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Meinen momentanen Zustand einem Fremden, Unwissenden darzustellen, zu erklären, ihn zu einer klaren Einsicht zu bugsieren, erweist sich mir als eine schier unlösbare Aufgabe, denn ich erfahre dies Dasein selbst als zu wundervoll, als dass ich es zu verstehen trachte oder allein auch nur versuchte, es in Worte zu fassen – derartiges läge ohnehin jenseits meiner Fähigkeiten. Nie, so scheint es mir, könnte eine Sprache diese Leichtigkeit des Seins, diese Euphorie, meine Glückseligkeit ausreichend verständlich wiedergeben. Die Sphäre, in der sich mein Geist just in diesem Augenblicke befindet, verweilt, dahinschwebt, wird den Zurückgebliebenen noch eine Zeit lang ein Mysterium bleiben müs-sen, und sie würden, wenn ich letztlich doch gewillt wäre, jenen Verschmähten davon zu berichten, das Geschenk nicht zu würdigen, zu verstehen wissen; so lasse ich sie weiter lieben, sich selbst, ein-ander und den bornierten Sumpf, den sie ihr glückliches Leben zu nennen wagen. Und dennoch wer-den sie einen geringen Einblick erhalten in dieses körperlich-lustfreie, im Austausch dafür um so ge-nussvollere Schweben zwischen Diesseits und Jenseits; ein solcher erweist sich mir als unumgäng-lich, doch versuche ich jene Sicht so gering wie möglich zu halten.
Bereits sechs Tage lang, seit meinem Unfall, der mir das konventionelle Bewusstsein nahm, wel-ches ich in dieser Zeit noch nicht zurückerlangen wollte – trotz des stetigen Bemühens der weisen Ärzte und fleißigen, hübschen Schwestern -, sind mein Geist und Körper uneins. Das Medium, das mir meine Gedanken ermöglicht, meinen Charakter und Intellekt scheinbar beanspruchen darf, existiert formlos, unsichtbar nunmehr zwischen Diesseits und Jenseits. Unter mir vernehme ich deutlich das spezielle Krankenbett der Intensivstation, erkenne mühelos die teuren Armaturen, denen es nicht ges-tattet wird, zu ruhen, damit aufzuhören, meinen Körper permanent auf seine gewohnte Verlässlichkeit hin zu überwachen, und die, falls der Klumpen Fleisch von der von ihm verlangten Norm abzuweichen gedachte und mir mein irdisches Leben zu nehmen schiene, sofort Alarm schlügen und rasch flinke Hände sowie ausgereifte Köpfe verständigten, die meine Organe durch bekannte und erprobte Mittel der modernsten Medizin zur Wiederaufnahme ihrer Pflichten zwängen. Doch wie närrisch wirkt die menschliche Technologie, das Wissen, das wir uns über Jahrtausende hinweg angeeignet haben, wenn es euch nicht gelingt, ja, wenn ihr unfähig seid, zu verstehen, dass es fern eurer Macht liegt, meine Augen aufs neue zu öffnen, meine sonore Stimme das Krankenzimmer vereinnahmen zu las-sen. Und obgleich ich bis zu diesem Moment mit keiner Gewissheit das Kommende vorauszusagen vermag, scheint es mir dennoch, dass ich dieser arroganten Menschheit mit ihren bescheidenen Er-rungenschaften einen weiteren Triumph schuldig bleiben werde; allzu sehr genieße ich meinen jetzi-gen Zustand. Ich erfahre eine Einigkeit mit allem Sein, mit dem Universum, mit Gott. Dieser nennt mich seinen ungeborenen Sohn, der nicht ein weiteres Mal vergeblich geopfert werden darf, den er nicht zurückzuschicken wagt in die vergessene, vergessende Welt voller Qual, Schmerz und Pein, Intrigen, Misstrauen, Kriegen und grausamen Folterungen. Wie oft kann es selbst ein Gott ertragen, seinen Sohn sterben zu sehen?
