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Kapitel 1
In Media Res
14.Juni 1907
Ich fühlte den Strick in meiner Hand und verdrängte die Bibelstelle, in der stand, dass Selbst-mord eine Todsünde sei und die, die jenen begehen im Fegefeuer schmoren müssten.
Doch ich musste es tun. Ich wollte nicht weiter in diesem goldenen Käfig leben und wieder Prügel hinnehmen.
Die Kirchglocke schlug zwölf Uhr. Randall würde in einer Stunde zum Mittagessen kommen und ich würde nicht mehr sein!
Es war ein wunderschöner Junitag, die Sonne schien angenehm, die Vögel sangen ihre Arien, alles lag wie immer friedlich und verschlafen zwischen den Berghängen, die wie ein grün- rot –gelber Teppich aussahen. In Pedgewick, Sussex war alles wie jeden Tag.
Die Frauen standen auf, kleideten sich an, bereiteten ihren Männern das Frühstück, weckten diese und danach machten sie das Badewasser warm. Eine Stunde später gingen die Männer aus dem Haus und die Frauen gingen ihren Haushaltspflichten nach. Am späten Vormittag eil-ten die Frauen zum Einkaufen, danach wieder zurück, um das Mittagessen zu bereiten und Punkt Eins waren die Männer zum Lunch daheim.
Am Nachmittag trafen sich die Frauen dann zum Klatschen und Sticken.
Spätnachmittags standen sie dann wieder am Herd, um das Dinner zu kochen. Und abends fie-len sie ihren Männern glücklich um den Hals.
Doch nicht so ich. Ich saß den ganzen Tag zu Hause stickte, strickte oder las die Bibel und be-tete. Mehr erlaubte mir Randall nicht.
Die haushaltlichen Pflichten erledigte die freundliche Mrs.Connan. Eine Witwe, der Randall erzählt hatte, ich sei schwer krank und bräuchte dringend Ruhe. Also bekam ich niemanden zu Gesicht, außer Randall!
Randall war mir am Anfang unserer Ehe wie ein Held vorgekommen.
Ich war am 14. August 1882 geboren und hatte immer zu denen gehört, die vom Glück nicht so begünstigt worden waren.
Ich war sehr groß: 1.80m, aber schlank, ich brauchte fast nie ein Korsett.
Ich hatte lange braune Haare, die ich immer in einen modischen Knoten trug. Blaue Augen und hohe Wangenknochen. Alles schön und gut.
Doch ich hatte Hasenzähne!
Wegen meiner Größe und meiner furchtbaren Hasenzähne, war es meinem Vater erst gelun-gen mich mit 22 Jahren zu verheiraten.
Eines Tages stand Randall im Salon: groß (größer als ich), schlank, sehr attraktiv und mit ei-nem göttlichen Feingefühl.
Er starrte mich nicht an, - wie sonst jeder- als ich in den Salon trat. Er grüßte mich galant und setzte sich. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass er gebildet, kultiviert, höflich, humorvoll und aus gutem Hause war. Ich dachte damals, ich würde vor Glück schweben.
Danach sah ich ihn noch zweimal: einmal auf einer Gesellschaft und das andere Mal bei unse-rer Verlobungsfeier.
Unsere Verlobung war am 18. Mai 1904. Unsere Hochzeit ein halbes Jahr später: am 16. No-vember 1904.
Von mir wurde nun erwartet, dass ich eine gute Hausfrau war. Ich sollte das Haus sauber hal-ten, das Teil meiner sehr großzügigen Mitgift gewesen war, meinen Mann möglichst glück-lich machen und natürlich auch Kinder geberen.
Am Anfang unserer Ehe waren wir aus London fort nach Pedgewick gezogen, wo Randall als Gesandter des Grafen von Sussex tätig war.
Er war sehr nett zu mir gewesen, aber als ich nach einem Jahr immer noch nicht schwanger geworden war, fing er an mich zu schlagen, beschimpfen und begann mich von der Außen-welt zu isolieren.
Mittlerweile schlug er mich jeden Abend und danach nahm er mich hart und gefühllos.
Die Uhr schlug jetzt halb Eins.
Nun stieg ich auf einen stabilen Eichenstuhl, schlang den Strick um den Dachbalken, legte ei-ne Schlinge und steckte meinen Kopf hindurch.
Ich schloss die Augen, schob den Stuhl weg. Dann spürte ich wie mir die Luft wegblieb, mei-ne Augen hervorquollen und sich meine Blase entleerte.
Danach wurde alles schwarz.


Kapitel 2
Das Zwischengeschoss
14.Juni 1907
Ich erwachte, als ich eine weiche Stimme hörte, die meinen Namen rief.
Es war eine Stimme, die ich nicht kannte. Ich öffnete die Augen, wurde aber von einem grel-len Licht geblendet Die Stimme ertönte noch mal und sagte:
“Vor uns steht Lilith, Adriana, Mariah Oliver geb. Parker, geboren am 14. August 1882 in London. Gestorben am 4. Juni 1907 in Pedgewick. Sie verstarb mit 25 Jahren an einer der Todsünden: erhängen!“
Obwohl mir es niemand gesagt hatte, wusste ich doch, dass die Stimme Gott gehörte. Ich er-schauerte bei dem Wort Todsünde und langsam kroch mir die Angst in mein Bewusstsein. Ich war also tot, doch was würde nun mit mir geschehen?
Gespannt lauschte ich weiter.
„Sie führte ein Leben in tiefer Frömmigkeit und ließ sich nie etwas zu Schulden kommen. Zudem kann man ihr zu Gute halten, dass sie von ihrem Ehemann Randall Oliver misshandelt wurde.“ Jetzt wandte sich die Stimme an mich
“Mrs. Oliver: Sie sind zu gut für das Fegefeuer (mir fiel ein Stein vom Herzen), aber durch den Umstand Ihres Todes nicht bereit für den Garten Eden! (mir sank das Herz in die Knie).
Also werden wir Sie an einen Ort schicken, an dem Sie sich bekehren können.“
Dann kam ein Engel zu mir, packte mich am Arm und flog mich zu einem Kloster. Ich war fasziniert. Wer dort wohl hausen mochte?
Die Pforten öffneten sich und der Engel stellte mich in ein kleines Zimmer, in dem die – wie ich annahm – Mutter Oberin saß. Mein Verdacht wurde bestätigt, als sie sagte:
“Ich bin die Mutter Oberin, mein Kind, und Sie werden hier solange leben, bis der Pater Sie für geeignet hält!“
Die Mutter Oberin war erstaunlich jung. Sie reichte mir bis zur Schulter, hatte große, blaue Augen, helle Haut und einen schönen Mund.
Außerdem hatte sie rote Haare, soweit ich das unter dem Schleier erkennen konnte. Und eine nette, aber bestimmte Stimme.
„Wer ist der Pater? Ein Kommissar?“, fiel ich der Mutter Oberin unhöflich ins Wort. Meine Neugier ließ mich meine Manieren vergessen, „und wo komme ich hin?“ Pikiert sah sie mich an: “Der Pater ist Pater Vampire und er wird Sie hier bekehren. Wenn Sie das so ausdrücken: ja, er ist eine Art Kommissar. Von nun an sind Sie Miss Parker. Ich zeig Ihnen Ihre Behau-sung und dann werden Sie Pater Vampire vorgestellt.“
Ich war sehr gespannt.
Meine „Behausung“ stellte sich als Raum mit einem Bett, einem Bücherregal und einem Was-serkrug auf einem wackligen Tischchen heraus.
Danach führte mich die Mutter Oberin heraus, durch unzählige Gänge und Türen, bis wir schließlich in einer kleinen Kapelle standen.
Dort stand ein sehr kleiner, schlanker Mann mit einer Priesterkutte bekleidet.
Er hatte die Kapuze auf, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Doch während die Mutter Oberin zu ihm sprach, hörte ich meinen Namen mehrmals. Ich hielt mich dezent im Hinter-grund und sah mir die Kapelle genauer an.
Sie war klein, hatte keine Wandmalereien und einen kleinen armseligen Beichtstuhl, der mehr einem Bretterverschlag ähnelte.
Vorne in der Kapelle stand ein Altar aus Holz mit einem prächtigen Kreuz aus Elfenbein da-hinter, das mir allerdings neben dieser Schlichtheit sehr fehl am Platz vorkam.
Nun verabschiedete sich die Mutter Oberin und der Pater trat zu mir.
“Ich bin Pater Vampire und beaufsichtige Sie hier bis zu Ihrer Entlassung.“ Ich prustete un-willkürlich los.
„Entlassung? Das hört sich an wie im Gefängnis.“
„Lachen Sie nicht, meine Liebe, es wird Ihnen von Zeit zu Zeit wie ein Gefängnis vorkom-men“, sagte er mit einer angenehmen Stimme. Er schlug die Kapuze zurück und mir blieb fast das Herz stehen, was natürlich bei einer Toten unmöglich war. Er war kein Mensch, wie die Mutter Oberin. Seine Haut war schneeweiß, sodass die Venen sich leuchtend blau hervorho-ben. Er hatte braunes, glattes Haar, das zusammengebunden war. Braune Augen und Zähne wie ein Vampir!
Ich schrie nicht, aber das Entsetzen musste mir im Gesicht gestanden haben, denn er verzog spöttisch den Mund und meinte:
“Tja, meine Liebe mit der Zeit werden Sie auch so aussehen.“ Einem Moment lang huschte die Vorstellung Durch meinen Kopf, wie das wohl mit meinen Hasenzähnen aussah und ich schmunzelte. Aber gleich darauf packte mich wieder meine Neugier:
„Warum“, fragte ich, „die Mutter Oberin sieht auch aus wie ein Mensch.“
„Ach ja, die gute Seele Zachathrustra. Nun sie war schon im Garten Eden, aber sie hat freiwil-lig die Aufsicht hier übernommen. Wer freiwillig hier ist, wird nicht mit so einem Aussehen von Gott gestraft. Nur jene, die etwas angestellt haben.“


Kapitel 3
Bloody-Bunny

„So? Was haben Sie denn angestellt?“, fragte ich voller Neugier.
„Das geht Sie gar nichts an Lady.“
„Warum nicht?“
Neugier ist keine Tugend Miss…äh… wissen Sie was: da Sie in Kürze sowieso ein Vampir werden und Sie diese Hasenzähne haben, nenn ich Sie von nun an Bloody-Bunny.
Stimmt es eigentlich, dass Sie sich unter anderem wegen dieser Zähne umgebracht haben?“
„Woher wissen Sie das?“, fragte ich jetzt leicht verärgert.
Jemand hat es mir ins Ohr geflüstert!“, meinte er und deutete auf seine spitzen, fast durchsichtigen Ohren.
„Etwa Gott höchstpersönlich?“
„Jemand!“, wiederholte er, dabei zuckten seine Mundwinkel.
„Nun, was das betrifft, geht Sie das gar nichts an.“, konterte ich, wie ich hoffte kokett.
Er schien so etwas sehr oft zu hören, denn er sagte unbeeindruckt:
“Ich bin von nun an Ihr Beichtvater und Mentor. Sie werden es mir irgendwann erzählen müssen.“
Mit einem lauten „Pah“ drehte ich mich um und stolzierte zur Tür. Als ich mich fragte, wo ich hin-gehen sollte, stand er plötzlich vor mir.
Ich stieß einen schrillen, sehr undamenhaften Schrei aus, prallte gegen die Tür und fluchte.
„Na, na Bloody-Bunny, was sind denn das für Ausdrücke? Das schickt sich doch nicht für eine junge Dame. Außerdem sind wir auch noch in einer Kapelle, vor Gottes Angesicht. Wenn ich Sie dann zu Ihrem Zimmer geleiten dürfte?“, setze er mit einem charmanten Lächeln und samtweicher Stimme hinzu und bat mir den Arm an.
Zögernd nahm ich diesen und er brachte mich zu meiner „Zelle“.


Kapitel 5
Düstere Vergangenheit

Ich war anders. Ich meine nicht, dass ich ein Vampir war. Ich war auch ein anderer Priester gewesen.
Ich wusste nicht woran es lag, dass die Kinder in meinen Gottesdiensten immer lachten, wenn ich während der Gedenkpausen ein Nickerchen machte oder den Altar mit dem Priestergewand abwischte, wenn wieder ein Ministrant den Wein verschüttete. Ich ging zu meinem Altar und setzte mich so schwungvoll auf eine Seite, dass ich auf der anderen fast wieder heruntergefallen wäre. Ich hörte ein leises Kichern und wusste sofort wem es entsprungen war.
„Komm heraus Konstanze. Die Kirche ist kein Ort zum Verstecken.“
Ein blondes Mädchen trat aus einer Bankreihe hervor und schaute mich verlegen an. Sie war mit zwölf an der Pest gestorben. Auch sie war meine Schülerin.
„Was machst Du hier Konstanze?“ fragte ich.
„Bastian und ich spielen Verstecken“ antwortete sie mir mit einem Glänzen in ihren blauen Augen.
„In der Kirche wird nicht gespielt.“
„Aber das haben Sie doch auch schon gemacht, Pater“
„Hab ich nicht“
„Doch Sie haben mal Purzelbäume auf dem Boden geschlagen. Und als Die Mutter Oberin dann gekom-men ist haben Sie behauptet, Sie hätten den Boden gewischt!“
Ich streckte ihr wie ein fünf-jähriger die Zunge heraus und sie kam lachend zu mir gehüpft, um sich neben mich zu setzten.
„Wer ist eigentlich die Neue?“
„Ach, Du hast Bloody-Bunny also schon gesehen?“
„Lasst mich raten...Sie haben ihr den Spitznamen gegeben. Kein Wunder! Sie haben ja auch ein Jahr ge-braucht um sich meinen zu merken. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie Sie sich die ganzen lateinischen Gebete merken können.“
„Ich hab` s halt nicht so mit den Namen“, antwortete ich schmunzelnd, „aber Zahlen kann ich mir gut mer-ken. Nenn mir eine siebenstellige Zahl und sie bleibt in meinem Gedächtnis.“
Und sie legte los „2.453.654. Jetzt Sie, Pater.!“
„2.453.654. Das war ja nicht schwer.“
„Ich habe einen Vorschlag, Pater. Ich stell Ihnen jetzt eine Frage und wenn Sie die nicht beantworten kön-nen, dann bekomme ich den restlichen Tag frei.“ Sie blickte mich hoffnungsvoll aus ihren großen, blauen Augen an.
„Na, meinetwegen.“
„Oh, danke Pater. Also: wie lautet mein vollständiger Name?“
Mist. Falsche Frage.
„Dein Name ist Konstanze, ... Haba ... gnafaser .. dada ... gewui.“ , antwortete ich, während sie sich vor Lachen kugelte.
„Ich heiße Riga mit Nachnamen. Konstanze Riga.“
Sie stand auf und rannte zur Tür, als ich plötzlich, mit einer strengen Stimme rief:
“Konstanze! Stehen geblieben. Du hast noch eine Menge zu lernen.“
Sie drehte sich verwundert um und sagte:
„Aber ich hab doch frei!“
„Nein“, antwortete ich ihr, „unsere Abmachung besagt, dass Du einen TAG frei hast. Aber hier herrscht immer Nacht, falls Du das vergessen haben solltest.“
Sie machte ein betretenes Gesicht und schlurfte an mir vorbei, in die Nebenkammer, um aufzuräumen. Sie kannte mich inzwischen schon so gut, dass sie wusste, dass betteln nichts half.
Ich sah ihr nach. Ich hatte selbst keine schöne Kindheit gehabt. Mein Vater war General der Armee, also war es logisch, dass ich auch dorthin gehen sollte. Ich hatte den Krieg gehasst. Der irische Bürgerkrieg. Ich hatte mich zu entziehen versucht, indem ich Arzt (damals noch Wundheiler) geworden war. Trotzdem musste ich auch im Krieg die Kranken versorgen. Dann war ich abgehauen. Ich hatte erst in einem Kloster zuflucht gesucht, weil mein Vater mich dort nicht vermutet hätte.
Ich war schon immer fromm gewesen und hatte den Gedanken ein Leben ohne Gewalt zu führen, großartig gefunden. So war ich Priester geworden. Wenn ich gewusst hätte, dass ich sowieso mal töten muss, um etwas zu trinken zu haben, wäre es wahrscheinlich anders gewesen.
Von da an führte ich ein Leben in Glück. Seit dem Eintritt ins Kloster, habe ich meinen Vater nicht mehr gesehen. Doch ich nahm heimlich Kontakt zu meinen Geschwistern auf. Ich hatte zwei ältere und zwei jüngere Brüder und eine ältere Schwester. Einer meiner älteren Brüder war mein Zwillingsbruder. Doch während er sich dem Krieg und den Frauen widmete, interessierte ich mich mehr für heilende Kräuter und Umschläge zur Wundbrandbekämpfung.
Ich wollte gar keine Frau. Frauen wollten zu meiner Zeit nur ganz schnell von ihren Vätern verheiratet werden. Und wenn ein Vater Dir seine Tochter anbot – wie mir – und Du sie ablehnst – wie ich – dann warst Du schlecht dran. Doch dann hatte ich eine wundervolle Begegnung. Aber es war eine traurige Ge-schichte und ich dachte nicht gerne daran.
Meine Geschwister spotteten nur. Aber wenigstens weinten sie um mich, als ich starb. Denn sie wussten, wie ich gestorben war. Eigentlich war es nur ein unglücklicher Umstand gewesen.
Es geschah an einem Freitag, den dreizehnten. Ich zündete gerade die restlichen Kerzen an, als eine Frau in die Kirche gerannt kam. Sie schrie mir entgegen, ich solle ihr helfen, er würde sie umbringen, er habe schon wieder getrunken.
In diesem Moment kam mir wieder Bloody-Bunny in den Sinn. Sie sah der Frau so ähnlich...
Die Frau schrie und ich zerrte sie zur Hintertür. Ich kannte die Frau. Ich hatte sie getraut. Ich warf sie zur Hintertür raus, obwohl ich wusste, dass sie durchs Schlüsselloch alles mit an sah. Dann kam der Mann in die Kirche. Braunes, schulterlanges Haar, teuere Kleidung, vom Alkohol gerötete, braune Augen.
„Wo ist sie?", schrie er mir voller Wut entgegen, während er sich eine Eisenstange, die an dem Portal ge-lehnt hatte, zur Hand nahm. Langsam bekam ich Panik. Ich hob die Arme schützend vor meinen Körper und sagte mit ruhiger Stimme:
„Mit Gewalt erreicht man nichts Bruder.“ Doch zu spät. Schon sauste die Eisenstange auf mich herab. Ich fühlte einen stechenden Schmerz am Kopf und das Blut in den Ohren rauschen. Die Stange traf mich im-mer öfter und als ich wusste, dass ich sterben würde, sprach ich ein letztes Gebet in meinem Leben.

Es schüttelte mich. Niemand wusste, wer mich getötet hatte. Nur Gott und ich. Ich seufzte, stand auf und rief einen anderen meiner Schülergarde, um mir mit den Gottesdienstvorbereitungen zu helfen.


Kapitel 6
Erinnerungen

Ich saß auf meinem Bett. Die Knie an mein Kinn gezogen und dachte an die Menschen, die meine Leiche wahrscheinlich schon gefunden hatten und um mich trauerten.
Randall bestimmt nicht, er würde ein neues Mädchen finden und heiraten.
Aber als ich an meine Familie dachte, bekam ich ein schlechtes Gewissen und eine kleine, gemeine Stimme in meinem Kopf ertönte:
“Du bist richtig egoistisch, deine armen Eltern und Geschwister!“
Hastig verscheuchte ich die Stimme, die mich komischerweise an meinem alten Lehrer Mr.Abelley erinnerte.
Aber es stimmte. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, als ich jetzt an meine Geschwister dachte, die zugegeben ein Stück vom Glück mehr abbekommen hatten.
Oscar, mein Zwillingsbruder, war – wie ich – groß und schlank. Hatte blonde, glatte Haare und war sehr athletisch gebaut. Außerdem hatte er dieselbe Augenfarbe wie ich: saphirblau.
Er war glücklich verheiratet und hatte inzwischen – nach fünf Ehejahren- drei Kinder: Alexandra, Isabella und Elisabeth.
Er hatte keine Hasenzähne!
Magdalena war nur ein Jahr jünger als wir. Sie war ebenfalls groß, wenn sie mir auch nur auch nur bis zur Schulter genügte. Sie hatte auch blonde, leicht gewellte Haare und große ozeanblaue Augen. Auch sie war schlank und hatte schöne, elfenbeinfarbige Haut.
Sie hatte schon mit 17 Jahren geheiratet und war glücklich mit ihren beiden Kindern: Karin und Daniela. Sie schrieb es mir jeden Monat.
Sie hatte keine Hasenzähne!
Meine Mutter war eine kleine Frau, die stets freundlich war und viel für gute Manieren übrig hatte. Sie hatte immer versucht uns zu perfekten Ladys und Gentleman zu erziehen, was ihr – mit Aus-nahme von mir – auch gelungen war.
Mein Vater war der perfekte Gentleman: Groß, galant und immer sehr zuvorkommend.
Aber sie hatten keine Hasenzähne!
Schon oft hatte ich mich gefragt, warum Gott mich mit dieser Hässlichkeit gestraft hatte?
Ich hätte ihn fragen können, fiel mir ein.
Sie waren einfach immer Weg!
Beim Reden, beim Essen und beim Flirten, einfach immer!

Mutter würde weinen, Magdalena auch. Die Männer würden sich tapfer halten und in den Armen ihrer Frauen Trost suchen, wenn sie allein waren.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Aus meinen Gedanken gerissen, öffnete ich diese. Vor mir stand ein kleiner, rothaariger Junge, dessen vampirblasse Haut von Sommersprossen bedeckt war.
Er lachte mir frech entgegen.
„Guten Tag“, sagte ich, „wer bist denn Du? Und was kann ich für Dich tun?“
„Ich bin Bastian Schmid“, stellte er sich vor, „ich bin auch Ministrant und Schüler von Pater Vampi-re.“
„Für Dich immer noch Sie“, korrigierte ich ihn, „was willst Du denn nun?“, fragte ich unfreundlich.
Mit einem kecken Lächeln antwortete Bastian:
“Der Pater hält in fünf Minuten eine Predigt und danach gibt es Abendessen.“
„Was wird denn serviert?“, erkundigte ich mich misstrauisch, denn Tote hatten doch keinen Hunger! Doch zugleich stellte ich erstaunt fest, dass mein Magen laut knurrte.
„Blut, natürlich!“, meinte Bastian verwundert.
„Was?!“, rief ich angewidert, „ich trinke kein Blut!“
„Schon gut!“, beruhigte mich Bastian, “meine Mutter, die Köchin, macht für Neuankömmlinge im-mer ein Sterblichen-Essen, bis sie zu Vampiren geworden sind.“
Erleichtert folgte ich ihm zur Kapelle.
Doch ich blieb einen Moment erschrocken stehen. Die Reihen waren von Vampiren besetzt!
Außer der Mutter Oberin und mir war niemand menschlich.
Plötzlich erklangen Glocken, alle standen auf und ich huschte zur Mutter Oberin, die mich freund-lich anlächelte.
Pater Vampire schritt in einem grünen Gewand hinter Bastian und noch einem Mädchen, das ich nicht kannte, würdevoll in die Kapelle zum Altar.
Pater Vampire küsste den Altar, was von meinem Platz sehr komisch aussah, da ich direkt vor ihm saß.
Die Ministranten setzten sich und wir taten es ihnen gleich.
Nun begann der Pater den Gottesdienst.
Er sprach mit einer einlullenden Stimme ein Gebet.
Ich saß in der Kapelle von unerklärlicher Wärme umgeben und langsam merkte ich wie sich der Schlaf über mich legte.
Ich wurde leicht gerüttelt und ich schreckte aus meinem Dösen.
Die Mutter Oberin nickte mit dem Kopf zu einer Tür, durch die alle Predigtbesucher hindurchgin-gen.
Ich folgte ihr verschlafen und trat in einen großen Raum, mit einem langen Tisch und vielen Stühlen, auf denen sich nun alle niederließen.
Die Mutter drückte mich auf einen Stuhl neben ihrem Platz. Sie saß am Kopfende.
Es wurde ein Tischgebet gesprochen und dann serviert.
Ich versuchte den Blutgeruch und das unappetitliche Schlürfen zu überhören und konnte mir nicht vorstellen, auch irgendwann zu diesen Bluttrinkern zu zählen.
Plötzlich raunte mir eine Stimme ins Ohr:
“Ihnen scheint meine Predigt wirklich traumhaft gefallen zu haben.“
Ich drehte mich nach rechts und sah entsetzt in Pater Vampires Gesicht.
„Oh! Ich hatte nicht die Absicht einzunicken. Es tut mir furchtbar Leid! Ich bin nur so schrecklich müde“, bei diesen Worten musste ich ein Gähnen unterdrücken, “wenn ich Sie verletzt habe dann sagen Sie es!“
„Aber nein, Bloody-Bunny, an meinem ersten Tag war ich so müde, dass ich bei der Predigt laut geschnarcht und mit dem Gesicht ins Abendbrot gefallen bin. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Träumen Sie süß.“
Ich konnte nur noch hastig ein „gleichfalls“ erwidern, denn die Tischglocke erklang und alle erhoben sich, um ihre Zimmer aufzusuchen und sich schlafen zu legen.
Bastian brachte mich wieder in mein Zimmer. Wir wünschten uns eine geruhsame Nacht.
Und nachdem ich mich, bis auf mein Unterkleid, ausgezogen hatte, fiel ich wie tot ins Bett und schlief bis zum nächsten Morgen.


