliert lebte. Häufig streifte ich nun nach dem Essen durch unser Haus, ohne dabei eine Menschenseele zu finden. Hinaus konnte ich nicht: Sämtliche Türen waren fest verschlossen und vor den Fenstern befanden sich auch im Erdgeschoss schwere Eisengitter. Kein Wesen außer mir schien anwesend zu sein und doch standen die Speisen dreimal am Tage auf dem Tisch und meine Tür wurde im Wechsel zuge-sperrt oder geöffnet. Aber selbst wenn ich eiligst hinausstürmte, nachdem sie entriegelt worden war, stand da niemand. Ich lebte, doch konnte ich das wirklich Leben nennen?
Oft saß ich stundenlang am Fenster und schaute hinab in den Garten, der seit langem nicht mehr gepflegt wurde und sich mehr und mehr in einen Dschungel verwandelte. Die einstigen Beete waren mit Unkraut überwuchert, der früher sorgfältig kurz gehaltene englische Rasen stand mannshoch gen Himmel und einige Tannen des kleinen Hains, der das Grundstück um-schloss, waren den jährlichen Herbststürmen zum Opfer gefallen und hatten andere mit in ihr Schicksal gezogen. Die gestürzten Bäume lagen im Gras und Moos überzog sie bereits. Ein Blick in den Spiegel bot mir ein ähnliches Bild wie das, das sich mir draußen zeigte. Von daher war es nicht verwunderlich, dass die Kinder schreiend davonliefen, als sie mich am Fenster stehen sahen.
Der Winter war erneut gekommen und dicke, weiße Schneeflocken ließen mich nur wenige Dutzend Meter hinaus in den Garten blicken. Geduldig beobachtete ich träumend den Lufttanz und wünschte mir sehnlichst, mich wie sie einem Schwarm von Schmetterlingen gleich auf dem Boden niederzulassen. Während der Niederschlag nachließ, drangen durch einen Schleier Stimmen zu mir – fremde Stimmen, die jedoch nicht aus dem Haus zu kommen schienen. Er-schrocken schaute ich umher, doch die Quelle des vernommenen Lärms konnte ich nicht aus-machen. Wahrscheinlich hatte ich mir alles nur eingebildet, entsprangen die Laute meiner Phantasie, die schließlich anfing, durch die schrecklichen Zustände zu erkranken. Nein, nein, jetzt hörte ich sie ganz deutlich! Rufe! Und dann sah ich sie: zwei kleine Menschen, die in dicke, feste Kleidung gehüllt waren, Jacken, Stiefel, Handschuhe, Schals und Mützen trugen. Kinder! Zweifel erwachten wiederum in mir. Waren sie nicht doch eine Halluzination? Aber sie liefen durch unseren Garten, hinterließen tiefe Abdrücke auf dem Rasen und bewarfen sich mit Schneebällen. Einige Minuten lang verfolgte ich ihr Spiel. Dann entdeckte mich eines der bei-den hinter dem Fenster und rief heiser zu seinem Kameraden, während es mit ausgestrecktem Arm auf mich deutete. Die zwei standen da und starrten mich offenen Mundes an. Als ich meine Hand hob und ihnen zuwinkte, nahmen sie lauthals Reißaus.
Ich wollte sterben. Ich war ein Monster und kein Mensch mehr. Mein Anblick verängstigte an-dere – er war mir ja selbst zuwider. Ich war seit Jahren allein in diesem verhassten Haus und die Einsamkeit drückte schwer auf mein Gemüt. Und Schuld daran war nur mein Vater, der mich für den Tod einer Person verantwortlich machte, die mir unbekannt war.