Und doch, ich zögere. Nicht Furcht lässt mich rasten. Vielmehr genieße ich die Momente, erfreue mich an der Ungeduld des Fährmannes, dessen Gier nach meiner Münze mein Verweilen lediglich in die Länge zieht. Du wirst sie schon bekommen. Du weißt es doch, mein treuer Kamerad, deine Hilfe wird ein jeder in Anspruch nehmen. Bei mir musst du nur ein wenig länger warten, denn es ist noch unbestimmt, ob du meinetwegen gerufen wurdest. Der Sog ist mächtig, das Rauschen verführerisch, aber werde ich Aphrodite missen wollen? Zwar verspüre ich kein Verlangen, meine Begierde nach Liebe und Lust blieb zurück in meinem Körper, aber mag es ja sein, dass mich die närrische Gestalt, habe ich den Strom erst einmal überquert, fortan zu necken weiß und mir das Hinterbliebene rück-sichtslos offenbart. Mitzunehmen auf die andere Seite, vermag ich nur den Moment, aber mein Geist scheint mir noch zu jung und edel, als dass für ihn bereits der Zeitpunkt gekommen wäre, hinüber zu seinem Ursprung zu reisen, um später aus dem Wasser erneut geboren zu werden und den ewigen, göttlichen Kreislauf zu schließen. Quengeliger Charon, so gönn´ mir noch einen Augenblick!
Meine besten Freunde sind zu Besuch. Das erste Mal seit meiner Einlieferung ist ihnen die Erlaub-nis zugesprochen worden, sich vor meinem Bette zu versammeln, um ihr Lamento gemeinsam anzu-stimmen. Friedlich ruht mein Körper, während sie das Klagelied synkopisch wiederholen. Sie betrach-ten die geschlossenen Augen, trachten nach einem Blinzeln, vielleicht einem Zwinkern, das das baldi-ge Öffnen des Paares ankündigen könnte, würde, warten auf ein Lächeln, das ich ihnen nicht zu ge-ben gedenke. Sie verharren mit derselben Geduld, die Charon besitzt, und wäre ich dann von ihnen gegangen, wünschten sie sich nichts so sehnlichst wie ein Wirtshaus, in dem sie eine tollkühne Rhap-sodie erschaffen und diese in immer gröberen Nuancen bis weit nach Mitternacht durch den Schleier der Getränke und des Rauches über den Tisch sich gegenseitig entgegenwerfen würden. Ach, was wüssten sie doch für tollkühne Erlebnisse über mich zu berichten! Alle, selbst die, von denen ich es kaum erwartet hätte, kämpften gegen Tränen an, und nur wenigen gelänge es, gegen so viel Bier und Solidarität erfolgreich zu sein, so dass sich ein mancher von der trauernden Runde abwenden müsste, um sich die aufkommende Zähre beobachtet fortzuwischen und den schleimigen Inhalt seiner Nase, sowohl um die Schwere der Tortur geräuschvoll zu unterstreichen als auch um nicht selbst das Zeitige zu segnen, mit Gewalt in ein Taschentuch zu drücken. Ich lese in ihren Gedanken, sie sind mir alle-samt bekannt. Ja, einigen muss ich zugestehen, dass ihre Emotionen nicht wirklich das Ergebnis einer schauspielerischen Meisterleistung sind. Diese wahre, reine Trauer erfüllt mich, macht mir meinen Entschluss zu verweilen schwer, dennoch bin ich nicht gewillt hinab in meinen Körper zu steigen, denn mir ist etwas bekannt, das meine Freunde erst nach Monaten erfahren werden, das momentan nur in ihrem Unbewussten lebt. Vorwürfe zu äußern, liegt mir fern, fehlt mir doch auch das Recht da-zu; meine Person an ihren Stellen besäße denselben Makel, der lediglich in der Natur des Menschen, sei´s zum Selbstschutz oder einfach wegen der beschränkten Kapazität unseres Gedächtnisses, sei-ne Herkunft findet. Bei meiner Beerdigung würde zweifelsohne emsig getrauert und über diese noch einige Zeit hinaus. So manche ihrer Wehklagen wären durchaus aufrichtig und ehrlich, so dass zahl-reiche Taschentücher meinetwegen für einen kurzen Moment konsultiert, doch da sie kaum Trost zu spenden vermögen, dann baldigst zerknüllt ihr kurzes Leben durch einen Papierkorb beendet wüss-ten. Aber die Zeit heilt auch die kleineren Wunden, und ein Neuer würde meinen Platz in ihrer Ge-meinschaft einnehmen und so vergnügt und fidel, wie ich es einst gewesen war, mich ersetzen. Ich erblicke fröhliche Feste, die in der Zukunft erscheinen, sie ragen nicht minder hoch über die Ebene des Alltäglichen, und die wenigen Erinnerungen, die sie mir während dieser schenken, tragen stets die Maske der Anekdote. Es bedürfte zweifelsohne eines recht kurzen Rinnsals, bis ich aus ihren Gesprä-chen und Erinnerungen gründlich gegangen wäre.