Sissi war mit 21 Jahren gestorben. Sie war groß, hatte braune Haare, ein rundes Gesicht und braune Augen.
Sie war 1820 hierher gekommen.
Ich fragte erstaunt: “Was machst Du auf dem Boden?“
Sie antwortete verlegen:“ Ich habe den Boden geschrubbt, als mir Wolfgangs Ring in die Ritze einer Bodenfliese gefallen ist!“
Ich hob die lose, besagte Bodenplatte hoch , auf die sie deutete und sie griff in das Loch, wenig spä-ter erhob sie sich freudestrahlend und hielt den Ring in der Hand, den sie vorsichtig in ihre Tasche gleiten ließ.
Sie bedankte sich und ich setzte mich wieder in Bewegung. Ich öffnete die Tür des Beichtstuhls und sah ein Mädchen darin sitzen, das schluchzte.
Ich erkannte sie und sagte beruhigend, nachdem mir hoffentlich der richtige Name eingefallen war:
„Was hast Du auf dem Herzen Ellen?“
Sie sah mich erstaunt an und meinte:
“Ach Pater! Ich fühle mich so schlecht!“
Ellen ein Dunkelhäutiges Mädchen von 20 Jahren, mit dunkelbraunen Augen und kurzen, schwarzen Haaren, war, wie Sissi 1820 hier angekommen und ebenfalls meine Schülerin.
Ich seufzte, trat in den Beichtstuhl, schloss die Tür und setzte mich neben sie.
„Ich dachte, das hättest Du schon überwunden und Sissi hätte Dir verziehen!“
Als Sissi und Ellen noch gelebt hatten, waren sie beste Freundinnen gewesen. Doch als Sissi gehei-ratet hatte, war Ellen eifersüchtig geworden. Sie hatte nämlich Wilhelm, Sissis Ehemann, wollen!
Ellen hatte jedoch nach einem Jahr herausgefunden, dass Sissi ihren Mann betrog.
Als Sissi sich mit diesem Mann – er hieß Wolfgang – in ihrem Haus wieder mal heimlich getroffen hatte, hatte Ellen das Haus angezündet.
Sissi war umgekommen, doch da sie untreu gewesen war, war sie hier gelandet.
Ellen war zwei Monate später, nachdem sie an einer Krankheit gestorben war, wegen dieses grausa-men Verbrechens auch hier gelandet.
„Nein, sie wird mir nie verzeihen!“
„Ich werde mit ihr reden.“, antwortete ich mit beruhigender Stimme.
Danach verließ ich den Beichtstuhl wieder und wollte nun zur Mutter Oberin. Bloody-Bunny, so erfrischend amüsant und naiv ich sie auch fand, konnte einfach nicht meine Schülerin bleiben!
Doch mich ließen Sissi und Ellen nicht los. Auf halbem Wege kehrte ich um und ging in mein Büro, um eine Lösung für die beiden zu finden.


Kapitel 9
Überraschungen

Nachdem ich 12 Uhr geschlagen hatte, ging ich den Turm wieder hinab, wo ich auf andere Lehrlinge von Pater Vampire treffen würde, die Gebete auswendig lernten. Das hatte Bastian wenigstens erzählt. Ich machte mich darauf gefasst, schiefe Blicke wegen meiner Zähne zu ernten. Doch als ich aus der Tür ge-kommen war, war ich es, die blöd schaute. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ein Priester so viele Schützlinge haben konnte. Es waren locker zwanzig. Doch nicht nur Kinder wie in Bastians Alter, nein, auch Frauen und Männer in meinem eigenen Alter saßen in Bankreihen. Ich nahm mir, wie alle anderen auch, ein Gebetsbuch und setzte mich neben eine große braunhaarige Frau. Nach wenigen Minuten sah sie auf und mich an.
„Bist Du die Neue?“ fragte sie mich schüchtern.
„Ja. Mein Name ist Lilith Parker.“, stellte ich mich vor.
„Freut mich Dich kennen zu lernen, Lilith. Mein Name ist Sissi Maurits. Sei mir nicht böse, aber ich dach-te, Dein Name sei Bloody- Bunny.“
„So nennt mich nur Pater Vampire. Weil er sich meinen Namen nicht merken kann. Werden alle Vampire mal so vergesslich?“, fragte ich mit säuerlichem Unterton.
Ein wissender Blick lag in Sissis Augen, als sie feststellte:
„Du scheinst ihn nicht sonderlich zu mögen.“
„Nein. Er ist ständig am nörgeln, man kann ihm nichts recht machen. Er schaut Dich nicht freundlich an, er vergisst Deinen Namen. Außerdem ist er unhöflich.“
„Nur zu Dir. Klar er ist streng mit uns allen, aber auch nett und hilfsbereit.“, erzählte sie mir.
„Pfff. Ich glaube wir sprechen hier gerade von zwei verschiedenen Priestern.“ Erwiderte ich ungläubig.
„Nein, tun wir nicht.“ Sie rückte ein Stück näher an mich heran und begann nun zu flüstern.
„Pater Vampire ist nie darüber hinweg gekommen, tot zu sein. Ein Gerücht, das besagt, er wäre von jeman-dem, der ihm nahe stand getötet worden, macht die Runde. Bis jetzt ist nur bekannt, dass er für jemanden gestorben ist. Also, dass er sich geopfert hat.
Ich hab ihn gestern mit der Mutter Oberin reden gehört. Er sagte Du würdest IHR so ähnlich sehen.
Vielleicht siehst Du ja der so ähnlich, der er es zu verdanken hat, dass er tot ist.“
Nun betrat der Pater die Kapelle, um seine Kontrollrunden zu machen und Sissi rückte wieder ein Stück von mir weg.
Ich saß nachdenklich da. Vielleicht hatte Sissi Recht gehabt.
„Bist Du schon fertig Bloody-Bunny?“, fragte der Pater mich so laut, dass jeder in der Kapelle es hören konnte.
Er stand direkt neben mir. Grrr, musste er immer so schleichen?
„Nein, Paton.“
Selbst das kleinste Geräusch in der Kapelle erstarrte jetzt – vor Schreck.
Er selbst sah so aus, als ob er mich am liebsten töten würde- was, Gott sei Dank, nicht mehr ging.
„Um 23 Uhr bist Du in meinem Büro Bloody-Bunny.“ Er wandte mir den Rücken zu und drehte weiter seine Runden.
Ich sah ihm nach und dachte dabei wieder an die Geschichte, die mir Sissi erzählt hatte. Doch dann kam mir etwas sehr merkwürdig vor.
Ich rückte etwas zu Sissi auf.
„Du hast doch erzählt dass er gestorben ist, weil er jemand anderes das Leben gerettet hat. Was macht er dann im Zwischengeschoss? Leben retten. Das ist doch keine böse Tat.“
Sissi schmunzelte.
“Dem Kloster fehlte ein Priester. Gott hat ihn dann einfach hierher geschickt. Aber nach 100 Jahren hat der Pater die Geduld verloren und wurde mit der Zeit immer rebellischer. Manchmal kommen solche Leute, um zu sehen, wer schon bereit für den Himmel, bzw. die Hölle ist. Jedes mal, wenn sie meinten, ein Opfer für die Hölle gefunden zu haben, vertrieb Pater Vampire sie. So hab zum Beispiel ich ihm mein ... Dasein zu verdanken. Inzwischen glaubt er wahrscheinlich nicht mehr daran jemals hier raus zu kommen. Diese Ty-pen haben Gott schlechte Dinge über den Pater erzählt. Nicht, dass dieser es glauben würde, aber dadurch gab es schon etwas öfter Streit zwischen den beiden.“
Wir schwiegen wieder und ich dachte darüber nach, sodass ich das Gebetbuch in meinem Schoß vergaß.
„So, dass war` s für heute. Ich frage morgen aus. Heute Abend sind Sissi und Ellen mit Ministrieren dran. Also vergesst die Predigt heute Abend nicht. Und das Läuten.“
Ich fuhr hoch. Sissi saß nicht mehr auf ihrem Platz, also wandte ich mich an ein dunkelhäutiges Mädchen vor mir:
„Wissen Sie, wo sich Pater Vampires Büro befindet?“
„Nein, tut mir Leid“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich bin dort, wo Du mich am wenigsten vermutest, Bloody- Bunny!“, ertönte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah Pater Vampires Blick auf mir. Ich bedankte und wollte so schnell wie möglich den Raum verlassen, doch er hielt mich auf.
„Ich glaube, Du hast etwas im Turmzimmer vergessen, Bloody- Bunny.“, sagte er mit geheimnisvoller Stimmer zu mir.
Eigentlich wollte ich widersprechen, doch meine Neugier siegte. Ich hatte nichts vergessen, da war ich mir sicher. Also stieg ich schnell die Treppe hinauf, die letzten Stufen lief ich sogar. Als ich mich umsah, bemerkte ich keine Veränderung. Erst als ich genauer hinsah, sah ich ein neues, rosa Kleid an einem Haken hängen. Es war sehr schön. An den Ärmeln, am Ausschnitt und am Saum waren Rüschen. Der Rest des Kleides war aus Satin. Neben dem Kleid hing ein Beutel, in dem eine Bürste war. Auch einen Zettel fand ich in dem Beutel:
Das ist für Dich. Sei heute um 23 Uhr pünktlich und verspäte Dich morgen nicht.
Pater P.L. Vampire
P.S.: Bastian wird Dich morgen nicht abholen.
Schmunzelnd ging ich zur silbernen Glocke und schlug sie zweimal.

Kapitel 10
Verstecktes Büro

Der Gottesdienst schien ewig zu dauern. Ich saß in der ersten Reihe, zwischen Bastian und einem blonden Mädchen, das gestern ministriert hatte und auf den Namen Konstanze hörte. Ich folgte dem Gottesdienst lustlos. Ich dachte an das Bevorstehenden. Ich hatte Angst vor der Unterhaltung mit Pater Vampire, war zugleich jedoch gespannt, was er mir sagen wollte.
Da fiel mir plötzlich wieder ein, dass ich gar nicht wusste, wo sein Büro war.
"Ich bin dort, wo sie mich am wenigsten erwarten!“
Ich beschloss, erst mal darüber nachzudenken, wo ich ihn am meisten erwarten würde. Das war zweifellos die Kirche. Nein, in der Kirche, dem Turm und bei der Mutter Oberin würde er nicht sein. Dann dachte ich daran, dass er ja tot war. Und Tote.... fand man gewöhnlich unter der Erde. Natürlich! In jedem Kloster gab es eine Gruft. Ich stieß innerlich Jubelschreie aus. Er hätte sich wahrscheinlich gewünscht, dass ich nicht intelligent genug für so ein Rätsel wäre. Das konnte er vergessen.
Jemand zog an der Schürze meines alten Kleides. Ich hatte mich nicht getraut, dass neue Kleid zum Abend-essen anzuziehen. Als ich an mir hinab sah, blickte ich in das hübsche Gesicht Konstanzes. Sie zog immer noch an mir. Und da begriff ich: sie wollte mich runter ziehen, denn ein schneller Blick genügte, um zu erkennen, dass ich die Einzige war, die noch stand. Ich kniete mich schnell hin und warf Pater Vampire einen schuldbewussten Blick zu. Doch Gott sei Dank sah ich, wie er versuchte, sich ein Lächeln zu ver-kneifen, während er sein Gebet sprach.
Das Abendessen war nicht gut. Es gab Hase mit Salat für mich. Zuerst dachte ich, die Köchin hätte Schuld daran, dass das Essen mir nicht schmeckte. Dann überlegte ich, dass vielleicht aus Angst vor dem heutigen Abend mein Geschmackssinn betäubt war. Doch als ich auf die Vampire zu meiner linken und rechten sah, wusste ich sofort, dass mir das Essen deswegen nicht schmeckte, weil ich immer Vampir ähnlicher wurde. Ich saß an dem einen Kopfende der langen Tafel. Mir gegenüber saß die Mutter Oberin. Zu ihrer Linken Pater Vampire. Sie schienen sich ganz gut zu unterhalten, so wie alle anderen Vampire auch. Er erzählte ihr etwas und sie musste weinen vor lachen.
Ich lächelte. Pater Vampire konnte doch – ganz unerwartet – so menschlich wirken, wenn er lachte. Plötz-lich sah er auf – mir direkt in die Augen. Vor Scham schaute ich schnell weg.
Was, wenn Sissi Recht hatte? Was, wenn ich wirklich der Person so ähnlich sah, wegen der er sein Leben verloren hatte? Vielleicht war er in seinem Leben genauso glücklich gewesen, wie jetzt an der Essenstafel.
„Ich möchte Dir Deine Waschmöglichkeiten zeigen.“
Ich schreckte auf. Pater Vampire saß nicht mehr auf seinem Platz, sondern stand neben mir. Etwas verwirrt erhob ich mich, um ihm zu folgen.
Wir gingen durch Gänge, Treppen hoch, Treppen runter, durch Türen, bis er mich dann vollends verwirrt hatte. Doch das schien er gar nicht zu beachten.
Wir blieben vor einer gefliesten Tür Stehen, in der säuberlich das Wort Damen eingeritzt war.
„Hier kannst Du baden, wann immer Dir beliebt.“
Ich war erleichtert, mich endlich richtig waschen zu können.
„Sei heute Abend pünktlich Bloody-Bunny."
„Ja, danke“, murmelte ich noch etwas neben der Spur. Doch ich fasste mich schnell und als er schon auf dem Rückweg war, konnte ich meine Neugier nicht mehr länger zurückhalten.
„Was geschieht, wenn ich zu spät komme?“, schrie ich, lauter als gewollt, hinterher.
Er blieb stehen, drehte sich um und sah mich ungläubig an.
„Wie bitte?“, fragte er entgeistert, ganz so, als würde er sich wünschen, er hätte etwas falsch verstanden.
„Ich wollte wissen, ob man auch Strafarbeiten bekommt, wenn man zu spät ist.“
„Hör mal, Lady. Hältst Du das alles für ein Spiel? Sei pünktlich, oder Du kannst Dich darauf gefasst ma-chen, in die Hölle zu kommen!“, schrie er mir entgegen. Dann drehte er sich wutentbrannt um und rauschte ab.
Doch anstatt Angst zu haben, nahm ich ein kurzes Bad, fand mein Zimmer nach einer halbstündigen Suche wieder und zog mein neues Kleid an. Als ich mich im Spiegel ansah, fand ich, dass ich in diesem Kleid noch schöner aussah, als in meinem Hochzeitskleid. Der Stoff schmiegte sich an meinen Körper und beton-te meine weibliche Figur an den richtigen Stellen. Nach dem Kämmen der Haare entschied ich mich dazu, sie offen zu lassen. Wenn der Pater mich schon unbedingt Hase nennen wollte, dann sollte er wenigsten sehen, wie schön dieser Hase trotz seiner Zähne sein konnte. Ich machte mich eine halbe Stunde zu früh auf den Weg.
Es war leicht, die Gruft zu finden. Dort angekommen blickte ich mich nah einer Tür um, sah aber keine. Ich ging den Schacht entlang, an den Gräbern vorbei. Aber an einem blieb ich stehen. Denn auf der besagten Platte stand eingeritzt:
Mister Paton Lyell Vampyre
Priester
Geb. 04. 03 1601
Gest. 13. 07. 1632

Ich staunte nicht schlecht. Pater Vampire war nur 31 Jahre alt geworden, dafür aber schon 275 Jahre länger tot als ich. Ich wollte schon weiter gehen, als sich eine Frage in meinen Kopf schob. Hier war das Zwi-schengeschoss. Wieso war der Pater dann hier begraben? Ich sah mir den Namen etwas genauer an. Seit wann schrieb man Vampire mit „y“? Ich drückte mit dem rechten Zeigefinger auf das y und tatsächlich, es war ein Knopf. Ich hörte nichts. Doch als ich mich umdrehte, sah ich zwei große Türklinken an zwei ande-ren Grabsteinen. Ein verstecktes Büro! Ich sah mich noch einmal um, ob mich vielleicht jemand beobachtet hatte, dann trat ich ein.
Ich schloss vorsichtig die Türen hinter mir, dann drehte ich mich um- und mir blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Das Arbeitszimmer war rund und sehr hoch. An den Wänden entlang standen Bücherregale Seite an Seite, wie in einer Bücherei, außer am mir entgegen gesetzten Ende des Zimmers. Dort machte die Schlange an Bücherregalen Platz für einen Kamin. Darauf standen Bilder. Fenster gab es keine. Vor dem Kamin stand ein großer, wuchtiger Schreibtisch. Links neben der Tür stand ein kleiner Tisch mit einem Sofa und zwei Sesseln. Der Boden war aus Holz. In der Mitte lag ein großer, runder, roter Teppich. Genau unter dem Schreibtisch. Über dem Kamin hing ein Kreuz aus Elfenbein. Es war zwar nicht so groß, wie das in der Kapelle, aber immer noch eindrucksvoll. Auf dem Schreibtisch stand eine kleine Uhr, Federkielbe-hälter und eine Menge Papiere.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich eine Viertelstunde zu früh war. Also ging ich zu den Bücherrega-len. Pater Vampire las sehr unterschiedliche Bücher. Ich sah Bücher über Religionen, Geschichten, Bräu-che. Auch Krimis fand ich. Aber auch ein weißes Buch, das mir sofort ins Auge sprang. Ich musste lachen, als ich den Titel las: Stolz und Vorurteil.
Ein Vampir, der einen Liebesroman las. Das Buch hatte ich angefangen zu lesen, als ich noch lebte. Aber da ich noch nicht fertig war und noch Zeit hatte, nahm ich das Buch heraus, setzte mich in einen der be-quemen Sessel und begann zu lesen. Ich war so vertieft in das Buch und so beeindruckt von der Geschichte, dass ich gar nicht mitbekam, wie es 23 Uhr läutete.
„Gefällt Dir das Buch?“
Ich schreckte hoch. Fast hätte ich gesagt, mir wäre fast das Herz stehen geblieben, aber das war es ja schon vor zwei Tagen.
Pater Vampire stand mit ausdrucksloser Miene vor mir. Er hatte sich so lautlos bewegt, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass er den Raum betrat. Nun sah er mich an und wartete auf eine Antwort.
„Äh, ja. Es ist sehr interessant“, stammelte ich, als ich den Schreck etwas verdaut hatte.
"Woher kommen die ganzen Sachen?", fragte ich neugierig.
"Die werden von den lebenden Engeln besorgt. Das sind Leute, die gleich in den Garten Eden gekommen sind und besonders brav waren. Sie sind als ganz normale Menschen getarnt, auf der Erde und einmal im Monat bekommen sie Listen. Auf denen steht, was im Garten Eden und im Zwischengeschoss alles ge-braucht wird.
"Aha. Das ist toll."
Ich wollte aufstehen und das Buch wieder ins Regal legen, doch Pater Vampire schien meine Absicht zu erraten und hielt mich auf.
„Du kannst Dir das Buch ausleihen, wenn Du willst.“, schlug er vor. Ich nickte und er rauschte hinter sei-nen Schreibtisch, ließ sich nieder und schien etwas zwischen seinen Blättern zu suchen. Ich setzte mich wieder in den Sessel. Da öffnete sich die Tür und die Köchin kam mit einem Tablett, zwei Tassen und einer Kanne herein, stellte die Sachen auf den Tisch zu meinen Knien und ging wieder, während der Pater ihr zurief:
„Danke Anne.“
Nachdem die Türen geschlossen waren, herrschte wieder Stille.
„Wieso wohnen Sie in einer Gruft? Müffelt es hier unten nicht immer ziemlich? Wissen alle Bediensteten hier, wo Sie wohnen? Haben Sie sich dieses Zimmer selbst ausgesucht?“ fragte ich, zu neugierig, um dar-über nach zu denken, ob diese Fragen vielleicht unhöflich klangen.
„Mir gefällt `s. Nein. Nein. Ja. Und jetzt lass diese Fragen. Ich hasse neugierige Leute.“, antwortete er ge-nervt.
Wir schwiegen wieder.
Schließlich erhob er sich, kam zu mir, setzte sich auf den anderen Sessel und schenkte uns beiden Tee ein, während er mir ein Kompliment zu meinem Äußeren machte, das mich vor Freude erröten ließ.
„Moment mal! Vampire trinken Tee?“, fragte ich ungläubig.
„Dies ist ein Blutorangentee.“, sagte er lächelnd und nippte an seinem.
Ich schwieg.
Er stellte seine Tasse ab.
„Ich wollte mit Dir reden, weil ich Dich bitten wollte, mich in der Öffentlichkeit nicht mit meinem Vorna-men anzusprechen.“, sagte er schließlich.
„Ich nenne Sie nur so, weil Sie mich nicht mit meinem vollständigen Namen anreden.“
„Du wirst Dich daran gewöhnen. Ich Duze alle meine anderen Schüler.“, meinte er gelassen.
„Ich bin aber nicht wie alle Ihre anderen Schüler.“, zischte ich.
„Stimmt. Du hast Dich selbst umgebracht, die anderen sind getötet worden.“
Seine Antwort traf mich tiefer als erwartet. Es war schwer daran zu denken, sich selbst das Leben genom-men zu haben.
Mir stiegen die Tränen in die Augen, als ich daran dachte und ich senkte meinen Kopf, wodurch ich wegen meines Haarvorhangs, der mein Gesicht verdeckte, nicht den Blicken des Paters ausgeliefert war.
„Ich wollte Dich nicht verletzten, Bloody-Bunny. Falls ich das soeben getan haben sollte, dann tut es mir Leid. Ich möchte nur, dass Du mir es erzählst, und warum Du Dich wegen Deiner Zähne getötet hast.“
„Was geht Sie das an?“, fragte ich trotzig, als ich wieder eine feste Stimme hatte.
Er sah mich an. Er hatte keinen Ausdruck in seinem Gesicht, was mich verwirrte. Ich erkannte nicht, ob er sauer, fröhlich, gelassen oder beeindruckt da saß.
„Ich weiß gerne immer etwas mehr über jene, die ich öfter sehe. Denn dann weiß ich, was zu tun ist, wenn sie mich um Hilfe bitten.“, antwortete er schließlich mit ruhiger Stimme.
Ich wusste sofort, dass er von seiner menschlichen Vergangenheit sprach.
„Wieso sollte ich Ihnen das erzählen, wo Sie sich nicht einmal meinen Namen merken können?“, fragte ich verärgert.
Er schaute mich ein wenig überrascht an. Dann sagte er:
„Wieso. Du heißt Bloody-Bunny!“
Mir kamen wieder die Tränen.
„Ich fasse es als Beleidigung auf, wenn mich jemand Hase nennt.“
„Wegen Deiner Zähnen? Ich bitte Dich. Mach doch nicht ein solch großes Theater darum...“
Jetzt war ich so zornig, dass ich ihm einfach erzählte, wie mir die Hasenzähne, die auch sichtbar waren, wenn ich den Mund schloss, schon immer eine Last gewesen waren: sie hatten mich schon damals als Kleinkind gestört, ich konnte nicht richtig essen und das Sprechen lernen war mir auch schwer gefallen und ich lispelte auch heute noch leicht. Bis meine Eltern einen Zahnarzt gefunden hatten, der meine Zähne et-was abschliff, sodass ich wenigsten essen und sprechen konnte.
Doch sie waren leider wieder nachgewachsen und auf Dauer war es einfach zu teuer.
Als ich 16 und heiratsfähig war, verkroch ich mich und las Bücher, anstatt, wie alle anderen Mädchen, mit Jungen anzubändeln. Deswegen hatte ich auch so spät geheiratet, da mich niemand wegen meiner Größe und meines Makels haben wollte.
Bei diesen Worten spürte ich schon wieder, wie sich meine Augen mit Tränen füllten und wie sie mir über meine Wangen liefen.
Pater Vampire saß mir schweigend gegenüber und sah mich ruhig an, während ich nun weinend im Sessel zusammensank.
Ich hatte mich weggedreht und die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen, damit er meine Tränen nicht sah. Plötzlich fühlte ich etwas Weiches an meiner Hand und als ich Durch meine Finger lugte, sah ich ein Stofftaschentuch mit dem Monogramm: P V.
Ich nahm es, aber nur der Not halber. Es widerstrebte mir jetzt irgendetwas von ihm anzunehmen, aber meine Nase lief.
Er setzte sich rechts von mir auf die Sessellehne und fing an zu erzählen, wie er hier gelandet war und was er in seinem Leben gemacht hatte: Er war Priester geworden, nachdem er aus der Armee geflohen war. Außerdem erzählte er mir, dass er umgebracht wurde und das, dass Sissi mir schon erzählt hatte.
Auf mein jämmerliches Flehen hin, erzählte er mir von seiner Familie: sein Vater war General gewesen, während seine Mutter sich zu Hause gelangweilt hatte. Seine zwei älteren Brüder Patrick Leon II und Phi-lipp Lawrence waren beide bei der Armee gewesen. Während Patrick kurz vor Patons Tod einen Arm ver-lor, hatte Philipp nach Patons Tod die Armee links liegen gelassen, um den Mörder seines jüngeren Bruders zu finden. Dann hatte Pater Vampire noch eine etwas ältere Schwester gehabt. Sie hieß Pia Lorette. Das Verhältnis zwischen den beiden war so gut gewesen, dass Pia nach seinem Tod ins Kloster eintrat. Und dann hatte er noch zwei jüngere Brüder gehabt, die Paul Lucius und Port Lesley hießen und die beide Phi-lipp auf der Suche geholfen hatten. Vielleicht sollte man jetzt noch erwähnen, dass der Vater Patrick Leon I und seine Mutter Patricia Luana hieß.
Er erzählte sehr ausführlich und doch ich hatte das Gefühl, dass er mir trotzdem etwas verschwieg.
Nachdem er geendet hatte, ging er zu seinem Schreibtisch, kramte ein Blatt hervor und schrieb etwas dar-auf und zeigte ihn mir. Auf dem Zettel stand jetzt schwungvoll geschrieben, mein Name.
„Ich werde dieses Stück Papier ab jetzt immer mit mir herumtragen, damit ich mir Deinen Namen merke!“, meinte er ernst. Ich lächelte ihn dankbar an.
Nach unserem kleinen Streit und diesen unerwarteten Eröffnungen, ging ich entspannt in meine Kammer und stellte erfreut fest, dass auf meinem Bett ein warmes, weißes Wollnachthemd lag und sich neben der Waschschüssel ein Stück Seife und ein Zettel befand. Auf diesem stand:
Wünsche Ihnen eine gute Nacht, mit vielen Grüßen, auch von meiner Mutter, Bastian!
Freudig wusch ich mich, kämmte mir die Haare und flocht sie für die Nacht und zog erleichtert mein Nachthemd an.
Erstaunlich müde schlüpfte ich unter die Decke und schlief ein.