Als ich Nahrung und Wasser verweigerte und nach einigen Tagen abermals in ein Delirium fiel, holte er mich mit Ausdauer zurück ins Leben. Doch nur um nach meiner Genesung wie zu-erst an meinem siebten Geburtstag in mein Zimmer zu treten und mir vorzuwerfen: „Du, nur du allein trägst die Schuld an ihrem Tod!“ Aber die Angst vor ihm war einem gewaltigen Zorn gewi-chen. Die lange Zeit der Isolation hatten in mir eine Wut entfacht, deren Quelle in meinen Au-gen ganz zweifelsfrei mein Vater war. Ich brüllte ihn an: „Wen, Vater! Wen soll ich umgebracht haben?“ – „So weißt du es denn wirklich nicht?“ Als ich mit den Schultern zuckte, fuhr er fort: „Du, nur du allein trägst die Schuld am Tod deiner Mutter!“ Meine Mutter also. Was für ein Un-sinn. Diese mir vollkommen fremde Frau. „Vater, das ist doch lächerlich. Du weißt, dass ich meine Mutter nie gekannt habe. Bis heute bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt je-mals eine Mutter hatte.“ Hierauf schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Entsetzt stierte ich ihn an. „Sie schenkte dir Taugenichts dein wertloses Leben. Du nahmst ihr das ihrige dafür. Du Mörder!“ Danach schritt er eilig mit schweren Schritten hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Er wollte mich für etwas verantwortlich machen, das ich unmöglich getan haben konnte. Nach einigem Überlegen meinte ich, den Grund für sein absurdes Handeln gefunden zu haben: Er war geisteskrank! Was jedoch sollte ich tun? Mit einem Wahnsinnigen war eine vernünftige Dis-kussion aussichtslos. Hinzu kam, dass er gewalttätig war. Sein Schlag hatte mir anscheinend meine Nase gebrochen. Nicht nur, dass sie beachtlich schmerzte, sie war ferner stark ange-schwollen und schief. Mein Entschluss, ihn zu töten, war naheliegend und von daher rasch ge-fasst. Die Art und Weise hingegen war schwieriger zu finden.
Am folgenden Tag wartete ich nach dem Mittagsmahl in meinem Zimmer darauf, dass mein Vater seine übliche Anklage gegen mich äußerte. Beharrlich hatte ich die Tat in meinem Geiste ablaufen lassen: Ich wollte ihm, sobald er mir den Rücken zukehrte, das Messer, das ich aus der Küche entwendet hatte, in den Rücken bohren, so tief es mir gelang. Vollkommen ruhig lauerte ich auf mein ahnungsloses Opfer. Heute sollte mir die Gelegenheit gegeben werden, mich für all die zahllosen Monate der Gefangenschaft, der Unterdrückung, der Lieblosigkeit, der Inhumanität, des Unbeschreiblichen zu rächen – ich wusste, dass ich sie nutzen würde.
Und tatsächlich. Am späten Nachmittag öffnete sich so wie zu vergangener Gewohnheit mei-ne Zimmertür. Breitbeinig stand er vor mir. Ihm war nicht klar, dass er in wenigen Momenten, so hoffte ich, tot wäre. „Du, nur du allein trägst die Schuld an ihrem Tod!“ sprach er den stets glei-chen Satz. Er drehte sich um. Ich sprang auf, das Messer mit beiden Händen festhaltend hoch über meinem Haupte. Und wie in Schillers Ballade gelang es mir nicht, die Stadt vom Tyrannen zu befreien. Er wehrte meinen Angriff ab und entriss mir die Waffe. Seine Augen funkelten mich voller Feindseligkeit an. Mich, der ich auf dem Boden saß und voller Furcht zu ihm hinaufblickte. Dann allerdings lächelte er. Mein Vater lächelte mich an, das erste Mal seit vielen Jahren. Er lächelte freundlich und reichte mir die Hand. Als ich sie ihm reichte, obgleich ich eine Falle ver-mutete, zog er mich hoch, umarmte mich, streichelte mir anschließend mehrfach über mein Haar und verließ schließlich den Raum, ohne jedoch die Tür zu schließen. Diese blieb weit ge-öffnet.
Ich wartete. Erneut. Die Sonne war seit längerem untergegangen und ich verharrte immer noch still auf meinem Bett, auf seine Rückkehr, auf das Schließen der Tür, auf irgendetwas war-tend. Aber nichts geschah.
Es dämmerte bereits, als ich aufwachte. Es war immer noch nichts passiert. Als es Zeit war, zum Frühstück hinunterzugehen, schritt ich zum Erdgeschoss hinab. Doch der Tisch war unge-deckt. Stattdessen stand die schwere, eichene Eingangstür auf und bewegte sich leicht im Takt des Windes, der sich von draußen kraftvoll seinen Weg ins Anwesen suchte. Es führten Spuren im Schnee vom Hause weg, nicht zurück. Mein Vater hatte demnach das Grundstück verlassen, ohne wiederzukehren. Ich schloss die Eingangstür und ging langsam und guter Dinge in die Küche. Das Messer befand sich wieder an seinem gewohnten Platz. Ich nahm es heraus und schnitt mir einige Wurststücke und zwei Brotscheiben zurecht, die ich später voller Genuss und ohne jegliche Schuldgefühle in meinem Bett liegend verspeiste.
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2009
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