Die Enden ihrer langen blonden Haare ruhen sanft auf ihren Schultern. Der Raum ist erfüllt von ih-rem lauten Schluchzen. Sie sitzt auf dem einfachen Stuhl, den sie nahe an die Längsseite meines Bettes herangerückt hat, um meine blasse Hand bequem streicheln zu können. Immer und immer wieder küsst sie die eine meiner Extremitäten; sie fleht mich an, endlich aufzuwachen, und es scheint mir, als müsse mein technischer Wächter augenblicklich die Ärzte und Schwestern herbeirufen, um mein gebrochenes Herz zu retten. Vermeintlicher Neid erwacht in mir. All diese verschwenderischen Liebkosungen für meinen Körper, der sie nicht zu schätzen weiß. Ist es Sehnsucht, die ihrigen Lippen zu spüren? Ja, sie ist der Grund, weshalb ich gezögert habe! Lass mich die unglückselige Münze ins Wasser schleudern, dass ich ihren Atem in meinem Haar wieder vernehme und den Kuss erwidern kann.
Sie hat Abschied genommen. Mein Körper teilt sich den Raum abermals mit mir, denn ich bin nicht zurückgekehrt. Wiederum müssen gefasste Vorwürfe ziellos umherirren, da solche Tadel verfehlt wä-ren. Ihr Haupt ist mit Schmerz erfüllt gewesen: dem Schmerz über den möglichen, wahrscheinlichen Verlust ihrer Liebe, des Menschen, mit dem sie gar manche Stunde das Bett geteilt, sich oft gestritten, aber stets von neuem zu einer glücklichen Eintracht gefunden hat. In ihrem Unbewussten jedoch weilt die Hoffnung, die Pein zu überstehen, um letztendlich eine neue Liebe finden zu können. Der Platz in ihrem Herzen, den momentan ich mein Eigen nennen darf, und kehrte ich zurück, könnte ich zu Recht meinen Anspruch auf ihn geltend machen, würde in nicht allzu ferner Zukunft ein anderer mit demsel-ben Recht fordern. Es mag grausam klingen: Ich wollte ihrem Flehen nicht nachgeben.
Obgleich mein Vater sich heute morgen rasiert und meine Mutter wider ihre Überzeugungen Kosme-tika aufgetragen haben, wirken beide unendlich müde und alt. Auch der unsensibelste Bursche würde mühelos die Überwindung bemerken, die es sie kostet, meinen derzeitigen Zustand als den unverän-derlichen anzuerkennen. Schweigend stehen sie am Bettende. Die Stille wird vielmehr durch die mo-notonen Töne der Apparate als durch das kaum hörbare Weinen meiner Mutter, das sich nahezu un-bemerkt in ihrer Mimik widerspiegelt, gestört. Ihre Umarmung ist seit langem erstmals wieder mehr als eine banale Begrüßung, und meine Mutter vergräbt ihr sonst so hübsches Antlitz, das nun von zahllo-sen Tränen aufgedunsen, an der Schulter meines Vaters, der still, beinahe starr vor meinem Körper weilt, der Herr der Lage zu sein wünscht, aber doch sinnlos kämpfend mit den Tränen ringt. Zögernd, wie im Traum versunken, löst sich die Mutter vom Vater, wendet sich unter lautem Seufzen von ihm ab und verlässt, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Raum. Die so kraftvoll unterdrückten Tränen meines Vaters haben sich unterdessen in seinen Augäpfeln gesammelt, sind übermenschlich gewor-den und beginnen, seine faltigen, eingefallenen Wangen hinabzugleiten, zunächst langsam, um dann kurz vor dem Fall auf den Boden ihrem endgültigen Schicksal, welches sie mit zahllosen vor ihnen teilen, immer rascher entgegen zu eilen. Er hinkt schwerfällig, erneutes Wasser im Knie erschwert ihm das Gehen, um das Bett herum und bleibt an meiner rechten Seite, an der wenige Stunden zuvor meine Liebe weilte und Kameraden über mein Unglück klagten, stehen. Auch er ergreift meine Hand, stehend. Auffällig ist der Kontrast: seine zart bräunlichen Altersflecken und die Blässe seiner Haut, die selbst der meinigen wieder ein gesundes Aussehen schenken. Stumm streicht er mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Er zweifelt am Können der Ärzte, unterstellt ihnen ungewollt, dass diese weder genügend Zeit noch ausreichend Wissen meiner verhängnisvollen Lage widmen. Ach, mein wahrer Vater, Dein Misstrauen ist unbegründet! Nein, es liegt nicht in der Macht der Doktoren, mich zurückzuholen. Ich alleine muss entscheiden.