Kapitel 11
Entdeckungen und eine neue Freundschaft

Am nächsten Morgen brauchte ich eine Weile, bis ich begriff, wo ich war und was gestern geschehen war. Ich hatte Paton von einer ganz anderen Seite kennen gelernt.
Ich wusch mich, flocht mir nur das Deckhaar, sodass der Rest meines Haares offen den Rücken hinab hin-gen. Sie reichten mir bis zur Hüfte. Dann zog ich mein neues, rosafarbenes Satinkleid an.
Als ich die Tür öffnete, um in die Kapelle zu gehen und dem Morgengottesdienst beizuwohnen, stand eine lächelnde Frau davor, die anscheinend gerade anklopfen wollte.
„Ich bringe Ihnen das Frühstück.“, sagte sie und stellte ein Tablett auf dem Bett ab.
Ich erkannte, dass es die Köchin von gestern war.
Sie hatte schulterlanges, braunes Haar, braune Augen, ein freundliches Gesicht und dasselbe Grinsen wie ihr Sohn Bastian.
Auch sie war natürlich ein Vampir.
Ich bedankte mich und fragte, was es zum Frühstück gebe.
„Eier, Speck, Porridge und Kaffee, meine Liebe.“, entgegnete sie, „ich wünsche Ihnen einen guten Appetit, ich hole das Tablett später wieder!“
Und damit ging sie hinaus.
Ich aß alles, bis auf den Porridge und Eier, auf die ich ungewöhnlicher Weise keinen Hunger hatte. Der Kaffee schmeckte so bitter, dass ich ihn nicht trank.
Bevor ich mein Vorhaben in die Kapelle zu gehen, umsetzte, warf ich noch einen prüfenden Blick in den Spiegel und bemerkte fasziniert, dass meine Ohren ebenfalls so durchscheinend und spitz geworden waren, wie die von Paton.
Ich gelangte, nach einem kurzen, nicht ganz freiwilligen Umweg in die Kapelle und nahm Platz.
Es war noch niemand da, sodass ich die Zeit nutzte, um ein Zwiegespräch mit Gott zu führen und hoffte, er würde einige Passagen überhören, da ich in einem etwas gereizten Ton an den Tag legte.
***
Nach dem Streit mit Bloody-Bunny…äh…Lilith, legte ich mich auf das Sofa, um in den tranceartigen Zu-stand zu verfallen, in den Vampire zu schlafen pflegten.

Ausgeruht wachte ich auf und begab mich, in Gedanken versunken, zur Waschschüssel. Es klopfte und Anne, die Köchin, trat mit dem Frühstück ein, stellte es ab und ging wieder. Zerstreut bedankte ich mich noch rasch.
Nach dem Frühstück, Blutsuppe vom Huhn, machte ich mich auf zur Kapelle, um meinen Morgengottes-dienst zu halten und dann die Aufgaben für den Tag zu verteilen.
Als ich die Kapellentür öffnen wollte, hörte ich Bloody-Bunny, die sich zu unterhalten schien.
Ich wollte eintreten, damit ich sehen konnte, wer schon alles anwesend war, als ich sie sagen hörte:
“Mein ganzes Leben war ich fromm und hab mich nie beschwert und gemacht, was mir andere aufgetragen haben, mein Lieber, und dann sorge ich dafür, dass es mir besser geht, weil ich keine Lust mehr hatte mich grün und blau schlagen zu lassen und Du hast nichts besseres zu tun, als mich hierher abzuschieben! Wenn ich einen anderen Weg gegeben hätte, wäre ich ihn gegangen. Aber es gab von meiner Sicht ais keinen anderen!
Und jetzt sitze ich hier und muss einen übellaunigen, mürrischen, verbohrten Pater ertragen!“
An der Stelle beschloss ich, dass es nun genug sei und betrat die Kapelle.
Sie hatte mich noch nicht bemerkt, sodass ich sie einen Moment beobachtete.
Sie hatte das Kleid, das ich ihr gestern geschenkt hatte, an und ihr Haar hatte sie nicht zu diesem langweili-gen Knoten hochgesteckt.
Ich trat zu ihr und meinte spöttisch:
“Na, Du musst eine Riesenwut auf IHN haben, um so unschmeichelhaft von mir zu reden.“
Erschrocken drehte sie sich um und sagte, lispelnd vor Schreck:
“Ja, Paton (sie schaute sich erst um, bevor sie mich mit meinem Vornamen ansprach) so wird es sein.“
Dann merkte sie, dass sie lispelte, räusperte sich und errötete vor Scham.
„Sieht so aus als währen wir Frühaufsteher, Bloody-Bunny. Da Du außer Klavierspielen und Glocken-schlagen nicht viel zu tun hast im Turm, gebe ich Dir ein paar französische Kirchenlieder, die Du bitte übersetzt, Du sprichst doch französisch?“
Verwirrt bejahte sie und von ihrem Gesicht konnte ich deutlich ablesen, woher ich wohl wusste, dass sie französisch sprach.
Ich ging zu einer Truhe, die neben der rechten Seitentür stand, holte die Liedtexte, Papier einen Füllfeder-halter und Tinte heraus und gab sie ihr.
„Das bringst Du bitte in den Turm und schlägst die silberne Glocke dreimal. Von nun an jeden Tag.
Du brauchst dem Gottesdienst nicht beizuwohnen.
Sie nickte, setzte mich in Kenntnis, dass sie gleich oben bleiben wollte und verschwand durch die linke Seitentür.
Dann trat ich zum Altar.
***
Ich stieg die Treppe hinauf, froh über die neue Aufgabe und trat in den Raum. Ich stellte die Sachen auf den Tisch neben dem Klavier und schlug die silberne Glocke dreimal.
Nachdem das erledigt war, setzte ich mich an den Tisch, um zu übersetzen. Ich sah auf die kleine Uhr: es war sechs Uhr morgens.
Ich unterbrach meine Übersetzertätigkeit nur, um stündlich die Glocke zu schlagen.

Endlich war ich fertig!
Ich stand auf, um mich zu strecken und sah wieder auf die kleine Uhr, es war inzwischen ein Uhr mittags.
Nach einiger Zeit beschloss ich mich an das Klavier zu setzen und zu spielen. Ich hatte gestern Morgen im Bücherregal, das in meinem Zimmer stand, ein Liederbuch entdeckt und es dann hier oben deponiert.
Es gab eine Melodie, die ich nicht kannte und sehr schwer fand, aber ich wollte sie unbedingt lernen.
Nachdem ich mich zum fünften Mal verspielt hatte, stampfte ich wütend mit dem Fuß auf und bemerkte verdutzt, dass es hohl klang.
Ich stampfte noch mal auf und wieder: es klang hohl.
Meine Neugier ergriff wieder von mir Besitz und kniete mich nieder.
Ich wischte mit der Hand den Staub beiseite und sah einen eisernen Griff. Ich schob den Flügel beiseite und klappte die Falltür auf.
Ich blickte auf die Uhr. Es war viertel vor zwei. Genug Zeit, dass ich einen Blick in die Kammer werfen konnte!
Ich schnappte mir die Kerze und stieg vorsichtig hinunter.
Der Raum war so klein, dass ich auf den Knien kriechen musste, um mir nicht den Kopf anzustoßen.
Ich konnte sehen, dass der Raum voller Bücher und Papiere war. Ich kroch herum und stellte erstaunt fest, dass auf den Einbänden der Bücher Namen standen.
Ich entdeckte auch eins mit der Aufschrift „Anne Schmid; 1455-1500“, den Namen der Köchin und begriff, dass wahrscheinlich diese Bücher das Protokoll unserer Leben enthielt und mein Verdacht wurde bestätigt, als ich auch das Buch mit meinem Namen darauf entdeckte.
Ich schlug es auf und dort stand mein Leben, so wie ich es tatsächlich geführt hatte. Nun wusste ich, woher Paton alles über mich erfahren hatte.
Plötzlich ertönte Glockengeläut und ich stieß erschrocken die Falltür auf, damit ich sehen konnte, was ge-schehen war.
Ich sah niemanden, der die Glocke für zwei Uhr läutete und ich begriff, sie schlugen von alleine!
Verärgert über den Pater kehrte ich wieder in den geheimen Raum zurück.
Nach einigem Suchen fand ich, was ich gesucht hatte: das Buch mit dem Namen „Pater Paton Lyell Vampi-re; 1602-1632“ darauf und schlug es neugierig auf. Über meine Lektüre gebeugt, vergaß ich die Zeit.
***
Ich stieg gegen vier Uhr nachmittags den Turm hinauf, um zu sehen, wie es Bloody-Bunny ging.
Doch als ich die Tür aufstieß, fand ich den Raum leer vor. Ich durchsuchte den Raum, fand sie aber nicht. Ich verließ den Raum ärgerlich, da ich dachte, sie hätte gemerkt, dass die Glocken von alleine schlugen und sich aus dem Staub gemacht. In meiner Eile bemerkte ich den verschobenen Flügel und den Lichtschein zwischen den Dielen nicht.
Ich stürmte in die Kapelle und schreckte meine Schüler auf, die ich zum Ministrieren abkommandiert hatte und befahl:
“Bloody…ähm…, ich sah auf meinen Spickzettel, "Lilith ist verschwunden, geht und sucht sie! Der, der sie findet, bekommt die ganze Woche 'putzfrei'!“
Binnen Sekunden war die Kapelle leer und ich ging in mein Büro, da ich sie bei meinen Büchern vermute-te.
Doch dort war sie nicht!
Sie war im ganzen Kloster nicht zu finden.
Es war bereits zehn Uhr abends, als wir die Suche aufgaben, um schlafen zu gehen.
Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu.
***
Ich hatte das Buch durch und einige interessante Details aus Patons Leben erfahren: wer die Person war, für die er sich geopfert hattet und dass sein Zwillingsbruder ihn getötet hatte.
Ich stieg in das Turmzimmer zurück, schloss die Falltür, rückte den Klavierflügel zurück und erschrak heftig, als ich auf die Uhr sah. Es war bereits nach Mitternacht!
Pater Vampire hatte bestimmt schon gemerkt, dass ich nicht mehr im Turmzimmer war.
Ich schnappte mir die Kirchenlieder und deren Übersetzungen und wollte, so schnell wie möglich, in mein Zimmer.
Doch als ich in die Kapelle trat, war es so dunkel, dass ich, trotz der Kerze, fast nichts sah.
Ich hatte sehr große Schwierigkeiten die richtige Tür zu finden. Und nachdem ich auf den Gang getreten war, war ich nach den ersten paar Schritten orientierungslos.
Ich stolperte panisch durch die Gänge, als sich der Gang erhellte und ich eine unbekannte Stimme hinter mir hörte:
„Was machen Sie zu dieser späten Stunde noch hier Miss?“
Ich fuhr geschockt herum und sah einen Mann, der mir gegenüberstand und gutmütig lächelte.
Er ging mir bis zur Nase, hatte dunkelbraunes, dichtes, lockiges Haar und eine undefinierbare Augenfarbe, die mir aber sehr gut gefiel.
Außerdem war er sehr kräftig gebaut und hielt eine Laterne in seiner linken Hand.
Er stellte sich als Rudolph Nepumuck, der Hausmeister, vor. Schmunzelnd fügte er hinzu:
„Zusätzlich bin ich von der Mutter Oberin gebeten worden entlaufende Maiden wieder einzufangen.
Ich erwiderte sein Lächeln. Der Mann war mir sehr sympathisch.
Er begleitete mich freundlicherweise zu meinem Zimmer. Währenddessen unterhielten wir uns.
Er war 1867 gestorben und war früher Physik- und Chemielehrer gewesen. Doch da sein Vater Handwerker gewesen war, konnte er auch mit Werkzeug gut umgehen und hatte hier als Hausmeister Stellung bezogen. Außerdem erzählte er mir, er wäre im Zimmer neben der Mutter Oberin und ich sollte ihn, wenn es mir Recht wäre, nach dem Abendessen doch mal besuchen.
Ich versprach es freudig.
Dann standen wir schon vor meiner Tür. Wir wünschten uns eine Gute Nacht.
Ich machte mich zum Schlafen fertig und schlüpfte unter die Decke.
Ich war froh, einen neuen Freund gefunden zu haben.
Doch ich fürchtete auch die Strafpredigt von Paton, die ganz sicher kam und die darauf folgende Strafe.
Trotzdem schlief ich schnell ein. Ich schlief tief und fest bis zum nächsten Morgen.


Kapitel 12
Ärger

Ich sah nicht von meiner Arbeit auf, als es an meiner Bürotür klopfte. Ich rief:
„Herein!“
Es war Bloody-Bunny, die vor der Tür stand. Sie öffnete diese, schloss sie hinter sich wieder und kam zu mir an den Schreibtisch, wo sie die Noten hinlegte. Sie wartete. Ich sah immer noch nicht auf und schrieb weiter an einem Brief. Nach Minuten, so schien es, drehte sie sich wieder um und ging zur Tür. Da blickte ich auf und rief mit harter Stimme:
„Bleib stehen!“
Sie drehte sich um und wirkte etwas erschrocken. Sie trug wieder das rosa Kleid und eine langweilige Hochsteckfrisur. Sie trat wieder näher und blickte mich erwartungsvoll an.
„Ich war gestern auf dem Turm und Du warst definitiv nicht dort, obwohl Du eigentlich dort sein solltest.“ Ich machte eine Pause und fragte dann:
„Also. Wo warst Du?“
„Im Turm!“ – falsche Antwort.
„Hör auf mich anzulügen. Ich hab doch gesehen, dass Du nicht dort warst.“, fauchte ich.
„Nun ja, vielleicht haben Sie nicht an den richtigen Stellen gesucht“, sagte sie geheimnisvoll.
„Was soll denn das wieder heißen?“, fragte ich aufgebracht.
Lilith antwortete nicht auf diese Frage, sondern meinte:
„Warum musste ich Ihnen eigentlich meine ganze Lebensgeschichte erzählen, wenn Sie alles nachlesen konnten?“
„Wie bitte? Lesen?“ Doch langsam dämmerte es mir. Ich sprang so plötzlich aus seinem Sessel, dass Bloo-dy-Bunny heftig zusammenzuckte. Aufgebracht schritt ich durch den Raum und überlegte. Dann fragte ich, wobei ich die Antwort schon wusste
„Du hast den Raum unter dem Klavier gefunden?
Lilith entgegnete wütend:
„Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?“
„Antworte gefälligst nicht mit einer Gegenfrage, hast Du verstanden?“
„Warum nicht?“
Entgeistert sah ich sie an. Frech setzte sie hinzu:
„Warum musste ich eigentlich die Glocken läuten, wenn sie das von alleine tun? Oder sehe ich Ihrer Schwägerin, für die Sie sich geopfert haben, so ähnlich, dass Sie meinen Anblick nicht ertragen können? Ich meine 275 Jahre sind genug Zeit, um so etwas zu verdauen.“
Vor Zorn schwollen die Venen an meinem Hals und an meiner Schläfe an, sodass sie leuchtend Dunkelblau unter der blassen Haut hervortraten. Währendessen, hoffte ich, dass aus meinen Augen Giftpfeile schossen, um Bloody-Bunny kalt zu machen. Doch das ging leider nicht mehr.
Ich schrie:
„Du wirst die Kapelle schrubben, bis ich mich im Boden spiegeln kann. Und wenn Du jemandem von mei-ner Vergangenheit erzählst, wären Dir die Prügel Deines Mannes wie Streicheleinheiten vorkommen. Glaubst Du, es gefällt mir, von meinem eigenen Zwillingsbruder getötet zu werden? Glaubst Du wirklich, dass ich einmal darüber hinweg kommen werde, dass mein eigener Bruder mir das Leben genommen hat? Glaubst Du das? Du bist so schon frech und hinterlistig genug, Lady, aber beleidigen muss ich mich nicht Dir lassen. Ich werde Dich so schnell wie möglich wieder los werden und wenn ich IHM auch noch so viele Lügen über Dich erzählen muss und deswegen noch tausend Jahre länger hier bleiben darf, damit Du in die Hölle kommen, dann soll es mir recht sein.“
Ich atmete tief Durch und sah Lilith an, die stocksteif und mich mit großen, angsterfüllten Augen ansah.
Ich rief, lauter als gewollt:
„Nun geh und hol Dir die Sachen zum Putzen bei Herrn Nepumuck ab.
Sie ging, den Kopf erhoben, sodass sie mich um über einen Kopf überragte, hinaus. Blödes, eingebildetes, größeres Weib!
Nachdem sie gegangen war, atmete ich noch mal zur Beruhigung tief durch die Nase ein und beendete meine Strafpredigt mit einem „Amen“ an das Kreuz gewandt.
Danach machte ich mich auf den Weg zur Mutter Oberin, denn jetzt hatte ich endlich einen
Grund Bloody-Bunny loszuwerden.
***
Erstarrt ging ich aus Patons Büro. Ich machte mich auf den Weg zu Herrn Nepumuck, der
mir ja erzählt hatte, wo ich ihn finden konnte.
Ich kam an und klopfte zaghaft an die Tür.
„Herein Miss. Ich habe die Sachen schon bereit stehen!“, ertönte es.
Mich wunderte es nicht in geringster Weise, dass er schon von meiner Strafarbeit wusste.
Ich trat ein und sah in eine gemütliche Kammer: in der Mitte stand ein schöner Eichenholzsekretär. Rechts davon stand ein großes, bequem wirkendes Bett und links Bücherregale. Außerdem gab es einen Kamin, der sich hinter dem Sekretär befand. Links von diesem war eine Tür, hinter der sich, wie er mich aufklärte, sein Werkzeug und die Reinigungssachen befanden.
Er gab mir einen Eimer, der bereits mit Wasser gefüllt war, Scheuerseife, eine Schrubbbürste und einen Besen.
Ich bedankte mich und machte mich lustlos und immer noch etwas erschrocken auf den Weg zur Kapelle.
Da unsere Familie sich nur ein Dienstmädchen leisten hatte können, war ich an Haushaltsarbeit gewohnt.
Ich fing an den Boden zu kehren.


Kapitel 13
Unerfreuliche Bekanntschaft

Ohne an die Tür zu klopfen, stürmte ich in das Zimmer von Zachathrustra. Diese stand entrüstet auf und ich bemerkte erst jetzt, dass vor ihr ein blond gelocktes, schlankes Mädchen saß.
Dieses drehte sich um und ich sah, dass sie hellhäutig war und rosige Wangen hatte, rote Lippen und große, hellblauen Augen hatte.
Oder anders gesagt: sie war einfach schön.
Sie wurde mir als Beatrice de la Fleur vorgestellt. Sie lächelte und mir lief ein Schauer über den Rücken, denn es war ein eiskaltes und berechnendes Lachen.
„Bringen Sie dieses Buch weg und kommen Sie dann bitte wieder her, um Mademoiselle de la Fleur zu Bruder Bernhard zu begleiten.“, bat Zachathrustra.
Ruppig nahm ich das Buch und eilte zu dem Zimmer im Turm, wo wir ja alle Lebensprotokolle lagerten. Bevor ich das Buch dem Staub überließ, schlug ich es neugierig auf: Beatrice hatte von 1890 - 1907 gelebt. Sie stammte aus Paris und aus gutem Hause
Ihr Todeszustand war wirklich eine Strafe Gottes: sie hatte ein Mädchen, namens Claudine, vergiftet, da sich Schwarm Jacques für Claudine und nicht für Beatrice interessiert hatte. Nach Claudines Tod hatte sich ihr Verehrter immer noch nicht für sie interessiert. Sie hatten sich gestritten. Dabei war Beatrice ausge-rutscht und hatte sich den Hals gebrochen.
Gut, dass wir alle tot waren ,falls jemand auf die Idee kam, mit ihr zu konkurrieren.
Als ich zu ihrem Stammbaum blätterte ich, erstarrte ich:
Er war identisch mit Liliths! John und Julie MacGiver als Ahnherren. Mary Parker als Erstgeborene einge-tragen, die Gustav Parker geheiratet und drei Kinder hatte: Oscar Parker, Lilith Oliver und Magdalena Kiel.
Als Zweitgeborene war Hannah de la Fleur verzeichnet, die Marc de la Fleur geheiratet und ebenfalls drei Kinder hatte: Clarice Preverge, Antoine de la Fleur und Beatrice de la Fleur!
Beatrice de la Fleur war Lilith Parkers Cousine!
Ich hatte nicht einfach zwei schreckliche Mädchen, sondern zwei schreckliche Cousinen am Hals.
Ich ging mürrisch wieder zurück, um Bruder Bernhard seine Schülerin zu bringen.
Diese stand erwartungsvoll im Raum und als ich ihr aus Höflichkeit den Arm anbot, nahm sie ihn besitzer-greifend und hielt mich im Schraubstock.
Nachdem ich sie abgeliefert hatte, schmerzte mein Arm und ich ging wieder zur Mutter Oberin zurück.
***
Ich war gerade fertig geworden mit Boden zu schrubben als zwei Personen die Kapelle betraten.
Ich sah von meiner jetzigen Tätigkeiten – die Bänke zu reinigen – auf, weil ich wissen wollte, wer sie wa-ren.
Die eine war ein Mönch und die andere ein blondes Mädchen, das mir bekannt vorkam.
Der Mönch hatte eine braune Kutte an, trug einen kurz geschorenen Vollbart, hatte braune Augen, braune Haare und war groß und schlank. Er schaute etwas missmutig. Plötzlich drehte sich die blonde Person um und ich erkannte erschrocken, dass es meine Cousine Beatrice, die ich abgrundtief hasste, war.
Sie schien ebenso erstarrt.
Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, da ich wusste, wie sie es verabscheute, zu anderen hochbli-cken zu müssen. Sie hielt sich nämlich für die Allergrößte. Ich überragte sie nun um einen ganzen Kopf.
Schnippisch fragte ich:
„Bonjour Cousinchen! Auch tot?“
„In der Tat.“, meinte sie.
Boshaft setzte sie hinzu:
„Aber wenigstens habe ich mich nicht selbst umgebracht, sondern trage keine Schuld daran, dass ich hier bin!“ Dabei schaute sie sich missbilligend in der Kapelle um, die vor Sauberkeit nun fast strahlte.
„Ich will es gar nicht wissen.“, sagte ich frostig, als sie den Mund wieder auftat, denn ich wollte jetzt keine selbstverherrlichenden Phantasien hören.

Beatrice war schon immer der Liebling aller gewesen, da sie wie ein Engel aussah, mit ihrer kleinen zierli-chen Gestalt, den blonden Ringellocken und den großen, hellblauen Augen.
Aber sie sah eben nur so aus.
In Wahrheit war sie ein berechnendes Miststück, das immer alles, was es sich in den Kopf gesetzt hat, er-reichen wollte. Gleichgültig, wen die dadurch gefährdete. Sie hatte schon mit zwölf ihren ersten Verehre gehabt, doch sie hatte, obwohl sie jetzt siebzehn war, noch nicht geheiratet.
Ich wusste genau, dass sie es auf diesen Jacques abgesehen hatte, der sich aber – und das machte ihn so sympathisch – nicht das kleinste Stück für sie interessierte, sondern für ein anderes Mädchen.
Der Bruder hatte unsere Unterhaltung dezent schweigend mit angehört, doch nun fragte er:
„Sie sind doch Lilith Parker, Pater Vampires neueste Schülerin, oder?“ Ich bejahte. Der Pater hatte sich sicherlich schon mit jemandem über unseren „kleinen“ Streit unterhalten.
Beatrice wandte sich mit ihrem Sag-mir-sofort-dass-was-ich-wissen-will-oder-ich-bring-Dich-um-die-Ecke-Lächeln um:
„Ist das etwa der große, schlanke, braunhaarige, nette Pater?“, fragte sie neugierig und mit glänzenden Augen.
"Armer Paton, was hast Du Dir da nur eingebrockt? ", dachte ich mitleidig.
"Doch andererseits", schoss es mir Durch den Kopf, "böse Taten bestraft der liebe Gott sofort!"
„Ja!“, antwortete ich grinsend, “genau der!“
Als sie mich weiter ausfragen wollte, winkte ich ab und sagte, ich müsse noch dringend meine Arbeit in der Kapelle beenden. Und als Unterstützung, zog Bruder Bernhard, wie er sich noch schnell vorstellte, Beatrice am Arm und meinte, er würde ihr noch ihre Waschgelegenheiten zeigen, worauf sie mit Begeisterung rea-gierte.

Am Abend ging ich müde von Herr Nepumucks Zimmer, in das ich das Reinigungsmaterial zurückgebracht hatte, in meinen Raum.
Ich hatte alles so lange geschrubbt und gewischt, bis es glänzte. Doch nun taten mir alle Knochen weh.
Als ich um die Ecke bog, stieß ich fast mit Paton zusammen, der es sehr eilig zu haben schien.
„Sei ja still!“, zischte er noch, bevor er sich hinter einer Säule versteckte.
Verwundert sah ich ihn an, doch kurz darauf ertönte Beatrices Stimme:
“Aber Pater, ich war mit meiner Geschichte noch gar nicht fertig. Also als Chantale Julia das erzählt hat-te...“
Da rief ich laut:
“Ja, Pater Vampire, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Beatrice weiß eine Menge wundervoller Ge-schichten!“
Ich dachte Strafe muss sein, egal wie ich meine Frechheit büßen müsste. Beatrice bog jetzt um die Ecke, weil sie mich gehört hatte. Ich stellte mich blitzschnell um die Säule herum, sodass es aussah, als ob ich mich mit dem Pater unterhalten hätte. Mit keinerlei Ausdruck auf dem Gesicht trat er hinter der Marmor-säule hervor. Beatrice ging entzückt zu ihm und meinte:
„Wenn Sie so von meinen Geschichten begeistert sind, ich hätte da noch ein paar, die Sie unbedingt hören müssen! Zum Beispiel, als ich bei Madame de Gogne zu Besuch war, da...“
Sie nahm den Ärmsten wieder in ihren Schraubstockgriff und zog in plappernd fort.
Er warf mir einen so zornigen Blick zu, dass mir ganz kalt wurde. Doch ich ging äußerst selbstgefällig in meine Kammer ohne das mulmige Gefühl in der Magengrube zu beachten. Denn insgeheim fürchtete ich mich vor dem nächsten Tag und vor Paton Lyells Zorn.


Kapitel 14
Unterredung
4. Juli 1907
An der Tür angekommen, klopfte ich diesmal, jedoch laut und ungeduldig.
„Komm schon herein Paton und mach nicht so einen Krach!“, rief Zachathrustra.
Ich trat ein und schloss die Tür leise.
Sie grinste mich schelmisch an und meinte neckend:
„Du scheinst ja schon eine neue Freundin gefunden zu haben, wenn Du mal einen freien Tag brauchst, sag mir Bescheid!“
Ich schaute sie grimmig an und brummte:
„Ich glaube, ich mach in nächster Zeit Überstunden!“
Sie lachte nur und dann wurde sie ernst:
„Welche Probleme hast Du schon wieder mit Miss Parker?“
Ich sagte so leise, dass sie es kaum verstand:
„Sie kennt meine Vergangenheit!“
„Wie hat sie das herausgefunden?“
Immer noch so leise meinte ich:
“Sie hat den Raum entdeckt und mein Lebensprotokoll gelesen.“
„Warum hat sie denn Raum gefunden?“
„Gute Frage, ich weiß es nicht!“, schloss ich resigniert.
„Dann lass es uns herausfinden!“, beschloss Zachathrustra resolut und wollte schon die Tür öffnen, als sie sich nochmals zu mir umwandte:
„Ich kenne Dich doch Paton. Hast Du sie schon wieder aus der Folterkammer herausgelassen, oder muss ich ein Kästchen mitnehmen, um ihre Überreste hineinzulegen?“
Ich schaute betroffen und murmelte kleinlaut:
“Sie muss die Kapelle schrubben und hat womöglich einen Hörschaden!“
Zachathrustra seufzte, öffnete die Tür und machte sich, mit mir im Schlepptau auf zur Kapelle.
***
Ich wollte gerade den Altar mit Wachs einreiben, damit er auch hübsch glänzte, als ich hörte, wie jemand eintrat.
Ich drehte mich um und zu meiner großen Überraschung sah ich die Mutter Oberin und hinter ihr den be-troffen schauenden Pater. Er würdigte mich keines Blickes und ich richtete mich unwillkürlich zu meiner vollen Größe von 1.80m auf.
„Kommen Sie bitte her, mein Kind, wir müssen eine Differenz zwischen Ihnen und dem Pater überbrücken. Und außerdem“, fügte sie hinzu, “müssen wir über Ihre neueste Entdeckung reden.“
„Petzer!“, dachte ich und gleich darauf, “Memme!“, ich schaute eisig zu meinem Mentor, der sich schnell abwandte. Ich ließ das Wachs auf dem Altar stehen, wischte mir die Hände an der Schürze meines alten Kleides ab und ging schnellen Schrittes zur Mutter Oberin.
Wir setzten uns in eine Bankreihe und die Mutter Oberin fing an:
“Ich würde gerne von Ihnen erfahren, wie Sie die Bücher gefunden haben und wie Sie dazu kommen, dass Protokoll Ihres Mentors zu lesen?“
Pater Vampire schaute mich jetzt mit hartem Blick an.
Doch ich ließ mich nicht beeindrucken.
Also begann ich ihr zu erzählen, wie ich die Tür gefunden hatte. Auch von meinem Gespräch mit Paton, in dem er mir schon einen Teil seines Lebens offenbart hatte, doch kein Wort von seinem Zwillingsbruder Preston Lewis und, dass ich gemerkt hatte, dass er mir genau den verschwiegen hatte. Deshalb hatte ich seinen Lebenslauf gelesen.
Die Mutter Oberin nickte nur, nachdem ich geendet hatte und meinte:
“Pater, ich glaube Bruder Samuel braucht Hilfe bei der Vorbereitung der morgigen Predigt, gehen Sie doch und schauen mal nach!“
Pater Vampire hob seine linke Augenbraue, schaute skeptisch, doch verschwand wortlos.
Dann begann die Mutter Oberin ein Gespräch mit mir. Sie bat mich, niemandem von der Kammer zu erzäh-len und auch nichts von dem, was ich über Paton Lyells Leben erfahren hatte. Außerdem erzählte sie, dass es für Paton unerträglich war, tot zu sein – und das schon 275 Jahre lang.
Ich versprach es und sie verließ mich, mit der Gewissheit, dass Pater Paton Lyell Vampires Vergangenheit unter uns blieb, denn sie vertraute mir.
Währenddessen widmete ich mich nachdenklich wieder dem Wachs und dem Altar.


Kapitel 15
Strafe muss sein
Es war klar gewesen, dass Bruder Samuel keine Hilfe brauchte. Also ging ich in mein Büro, um mir die Zeit bis zum Abendgottesdienst zu vertreiben.
Viertel vor sechs verließ ich mein Büro, als ich auf dem Gang den blonden Schopf Beatrice de la Fleurs erblickte.
Sie hatte mich zu meinem Leidwesen auch schon entdeckt, sodass es zum Umkehren zu spät war. Sie lief auf mich zu und sagte:
“Ich habe Sie schon überall gesucht Pater. Ich muss Ihnen eine unglaubliche Geschichte er-zählen."
Sie packte besitz ergreifend meinen Arm und begann hirnlos loszuplappern und mich zur Ka-pelle zu schleifen.
Doch das Glück kam mir zu Hilfe!
Bruder Bernhard kreuzte unseren Weg und sagte:
„Ach Beatrice. Ich habe Sie schon überall gesucht, ich brauche dringend Ihre Hilfe!“
Dabei warf er mir einen bedeutungsvollen Blick zu, zog Beatrice in die andere Richtung und verschwand. Ich nahm schnell einen anderen Weg zur Kapelle.
Doch wenig später hörte ich zu meinem Entsetzen, wie Beatrices Stimme erklang:
“Ich habe Bauchschmerzen, ich glaube, ich gehe besser in meine Kammer!“
Und damit bog sie um die Ecke und lief mir geradewegs in die Arme. Sie stieß einen entzück-ten Schrei aus und ich drehte mich um und begann zu rennen.
Als ich um einen Kurve lief, stieß ich fast mit Bloody- Bunny zusammen, der ich nur noch zuzischte: „Sei ja still!“, bevor ich hinter eine Säule huschte.
Sie sah mich verwundert an, doch gleich darauf ertönte die Stimme des „Engels des Grauens“: „Aber Pater, ich war mit meiner Geschichte noch gar nicht fertig! Also, als Chantal Julia das erzählt hatte…
Plötzlich rief Bloody-Bunny laut:
“Ja, Pater Vampire, da gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Beatrice weiß eine Menge wunder-voller Geschichten!“
Sie hatte sich zur Säule, hinter der ich stand, umgedreht, damit es so aussah, als würden wir uns unterhalten.
Enttarnt und vor Zorn bebend, trat ich mit ausdrucksloser Miene aus meinem Versteck hervor. Beatrice erblickte mich und stürmte wie ein Adler, der seine Beute erspäht hatte, auf mich zu.
Sie grabschte gierig nach meinem Arm und zog mich, wieder plappernd, in Richtung Kapelle.
Ich konnte Bloody- Bunny nur noch einen überaus zornigen Blick zu werfen, der sie erschau-ern ließ.
Sie schleifte mich in Richtung Kapelle, wo ich mich dann unbemerkt davon stehlen konnte und in mein Büro eilte, da Bruder Michael die heutige Abendpredigt hielt, um mir eine Strafe für Bloody-Bunny auszudenken.


Kapitel 16
Versöhnung

5.Juli 1907
Eigentlich wollte ich Bloody-Bunny ihre Frechheit von gestern zurückzahlen. Auf halbem Weg zur Kapelle traf ich Rudolph. Er begrüßte mich mit einem kurzen, nicht allzu freundlichen Kopfnicken. Verwundert fragte ich ihn, ob er ein Problem hätte. Da schein ich auf eine Goldader gestoßen zu sein.
"Jawohl. Ich habe ein Problem und zwar mit Ihnen Pater. Sie lassen das arme Mädel seit zwei Tagen die Kapelle schrubben. Man könnte in dieser wahrscheinlich vom Boden speisen, aber Sie schauen nicht mal vorbei. Egal was Lilith getan hat. Es muss wahrscheinlich furchtbar gewesen sein, wenn Sie ihr so etwas aufhalsen. Das arme Mädchen wischt und putzt, als ginge es um ihr Leben – natürlich rein rhetorisch. Da-bei kann ich mir das gar nicht vorstellen. Sie ist die netteste und erfrischenste Person, die ich seit meinem Aufenthalt hier je getroffen habe. Ich war gerade bei ihr, um zu sehen wie es ihr geht und ich sage Ihnen, wahrscheinlich bekommt Lilith noch einen Buckel von den vielen Boden schrubben!"
Schnaubend rauschte er an mir vorbei.
Völlig perplex starte ich ihm hinterher. Ich hatte Lilith wirklich vergessen. Oh, was war ich nur für ein Pater. Also momentan war ich Bloody-Bunny kein großer Beistand. Ich bekam zusätzlich auch noch Schuldgefühle, als mir einfiel wohin ich unterwegs war und warum.
Sie war zwar ein wahnsinnig großes Weibsbild, aber ihre Hände waren für solche Arbeit nicht geeignet.
Ihr musste alles wehtun. Nun wurde mir klar, warum sie mich gestern an Beatrice verraten hatte.
Ich ging im Stechschritt zur Kapelle, um mein Schäfchen bzw. Häschen von der Strafe zu befreien.
***
Die Tür öffnete sich und ich sah von meiner Arbeit auf – die Politur des Weinkelchs – senkte den Blick aber schnell wieder, als ich sah, wer da in der Tür stand.
Ich fühlte wie sein Blick auf mir ruhte.
"Du weißt ja bereits, dass Deine Cousine hier ist?"
"Ach was Du nicht sagst! Das war mir schon aufgefallen, als der liebe Gott und Belzebub angefangen ha-ben Cha-Cha-Cha zu tanzen, weil Du sie and der Backe hast!", meinte ich trocken und fügte gereizt hinzu: "aber ich kann sie nicht leiden."
"Ich auch nicht!"
Bei diesen Worten versuchte ich nicht zu lächeln, sondern meinen ernsten Gesichtsausdruck zu wahren.
"Echt? Ich hatte den Eindruck Du hast sie ganz gern. Weißt Du jetzt alles über Jaqueline, Chantale, Antoi-nette oder wie sie sonst alle heißen?"
Er verdrehte die Augen.
"Kommt mir vor, als würde ich sie alle persönlich kennen. Willst Du hören, was Chantales neueste Be-schäftigung ist?"
"Liebend gerne, aber ich muss die Kapelle schrubben. Dieser gestrenge Pater – oder Meister Prügelpeitsch – hat mir die Strafarbeit aufgegeben."
"Ach ja, der. Ich entführe Dich."
"Okay."
"Dann folgt mir holde Jungfer."
Wir traten auf den Gang hinaus.
"Bitte sprich mit niemandem über meine Vergangenheit. Ich schäme mich dafür."
Er sah mich ernst an.
Ich versprach es und meinte:
"Es tut mir Leid, dass ich Deinem Leben herumgeschnüffelt habe. Und das mit Beatrice gestern!"
"Ach nicht doch! Sonst hätte ich nie alles über Anettes Frauenprobleme erfahren. Aber das mit der Schnüf-felei:… das werde ich nicht so schnell vergessen können. Zur Strafe sprichst Du 100 Vater unser auf Spa-nisch!"
100 Vater unser? Auf Spanisch?
"Aber ich kann gar kein Spanisch!"
"Nicht? Nun, dann hast Du wohl Glück gehabt!", meinte er grinsend.
Ich knuffte ihn freundschaftlich. Schuft!
Friedlich gingen wir in sein Büro, in dem schon Blutorangentee stand.


Kapitel 17
Polarfuchsblut
7. November 1907
Meine abendliche Inspektion vor dem Spiegel hatte ich vergessen.
Ich lag jetzt absolut erschöpft und bereit einzuschlafen in meinem Bett. Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ich lag ruhelos auf meiner Schlafstätte und starrte auf einen Fleck an der Decke.
Ich glaubte schon eingeschlafen zu sein, doch ich hörte draußen vor meiner Tür Vampire vorbeihuschen. Das hatte ich davor noch nie gehört.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen!
Jetzt bemerkte ich auch auf, dass ich die ganze Zeit, während meines Dämmerzustands an etwas mit meiner Zunge herumgefühlt hatte.
Ich setzte mich kerzengerade auf, als ich sie berührte. Es waren tatsächlich lange, spitze Vampirzähne. Ich sprang auf und rannte zum Spiegel. Ich zündete mit zittrigen Fingern eine Kerze an und betrachtete mich.
Ich war bis jetzt nur ebenfalls, wie alle anderen bleich geworden, sodass die Venen hervortraten.
Auch waren meine Ohren spitz und dünn geworden, sodass es sich anfühlte, als wären sie aus Papyrus.
Außerdem waren meine Bewegungen leiser und präziser geworden. Aus dem „Sterblichen-Essen“ war zusehends das Gemüse gewichen. Dafür war das Fleisch in den letzten Tagen immer roher und blutiger geworden.
Doch jetzt hatte ich auch noch diese Zähne, die leuchtend weiß aus meinem Mund hervortraten. Es sah fürchterlich mit meinen Hasenzähnen aus. So fürchterlich, dass es schon wieder lustig aussah. Ich unter-nahm ein paar Sprechversuche, doch ich lispelte glücklicherweise nicht mehr als sonst.
Zuerst wollte ich zu Paton stürmen, um ihm das zu zeigen. Doch ich besann mich und beschloss noch ein wenig in diesen neuen Trancezustand zu fallen. Morgen würde er es so, oder so sehen, außerdem wollte ich den Frieden nicht gefährden.

Ich erwachte erstaunlich gut ausgeruht und schaute nochmals in den Spiegel. Und ja: meine Vampirzähne waren noch an Ort und Stelle. Zusätzlich musste ich feststellen, dass ich mir nun auch leichter vorkam und kein einziges Geräusch machte, wenn ich mich bewegte.
Ich wusch mich, ließ meine Haare aber offen. Außerdem zog ich mir mein selber geschneidertes Kleid an. Es war mitternachtsblau und hatte einen weißen Spitzenkragen. Wir Schülerinnen bekamen einmal im Mo-nat Stoff und kaputte Kleidungsstücke, um entweder neue Sachen zu nähen oder um sie zu flicken. Natür-lich durften wir uns aus dem Stoff auch neue Sachen für uns nähen.
Ich rief:
“Herein!“, denn ich hatte so eine Ahnung, dass die Köchin mit dem Frühstück vor der Tür stand.
Und tatsächlich die Tür öffnete sich und Anne trat, mit Blutsuppe auf dem Tablett ein. Bevor ich realisierte, was ich tat, packte ich den Löffel und begann zu essen. Es schmeckte warm, salzig und kupfern, hatte aber sonst keinen bestimmten Geschmack.
Ich bedankte mich und ging zur Kapelle.
Auf halbem Weg traf ich meine „Lieblings“-Cousine.
Sie starrte mich erst entsetzt an und meinte dann mit hämischem Grinsen:
„Na, das sieht wirklich apart mit Deinen Hasenzähnen aus.“ Dann drehte sie sich um und wollte den ande-ren Weg zur Kapelle nehmen.
Ich stand zornig da und wünschte mir, auch von Ort zu Ort wechseln zu können, wie Paton und das ohne mich körperlich zu betätigen.
Und plötzlich stand ich vor Beatrice. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, raffte ihre Röcke und lief, immer noch kreischend, davon.
Ich war zwar auch erschrocken gewesen, doch nun lachte ich schallend. Ich wollte es noch mal testen, des-wegen dachte ich: „Kapelle“.
Im nächsten Moment stand ich in der Kapelle, wo mich der Pater anscheinend schon erwartet hatte, denn er meinte:
“Na endlich Bloody-Bunny. Das hat wirklich lange gedauert! Die meisten sind mit ihrer Metamorphose schon nach zwei Wochen fertig!“
„Tja, ich bin halt anders als die anderen.“, gab ich schnippisch zurück.
„Das stimmt!“, grinste er bloß und zog eine Steingutflasche hervor.
„Was ist das?“, fragte ich misstrauisch.
„Polarfuchsblut. Das trinkt jeder, der sich verwandelt hat!“
Er schenkte zwei Gläser voll, reichte mir eines und wir stießen an.
Etwa eine Minute später läutete es zur Morgenpredigt und die Kapelle füllte sich mit anderen Vampiren. Auch Beatrice kam herein, die mich immer noch erschrocken ansah und sich eilig ganz nach vorne setzte. Da konnte sie „ihren“ Pater Vampire anhimmeln.
Ich setzte mich neben Rudolph, der mich freundschaftlich anlächelte.
Wir lauschten Patons Predigt.
Ich hörte ihm entspannt zu und freute mich, dass ich nun endgültig einer der ihren war.


Kapitel 18
Auftrag

21. März 1908
Ich saß auf dem Altar in der Kapelle und ließ die Füße baumeln. Während dessen hörte ich mir die selbst-geschriebenen Gedichte meiner Schülerinnen an. Erst an diesem Tag fiel mir auf, dass ich nur Schülerinnen hatte. Aber das störte mich nicht. Ich hatte mir sogar ein paar Namen merken können. Nicht alle, aber we-nigstens ein paar. So erkannte ich zum Beispiel die Zwillinge Franziska und Anne wieder. Oder auch Jas-min, Theresa, Sophie, Sabrina und eine der vielen Katharinas. Auch die Namen Ellen und Sissi waren mir im Gedächtnis geblieben. Und natürlich Lilith. Ich war furchtbar stolz auf mich.
Jasmin hatte gerade ihr Gebet über den Tod beendet. Jetzt trat Lilith vor. Alle Gedichte hatten mir richtig gut gefallen. Doch Bloody-Bunnys gefiel mir besonders gut, da es um eine verlorene Liebe ging:

Er wünschte, er fühle keine Schmerzen,
er wünschte sie säße nicht in seinem Herzen,
er wünschte er könnte vergessen,
er wünscht er hätte nie diese Liebe besessen.

Nun da sie ist fort, es tut ihm so weh,
den Weg zurück er niemals mehr geh,
sie ist fort und mit ihr sein Lachen,
doch auch morgen wird er wieder erwachen.

Er wird den Morgen trotzdem begrüßen,
wird den Tag mit seinem Lächeln versüßen.
Noch lange wird er an sie denken
und doch noch seine Schritte nach vorne lenken.

Wird jeden Tag hoffen und bangen,
will die Freude in sich wieder erlangen,
will wieder aus vollem Halse lachen,
will wieder schöne Dinge machen.

Egal wie der Schmerz auch bohrt,
langsam begreift er, sie ist fort,
nun hat sein Herz wieder Raum,
Platz für einen neuen Traum.

Während sie einen begeisterten Beifall der anderen erntete, wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Dass diese Frau mich immer an meine Vergangenheit erinnern musste!
Sie sah mich selbstbewusst an, dreht sich allerdings erschrocken um, als die Tür mit so viel Schwung aufgerissen wurde, dass sie gegen die Wand krachte.
Herein kam eine kleine Gestalt in einem lindgrünen Kleid.
Ich erkannte sie als Mathilde Hubermaier, die vor ein paar Wochen, zusammen mit ihrem Mann Heinrich, hier angekommen war.
Sie genossen das Vertrauen der Mutter Oberin, also auch meins.
Mathilde war sechzig, sah dennoch fantastisch aus: Sie hatte schneeweiße Haare, die säuber-lich toupiert waren und sie hatte nur Falten um Augen und Mund, die vom vielen Lachen ka-men. Sie hatte schöne, braune Augen und eine sehr schlanke Gestalt.
Ihr Mann Heinrich war fünfundsechzig. Er war groß, so groß wie Bloody-Bunny, hatte strah-lend blaue Augen, ebenfalls weiße Haare, die aber noch sehr voll waren und wie seine Frau nur Falten an Mund und Augen. Mathildes Vater hatte eine ganze Reihe an Gaststätten beses-sen, die in der ganzen Welt einen Standplatz hatten und Heinrich war ein sehr bekannter La-tein-und Deutschprofessor gewesen.
Warum sie hier waren, wusste ich nicht. Die Mutter Oberin hatte ihre Lebensprotokolle per-sönlich weggebracht und das Ehepaar hatte noch nie ein Wort darüber verloren, warum es hier war. Doch sie wurden oft von der Mutter Oberin zu Gott geschickt, um Korrespondenzen aus-zutauschen.
Mathilde kam zu mir und sagte;
„ER will Sie sehen. Sofort. Heinrich wird Sie begleiten.“ Ich folgte ihr und gab meinen Schü-lerinnen nebenbei noch Anweisungen, den Abendgottesdienst vorzubereiten.
Heinrich wartete an der Pforte des Klosters. Er ging neben mir, doch wir unterhielten uns nicht. Sonst war er immer ein guter Gesprächspartner gewesen, doch mir war jetzt nicht nach einem Gespräch. Nervös stammelte ich ein `Danke schön` als wir da waren und er verab-schiedete sich, um zurückzugehen.
Zwei Stundenspäter erschien ich wieder in der Kapelle. Ich setzte meinen Blick auf, der kei-nerlei Ausdruck zeigte und ging durch die Tür. Sofort wurde es still unter meinen Schülerin-nen. Alle sahen mich gespannt und neugierig an.
„Bloody-Bunny, komm bitte mit.“!, sagte ich und sie kam zögernd zu mir.
„Folg mir.“, befahl ich ihr mit ernster Stimme. Sie wirkte nur noch unsicherer, widersprach aber nicht.
In meinem Büro angekommen, setzte ich mich in einen Sessel und gebot ihr, in dem Sessel mir gegenüber, Platz zu nehmen.
Dann konnte ich meine Freude nicht mehr überspielen und grinste sie glücklich an.
Liliths Blick zufolge, war sie nun vollends verwirrt.
„Was ist los?“, fragte sie nervös.
Jetzt lachte ich lauthals los, während sie mich ansah, als ob ich ein Irrer wäre. Dann sagte ich strahlend:
„Ich habe einen Auftrag: Ich werde wieder auf die Erde zurückkehren.“
Sie wirkte überrascht.
„Und was hat das mit mir zu tun?“, wollte sie wissen.
„Nun, ich werde nicht alleine gehen. Ich nehme Dich mit!“


Kapitel 19
Reisevorbereitungen
21. März 1908
Ich schrie vor Freude so laut auf, dass Paton zusammenzuckte. Ich tanzte durch den Raum und rief:
“Wir machen einen Ausflug, wir machen einen Ausflug!“
Währenddessen schaute er mir lachend zu. Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, aber immer noch grinste wie ein Honigkuchenpferd, fragte ich:
“Wohin geht es eigentlich?“
Sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter und er sagte:
“Wir werden die verirrte Seele, die sich im schottischen Hochland aufhält, nach London zu-rückbringen.“
Er hielt sich die Ohren zu, da ich wieder in einen Jubel ausbrach. Erneut tanzte ich herum, doch diesmal rief ich:
„Ich sehe meine Geschwister und meine Eltern und Nichten wieder!“
Bei diesen Worten verschwand sein Grinsen und er wirkte sehr ernst.
Dadurch erschrocken hörte ich auf zu tanzen und fragte:
„Was ist los? Ich darf doch meine Familie wieder sehen?“
„Du dürftest schon, aber alle Menschen, die Dich mal gesehen und gekannt haben, sehen, hö-ren und fühlen Dich nicht. Für sie bist Du unsichtbar!“
Meine Freude verschwand und ich fühlte, wie ich einen Kloß im Hals bekam. Ich setzte mich geschockt auf das Sofa und Paton daneben.
Er meinte:
„Es gibt auch noch eine gute Nachricht Wir bekommen vorübergehend unsere menschliche Gestalt wieder!“
Mit diesen Worten gab er mir einen von zwei Bechern, die auf dem Tisch gestanden hatten.
In dem Becher befand sich eine braune, eklige Brühe.
Ich sah ihn zweifelnd an, doch er prostete mir zu und begann zu trinken. Ich tat es ihm gleich.
Es schmeckte bitter, doch hatte einen süßen Nachgeschmack, ein bisschen wie Hustensaft. Als ich ihn geleert hatte, wollte ich ihn auf dem Tisch abstellen, doch es begann plötzlich in mei-nen Füßen zu brennen, als hätte jemand Feuer gelegt. Dieses Gefühl schoss blitzartig durch meinen Körper und verbreitete sich in sekundenschnelle. Doch genauso wie es gekommen war, verschwand es auch wieder. Ich blinzelte und sah Paton an. Ich war freudig überrascht!
Er war zwar immer noch einen Kopf kleiner als ich, doch sein schulterlanges Haar glänzte braun und als das Kerzenlicht darauf fiel, entdeckte ich einen leichten Rotschimmer. Die Schmächtigkeit war einer wahrhaft männlichen Figur gewichen. Die Blässe hatte sich in einen schönen, olivfarbenen Ton verwandelt. Seine Augen hatten einen lebhaften Schimmer be-kommen. Er lächelte und ich entdeckte ein makelloses, weißes Gebiss. Ich konnte mir schwer vorstellen, einen Priester vor mir zu haben. Er erinnerte mich zu sehr an Don Juan!
Er lächelte zurück.
***
Sie schaute mich an und lächelte, als ich lächelte.
Ich versuchte sie nicht anzustarren. Sie war schon ein hübsches Ding gewesen, als sie noch eine menschliche Gestalt hatte. Doch nun hatte sie diese für sie hinderlichen Hasenzähne los und sie war geradezu schön.
Sie war leider immer noch größer als ich, doch ihr langes, braunes Haar war wieder glänzend geworden und fiel ihr wie Seide und in sanften Wellen den Rücken herunter. Sie war nicht mehr so kränklich – blass, sondern hatte nun einen pfirsichfarbenen Teint Ihre schönen, gro-ßen Augen glänzten wie Saphire. Als sie lächelte, was sie nur selten in der Öffentlichkeit tat, hatte ich eine Reihe gerader, weißer Zähne entdeckt, die schimmerten wie Perlen.
Nun begann sie, ihr Gesicht zu betasten. Sie schien zu merken, dass sie keine Hasenzähne mehr hatte und schrie erstaunt auf und rannte zur Waschschüssel, um hineinzublicken.
Mitten in ihrem Jubelgeschrei stockte sie und plötzlich rannen Tränen über ihre Wangen. Ich saß immer noch auf dem Sofa und wollte gerade aufstehen, um sie zu trösten, als sie sich um-drehte und auf mich zu rannte. Ich war darauf nicht gefasst, sodass ich auf dem Sofa landete und sie auf mir drauf. Sie umarmte mich und seufzte:
„Danke Paton. Ich hätte nie gedacht, dass ich sie jemals loswerde. Ich bin Dir so dankbar Pa-ton!“
In diesem Moment flog die Tür auf und meine Cousine, die offenbar gelauscht hatte, stand wutentbrannt in der Tür. Ihr blondes Haar flog ihr wirr um den Kopf und ihre blauen Augen funkelten zornig.
***
Paton stand verdattert auf, ich blieb sitzen und fragte mich, wie lange sie schon gelauscht hat-te.
„Was kann ich für Dich tun, Beatrice?“
Sie riss die Augen ungläubig auf und fragte schüchtern:
“Sind Sie das Pater Vampire?“
„Ja, nur hab ich meine menschliche Gestalt wieder, genau wie Deine Cousine.“
Sie schaute hinter ihn und erblickte mich auf dem Sofa sitzend. Sie wurde bleich vor Zorn, denn inzwischen war ihre menschliche Schönheit auch durch die vampirische ersetzt worden.
Sie starrte neidisch, drehte sich um und stolzierte aus dem Raum. Doch in der Tür blieb sie noch einmal stehen, drehte sich um und sagte:
“Die Mutter Oberin will euch beide sehen!“
Damit ging sie.
Ich brach in lautes Gelächter aus und freute mich, dass meine Cousine neidisch auf mich war.
Paton stimmte ein und wir machten uns auf den Weg und alle Vampire waren teils neidisch, aber auch teils freudig als sie uns sahen, wenn sie uns im Gang begegneten.
Es hatte mich schon die ganze Zeit beschäftigt, also fragte ich:
„Sag mal Paton, dass wir unsere menschliche Gestalt zurückbekommen, leuchtet mir ein, aber warum habe ich keine Hasenzähne mehr? Die hatte ich unten auf der Erde schließlich auch.“
„Nun, ich dachte, vielleicht freut es Dich ohne diese Bürde auf die Erde zurückzukehren! Oder vermisst Du sie sosehr, sodass Du sie wieder möchtest?“
Lächelnd verneinte ich und vor dem Zimmer der Mutter Oberin angekommen, klopfte er.
Zachathrustra bat uns herein und beglückwünschte uns zu unserem guten Aussehen. Aber vor allem mich.
Dann reichte sie mir ein schwarzes Gewand und sagte:
„Miss Parker, Sie werden als Nonne verkleidet auf die Erde gehen, Paton in seinem Priester-gewand!“
Ich starrte erst sie und dann die Tracht an.
„Das werde ich nicht tun. In dem Ding sehe ich aus wie ein Clown!“
Ich erntete einen strengen Blick von der Mutter.
„Das Ding ist eine Habit und sie werden so auf die Erde gehen!“
Ich wusste, dass sie keine Diskussion führen würde und nickte maulig.
Sie forderte uns zum Sitzen auf und fuhr fort:
„Den Mann, den ihr retten sollt, heißt John Ridley und er hat sich im schottischen Hochland verlaufen. Er war auf dem Rückweg von seiner Mutter nach London, als er sich während ei-nes Gewitters verlief.
Ihr werdet euch als englische Nonne und Priester ausgeben, die ein schottisches Kloster be-sucht haben und sich nun auf den Rückweg nach London in ihr Konvent sind.
Sie sind Schwester Lilith“, wandte sie sich an mich, „und Du bist Pater Vampire, informierte sie Paton.
“Also keine große Umstellung. Ihr werdet ein Maultier bekommen, mit Proviant für drei Leu-te. Und natürlich auch noch praktische Sachen, wie Messer, Dolche…
ihr geht sofort!“ Schloss sie ihre Einweisung.
Sie umarmte uns zum Abschied.
Wir gingen Durch das Foyer, zur Pforte hinaus ins gleißend helle Licht.