Eine adrette Krankenschwester betritt das Zimmer. Mein Vater entlässt verstört und erschrocken meine Hand zurück in die Freiheit. Auch jetzt ist es ihm unmöglich, seinen Gefühlen dasselbe wie meiner Hand zu schenken. Beschämt, als ob er bei einer Ungezogenheit ertappt worden sei, dreht er sich kurz lächelnd von der jungen Dame ab, die sich sodann über meinen Körper beugt, dessen O-bergewand ein wenig hinaufzieht, um in den speckigen Bauch eine Spritze dringen zu lassen, aus der einen Moment später eine Flüssigkeit in das lethargische Fleisch strömt. Nach dem obligatorischen Blick auf die modernen Geräte und einem aufmunternden in Richtung meines Vaters verlässt die Schwester den Raum. Das nahezu lautlose Schließen der Zimmertür hallt in den glänzenden Augen meines verwirrten Vaters wider, der es, obgleich nun zurück in leidlicher Eintracht mit meinem sanft schlummernden Körper, nicht wagt, meine Hand erneut in die seinige zu führen, sondern zurück an das Fußende des Bettes tritt. Dort harrt er minutenlang schweigend aus, und ich nutze diese Stille, um in seine Gedanken einzukehren. Oh, wie sehr er mich vermisst! Wie sehr er begehrt, mich endlich aufs neue in seine Arme nehmen zu können und den Druck dieser Liebkosung erwidert zu spüren! Die Hoffnungen meiner Eltern sind dieselben. Obwohl sie in den letzten Jahren nur allzu selten einer Mei-nung waren, in diesem Moment fühlen sie gleich: ihr Wunsch ist meine Rückkehr. Aus ihrem Unbe-wussten entnehme ich unverkennbar, dass niemals ein Mensch auf dieser Welt existieren wird, der mich auch nur im geringsten ihnen ersetzen könnte; in keiner Zukunft würde ein anderer meine Stelle sein Eigen nennen dürfen. Von plötzlichem Schmerz durchdrungen, muss ich verstehen, dass meine Eltern im Gegensatz zu all meinen Freunden und Bekannten erst dann wieder des glücklichen La-chens mächtig wären, wenn sich ihr Geist mit dem meinigen verbunden hätte. Meine Erwartung, dass ihre Trauer um mich in ihrem irdischen Leben verblassen könnte, entblößt sich mir als eine vollkom-mene Torheit.
„Junge, komm´ zurück zu uns!“
Die heisere Stimme meines Vaters durchschneidet die sterile Luft des Raumes. Sie ist von der Furcht bestimmt, ich hörte ihn nicht. Nein, meine Eltern dürfen es nicht sein, die mein Grab beweinen. Diese Aufgabe ist nicht Teil ihres Daseins, liegt sie vielmehr bei den Kindern; es ist mein Schicksal, das von mir fordert, sie zu ihrer letzen Ruhestelle zu führen und dort im Zeichen der Trauer den längs-ten Augenblick meines Lebens zu verweilen. Die Reinheit ihres höchsten Wunsches offenbart mir gnadenlos meine Unbesonnenheit. Hier Charon, nimm die Münze als Dank, dass du vergebens warte-test. Denn ich kehre zurück: zurück in Schoß meiner Mutter, unter die Hand meines Vaters!

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Tag der Veröffentlichung: 06.01.2009

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