Kapitel 20
Kornelia

Ich fühlte ein Kribbeln in meinem Bauch und es schien, als ob der Boden unter mir weg brechen würde. Ich versuchte die Augen offen zu halten, aber das Schwindelgefühl kam so schnell, dass ich sie einfach schlie-ßen musste.
Nach einer Ewigkeit, so kam es mir vor, tippte mich jemand an. Es war Paton, er hatte ein Maultier an ei-nem Strick. Ich sah mir meine Umgebung genauer an.
Ich erkannte, dass wir uns im schottischen Hochland befanden. Der Himmel war grau und die Berge wirk-ten bedrohlich. Ein kalter, beißender Wind ging.
„Komm, bevor es zu regnen anfängt.“, sagte Paton und wir setzten uns in Bewegung.
Wir waren ungefähr eine halbe Stunde gegangen, als die Wolkendecke aufriss und die Sonne hindurchblitz-te. Geblendet, drehte ich meinen Kopf nach rechts, wo Paton neben mir ging und ein Sonnenstrahl direkt auf seine Brust fiel.
Es blitzte auf und als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass er eine Kette trug, an der ein Ring hing.
Ich fragte ihn danach und er erzählte mir, seufzend meiner Neugierigkeit nachgebend, mehr von seiner Vergangenheit.
„Der Ring hatte einem Mädchen gehört. Sie schenkte ihn mir vor meinem unfreiwilligen Aufenthalt in der Armee.“
„Wie hieß sie?“, unterbrach ich ihn unhöflich.
Er sah mich verärgert an und sagte:
“Sie hieß Kornelia Sobieski. Ihr Vater war damals Tuchhändler in Limerick. Davor lebten sie in Warschau. Eine großbürgerliche Familie aus Polen.“ Er starrte nachdenklich vor sich hin und ich konnte meiner Neu-gier mal wieder keinen Einhalt gebieten.
„Habt ihr euch geliebt?“ Es war offensichtlich, aber ich konnte mir beim besten Willen keine Frau an Pa-tons Seite vorstellen. Andererseits, hätte ich mir nie träumen lassen, dass er ein Priester war.
"Ach das war die herausgerissenen Seit in Deinem Lebensprotokoll!", stellte ich fest.
Als ich damals das Lebensprotokoll von Paton gelesen hatte, war mir aufgefallen, dass eine Seite herausge-rissen worden war.
„Ja. Zu der Zeit war ich noch kein Priester. Es sprach eigentlich nur eines gegen unsere Beziehung...“
„Und was wäre das?“
„Wenn Du mich ausreden lassen würdest, dann wüsstest Du das schon. Einem so neugierigem Wesen bin ich noch nie begegnet.“, fauchte er.
Ich sah ihn düster an und wir schwiegen. Nach einer Weile fragte ich:
„Erzählst Du mir weiter?“ Er nickte. Dann schien er zu überlegen, wo erstehen geblieben war.
„Du wolltest mir erzählen, was gegen eure Beziehung sprach.“
Er schien sich zu erinnern und fuhr mit seiner Geschichte fort.
„Sie war einem anderen Mann versprochen.“ Ich sah ihn ungläubig an. Es war zwar schon schwer vorstell-bar, dass Paton überhaupt etwas mit Mädchen zu tun hatte, aber auch noch mit vergebenen Mädchen- das war jenseits allen Erdenklichen.
Aber er ignorierte meinen Blick und erzählte weiter:
„Ihr Vater hätte mich wahrscheinlich aufhängen lassen, wenn er das erfahren hätte.“
„Wie alt war sie?“ Ein zorniger Ausdruck lag jetzt auf seinem Gesicht.
„In Ordnung! Ich werde Dich nicht mehr unterbrechen, versprochen.“, sagte ich schnell.
„Sie war siebzehn und ich dreiundzwanzig. Hätte ich die nötigen Mittel dazu gehabt, hätte ich sie geheira-tet. Nein!“, sagte er, als ich den Mund öffnete, um ihm wieder dazwischen zu reden. Betreten sah ich zu Boden.
„Ich hatte einen reichen Onkel in London, der uns finanziell unterstützt hätte. Aber seine Bedingung war, dass ich erst meinen Dienst in der Armee ableiste.“ Er schwieg wieder und ich nutze die Gelegenheit, um ihn wieder mit Fragen auszuquetschen.
„Ich dachte Deine Familie wäre, nun ja, nicht gerade arm gewesen.“
Er sah mich verwirrt an und antwortete mit einem knappen „nein“.
„Wieso hattest Du dann kein Geld?“
„Weil das Geld meinen Eltern gehört hat.“
„Und die hätten Dich nicht unterstützt?“
„Nein“, antwortete er traurig, “sie hatten nicht viel übrig für Ausländer.“, er verzog spöttisch den Mund.
„Hast Du denn damals nicht Dein eigenes Geld verdient?“ Paton hatte Recht. Ich war einfach zu neugierig.
„Doch. Aber meine Geschwister und ich mussten den Haushalt bezahlen, da mein Vater den größten Teil im Krieg war und kaum Geld geschickt hat.
Ich dachte darüber nach. Doch dann wurde ich stutzig.
„Als was hast Du gearbeitet?“ Paton hatte noch nie ein Wort darüber verloren. Ich betrachtete ihn und hätte ihn mir als Schmied vorstellen können.“
„Ich war Arzt in Limerick.“
Das leuchtete mir ein. Er hatte erzählt, dass er Medizin studiert hatte.
„Zurück zur Geschichte“, begann er wieder, “nun ja. Das Schicksal meinte es nicht gut mit uns. Ich wurde zu früh in die Armee eingezogen. Aber ich war schon als kleiner Junge kein Mensch des Krieges. Es war furchtbar. Nur Tod, Verwesung und Gestank nach Blut. Den meisten Soldaten konnte ich nicht mehr hel-fen. Und jenen, den ich hätte helfen können, konnte ich auch nicht helfen, da Medizin und steriles Ver-bandszeug gefehlt hat. Selbst in unserem Zeitalter wusste man, dass vor Dreck starrenden Lappen kein passendes Verbandsmaterial ist. Also machte ich mich aus dem Staub.
Ich floh in ein Kloster. Nach zehn Monaten Aufenthalt dort erfuhr ich, dass nun in Schottland gemetzelt wurde. Also konnte ich ohne Angst, von meinem Vater gevierteilt zu werden, nach Hause. Ein Leben lang habe ich diese Entscheidung bereut."
"Warum?" Wieder ein vernichtender Seitenblick. Aber er fuhr fort:
"Meine Schwester wusste von meiner Kornelia. Sie hat mir erzählt, dass Kornelia ein Kind bekommen hatte. Kornelia wollte nicht sagen, von wem es war. Deswegen hat ihr Vater sie wegen Hurerei aufhängen lassen. Das Kind hatte Kornelias Mutter retten können und zu Verwandten gebracht. Sie wusste, dass ich der Vater von ihrer Enkelin Viktoria war. Kornelia hatte sich ihr anvertraut.
Sie war so verzweifelt, dass sie ihre Tochter nicht hatte retten können, dass sie sich später das Leben nahm. Sie erstach sich.
Ich ließ meine Tochter dort, wo sie war. Es ging der Kleinen dort prächtig. Leider war ihr kein langes Le-ben vergönnt. Sie starb mit vier Jahren an den Pocken. Ich war bei ihr.
Kurz nachdem ich diesen Schock verkraftet hatte, kam der nächste: mein Vater war im Krieg verletzt wor-den und kam nach Hause. Ich musste also wieder weg. Ich floh wieder ins Kloster.
Dort habe ich dann beschlossen Priester zu werden.
Ich habe seitdem jeden Tag für Kornelia und Viktoria gebetet. Sie sind im Garten Eden. Und jeden Tag, an dem ich das nicht wusste, und das waren immerhin 100 Jahre, habe ich mir schwere Vorwürfe gemacht!"
Ich schluckte hastig meine Tränen hinunter. Ich hätte auch gerne ein so romantisches Leben geführt.

Kapitel 21
Chicolo

5. Juli 1908
John Ridley war von jeher ein neugieriger Mensch gewesen, doch in seiner Tätigkeit als Ad-vokat war diese Eigenschaft noch ausgeprägter worden. Das war ihm zum Verhängnis gewor-den. Der Teufel hatte es anscheinend nicht gerne, wenn man ihm auf die Schliche kam. Nun hatte der Höllenfürst eine seiner Teufelinnen geschickt: Gundula.
Die Teufelinnen konnten von Lebenden nicht gesehen werden. Wir waren ja keine Lebenden, nur sozusagen vom Tod beurlaubt. Gundula sollte John Ridley töten und es wie einen Unfall aussehen lassen. Doch bisher war ihr das nicht gelungen.
Sie hatte sich als Hausangestellte in seiner Kanzlei ausgegeben und ihm Gift in den Tee ge-mischt, doch er hatte ihn verschüttet. Dann hatte sie die Wagenräder manipuliert, doch es hat-te – typisch englisch – so heftig zu regnen angefangen, dass er nicht gefahren war. Daraufhin hatte sie versucht, ihn in die Irre zu führen, indem sie sich sichtbar für ihn machte und Ridley den Kopf verdrehte. Sie hatte John, zu einem angeblichen Picknick, zwei Meilen von London entfernt, ins Moor gelockt, wo er verhungern sollte. Doch einige Torfstecher hatten ihn ge-funden und ihn gerettet.
Gundula, die Teufelin, war so wütend gewesen. Sie hatte ihm, als letzten ihrer Pläne, Briefe geschrieben, die angeblich von seiner Mutter stammten, in denen stand, sie läge im Sterben.
Er war also zu ihr ins schottische Hochland gereist. Als er festgestellt hatte, dass sie quickfi-del war, hatte er sich auf die Rückreise gemacht.
Doch auf dieser hatte ihn die Teufelin erneut in die Irre geführt. Er hatte sich verlaufen. Und da kommen wir ins Spiel!", schloss er seine Rede.
"Wo finden wir Mr. Ridley?"
Als ob er meine Frage gehört hatte, kam ein Mann auf einem Pferd um die Biegung und stell-te sich als John Ridley vor.
"Sei gegrüßt mein Sohn. Was führt Sie in diese Gegend?"
"Helft mir bitte Pater. Ich habe mich schrecklich verlaufen und finde den rechten Weg nicht mehr. Ich muss nach London."
"Oh, das müssen wir auch!", entgegnete Paton mit gespieltem Erstaunen, "es wäre eine Ehre, wenn Sie uns begleiten würden. Aber wo bleiben meine Manieren? Ich darf Ihnen meine Weggefährtin Schwester Lilith vorstellen."
Wir begrüßten uns, indem er sich galant verbeugte und ich einen ordentlichen Knicks machte. Paton fuhr fort: "Wir kommen gerade von unserem Schwesterorden im Hochland. Wir haben die dortige Mutter Oberin besucht, die Schwester unserer Mutter Oberin. Darf ich fragen, woher Sie kommen?"
"Ich habe meine Mutter besucht. Und dann habe ich mich mysteriöser Weise hier verlaufen, obwohl ich hier aufgewachsen bin." Er runzelte die Stirn. "Es kommt mir vor, als läge derzeit ein Fluch auf mir." Ich versuchte nicht zu lächeln, sondern ernst zu bleiben.
Wir machten uns auf den Weg. Dabei erfuhren wir so allerhand: er war 30 Jahre alt. Wie wir schon wussten Advokat in der Londoner Kanzlei Wellows. Er hatte eine Schwester namens Anita, die alleinstehend war und 12 Jahre älter als er.
Er war in Fort William aufgewachsen und hatte mit 18 Jahren die Kanzlei seines Onkels Rod-ney Wellows übernommen.
Sein Vater war ebenfalls Advokat gewesen und seine Mutter eine spanische Adlige: Ana de Gaso. So sah er auch aus. Er hatte schwarze Locken, die ordentlich gestutzt waren und nach der neuesten Mode geschnitten. Einen kurzen schwarzen Bart und braune Augen, aus denen im Laufe des Wegs die Panik gewichen war und einem abenteuerlichen Glanz, der mich über-raschte, Platz gemacht hatte. Außerdem hatte er einen olivenen Teint und war genauso groß wie ich, was Paton nicht zu gefallen schien, da er zu uns aufblicken musste. ER war auch noch gut gebaut, sodass es mich wunderte, als ich hörte, dass er allein stehend war. Zusätzlich hatte er ein verführerisches Grinsen und eine samtene Stimme. Wir unterhielten uns den gan-zen Weg über. Doch nach einiger Zeit fiel mir auf, dass er mir immer wieder Seitenblicke zuwarf, die mir nicht ganz anständig vorkamen. Als ich das bemerkte, überlegte ich mir, wie man nur so einfältig sein konnte, sich in eine Nonne zu verknallen.
Jetzt war ich froh, diese Tracht zu tragen.
Es wurde allmählich dämmrig und wir beschlossen in den nächsten Gasthof einzukehren.
Nach einiger Zeit kam tatsächlich ein Gasthaus in Sicht. Sie hieß "Zum grünen Pfeil".
Wir kehrten ein und mieteten Zimmer. Es waren nur noch zwei Zimmer frei und ich sah, wie Johns Augen zu blitzten begannen.
Doch Paton, mein Retter, meinte: "Ich denke Schwester Lilith möchte alleine sein, da sie be-stimmt ihre Psalme in Zwiesprache mit dem Herrn beten möchte."
Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu und nickte zustimmend.
Ridleys Glimmen in den Augen verlosch und seine Miene zeigte Enttäuschung.
Wir aßen zu Abend. Es gab Gerstenbrei und gedörrtes Rinderfleisch. Es war ungewohnt wie-der menschliche Nahrung zu essen, obwohl es schmeckte, dennoch anders.
Der Gerstenbrei schmeckte fad und das Rindfleisch hatte einen metallenen Geschmack.
Als wir nach oben gingen, Paton und ich, meinte er neckend: "Was Beatrice für mich ist, ist John nun wohl für dich."
Ich streckte ihm die Zunge heraus und ging müde in seine Kammer. Ich wusch mich und klei-dete mich für die Nacht an.
Wir hatten das Maultier vor dem Abendessen abgesattelt und unsere Bündel, in denen wir Wäsche und Waschzeug aufbewahrten, in die Kammern gebracht.
Ich lag nun in meinem Bett, nachdem ich tatsächlich gebetet hatte. Ich dachte an das Buch, das ich in Patons Bibliothek gefunden hatte. Dort wurde erklärt, warum Menschen an Vampi-re, wie ich einer war, glaubten. Einst hatte ein Bewohner des Zwischengeschoss es geschafft sich daraus zu schleichen. Sein Name war Dracula. Zu der Zeit konnten die Lebenden uns noch sehen. Er zog sich nach Transsilvanien zurück. ER konnte nichts tun. Dracula hatte sich mit Satan verbündet. Doch Dracula brauchte Blut. Also schlachtete er die Menschen in seiner Umgebung ab.
Das wäre wohl ewig so weitergegangen, denn man konnte Dracula nicht umbringen, wenn nicht ein Mädchen gewesen wäre: zwar konnte man Dracula nicht erstechen, erschießen oder ersticken, doch enthaupten. Denn unsere Körperteile fügten sich nicht wieder zusammen. Was ab war, war ab. Und so enthauptete das Mädchen – Maira ihn und verbrannte seinen Leib. Als er zu Gott auffuhr, verbannte ER Dracula ins Nicht. Maira schenkte er lebenslanges Glück und als sie nach einem langen, erfüllten Leben starb, bekam sie direkt einen Platz im Garten Eden.
Gott aber verfügte, dass jeder Untote, auch wenn er sich unerlaubt auf die Erde stahl, wieder menschlich wurde und unsichtbar blieb.
Ich drehte mich um und fühlte meine warme Haut, meinen Herzschlag und wie sich meine Lunge mit Luft füllte. Glücklich wie lange nicht mehr, schlief ich ein.


Kapitel 22
Schwefelgeruch

6. Juli 1908
Ich träumte, dass ich an meinem Herd in Pedgewick stand, am Anfang meiner Ehe. Doch plötzlich wurde das Feuer größer, immer heißer und Rauch quoll aus dem Ofen hervor.

Plötzlich ertönte eine Stimme.
"Schwester Lilith! Es brennt. Kommen Sie!"
Ich schreckte hoch und blickte John Ridley an. Ich sprang aus meinem Bett und sah, dass meine Kammer voll Rauch war. Es knisterte über mir und als ich hochsah, erblickte ich ein ungewöhnlich helles Licht. Ich schnappte mir mein Bündel, wo ich meine Tracht und mein Waschzeug verschnürt hatte. Ich bemerkte, dass John mich anstarrte und hielt mir das Bündel vor den Leib. Aber es half nicht sonderlich viel. Ich packte Ridleys Arm und wir rannten hin-aus. Paton war schon nach draußen geeilt. Wir trafen ihn vor dem Stall, aus dem er das Maul-tier geholt hatte. Er hatte seine Priesterkutte an und John war ebenfalls mit seinem Reiseum-hang bekleidet. Als mir das bewusst wurde, dass ich noch im Nachthemd hier draußen stand, zog ich schnell meine Tracht über.
Als ich zum Wirtshaus hinüber sah, sah ich sie über dem Dach schweben. Der Wind blies ihr ins Gesicht, sodass die pechschwarzen, bodenlangen Haare wie ein Umhang um sie wehten. Sie trug nichts und die Haare bedeckten ihre Blöße kläglich. Ihre Haut war wachsweiß, als könnte man durch sie hindurchschauen. Doch es waren ihre Augen, die mich bannten! Der Augapfel war nicht weiß, sondern schwarz und ihre Iris rot, ohne erkennbare Pupille. Die Au-gen wurden von einem roten Wimpernkranz umgeben. Sie hatte eine Adlernase und schwarze Lippen.
Sie sah mich unverwandt an.
Gundula hob ihre Hand wie zum Gruß und ich sah fünf schwarze Krallen. Jetzt zeigte sie mit einer von diesen auf mich und zischte mit einer Stimme, die so kalt war wie Eis.
"Pass auf Lilith! Dein Mann folgt dir und wird dich in die Hölle, zu seiner Majestät, dem Höl-lenfürst, bringen!"
Dann zischte es laut und mir schlug ein unangenehmer Schwefelgeruch entgegen. Ich blieb fröstelnd und verwirrt zurück.


Kapitel 23
Whiskey am Morgen macht Kummer und Sorgen

Keiner, außer mir, schien ihre Worte vernommen zu haben.
Die Männer waren immer noch emsig damit beschäftigt den Brand zu löschen. Die Frauen und Kinder hielten sich im Hintergrund auf und hielten ihr gerettetes Hab und Gut zusammen. Endlich war der Brand gelöscht und Paton und John kamen rußverschmiert auf mich zu. Wir beschlossen, nach einer kurzen Rast, weiter nach Perth zu wandern, um von dort mit der Ei-senbahn nach London zu fahren. In Fort William oder Oban gab es keine Zugverbindung. Es waren 30 Meilen, wenn wir in einer Stunde fünf Meilen schafften, waren wir in knapp drei Stunden dort, also um acht Uhr morgens. Unser Zug ging um zehn Uhr, also genug Zeit um zu baden und zu frühstücken.
Wir machten uns schweigend auf den Weg. Nach einiger Zeit kamen wir an ein kleines Flüss-chen, wo sich die Männer wuschen und ich die Wasservorräte auffüllte.
Ich konnte mit Paton nicht über das reden, was ich gesehen hatte, sonst würde John erfahren, wer wir wirklich waren.
Wir kamen gut voran, es waren nur zwei Rasten nötig und Punkt acht Uhr morgens standen wir vor den Toren Perths.
Wir mieteten Zimmer, damit wir uns schnell frisch machen und etwas essen konnten. Wir würden den Schlaf im Zug nachholen.
Es dauerte zwölf Stunden nach London.
Ich hielt es für besser, im Zug zu reden. Ich badete, froh den Reisestaub los zu werden, aß den typisch schottischen Haferbrei zu Frühstück und dann war es auch schon Zeit aufzubrechen.
Wir ließen uns in der zweiten Klasse nieder. Nach zwei Stunden, in der ich die Bibel, Paton einen Stadtplan und John die Zeitung gelesen hatte, war Ridley endlich eingeschlafen, sodass Paton und ich reden konnten.
„Hast du auch diese Teufelin auf dem Dach gesehen?“, fragte ich.
„Ja, ich habe gesehen, dass sie die Lippen bewegt hat, aber nicht verstanden, was sie sagte. Du vielleicht?“
„Ja. Sie meinte, ich solle aufpassen, Randall würde mir folgen und mich zum Teufel bringen!“
„Ah. Nun, das heißt, dass Randall entweder schon tot ist, oder noch stirbt. Und entweder kommt er dann auch ins Zwischengeschoss und dann in die Hölle, oder du kommst in die Höl-le und er ist bereits dort. Aber ich kann mir beides nicht vorstellen, wenn ER dich schon mit mir auf die Erde schickt. Außerdem, wenn ich an dieser Stelle angeben dürfte, ist noch nie einer meiner Schützlinge in die Hölle gekommen. Und du machst ganz sicher nicht den An-fang!“, schloss er lächelnd.
„Trotzdem macht es mich nachdenklich.“
„Wahrscheinlich soll es das auch. Vielleicht denkt sie jetzt, du hast Angst und wir hören auf Ridley zu beschützen.“
„Wie stellen wir es eigentlich an, dass sie verschwindet?“
"Oh, ganz einfach. Wir müssen ihr dieses Kreuz umhängen." Dabei zog er ein schwarzes Kreuz mit Rubinen besetzt hervor, "dann löst sie sich auf und muss in die Hölle zurück und kann nicht mehr auf die Erde. Das Problem ist nur, sie zu fangen und ihr das Kreuz umzuhän-gen. Denn sie kann den Ort schneller wechseln, als wir. Wenn wir nicht einen guten Plan ha-ben, dann kann es ewig dauern, bis wir das Weib haben."
"Ich verstehe. Nehmen wir an, wir hatten einen guten Plan und sie ist wieder in der Hölle –
A: wie kommen wir zurück und B: was machen wir mit John?"
"Zu A: genauso, wie wir hergekommen sind. Was B betrifft, sobald wir auch nur einen Fuß ins Kloster gesetzt haben, vergisst dein Schnuckel uns wieder, sowie alles, was Gundula mit ihm angestellt hat oder noch wird!"
"Schade!", seufzte ich.
"Du wirst dich doch nicht etwa in Ridley verliebt haben, oder Lilith?"
"Nun ja, er sieht schon gut aus und reich ist er auch. Außerdem scheint er sehr nett und aufge-schlossen zu sein."
"Hast du schon bemerkt, wie der Kerl dich ansieht? Als würde er dich ausziehen mit seinen Blicken."
"Jetzt übertreibst du. Zugegeben: die Blicke sind nicht gerade schüchtern, aber einen Trost habe ich ja!"
"Welchen?"
"Sobald wir wieder im Zwischengeschoss sind, kann dich dein Schätzchen wieder beglü-cken."
Seine Miene verdüsterte sich. In letzter Zeit hatte sich Beatrices anfängliche harmlose Schwärmereien zu einem regelrechten Wahn gesteigert. Sie hatte ihm schon vor dem Bade-zimmer der Männer aufgelauert.
"Ich muss mir unbedingt was gegen deine furchtbare Cousine ausdenken. Vielleicht verkup-pele ich sie mit einem der Schüler."
"Das kannst du doch keinem antun! Wer weiß? Möglicherweise ist es eine Prüfung die ER dir auferlegt hat!"
"Dann sollte er mich allmählich genug getestet haben."
"Das stimmt. Du hat zuminderst bewiesen, dass du ein Meister in "Ausreden erfinden" bist."
"Tja, gelernt ist gelernt!"
Wir mussten beide lachen. Davon wachte John allerdings auf und wir konnten uns nicht wei-ter unterhalten. Gegen Mittag verspürte Paton Hunger, deswegen ließ er John und mich zu-rück. Mir hatte die Sache mit Gundula auf den Magen geschlagen und John wollte offensicht-lich die Chance nutzen, um ein ungestörtes Gespräch zu führen, was sich allerdings als Kreuzverhör erwies.
Er fing an: "Sind Sie schon lange Nonne Schwester Lilith?"
"Seit ich siebzehn bin, also schon neun Jahre."
"Warum haben Sie schon so früh beschlossen Nonne zu werden? Sie sind eine Schönheit, wenn Sie mir das Urteil erlauben. Ihrem Vater ist es doch bestimmt nicht schwer gefallen Sie zu verheiraten."
Ich war auf so ein Gespräch nicht gefasst gewesen, also gemühte ich mich so schnell zu lü-gen, wie ich konnte.
"Es war eine göttliche Bestimmung. Der Ruf ereilte mich schon sehr früh. Ich will mein Le-ben ausschließlich Gott widmen."
Gott, was für ein Stuss!
Einen Moment überlegte ich, ob ich ihm von Randall erzählen sollte. Doch ich beschloss, dass es niemanden etwas anging, außerdem könnte er ihn kennen und wenn es herauskam, dass ich einst Mrs. Oliver gewesen war, würde es ein Desaster geben. Nein, es war zu riskant! Später würde sich meine Verschwiegenheit als sehr klug erweisen.
"Also sind Sie noch jungfräulich?"
Ich erstarrt und kam langsam zu dem Entschluss, dass wir ihn Gundula hätten überlassen sol-len. Der Whisky zum Frühstück war ihm offensichtlich nicht bekommen.
"Was geht Sie das an?"
"Oh, reine Neugier!"
"Mr. Ridley! Sie werden unverschämt."
"Ach meine liebe Lilith, wollen wir uns nicht duzen? Schließlich habe ich dich schon im Hemd gesehen!"
"Ich bin nicht Ihre "liebe" und nein, wir wollen uns nicht duzen. Ich werde jetzt zu Pater Vampire stoßen!"
"Sie wollen mich verlassen?"
Er kam mir unangenehm nahe und legte seine linke Hand auf meinen Oberschenkel.
"Ich muss doch sehr bitten! Nehmen Sie Ihre Hand von mir, Sie ekelhafter Kerl."
Doch er tat nichts dergleichen. Er kam mir noch ein Stückchen näher. Ich spürte seine rechte Hand auf meiner Wange und sein Atem, der nach Whisky roch. Er sah mich mit brennendem Verlangen in den Augen an. Bevor ich irgendetwas tun konnte, lagen seine Lippen auf mei-nen.
Ich war wie gelähmt. Doch dann hörte ich Schritte, hoffte, es möge Paton sein und fing an zu strampeln. Er hielt mich nun fest und ich biss ihm in die Lippe. Ich schmeckte den salzigen und zugleich metallenen Geschmack des Blutes und meine vampirische Seite regte sich.
"Au, sind Sie verrückt?", begann er, doch auf das Räuspern Patons hin, drehte er sich um.
Patons Augen blitzten zornig und er schien den ganzen Raum einzunehmen.
"Was glauben Sie, tun Sie da? Schwester Lilith hat ein Keuschheitsgelübde abgelegt und wird es ganz sicher nicht brechen."
Auf seinen Blick hin nickte ich.
"Wir helfen Ihnen, weil Sie zu hirnlos sind, auf dem richtigen Weg zu bleiben und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als sich an einer Nonne zu vergreifen? Ich werde mit Gott sprechen und die Hölle für Sie fordern!"
Verwirrt blinzelte Ridley und der Pater besann sich.
"Äh, ich meine, ich habe schließlich die besseren Beziehungen. Und jetzt verlassen Sie das Abteil und denken Sie nicht daran, Schwester Lilith auch nur anzusehen, geschweige denn anzusprechen."
Die restliche Fahrt verbrachten wir damit, dass Paton mir die Beichte abnahm und ich schließ-lich den Rest der Reise verschlief.
Nach zwei Stunden weckte mich die Stimme des Schaffners, die rief:
"Nächste Station: London!"
Es war Zeit auszusteigen.


Kapitel 24
Bleikugel

Wir stiegen aus und ich erkannte mein London wieder: die Leute huschten hastig davon, alle hatten es sichtlich eilig. Kinder hingen an den Röcken ihrer Mütter und betrachteten alles mit großen, neugierigen Augen. Die Frauen wurden von ihrem Personal begleitet, das die schweren Koffer schleppte. Die Herren wurden von ihrer Familie begleitet.
Ich stand fasziniert am Bahnhof und betrachtete das Geschehen mit einem Gefühl, das ich schon lange nicht mehr empfunden hatte. Es war ein kleines, warmes Feuer in meinem Bauch. Doch zugleich war noch etwas anderes in mir, ein Gefühl, dass ich bis jetzt noch nicht gekannt hatte. Es war ebenfalls in meiner Magengrube stationiert und saß dort wie eine Bleikugel, die aber kein unangenehmes Gewicht besaß, mehr so wie ein Gepäckstück, von dem man nicht weiß, was darin aufbewahrt wird und man will es aber unbe-dingt wissen.
„Lilith, können wir gehen oder soll ich Dich nächste Woche wieder hier abholen?“, fragte eine belustigte Stimme neben mir.
Ich wandte mich Paton zu, der breit grinsend rechts von mir stand.
„Nur, wenn ich Lokomotive fahren darf!“, entgegnete ich und gutgelaunt gingen wir voran.

„Wo werden wir eigentlich wohnen?“, meinte ich nach einiger Zeit.
„In einem Konvent natürlich!“, antwortete er, als sei es die größte Selbstverständlichkeit der Welt.
„Aber wir können sich nicht einfach in irgendein Konvent marschieren und dort wohnen.“
Wir marschieren auch nicht in irgendein Konvent, sondern in das Konvent der heiligen St. Anne.“
Als ich schon wieder den Mund auftat, um eine Frage zu stellen, seufzte er entnervt und kam mir zuvor, indem er meinte:
„Ich habe Dir doch schon einmal erzählt, dass hier regelmäßig Engel runterkommen, um Sachen zu besor-gen und Informationen zu beschaffen. Und auch in London gibt es solche, verstanden?“
Ich nickte und er fuhr fort:
„Aber die Engel sind nicht nur Händler, sondern auch Berater des Königs, normale Bürger und Geistliche sind hier als Menschen hergeschickt worden. Und einmal im Monat kommen die Engel, die als Boten fun-gieren runter und holen diese Informationen oder Sachen. Aber natürlich überbringen diese Engel auch Aufträge, welche die lebenden Engel zu erledigen haben.“
„Und wie kann man so ein Engel werden?“
„Nun, Du musst Dich sehr vorbildlich verhalten. Zuerst werden Dir kleine Botengänge innerhalb Garten Edens anvertraut. Wenn Du Dich darin bewährst, dann kann es sein, dass Du mit Nachrichten auf die Erde geschickt wirst. Falls Du dann auch Deine Sache gut machst, kann es sein, dass Du fest auf die Erde statio-niert wirst. Aber natürlich nicht ewig, es würde auffallen, wenn ein Engel hunderte Jahre vor sich hin lebt, ohne zu altern. Deswegen werden alle möglichen Tricks angewandt: man malt sich Altersflecken und Fal-ten, ergraut sich
die Haare und alle 50-70 Jahre wird getauscht. Aber leider kann man nur ein lebender Engel werden, wenn man von Anfang an in Garten Eden war.“
Meine Miene verdüsterte sich. Dennoch fragte ich:
„Aber wenn sie zum Beispiel ein bürgerliches Ehepaar sind, fälle es da nicht auf, wenn sie keine Kinder bekommen?“
Er schmunzelte und sagte:
„Engel unterscheiden sich nicht von Menschen, außer dass sie tot sind, nicht altern und natürlich nicht ver-letzt werden können. Genauso können die Leute in der Hölle und im Zwischengeschoss Kinder bekommen.
Deswegen werden meist Ehepaare oder Liebespaare auf die Erde geschickt.“
Nach ungefähr einer halben Stunde kam St. Anne in Sicht.


Kapitel 25
Die Waffen einer Frau

23. März 1908
Die Tore öffneten sich und wir traten ein. Der Pförtner hatte uns wohl erwartet, denn mit einem Wink be-deutetet er uns das Maultier stehen zu lassen und ihm zu folgen. Er führte uns in eine große Bibliothek. Der Raum war bestimmt drei Meter hoch und so weit reichten auch die Regale. Die Regale standen links und rechts, sodass ein schmaler Weg zum Durchgehen gebildet wurde. Ich zählte zwanzig Regale. Am Ende des Zimmers standen eine gemütlich aussehende Couch, acht Sessel und ein großer Schreibtisch. Dahinter war ein Kamin, in dem ein Feuer brannte.
Plötzlich trat eine Frau aus dem Labyrinth der Bücherregale hervor und kam auf uns zu.
„Paton, schön Sie wieder zusehen, dass muss doch mindestens schon dreißig Jahre her sein!“
„Ja.1878 war ich das letzte Mal hier, also genau dreißig Jahre. Ich freue mich auch Sie zu sehen, Amalia.“, entgegnete Paton lächelnd.
Nun wandte sich die Frau mir zu.
„Sie sind bestimmt Lilith. Ich bin die Mutter Oberin hier, Zachathrustra hat geschrieben, dass Sie ein liebes Mädchen wären, das einen überaus starken Willen hat und sehr aufgeschlossen ist.“
Paton lachte und meinte:
„Zachathrustra ist eine Optimistin. Lieb ist Lilith nur dann, wenn sie will. Mit willensstark ist stur gemeint und aufgeschlossen bedeutet neugierig.“
Ich bedachte ihn mit einem vernichtenden Seitenblick und die Mutter Oberin lachte.
„Ich bilde mir eine eigene Meinung. Übrigens, hier sind über 4.800 Bücher. Wenn Sie möchten, dann kön-nen Sie sich gerne eines nehmen Lilith.“
Damit zog sie mich fort und zeigte mir die unterschiedlichsten Bücher: über Religionen, Sagen, Märchen, alte Bräuche, bis hin zu Kochbüchern. Ich war sprachlos!
***
Nachdem Bloody-Bunny beschäftigt war, beschloss ich, in unser Quartier zu gehen und zu schlafen.
Ich hatte seit unserem Aufbruch aus dem Gasthaus nur knapp vier Stunden geschlafen und jetzt war ich todmüde.
Da wir uns relativ kurzfristig angekündigt hatten, mussten Bloody-Bunny und ich uns einen Raum teilen.
Die Kammer war spartanisch eingerichtet: ein Tisch, zwei Betten, ein Wachkrug, ein Schrank und ein Spiegel. Die Betten sahen bequem aus und ohne mich zu waschen oder umzuziehen fiel ich in ein Bett und schlief.
***
Ich ging mit fünf Büchern, die ich lesen wollte in unser Zimmer. Ein Mönch, namens Bonifazius, war so freundlich gewesen mich zu unserer Kammer zu geleiten.
Dort angekommen, stieß ich die Tür auf und hörte ein leises Schnarchen.
Ich erkannte auch, woher es kam: in der Ecke stand ein Bett und ich sah Paton, der schlief.
Ich legte die Bücher auf den Tisch und trat neugierig zu ihm. Ich hatte Paton noch nie schlafen gesehen und wollte dieses Versäumnis nachholen.
Er lag auf dem Rücken. Er war erst 31 Jahre alt, sah aber meist älter aus, da seine Stirn oft in Falten lag. Auch die langen Vampirzähne und die Blässe waren nicht zu seinem Vorteil.
Doch jetzt war sein Gesicht glatt, die Haut glänzte braun im Laternenlicht und sein Haar, das er nicht gelöst hatte, sah aus wie eine Kapuze. Er hatte die Arme gekreuzt und gab ein leises, rhythmisches Schnarchen von sich.
Er hatte es auch nicht mehr geschafft sich zu zudecken, also nahm ich die Decke und legte sie vorsichtig über ihn.
Dann nahm ich die Petroleumlaterne und setzte mich an den Tisch.
Ich schlug ein Buch über mystische Wesen auf und begann zu lesen.
***
23 März .1908
Ich erwachte und sah Bloody-Bunnys Rücken.
Lilith saß an dem Tisch und las anscheinend.
Ich räusperte mich und sie fuhr herum.
„Guten Morgen Paton! Ausgeschlafen?“
„Guten Morgen Bloody-Bunny. Ja, danke. Wie spät ist es?“
„Zehn Uhr morgens, die Morgenpredigt hast Du verpasst. Aber an der Abendpredigt um sechs Uhr kannst Du teilhaben.“, informierte sie mich.
Die stand auch und deutete auf ein Tablett, während sie fortfuhr:
„Natürlich hast Du auch das Frühstück verpasst, also hat die Mutter Oberin etwas bringen lassen, damit Du nicht verhungern musst.“
Sie räumte die Bücher beiseite und ich setzte mich an den Tisch.
Ich betrachtet Lilith fasziniert. Sie trug ihren Schleier nicht und hatte deshalb die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Genau wie Theresa, meine Schwägerin. Auch sie legte den Kopf leicht schief wie Theresa. Mit dieser Geste hatte sie Preston den Kopf verdreht.
Bei Lilith hatte es dieselbe verführerische Wirkung. Aber ich glaubte nicht, dass sie sich dieser Wirkung bewusst war.
Nachdem ich zu Ende gefrühstückt hatte, meinte ich
„Wir müssen uns mal überlegen, wie wir Gundula loswerden.“
„Oh, ich habe schon eine Taktik, wenn Du sie anhören möchtest?“
Ich war zwar überrascht, aber willigte ein.
„Also, ich verführe John Ridley noch ein bisschen. Ich sage, das im Zug war nur Tarnung, da Du manch-mal lauscht und das nut Theater war. Ich begehre ihn und will sogar aus dem Orden austreten.
Ich habe die ganze Nacht in diesen Büchern gelesen und habe auch ein paar interessante Stellen über Teu-felinnen gefunden.
Sie sind sehr ehrgeizig und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, dann machen sie das, egal wie viele Menschen sie zusätzlich umbringen müssen.“
„Ich wusste gar nicht, dass Beatrice auch eine Teufelin ist!“, unterbrach ich sie.
Sie lachte und fuhr fort
„So kann man sich täuschen. Auf jeden Fall wird Gundula mich als Störfaktor ansehen und mich umbrin-gen wollen. Aber ich habe das Kreuz in meiner Tasche und wenn sie in meine Nähe kommt, hänge ich ihr das Ding einfach um.“
„Ach, und ich soll einfach herum stehen und zu sehen?“
„Nein, natürlich nicht. Falls etwas schief gehr, befindest Du Dich im Hintergrund mit einem Rubin. Ich habe gelesen, dass man auch einen Rubin benutzen kann, um sie zu verbannen.“
Ich nickte, sie hatte Recht. Dennoch hatte ich einen Einwand:
„Aber wie soll ich den Rubin in ihre Nähe bringen? Er muss sie berühren.“
„Ja, ich weiß. Wir lassen den Rubin in ein Wurfmesser umarbeiten! Sobald Plan A nicht klappt, wirfst Du das Messer einfach nach ihr. Du kannst doch mit einem Wurfmesser umgehen?“, fragte sie unsicher.
„Natürlich! Gut, der Plan gefällt mir, aber wie willst Du John verführen? Du weißt doch nicht einmal, wo er wohnt.“
„Wo er wohnt weiß ich nicht, aber wo seine Kanzlei ist. Sein Onkel Rodney war seinerzeit der beste Freund meines Vaters und deswegen weiß ich, wo er seine Kanzlei hat. Außerdem wären Dir vorher fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Ich habe zwar nicht so oft geflirtet in meinem Leben, aber meine Freun-din Helen hat es mir gezeigt. Sie war sehr beliebt bei den Jungens. Sie hat so etwas Natürliches und Un-schuldiges an sich. Und wenn man das richtige Dekolteé hat, dann ist es so wie so nicht schwer, einen Mann zu verführen.“
Ich stimmte ihr zu und wir verbrachten den Tag damit sie Bibliothek zu Durchstöbern.


Kapitel 26
Gestatten: Mrs. John Ridley

1. April 1908
Ich war aufgeregt!
Paton hatte für mich ein Kleid gekauft, das nur mit einen Wort beschreibbar war: wundervoll.
Es war eines dieser Reformkleider.
Man trug darunter kein Korsett – diese Kleider waren schon vor meinem Tod in Mode gekommen, doch in so einem Nest wie Pedgewick, war so etwas nicht vorgedrungen.
Aber Magdalena hatte mir darüber berichtet.
Das Kleid war überlang, sodass es wie eine kleine Schleppe hinter mir her schliff. Es zeigte die weiblichen Konturen, wie Hüfte und Taille nicht an, doch der Busen wurde betont.
Es hatte weite Ärmel, so weit wie bei einem Kimono. Diese waren über und über bestickt mit Blumen und Vögeln.
Es war petrolblau und im Kerzenlicht schimmerte es. Ich hatte auch passend dazu petrolblaue Seidenschu-he, die ebenfalls bestickt waren. Einen petrolblauen Mantel und Handschuhe.
Außerdem hatte Paton weiße Perlenohrringe besorgt.
Die Haare hatte ich auf toupiert, aber nur zwei Zentimeter. Die restlichen Haare hatte ich geflochten und zu einem lockeren Knoten hochgesteckt.
Und ich hatte auch etwas Rouge und roten Lippenstift aufgetragen.
Ich beglückwünschte mich gerade zu meinem Meisterwerk, als Paton hereinkam. Er blieb stehen und be-trachtete mich, was mich allerdings nervös machte.
Er trat jetzt zu mir und zog eine passende Perlenkette zu den Ohrringen heraus.
„Die bringt Dir Glück, aber bei Deinem Aussehen fällt Ridley wahrscheinlich in Ohnmacht.“
Nun war ich beruhigt und strahlte Paton an.
„Danke. Das ist wirklich ein wunderschönes Kleid. Du hast einen guten Geschmack.“
„Ein bisschen zu gut! Es beruhigt mich, dass ich mitkomme. Ich möchte nicht wissen, was der sich aus-denkt.“
„Keine Sorge. Mit dem Schlafgas kann ich ihn außer Gefecht setzen.“
Ich hatte vor ihn mit Schlafgas zu betäuben, damit er nichts von Gundula, mir und Paton mitbekommen würde.

Gegen Mittag machten wir uns in einer Droschke auf zur Kanzlei.
Angekommen blieb ich einen Moment vor dem Gebäude stehen, ich hatte dieses Gemäuer schon tausend-mal gesehen.
Es war riesig.
Aus braunem Stein gebaut, mit vielen Figuren geschmückt und über dem Eingang stand die Justitia.
Unter dieser prangte in großen goldenen Lettern:

Rechtskanzlei Wellows a.a.d 1850

Ich ging hinein, hinauf zu Onkel Rodneys, wie ich Rodney Wellows genannt hatte, einstigen Büroräumen.
Ich fragte mich, warum ich John Ridley nie kennen gelernt hatte. Onkel Rodney hatte mich immer sehr gerne gemocht. John war nur vier Jahre älter und mein Vater verstand sich bestens mit Rodney – eigentlich verstand ich nicht, warum wir nicht verheiratet worden waren.
Aber das gehörte nicht hierher!
Ich atmete tief vor der Tür durch, auf der stand: John A. Ridley, Advokat.
Paton würde durch eine Seitentür herein schlüpfen und durch einen Seitenflügel, den kaum jemand benutz-te, in das Nebenzimmer gelangen. Dort würde er auf seinen Auftritt warten, der hoffentlich nicht nötig werden würde.

Ich klopfte und auf Johns „Herein“ trat ich ein.
Er starrte mich an und meinte:
„Ist Ihnen die Tracht davon gelaufen?“
„Nein. Nach diesem Fauxpas im Zug ist mir klar geworden, dass ich nicht mehr Nonne sein kann. Ich liebe Dich und ich habe es schon seit dem Moment unseres ersten Zusammentreffens getan. Ich werde aus dem Orden austreten, wenn Du mich willst. Der Pater sieht ein, dass er Unrecht getan hat und mir geholfen zu Dir zu gelangen.
Ich soll Dir auch gleich seine Entschuldigung überbringen.“
„Und der Biss auf die Lippe? Das war schmerzhaft!“
„Entschuldige bitte, Liebster. Der Pater hat die dumme Angewohnheit zu lauschen. Ich habe nur etwas Theater gespielt. Ich musste es ihm in Ruhe sagen, da er sehr unberechenbar ist. Wärest Du anwesend ge-wesen, hätte er Dich umgebracht!“

Und plötzlich sah ich sie. Sie stand auf dem Balkon und sah mich mir vor Wut lodernden Augen an.
Ich sagte so laut ich konnte:
„Wir müssen aber aus England gehen. Mein Onkel ist Rechtanwalt in Nazareth, dort können wir uns nie-derlassen.“
Ich sah ihren alarmierten Blick. Nazareth war eine heilige Stadt, die sie nicht betreten konnte, da Jesus Christus dort geboren worden war.
Er sah mich an.
„Lilith, ich möchte Dich zu meiner Frau nehmen und ich werde auch mit Dir nach Nazareth, Neapel, Kairo oder auch an das Ende der Welt gehen, wenn Du es verlangst!“
Ich küsste ihn und das war zu viel für Gundula.
Die Balkontür flog auf und ich spritzte John das Schlafgas in sein Gesicht.

Dann rief ich nach Paton. Sie hatte einen Dolch in der Hand. Ich packte das Kreuz und wollte es ihr um-hängen, doch sie krallte sich in meinem Arm und hielt mir den Dolch an die Kehle.
Ich stand nun vor ihr.
Paton war hereingestürmt, doch er konnte nun nicht mehr mit dem Messer werfen. Ich rang mit Gundula und sie schnitt mir dabei in den Arm.
Plötzlich ertönte Gepolter auf der Treppe und sie verschwand. Paton flüchtete in das Nebenzimmer und ich presste nur schnell ein Taschentuch auf die Wunde.
Es kam ein Mann herein, den ich nicht kannte, und er stellte sich vor:
„Ich bin Anthony Lucas, ein Kollege von Mr. Ridley. Ich hörte Geräusche und wollte nach dem Rechten sehen. Und Sie sind…?“
„Oh, wie töricht sich nicht vorzustellen! Ich bin die zukünftige Mrs. Ridley. Lilith Merrill.
Mr. Ridley ist plötzlich in Ohnmacht gefallen. Wir müssen irgendetwas tun.“
Zusammen hievten wir John auf ein kleines Sofa, wobei ich sorgsam darauf bedacht war, dass das Taschen-tuch nicht verrutschte.
Ich legte Ridleys Kopf auf meinen Schoß, während Anthony ihm Wein ein flösste. Langsam kam John wieder zu sich und fragte verwirrt
„Was ist passiert? Ich kann mich nicht erinnern!“
„Du bist in Ohnmacht gefallen. Vielleicht war die Luft nicht gut.“
„Nun, das wird es wohl gewesen sein, Liebste. Oh, Anthony! Haben Sie schon meine Verlobte Lilith ken-nen gelernt?“
„Ja. Ich hatte schon das Vergnügen.“, entgegnete er, „ich denke, ich gehe besser. Soll ich nach einem Arzt schicken?“
„Nein, danke Anthony. Ich glaube es geht wieder!“, meinte John.
Damit verabschiedete sich Anthony.
„Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber würdest Du mir vielleicht etwas über Dich erzählen?“
Und so erzählte ich ihm ein fein säuberlich ausgedachtes Märchen:
Dass ich Lady Lilith Merrill hieße, aus Dover stammte, 25 Jahre alt sei, meine Eltern leider schon verstor-ben seien– an Influenza. Dass ich keine Geschwister hätte, Verwandte hier in London und Nazareth und ein Erbe von 12 Millionen Pfund hätte.
Er hörte mir gespannt zu und nachdem ich geendet hatte, meinte er:
„Ich habe leider keinen Ring, aber in zwei Wochen findet in meiner Kanzlei ein Ball statt. Es würde mich freuen, wenn Du kämmst und wir dort unsere Verlobung bekannt geben würden.“
„Ich werde kommen und ich möchte unsere Verlobung nur allzu gerne auf dem Ball verkünden.“
Das würde mich vor gierigen Männerblicken schützen.
Nach einer weiteren Stunde verließ ich ihn.


Kapitel 27
Kratzbürste

Ich trat aus der Kanzlei raus und sah Paton, der wie verabredet, auf mich wartete.
„Kannst Du mir verraten, warum Du erst so spät in das Zimmer gekommen bist? Wenn Du etwas früher da gewesen wärest, hätte sie mich nicht aufschlitzen können!“
Dabei zog ich den Ärmel hoch und er sah das blutgetränkte Taschentuch. Als ich es weg zog, kamen zwei sehr tiefe und hässliche Schnitte zum Vorschein.
Er schaute erschrocken, dann schubste er mich in die Droschke, die er schon für uns bestellt hatte und fauchte seinerseits zurück:
„Du hast mich zu spät gerufen. Du hättest mich rufen sollen. als Du sie gesehen hast!“
„Dann hätte sie aber den Braten gerochen und dass wäre alles umsonst gewesen!“
„Ach, sei still. Du schaust aus, wie eine Leiche, Lilith.
Mir war tatsächlich schwindelig, da sich jetzt das Adrenalin verflüchtigte.
Wir fuhren in ein Krankenhaus. Natürlich waren solche praktischen Einrichtungen wohlbekannt im Garten Eden und im Zwischengeschoss, denn die lebenden Engel berichteten davon, die auch manchmal im Zwi-schengeschoss auftauchten.
Da seine Priesterkutte zu auffallend gewesen wäre, trug Paton typische Männerkleidung: eine schwarze Hose, ein weißes Hemd, schwarzen Wrack und einen Zylinder. Außerdem einen eleganten Gehstock.
Die Haare hatte er sich schneiden lassen und einen Schnauzer angeklebt. Er sah respektabel aus.
Ich wollte nicht mehr mit ihm reden, ich gab ihm eigentlich nicht die Schuld am Fehlschlagen unseres Plans, doch es war einfacher ihn anzuklagen, als mir ein zugestehen, was ich falsch gemacht hatte.
Er nahm meine Hand und sagte:
„Komm schon Lilith, wir wollen uns nicht streiten. Es war einfach Unglück, dass es nicht funktioniert hat. Wenn wir uns streiten, dann macht das die Situation auch nicht besser.“
Ich entzog ihm meine Hand. Ich wollte nicht reden, denn mir war übel und es begann sich alles zu drehen.
Doch bemühte mich nicht in Ohnmacht zu fallen.
Nach einer Ewigkeit, so schien es mir, hielt die Droschke an. Paton sprang auf, hielt mir die Tür auf und half mir auszusteigen.
Ich musste mich an der Kutsche festhalten, da meine Knie so weich wie Butter waren.
Aber wir schafften es in das Krankenhaus. Eine nette Empfangsdame wies uns den Weg und wir gingen zu einem gewissen Dr. Stone.
Dr. Stone war ein untersetzter Mann, jedoch sehr stämmig. Er hatte blondes, dünnes Haar und ein freundli-ches Gesicht mit braunen Schweinsäuglein.
Ich setzte mich auf einen Stuhl und schob den Ärmel hoch.
„Was haben Sie denn gemacht Madame?“
Ich hoffte Paton hatte sich eine plausible Erklärung ausgedacht, denn ich war momentan nicht im Stand zu
lügen.
Doch zu meinem Erstaunen sagte er die Wahrheit:
„Wir haben gegen eine Teufelin gekämpft und dabei wurde sie durch einen Dolch verwundet.“
Mein Erstaunen wurde noch größer, als Dr. Stone nur ein sachliches „Aha“ von sich gab.
Ich begriff wundersamerweise, dass er ein lebender Engel sein musste.
Dr. Stone betäubte mich, desinfizierte die Wunde und nähte sie.
Danach wurde ich auf ein Bett gelegt, auf dem ich mich etwas erholen konnte.
Nach einer halben Stunde fühlte ich mich wieder brauchbar und wir bedankten uns bei Dr. Stone, dann gingen wir. Paton stützte mich.
Wir stiegen in eine Droschke und fuhren in das Konvent zurück.
Dort angekommen erwarteten uns bereits die Mutter Oberin, einige Nonnen und Mönche.
„Ich habe mir Sorgen gemacht Paton. Wo wart ihr solange?“, fragte die Mutter Oberin und als die mich sah, fuhr sie fort: “Was mit Lilith? Sie ist schneeweiß.“
***
Der Plan hat nicht so funktioniert, wie er sollte und Lilith wurde verletzt.“, entgegnete ich.
„Was?“, die Mutter Oberin schrie fast, „hast Du sie in ein Krankenhaus gebracht?“
„Ja. Sie muss sich aber jetzt ausruhen!“
„Oh, natürlich. Schwester Geraldine, bitte bringen Sie Lilith in ihr Zimmer und helfen Sie ihr beim Um-kleiden. Ich lasse etwas Brühe bringen.“, befahl Amalia streng.
Lilith wurde unter die Fittiche von Schwester Geraldine genommen, einer netten und sehr kräftigen Nonne.
Ich folgte Amalia in die Bibliothek. Dort stand ein großes Tablett mir allerlei Köstlichkeiten. Ich merkte erst jetzt, wie hungrig ich war und aß gierig.
Sie sah mir geduldig zu und als ich fertig war fragte sie:
„Was willst Du jetzt machen Paton? Es ist zu gefährlich. Ihr seid nicht unverwundbar, wie wir lebenden Engel! Was willst Du machen, wenn es noch gefährlicher wird?“
„Ich weiß es nicht. Der Plan war wirklich gut, aber es stimmt, wir müssen gewiefter sein. Nicht auszuden-ken, wenn Lilith oder ich tödlich verwundet werden, wir können nicht alleine gegen Gundula kämpfen. Dann hat sie leichtes Spiel.“
„Dennoch müsst ihr die Teufelin verbannen. Wie wäre es, wenn Du die Messerklinge in eine Pfeilspitze umarbeiten lässt? Dann könntest Du aus größerer Distanz und schneller schießen.“
„Das ist eine gute Idee. Aber Lilith ist, denke ich, zu erschöpft. Sie braucht erst einmal etwas Ruhe.“
Von dem Streit erzählte ich ihr nichts.
„Das wird das Beste sein. Ich schlage vor, dass Du Dir jetzt auch etwas Ruhe gönnst. Es ist fast Mitternacht und Du hattest einen anstrengenden Tag.“
Damit entließ sie mich und ich ging zu unserem Quartier.
Ich sah Liliths weißes Nachthemd, das in der Dunkelheit strahlte. Ich trat zu ihr. Das Mondlicht fiel auf sie.
„Wie in einem Kitschroman!“, dachte ich belustigt.
Sie war immer noch sehr blass, aber sie sah entspannter aus.
Plötzlich schlug sie die Augen auf und ich erschrak.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Nichts, ich wollte nur sehen, wie es Dir geht.“
„Es würde mir besser gehen, wenn Du mich nicht beobachten würdest.“
„Entschuldige. Ich wollte nur fragen, was Du vorhast?“
„Erstmal gesund werden. Zehn Stiche sind nicht so leicht zu verkraften. Dann will ich alle aufsu-chen, die ich kannte und schauen wie es ihnen geht. Und danach will ich ins Zwischengeschoss zu-rück. Du musst Dir jemand anderen suchen, der Dir hilft. Ich bin dazu wohl nicht geeignet.“
„Das stimmt nicht! Du hast Dich bis jetzt großartig gemacht….“
„Ich habe gesagt, ich will zurück und Du sollst Dir jemand anderen suchen!“, fauchte sie.
„Schon gut!“, entgegnete ich, “ aber bitte friss mich nicht, Du Kratzbürste. Ich schlage vor, wir schlafen erst einmal eine Nacht drüber. Gute Nacht.“
Sie drehte sich weg und ich erhielt ein Brummen als Antwort.
Ich wusste, dass Bloody-Bunny nicht im Entferntesten daran dachte zurückzukehren. Dazu war sie viel zu ehrgeizig. Ich hatte ja mitbekommen, dass Ridley in zwei Wochen einen Ball gab und ich hätte meine Priesterweihe verwettet: sie wollte auf genau diesem Ball Gundula den Gar ausmachen.
Ich machte mich für die Nacht fertig, stieg ins Bett, betete und schlief schließlich ein.


Kapitel 28
Du sollst nicht eines Anderen Weib begehren

15. April 1908
Es waren zwei Wochen vergangen.
Ich hatte mir noch ein Kleid besorgt. Es war ebenfalls ein Reformkleid, sie gefielen mir einfach. Sie waren unverschämt bequem, da man darunter kein Korsett oder Unterröcke trug, sondern nur eine knielange Unterhose und ein Unterkleid.
Es war weiß und über und über mit Blumen, Vögeln und sogar Landschaften bestickt. Natürlich hatte ich passende Schuhe, Mantel und Handschuhe, die ich den ganzen Abend tragen wollte, um die verräterischen Narbe zu verbergen.
Paton hatte ich erzählt, ich würde zu meiner Schwester in der Victoria Street fahren.
Ich hatte dazu natürlich meine Nonnentracht anziehen müssen, doch ich hatte vor, mich zum Hinter-eingang fahren zu lassen, mich dort dieser zu entledigen und dann rund ums Gebäude zum Haupt-eingang zu fahren.
Es war halb sechs. Um sechs Uhr sollte der Ball anfangen.
John und ich hatten beschlossen, es wäre zu auffällig, wenn ich ständig, „heimlich“, aus dem Kon-vent verschwinden würde.
Also schrieben wir uns Briefe mit falschem Absender. Er gab sich als mein Bruder aus. Im Konvent stieß das auf große Belustigung. Aber er meinte ja, ich sei eine ganz „normale“, liebeskranke Nonne.
Ich hielt gerade ein solches Exemplar in der Hand, das heute Morgen ankommen war.
Einerseits hatte ich ein schlechtes Gewissen, da er anscheinend wirklich in mich verliebt war. Ande-rerseits würde er uns, Gott sei Dank, sowieso vergessen.
Es war ein schrecklich schnulziger Liebesbrief:

Mein geliebter Engel,
ich verzehre mich nach Dir, wie die Blume nach der Sonne in der Nacht. Ich bin nur noch nicht von der Sehnsucht nach Dir aufgezehrt worden, weil der Liebe Band, durch die Feder, besteht.
Ich möchte mit Dir mein Leben, meine Seele und meine Freude teilen.
Wenn ich einen Brief von Dir erhalte, dann hört sich die Erde auf zu drehen, das Universum auf zu existieren und die Welt hält den Atem an.
Ich möchte Deine samtweich Haut berühren, in den Wellen Deines seidenen Haare versinken, des-sen Wogen so temperamentvoll wie die See sind und ich verzehre mich nach Deinem Lippen, die so zart wie Rosenknospen.
Du bist schön wie ein Frühlingstag im Mai.
Wann kommst Du Liebste, damit ich in Deinen Augen versinken kann?
Augen, schöner als der schönste Saphir, tiefer als der tiefste Ozean. Sie funkeln heller als Nordstern und sind magischer als die Nordlichter.
Wann sind wir eins mein Engel, meine Rose, mein Leben?
Ich liebe Dich
John

Ich hatte mir so einen Liebesbrief immer gewünscht, doch da die Ehe in diesem Zeitalter meist Ver-nunftehen waren, war so etwas praktisch ein Weltwunder. Deshalb freute ich mich umso mehr ein Stück Romantik in dieser Prüderie zu erfahren.
Die Tür ging auf und ich drehte mich um, sorgsam darauf bedacht, die elegante Hochsteckfrisur unter dem Schleier und das Kleid unter der Tracht zu verbergen.
„Bist Du fertig? Die Kutsche steht unten.“, teilte mir Paton mit
„Ja, danke.“
Ich hatte abgelehnt, dass Paton mich begleitet. Ich hatte gesagt, das wäre eine sehr private Sache, der Besuch bei meiner Schwester.
Meinen Plan fand ich ziemlich gut. Nach unserem ersten missglückten Versuch, hatte ich in den Büchern der Bibliothek weitergesucht und war fündig geworden. In einem Buch über magische We-sen aus dem 14. Jahrhundert stand, dämonische Wesen, wie Hexen, Vampire, die Bezeichnung „dä-monisch“ empfand ich als Beleidigung, Werwölfe und Teufel konnte man mit Weihwasser schwä-chen, indem man sie damit besprühte. Vernichten könnte ich Gundula nur, wenn ich ein ganzes Weihwasserbecken mitschleppen würde und das wäre ein bisschen zu auffällig.
Also hatte ich mir ein Fläschchen Weihwasser besorgt, damit ich ihr nicht unterlegen wäre.
Wenn ich sie vernichtet hatte, würde ich einfach wieder zum Ball zurückgehen. Danach ins Konvent zurückkehren, Paton holen und dann könnten wir ins Zwischengeschoss zurück.
Natürlich waren wir auf der sicheren Seite. Alle, die uns in London und mich auf dem Ball kennen gelernt hatten, würden uns ebenfalls vergessen, sobald wir wieder im Zwischengeschoss waren.
Paton begleite mich zur Droschke und wünschte mir viel Spaß.
***
Nachdem Lilith abgefahren war, eilte ich in das Konvent zurück und holte den Pfeil mit der Rubin-spitze und den Bogen. Natürlich hatte auch ich heimliche Vorkehrungen getroffen. Außerdem hatte ich ein Stück weißes Ballkleid unter der Tracht hervorblitzen sehen.
Ich atmete, so ruhig, wie möglich, aus. Manchmal hasste ich dieses sture Frauenzimmer!
Ich hatte schon eine zweite Droschke gerufen und fuhr jetzt zu Ridley.
Dort angekommen, schlüpfte ich zur Seitentür hinein, die Lilith mir beim ersten Mal gezeigt hatte. Ich hatte mich angezogen, als wäre ich ein Gast auf dem Fest und im Notfall wäre ich Alan O’Brian aus Limerick. Den Bogen hatte ich unter meinem Sakko versteckt und den Pfeil im Hemdärmel.
Ich versteckte mich in einer Nische im ersten Stock. In den unteren Sälen fand die Feier statt, dort würde Lilith die Teufelin bestimmt nicht vernichten. Es würde hier oben geschehen. Nun musste ich nur noch warten.
***
Bis jetzt war alles wie geplant gelaufen. Ich hatte mich gerade meines Mantels entledigt und wollte nun John suchen. Ich fand ihn schließlich zwischen einer Gruppe Leute. Er trug einen schicken Smoking. Jetzt hatte er auch mich gesehen und er winkte mir zu.
Ich trat an die Gruppe heran:
„Mein Engel. Schön, dass Du gekommen bist.“
Damit führte er mich von den Leuten weg und flüsterte:
„Du siehst wunderschön aus. Ich werde unsere Verlobung beim Dinner bekannt geben. Ich hoffe, das ist Dir Recht?“
„Danke, ja das finde ich sehr passend…Schatz.“
„Das freut mich. Ich werde Dir jetzt ein paar Leute vorstellen.“
Er bot mir seinen Arm und fing an:
Ich wurde einem Bernhard Eddlestone und seiner Gattin Julia vorgestellt. Einem Daniel Warren samt seiner Gattin Sarah und einen Maurice Cook. Auch Anthony Lucas traf ich wieder, der mir schon leicht angeheitert vorkam, als er mir zuprostete.
Dann wurde ich weiter buxiert, denn John wollte mir unbedingt seinen besten Freund vorstellen. Doch zuvor ging ich noch an das Buffett, um etwas zu trinken.
Mit einem Glas Portwein in der Hand unterhielt ich mich gerade mit einer gewissen Henriette Lam-bert, als John mir seine Hand auf die Schulter legte und festlich verkündete:
„Lilith, das ist mein bester Freund Randall Oliver!“
Als hätte er geschrieen, fuhr ich zusammen.
Ich drehte mich um und setzte ein, hoffentlich, freundliches Lächeln auf:
„Wie schön Sie kennen zu lernen, Mr. Oliver!“
„Oh, nennen Sie mich doch bitte Randall, meine liebe Miss Merrill.“
Ich knickste und er verbeugte sich galant.
Ich konnte es nicht fassen: vor mir stand tatsächlich der Mann, wegen dem ich mich umgebracht hatte. Er sah immer noch gut aus. Er hatte sanfte, blaue Augen, braunes, lockiges Haar und war im-mer noch schlank.
„Ich fühle mich geschmeichelt. Aber nennen Sie mich doch bitte Lilith.“
„Sie heißen Lilith?“
„Ja, warum?“
„Meine Ehefrau hieß auch Lilith.“
„Hieß?“
„Ja, sie ist verstorben.“
„Oh, mein Beileid!“
Jetzt wollte ich doch mal wissen, was Randall über mich so erzählte.
„Danke, aber Sie ist schon vor einem Jahr an einer Krankheit gestorben.“
„Krankheit? Ja, an einer Krankheit namens Randall!“
„Nun ja, aber sie war ein furchtbar hässliches Weib. Nicht so schön wie Sie.“
„Hässliches Weib?“, am liebsten hätte ich ihn den Weinbecher aus der Hand gerissen und ihn damit grün und blau geprügelt.
„Ich habe Sie nur pro forma geheiratet, wissen Sie?“

Ich sah sie und spürte paradoxerweise Erleichterung. Nun hatte ich einen Vorwand zu verschwinden. Es wunderte mich, dass Gundula bei Randalls Anblick nicht verrückt spielte, denn er war mit Si-cherheit ein Unterteufel.
Ich wollte mich gerade entschuldigen, als Randall wieder anfing:
„John hat mir erzählt, dass sie unter anderem unverheiratet sind. Wollen Sie keinen stattlichen Mann an Ihrer Seite?“
Ich begriff, dass John wahrscheinlich niemandem von unserer Verlobung erzählt hatte. So ein Idiot!
„Wenn der Richtige kommt schon, warum?“
Ich ahnte schlimmes.
„Nun, haben Sie den Richtigen schon gefunden?“
„Warum?“
„Wenn nicht, möchte ich Sie bitten, meine Frau zu werden, Lilith.“
Ich erstarrte. Ich stammelte eine Entschuldigung und flüchtete.
***
Ich hörte, wie jemand die Treppe hochkam und erkannte Lilith, die schnell in Johns Arbeitszimmer stürzte.
Ich schlich in das Nebenzimmer, in dem ich schon letztes Mal gewartet hatte, und ging auf dessen Balkon, um zu sehen, was geschehen würde.
***
Ich hastete die Treppe hinauf, stürzte in Johns Arbeitszimmer und schloss die Tür. Das Fläschchen mit Weihwasser hatte ich, ebenso wie die Kette, griffbereit.
Und da kam sie auch schon. Sie zückte den Dolch, doch ich war schneller und schüttete ihr etwas Weihwasser über den Arm.
Sie schrie auf. Der Schrei ließ mich zusammenfahren. Er war so schrill, dass sich meine Nackenhaa-re aufstellten, ich eine Gänsehaut bekam und die Glasscheiben klirrten.
Der Arm begann zu rauchen und es roch nach verbranntem Gummi.
Dennoch holte sie aus, aber ich sprang zur Seite.
Bei diesem furchtbaren Schrei hatte ich das Kreuz fallengelassen und nun lag es neben dem Schreib-tisch.
Ich hatte noch immer etwas Weihwasser, doch ich würde sie nicht lange aufhalten können. Sie kam mir gefährlich nahe, sodass ich ihr den Rest auf das Dekolleté schüttete. Ein zweiter, ebenso marker-schütternder Schrei erklang und sie stieß zu.
Ich spürte, wie sich das Metall in den Bauch bohrte. Ich spürte, wie das Blut zu fließen begann, als sie den Dolch herauszog. Es sickerte durch mein Kleid und der Blutfleck war handgroß. Als sie zum tödlichen Stoß ausholte, bohrte sich plötzlich etwas in ihren Arm. Mittlerweile war alles ver-schwommen und schwarze Pünktchen tanzten vor meinen Augen. Ein lautes Krachen ertönte, sodass der Balkon erzitterte und das letzte, was ich von Gundula der Teufelin sah, war eine gelbe Schwe-felwolke.
Ich hörte Stimmen und Schritte.
Mir war der kalte Schweiß ausgebrochen und alles war verschwommen und seltsam verzehrt. Auf dem Balkon stand ein kleiner Zierbrunnen mit einer Skulptur von Amor mit Pfeil und Bogen. Die Pfeilspitze befand sich in der Höhe meiner Wunde und schnell schmierte ich etwas Blut zur Tarnung auf diese. Dann sank ich zu Boden.
Ich bekam nur noch mit, wie jemand meinen Namen rief und sich dann Arme um mich legten und mich jemand hochhob. Danach wurde mir schwarz vor Augen.
***
Ich sah, wie Gundula zu dem Balkon rauschte. Ich hatte mich hinter einer Stechpalme versteckt, sodass sie mich hoffentlich nicht sah. Sie schritt in den Raum. Kurze Zeit später hörte ich einen grauenvollen Schrei, der mir die Nackenhaare aufstellte. Ich hatte den Bogen schon gespannt. Dann sah ich Lilith, die auf den Balkon sprang. Gundula kam mit gezücktem Dolch auf sie zu. Bloody-Bunny bewegte die Hand und ich hörte einen weiteren grässlichen Schrei und sah, dass irgendetwas rauchte. Doch plötzlich holte Gundula aus, so schnell, dass ich nicht reagieren konnte, und stach zu. Lilith krümmte sich vor Schmerz, richtete sich jedoch wieder auf. Nun holte Gundula aus, um sie zu töten und genau da schoss ich und traf sie in den Arm. Ein lautes Krachen ertönte, sodass die Scheiben klirrten und sie löste sich in einer Schwefelwolke auf.
Ich sah wie Lilith den Pfeil des Amors, der einen kleinen Zierbrunnen schmückte, mit Blut beschmierte und dann zusammenbrach. Ich versteckte mich wieder, dann sah ich wie jemand auf den Balkon trat und dabei ihren Namen rief. Lilith wurde von diesem jemand aufgehoben und weggetragen. Als alle weg waren, schlich ich in das Arbeitszimmer und fand nach kurzem Suchen das Kreuz. Ich steckte es ein und ver-schwand.

Ich hatte gerade noch Zeit in die Bibliothek des Konvents zu stürzen und mein Priestergewand überzustrei-fen, als auch schon Amalia erschien:
„Da ist ein Bote von Ridleys Kanzlei. Er sagt, sie hätten Lilith in das Krankenhaus gebracht. Sie wäre ver-letzt aufgefunden worden. Er wird Dich hinbringen.“
Ich dankte ihr und folgte dem Boten in eine Kutsche, die zum Krankenhaus fuhr.
Sie waren glücklicherweise in das St. Anna Hospital gefahren, wo Dr. Stone arbeitete. Er hatte sie natürlich behandelt und klärte mich auf:
„Lilith hat wirklich Glück gehabt! Die Wunde ist nicht tief, dennoch musste ich mit vierzig Stichen nähen. Es wird ein bisschen dauern, bis sie wieder bei Kräften ist. Sie hat glücklicherweise auch nicht allzu viel Blut verloren.“
„Ist sie wach?“, fragte ich.
„Nein. Und ein gewisser Mr. Ridley ist bei ihr. Wer ist das Paton?“
„Ihr Verlobter, glaubt er wenigstens.“
Dr. Stone grinste und brachte mich zu Liliths Zimmer. John Ridley schreckte hoch, doch entspannte sich wieder, als er mich sah.
„Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Ich weiß nicht was passiert ist. Ich hab sie auf dem Balkon meines Arbeitszimmers gefunden. Ich möchte wissen, was sie dort gemacht hat.“
„Wir werden es herausfinden, sobald sie aufwacht, aber gehen Sie. Sie sehen müde aus.“
Nach einiger Diskussion konnte ich ihn aus dem Zimmer heraus buxieren.

Ich saß schon drei Stunden bei Lilith, als diese endlich aufwachte.
***
Ich wachte auf und alles drehte sich einen kurzen Moment. Dann sah ich Patons Gesicht und bekam Panik:
„Ich äh… ich wollte, ich habe, ich meine…“, stotterte ich, doch er legte mir die Hand auf den Mund, so-dass ich still war.
„Lilith Parker, Du bist wirklich das Anstrengenste, was ich je erlebt habe. Wie kommst Du auf die Idee, so etwas Waghalsiges allein durchzuziehen?“
„Nun, ich wusste ganz genau, dass Du auch da sein würdest. Ich danke Dir, dass Du mein Leben gerettet hast.“
Er grinste breit und ich versank wieder in tiefen Schlaf.

21.April 1908
Nach einer knappen Woche Durfte ich das Krankenhaus verlassen.
Am Bauch hatte ich jetzt eine zwanzig Zentimeter lange Narbe, am Handgelenk war sie nur zehn Zentime-ter lang.
Die ganze Woche hatten mich Paton, John und – zu meinem Entsetzen auch – Randall besucht. John und Randall hatten mich furchtbarer weise die gleichen verliebten Blicke zugeworfen.
John hatte ihm wohl immer noch nicht erzählt, dass ich seine Verlobte war.
Ich musste einen Stock benutzen und humpelte von einer Krankenschwester gestützt in das Foyer. Dort erwarteten mich Paton, John und –leider – auch Randall.
„Komm, mein Engel, der Arzt sagt, Du brauchst viel Ruhe. Deswegen fahren wir auf die Isle of White! Dort können wir uns etwas erholen.“, sagte John fröhlich.
Doch seine Fröhlichkeit sollte verfliegen, denn:
„Mein Engel? Ich habe mich wohl verhört. Wenn, dann ist sie mein Engel. Wir heiraten nämlich!“, entgeg-nete Randall.
„Ihr heiratet? Ich glaube, Du fantasierst. Lilith und ich werden heiraten!“, rief John aufgebracht.
Daraufhin entbrannte ein hitziger Streit. Paton versuchte Frieden zu stiften, doch vergeblich. Schließlich kamen die beiden überein, sich zu Duellieren.
„Nein!“, schrie ich wütend, „niemand duelliert sich hier. Randall, ich habe John versprochen seine Frau zu werden.“
„Aber Sie lieben Ihn doch gar nicht! Das sieht man Ihnen an.“
„Und ob ich ihn liebe. Komm John, wir gehen.“
„Nein Lilith, ich möchte erst meinen vermeintlichen Freund beseitigen.“
Sie fingen an aufeinander loszugehen, doch Paton stieß einen schrillen Pfiff aus, der alle zusammenfahren ließ.
„Mit Gewalt erreicht man rein gar nichts. Das Herz einer Dame schlägt dadurch nicht höher. Lilith hat John versprochen ihn zu heiraten!“, ermahnte Paton sie und warf beiden eine strafenden Blick zu und sie ließen voneinander ab – vorerst!
Denn am Abend kam ein lebender Engel zu uns in das Konvent, der uns verkündete, dass John und Randall sich im Morgengrauen im Hyde-Park duellieren wollten. Paton hatte gewollt, dass ich im Konvent blieb, aber ich war nun mal sturer als er und so fuhren wir beide.

Als wir ankamen, war das Duell schon im vollen Gange. John war aber durch das Geräusch unserer Kut-sche abgelenkt worden, sodass Randall ihn in die Brust schoss.
Er krümmte sich vor Schmerzen und Randall zielte für den Todesschuss. Doch John war noch nicht am Ende seiner Kräfte und feuerte Randall so plötzlich in den Unterleib, dass dieser erstaunt zurücktorkelte.
Beide waren schwer verletzt. Ich war so geschockt, dass ich einfach nur da stand und zusah. Doch Paton wollte gerade dazwischen gehen, als beide gleichzeitig schossen und umfielen – sie waren tot!

Ich fühlte, wie sich alles versteifte. Das hatte John nicht verdient und ich hasste Randall umso mehr.

Nachdem wir uns überzeugt hatten, dass beide auch wirklich tot waren, stiegen wir in die Kutsche und fuhren zum Konvent zurück.
Duelle waren verboten. Wenn wir uns in der Nähe aufhielten, könnte man uns der Beihilfe bezichtigen und ins Gefängnis stecken.
Um Mittag kamen viele Leute her, um spazieren zu gehen. Man würde sie also finden.
Zwei Stunden später, so gegen acht Uhr waren wir bereit zum Aufbruch.
Nach einem schönen Frühstück und einem herzlichen Abschied mit vielen schönen Geschenken, wie Bü-cher, Zuckerdosen und vielerlei mehr, standen wir in der Bibliothek und ich spürte, wie der Boden unter mir wegbrach. Als ich die Augen wieder öffnete, standen wir vor den Toren des Klosters.

Kapitel 29
Unerwünschte Gäste
21. April .1908
Wir gingen hinein und suchten das Zimmer der Mutter Oberin auf.
Sie empfing uns freudestrahlend und schloss und nacheinander in die Arme.
„Herzlichen Glückwunsch! Ich bin so stolz auf euch! Zur Feier des Tages gönnen wir uns ein Schlück-chen.“
Sie zog eine Flasche – nein, kein Polarfuchsblut – hervor und schenkte drei Gläser Rotwein ein. Wir proste-ten uns zu und tranken.
Der Rotwein war ein wunderbarer Bordeaux, der herrlich spritzig und fruchtig war.
Paton zog den Hut ab, den er vor unserer Abreise von der Erde angezogen hatte.
Die Mutter Oberin schaute zuerst ungläubig, dann brach sie in Gelächter aus
„Paton, Du hast mal einen ordentlichen Haarschnitt.“, stellte sie fest.
Paton hatte eine Frisur á la Rhett Butler.
„Das hast Du doch nicht freiwillig gemacht, oder?“
„Nein, das war Lilith Werk, sie meinte, es sei modern.“
Er schaute mich strafend an und ich grinste.
Paton streckte sowohl mir, als auch der Mutter Oberin die Zunge raus und wir lachten.
Dann meinte Zachathrustra:
„Nun, zum Geschäftlichen. Wie ihr beide wisst, sind John Ridley und Randall Oliver verstorben und sie sind hier im Zwischengeschoss.“
„WAS?“, schrie ich entsetzt, „Randall ist hier?“
„Ja, Lilith. Randall ist hier.“
Und wenn man vom Teufel spricht: Randall und John traten ein.
Ich erstarrte.
„Sind Sie auch tot Miss Merrill?“, fragte Randall.
„Ja. Und mein eigentlicher Name ist Lilith Parker.“
„Lilith Parker? So hieß meine verstorbene Ehefrau.“
„Ich bin Deine verstorbene Ehefrau, Du Volltrottel.“
„Aber was…?“
„Mister Oliver, Mister Ridley, ich erkläre Ihnen die Situation.“, sprang Zachathrustra, meine Lebensretterin – natürlich rein bildlich – für mich in die Presche.
Während mein Macho von Ex-Ehemann und sein Lustmolch von Freund der Mutter Oberin lauschten, vergrub ich meine Hände in der Tasche, um meine Fäuste zu verstecken.
Doch plötzlich fühlte ich meinen Ring in der rechten Tasche. Den Ring, den meine Geschwister mir ge-schenkt hatten.
Ich hatte ihn abgelegt, denn Nonnen Durften keinen Ring tragen und heute Morgen hatte ich wohl versäumt ihn anzustecken.
Schnell zog ich ihn an, denn ich hatte einen Geistesblitz.
Zachathrustra war fertig mit Ihrer Erläuterung.
Randall und John hatten sich wieder zu mir umgedreht.
„Also Lilith, ich weiß in der Vergangenheit hat es nicht mit uns geklappt, aber wie wäre es mit einem Neu-anfang?“, meinte Randall.
John wollte gerade etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor.
„Ich kann Dich nicht heiraten Randall, denn ich bin schon verheiratet.“
„Mit wem?“, schallte es aus Randalls, Johns, Patons und Zachathrustras Mund synchron.
„Mit Pater Paton Lyell Vampire.“, meinte ich und zeigte auf Paton.
Der stand völlig überrumpelt vor dem Schreibtisch.
Auch Zachathrustra machte ein überraschtes Gesicht, die am Schreibtisch saß.
„Lilith, was…?“, setzte Paton an.
Doch er verzog schmerzerfüllt das Gesicht und ich konnte Zachathrustras sehen, die verschwörerisch an Paton vorbeigrinste.
„Ähm, ja. Lilith und ich sind sehr glücklich verheiratet.“
Bevor noch irgendwer etwas sagen konnte, trug mir die Mutter Oberin auf, unseren Neuankömmlingen das Kloster zu zeigen.

Ich ging im Stechschritt zur Kapelle und beglückwünschte mich zu meinem genialen Plan.
An der Kapelle angekommen, riss ich die Tür auf:
„Das ist die Kapelle!“
Und haute die Tür so schnell wieder zu, dass die beiden zurück sprangen.
Im Stechschritt ging es weiter:
„Das ist das Bad, dort könnt ihr euch waschen!“
Wieder haute ich die Tür so heftig zu, sodass ich John fast eingeklemmt hätte.
Und wieder rannte ich weiter.
„Das ist eure Kammer. Ihr müsst eine teilen, nur Frauen, den Mentoren und den wichtigen Personen, zu denen ihr ganz bestimmt nicht gehört, ist eine eigene Kammer zugedacht!“
Damit schubste ich sie rein, knallte die Tür zu und befahl:
„Jetzt betet ihr bis zum Abendessen. Ein Junge namens Bastian wird euch abholen und in die Kapelle zur Abendpredigt um sechs Uhr geleiten.“
Ich ging zu Patons Büro und wappnete mich, um ihn gegen die Wand zu diskutieren.
***
Es klopfte und Bloody-Bunny trat ein.
„Hallo Schatz!“, begrüßte sie mich.
„Sei still Weib. Könntest Du mir verraten, welcher Teufel Dich geritten hat?“
„Möchtest Du, dass Deine tapfere Gefährtin von zwei hirnlosen Affen belästigt wird? Wegen des einen habe ich mich schließlich umgebracht. Und der andere hat mich sittenwidrig angefasst! Außerdem“, setzte ich grinsend hinzu, “wird Dich Beatrice in Ruhe lassen, wenn sie erfährt, dass ich Mrs. Vampire bin. Wir können sagen, dass wir auf der Erde geheiratet haben.“
Mir gefiel der Gedanke, Beatrice los zu werden.
„Na gut. In meinem reifen Alter von 31 Jahren. wird es schließlich Zeit zu heiraten. Oh, mein Gott. Ich heirate eine Frau.“
„Wenn denn sonst? Den Osterhasen? Nein, sag lieber nichts. Noch bist Du verwundbar.“
„Da kommst Du gleich zum Thema. Wir müssen das ändern!“
Ich reichte ihr einen Becher, in dem ein grünliches Getränk vor sich hin blubberte.
Sie nahm es, zögerte jedoch.


Kapitel 30
Erster Ehekrach
Ich blickte auf und sah Bloody-Bunny, die unentschlossen mit ihrem Becher dastand.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte ich.
„Nun, wenn ich das trinke, bekomme ich wieder meine Hasenzähne zurück, oder?“
„Ja natürlich. Warum…?“
Aber ich begriff bereits.
„Lilith, auch wenn Du Hasenzähne hast, werde ich Dich lieben und ehren. In guten, wie in schlechten Zei-ten…“
„Hör auf mit dem Unfug!“, schrie sie wutentbrannt, “ ich trinke das Gebräu nicht.“
„Aber Bloody-…“
„Wagen Sie jetzt nicht „Bunny“ zu sagen, Pater!“
Ich stellte den Becher wieder auf den Tisch und sah sie zornig an.
„Jetzt hör mal zu Lady…“, doch ich wurde wieder unterbrochen.
„Nein Mister. Sie sprechen mich immer mit „Lady“ an, wenn Sie zornig sind. Also will ich es gar nicht hören, außerdem…“
Jetzt reichte es. Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie, während ich jetzt schrie:
„Jetzt pass mal auf Lady. Ich habe Dir eine Freude gemacht, indem ich Dich auf die Erde mitgenommen habe, wo Du Deine Familie wieder sehen konntest. Gott hat uns eine Freude bereitet, indem er uns für kur-ze Zeit ein menschliches Aussehen gab. Und jetzt machst Du allen Beteiligten eine Freude: nämlich keine Schwierigkeiten!“
„Du und Dein Gott! Du könntest auch so tun, als ob Du mit ihm verheiratet wärst. Du glaubst doch nicht wirklich, Mister, dass Dir irgendjemand abkauft, dass Du ein so hässliches Geschöpf geheiratet hast!“
Das bezweifelte ich. Kornelia hatte mich immer mit meinem schlechten Geschmack aufgezogen.
Sie schubste mich weg und schnaubte verächtlich.
„Das ist immer dasselbe mit Gott. Immer hat er seine Ideen für Menschen. Während die einen von einer wunderbaren Schönheit „gestraft“ sind, werden mit so Schönheitsmalen, wie Hasenzähnen „beglückt“.
Mein Gott, so ist es auch mit euch Männern.“
„Hey, lass mein Geschlecht aus dem Spiel. Ihr Frauen selbst seid doch…“
Und mit einem hochnäsigem „Pah!“, schütte sie das Getränk auf meinen wertvollen Perser, wofür ich sie am liebsten getötet hätte. Und mit dem entsprechendem Blick sah ich sie an.
Sie drehte sich um und stolzierte hinaus.
Ich sah ihr entgeistert nach und auf die, hinter ihr zuschlagende Tür, bis mir ein Brandgeruch in die Nase stieg.
Ich sah zu meinen Füßen, wo das Gebräu ein riesiges Loch in meinen Teppich geätzt hatte. Ich sah wütend auf. Jetzt war sie tot. Schnell trank ich mein Gesöff und ging meiner Arbeit als Priester nach, um mich zu beruhigen.
***
23April 1908
Paton und ich wechselten seit unserem letzten Streit in seinem Büro kein Wort mehr.
Aber dafür hatte mir Bastian gerade einen Brief von Paton gebracht.

An Mrs. Vampire,
ich hatte noch keine Zeit, mich mit Dir in Verbindung zu setzen. Ich hoffe, Du vergibst mir.
Unser Gespräch neulich war noch nicht beendet. Und ich wollte Dich darauf aufmerksam machen, dass Dein Attentat auf meinem kostbaren, schönen, TEUREN, Perserteppich ein überaus unschönes Loch hinter-lassen hat.
Darüber hinaus möchte ich Dich darauf hinweisen, dass Du, wenn Du das Gebräu nicht trinkst, altern wirst – und das sehr schnell. Und Du bleibst so alt!
Aber vielleicht ist das Dein Plan, da weder Randall noch John Dich belästigen werden.
Dein Ehemann
Pater Vampire

Ich legte den Brief weg und ging zur Abendpredigt. Vorher blickte ich noch in den Spiegel, aber keine Spur vom Alter.
Dann machte ich mich auf zur Kapelle.
Ich setzte mich neben Bastian und die Mutter Oberin. Auf keinen Fall wollte ich riskieren, dass sich einer von meinen Verehrern neben mich setzte.
Der Gottesdienst war, wie immer, sehr entspannt und es herrschte eine angenehme Atmosphäre.
Dann gab es Abendbrot. Ich hoffte es würde menschlich Nahrung geben. Seit zwei Tagen bekam ich, wie alle anderen Vampire auch, blutige Speisen.
Und so war es auch diesmal.
Es gab rohes, blutiges Steak und dazu Eingeweide.
Mir kam langsam der Verdacht, Paton steckte dahinter, dass ich nichts richtiges zum essen bekam.
Ich blickte Paton eisig an und er schnell weg. Wir saßen jetzt immer nebeneinander, da wir ja „verheiratet“ waren.
„Würdest Du mir bitte das Salz geben, Schatz?“, fragte ich, wobei ich den Kosenamen betonte.
Er sah grimmig auf und schubste das Salz mit den Fingern zu mir. Ich konnte es gerade auffangen, bevor es auf den Boden fiel.
„Danke, mein Schatz!“, flötete ich.
„Hör endlich auf mit den Kosenamen!“, zischte er als Antwort.
„Wieso denn, Schatzi, Herzallerliebster.“, antwortete ich mit lauter Stimme.
Langsam wurde es still in der Halle.
„Reicht es denn nicht, dass Du mir schon ein Loch in den Teppich gebrannt hast, mein Hase?“, meinte er mit zuckersüßer Stimme.
„Spiel nicht die beleidigte Leberwurst, mein Herz!“
„Ich bin halt sehr nachtragend, mein Hase!“
Jetzt war es muckmäuschenstill in der Halle und alle lauschten gespannt.
„Ich merke es, mein Kleiner!“, erwiderte ich.
Jetzt stand er auf und sah auf mich herab.
„Wenn Du für einen Umtrunk mit in mein Büro kommst, vergesse ich alles.“, sagte er mit eiserner Stimme.
In der Halle erklangen mehrfache „Uhhhs“ und „Ohhhs“ und viel sagende Blicke wurden getauscht.
Das hatte Paton wohl nicht beabsichtigt, denn er lief leicht rot an.
Jetzt stand ich auf und er musste zu mir hochblicken.
„Ich habe Dir die Gründe genannt, weshalb ich diesen Umtrunk nicht nehmen will…“
„Ja, mein Teppich hat diese Gründe zu spüren bekommen.“
Plötzlich verzog er sein Gesicht vor Schmerz und ich sah, wie Zachathrustra ihren Arm zurückzog.
„Schatz!“, setzte er mit piepsender Stimme hinzu.
„Uhhhs“ und „Ohhhs“ machte wieder die Runde.
„Lass Deinen blöden Teppich endlich aus dem Spiel und wenn Du mir endlich was Richtiges zu essen vor-setzt, dann werde ich es vielleicht trinken, mein Kleiner…“, weiter kam ich nicht, denn Paton drehte sich um und verließ die Halle.
Als er die Tür zuschlug, ertönten viele mitleidige „Ohhhs“. Ich beeilte mich, hinter Paton her zu rennen.
Ich machte die Tür gerade zu, da hörte ich hinter mir viele erfreute und viel sagende „Ahhhs“.

Ich bekam einen Wutausbruch von Paton live zu sehen!
"Scheiße verdammte. Himmelarsch und Wolkenbruch. Verflucht, verflucht, verflucht!"
"Ähm Paton!"
"Du schreckliches Weib! Warum machst Du das?"
"Weil ich nicht mehr hässlich sein will. Ich möchte nicht mehr angeglotzt werden, wie eine Kuh auf dem Viehmarkt."
Er lehnte sich an den Tisch.
"Okay. Ich verstehe. Ich weiß, dass Dich das sehr belastet. Aber der Teppich…"
"Gut, dass Du es erwähnst! Komm doch bitte mal mit."
Wir erschienen in meinem Raum. Ich hatte Zachathrustra gebeten, einen neuen Perser in meinem Namen zu ordern.
"Ta ta!" Ich zog diesen aus dem Schrank.
"Ist das…?"
"Ja."
"Okay. Du bist doch kein so schreckliches Frauenzimmer. Ich glaube, Du solltest zu Anne gehen. Sie hat bestimmt noch was zu Essen für Dich."
***
Gut. Lilith hatte das wieder gut gemacht. Also würde ich mir was überlegen, damit es ihr gut ging. Morgen würde ich zu IHM gehen.


Kapitel 31
Randall muss in die Hölle – ha, ha, ha

24. April 1908
Ich war gerade im Nähraum, als Mathilde zu mir kam.
"Lilith. ER möchte Dich sprechen."
Verwirrt folgte ich ihr. Was mochte ER wohl von mir wollen?
Sie begleitete mich bis ins Foyer, dann trat ich in das Nichts hinaus.
Sekunden später hörte ich SEINE Stimme.
"Schön, dass Du gekommen bist. Du weißt ja, dass Dein ehemaliger Ehemann nun im Zwischengeschoss ist."
"Allerdings."
"Heute möchte ich urteilen, ob er nicht besser in die Hölle soll."
"Auf jeden Fall. Dort gehört er hin und nirgendwo anders."
"Was? Du Miststück. Was fällt Dir ein?"
Aus dem Nichts trat Randall.
"Zum Beispiel fällt mir ein, wie Du mich eingesperrt und misshandelt hast."
"Du miese Krähe."
Ich bekam nicht viel mit. Nur das Randall auf einmal vor mir stand und mein Gesicht wie Feuer brannte.
"Randall Oliver hiermit verdamme ich Dich in die Hölle für jetzt und immer.", erklang SEINE Stimme.
Eine Stichflamme verschlang Randall und dann war er weg.
Eine Sekunde später stand ich wieder im Foyer des Klosters.
***
Ich hatte von Mathilde erfahren, dass Bloody-Bunny zu IHM gerufen worden war.
Ich fragte mich, was ER von ihr wollte.
Lilith kam wieder ins Foyer. Ich hatte sie erwartet.
Doch wie sah sie aus? Ihre Nase war ganz blau und geschwollen.
"Was ist passiert Lilith?"
"Randall hat mich wieder einmal geschlagen!"
"Was! Wo ist der Mistkerl?"
"Keine Angst. Er ist in der Hölle."
Ich nahm sie am Arm und brachte sie in mein Büro.
"Brauchst Du irgendwas?"
"Ein Eisbeutel?"
"Ruf Anne."
Dann verschwand ich und ging sofort zu IHM.
Dort führte ich eine hitzige Diskussion mit Gott. Wie er das hätte zulassen können und ob das arme Mäd-chen nicht schon genug durchgemacht hätte. Und von ihrer unfreiwilligen Diät erzählte ich IHM auch.
Zwar bekam ich eine doppelt solange Rede zurückgebrüllt, doch ich hatte gewonnen.
***
Ich war immer noch in Patons Büro und wartete. Die Nase hatte inzwischen aufgehört zu bluten.
Die Tür öffnete sich und ein grinsender Paton kam herein.
"Was führst Du im Schilde?"
"Bitte sehr." Er reichte mir einen Becher mit einem furchtbar riechenden Gesöff drin.
"Ich habe Dir doch schon…"
"Trink einfach Lilith. Vertrau mir."
Na gut. Ich vertraute ihm und schluckte. Es schmeckte zum Kotzen.
Ich spürte, wie ich wieder schmächtiger wurde und meine Eckzähne wuchsen.
"Jetzt tu mir den Gefallen und schau in den Spiegel."
Ich erfüllte ihm den Wunsch.
"Oh mein Gott Paton. Meine Hasenzähne sind weg. Ich… danke Paton. Danke!"
"Gern geschehen."
Ich umarmte ihn. Danach rannte ich wieder zum Spiegel und befühlte meine wundervollen Schneidezähne.
Tja, Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Ich bin es Lilith Parker.

Paton und ich blieben "verheiratet".
Nachdem Beatrice und John darüber hinweg waren, kehrte der Alltag im Zwischengeschoss wieder ein.
Und ich will nur so viel sagen: John und Beatrice zogen sich bestimmt nicht so oft in dem Wintergarten zurück, um Schach zu spielen.


Kapitel 32
Unter der Haube
1. September 1908
"Meinst Du, dass alles gut geht? Ich weiß nicht. Ich bin so unsicher. Was ist, wenn John 'nein' sagt?"
Ich stand an Beatrices Brautkleid und steckte noch die letzten Falten zurecht.
"Das wird er ganz sicher nicht. Nicht, wenn er Dich sieht!"
Ich betrachtete meine Cousine. Sie sah in ihrem Brautkleid wunderschön aus. Es war hochgeschlossen und ging eng am Körper liegend bis zum Boden. Hinten hatte sie eine kleine Schleppe, an der ich gerade den Faltenwurf festgesteckt hatte. Die Puffärmel endeten an ebenfalls eng anliegenden Ärmeln aus weißem Chiffon. Der Rest des Kleides bestand aus weißem Satin. Die Haare hatten wir hochgesteckt und sie trug Diamantohrringe.
"Jetzt fehlt nur noch eine Kleinigkeit: was Neues, was Altes, was Geliehenes, was Geschenktes und was Blaues."
Ich zog mein Ring vom Finger.
"Was Neues, weil ich ihn neu hab einfassen lassen. Was Altes, weil ich ihn schon fünf Jahre besitze, was Geliehenes, weil ich ihn nach der Hochzeit wiederkrieg, was Geschenktes, weil ich ihn Dir für diesen Nachmittag schenke und was Blaues, weil ein Saphir in der Mitte eingelassen ist."
"Oh danke Lilith, danke! Du bist so toll. Danke!"
"Gern geschehen Cousinchen. Und jetzt halte Dich bereit. In fünf Minuten bist Du eine verheiratete Frau!"
Ich verließ den Brautraum, der sich neben der Kapelle befand und trat auf den Gang. Dort warteten die Brautjungfern, Rudolph, der andere Trauzeuge, Paton, die Blumenkinder und natürlich John.
"Na John. Kalte Füße?"
"Nein. Wie sieht sie aus Lilith?"
"Wenn ich Dir das sage, dann ist es keine Überraschung mehr."
"Genug gequatscht. Komm John: ab in die Kirche." Paton war etwas mürrisch.
Sie verschwanden in der Kapelle. Ich wies die Blumenkinder und Brautjungfern an, in Reih und Glied zu stehen. Dann holte ich Beatrice, die vor Aufregung zitterte.
"Alles ist prima. John hat keine kalten Füße und freut sich wahnsinnig auf seine Braut."
Sie schenkte mir ein dankbares Lächeln und Rudolph und ich betraten ebenfalls die Kapelle.
Diese war wunderschön von Paton geschmückt worden. Alles blitzte und glänzte. Weiße Rosen schmück-ten Bänke und Altar.
Die Musik setze ein, die Türen öffneten sich und dann marschierte der ganze Tross ein.
Zuletzt Beatrice, die das Strahlen anfing, sobald sie ihren John erblickte. Dieser tat das gleiche.
Die Musik endete und Paton fing an.
Die Predigt war wirklich schön.

"Hiermit erkläre ich euch für Mann und Frau. John, Du darfst die Braut jetzt küssen."
Das tat John gerne.
Nun hatten wir eine Beatrice Ridley.
Stolz und glücklich schritten die Nuptianten den Gang entlang in den Speisesaal.
Wir folgten ihnen.
Der Speisesaal blitzte und blinkte ebenfalls. Überall lagen ebenfalls weiße Rosen.
"Das hast Du sehr gut gemacht!", raunte ich Paton zu. Er grinste selbstzufrieden.

Das Orchester setzte ein und das Brautpaar tanzte seinen ersten Tanz. Beatrice schwebte geradezu über das Parkett.
Wir klatschten.
Nur Paton machte ein finsteres Gesicht. Wahrscheinlich dachte er an Kornelia.
"Lilith? Du siehst aus, als würdest Du mir was zu trinken holen wollen!"
"Ach, tu ich das?"
"Oh ja. Mein geliebtes Eheweib."
Ich knirschte mit den Zähnen, tat aber was er mir sagte. Ich hatte keine Lust zwei Wochen die Kapelle zu schrubben.
Also ging ich zum Buffett.
Ich trank gerade Blut-Bowle – sollte Paton doch warten – als Mathilde auf mich zukam.
„Hallo, Schätzchen. Eine wundervolle Hochzeit. Wie Dein Ehemann das wieder hinbekommen hat. Un-glaublich!“
„Ja, unglaublich.“, wiederholte ich.
„Na, jetzt sei doch nicht so wortkarg. Wie ist es mit einem Pater verheiratet zu sein? Bestimmt aufregen. Ich wünschte, mit Heinz hätte ich das auch mal erlebt, obwohl ein Deutsch- und Lateinprofessor nicht übel ist.“
„Ja, es ist mal was anderes.“ Hilfe, ich wollte hier weg!
„Mal was anderes! Und wie läuft es so in Sachen Nachwuchs?“ Ja, ich wollte wirklich weg.
„Äh, darüber hab ich mir noch gar keine Gedanken gemacht! Kann man Überhaupt als Vampir Kinder kriegen?“, fragte ich mit etwas Interesse.
„Natürlich Herzchen! Also …“Sie sah mich erwartungsvoll an.
„Ja, äh eigentlich schon, aber ich kann keine Kinder von Paton bekommen.“
„Oh nein“, flüsterte sie entsetzt „Du bist unfruchtbar!“
„Nein!“, rief ich empört.
„Obwohl, keine Ahnung!“, sagte ich nun wieder in normaler Lautstärke, doch es wurde überhört.
“Dann bist Du also doch schwanger?“, meinte sie entzückt.
„Nein!“, sagte ich genervt und sie verstummte.
„Wenn ich schwanger wäre, dann sicher nicht von Paton!“
„Hör mal Liebes… sagte sie freundlich.
„Paton ist ein sehr guter Freund und er hätte Dich ja wohl nicht geheiratet, wenn ihm nichts an Dir liegen würde.“ Jetzt verschwand der nette Gesichtsausdruck und sie wurde ernst.
„Komm gar nicht erst auf die Idee ihn zu verletzen, denn man heiratet nur aus Liebe, verstanden?“, jetzt lächelte sie wieder freundlich.
„Aber wir lieben uns doch gar nicht!“, sagte ich mit flehendem Unterton. Sie sah mich verwirrt an.
„Wieso seid ihr dann verheiratet?“
„Wir sind nicht verheiraten!“, schrie ich mit einem Echo. Ich drehte mich um und sah Paton an. Wir hatten zu selben Zeit gebrüllt, sodass uns jeder ansah.
„Wollen wir nicht endlich tanzen?“, fragte ich in die Runde. Stille. Und perfekter weise setzte das bestellte Himmelsorchester ein und es wurde getanzt. Ich wollte ebenfalls, aber Hilde zog mich mit sich.
„Ich werde Dir trotzdem Tipps geben, wie Du Dir einen Mann angelst“ Ich seufzte genervt und tat es Ma-thilde gleich, indem ich mich auf einem Stuhl, ihr gegenüber setzte.
„Wenn ein Mann auf Dich steht, dann tu so, als gäbe es ihn gar nicht. Schau ein paar Mal in seine Richtung und sieh dann schnell wieder weg! Das hat bei Heinz ja auch funktioniert. Na ja, lass Dich zum Essen ein-laden, aber lass Dich nicht gleich nach ein paar hübschen Worten mit ihm ein. Wann die Beziehung an-fängt, hast Du zu entscheiden. Aber lass Dir Zeit!“
***
Ich hatte Bloody-Bunny gerade losgeschickt, um mir eine Bloody-Mary zu holen, als plötzlich Heinrich hinter mich trat und mir freundschaftlich auf die Schulter schlug. Und das so fest, dass ich husten musste.
„Na, Paton, wie läuft's so?“
„Wo?“
„Natürlich in Deiner Ehe!“
„Ach so, äh ... ganz gut!“
„Ganz gut? Du meinst, es könnte noch etwas aufregender werden? Ist sie denn schon in anderen Umstän-den?“
„Nein und nein. Unser Eheleben ist perfekt und wir fühlen uns noch nicht bereit für Kinder. Wir möchten vielleicht erst in 800 Jahren ein Kind. Das erscheint uns genau richtig.“, log ich stammelnd. Die Situation war mir echt unangenehm.
„Hör mal zu. Ich war nicht über 40 Jahre lang verheiratet und hatte sechs Kinder, weil ich so gut Geige spielen kann. Wenn Du mal so etwas richtig Schönes erleben willst, dann sage ihr, wie schön und begeh-renswert sie ist und dass sie die Einzige ist.“
„Sie ist nicht die Einzige!“, widersprach ich, nachdem ich sicher war, dass mir kein Lachen rausrutschen würde.
Doch Heinrich überhörte das.
„Und dann...“, fuhr er mit Eifer fort, als sei er nie unterbrochen worden. „ überlässt Du Deiner Frau alles weitere!“, schloss er mit einem breitem Grinsen.
„Aber erzähl mal, warum habt ihr beschlossen, auf der Erde zu heiraten? Nun gut, ihr seid noch jung und spontan, dennoch verstehe ich nicht ...“
„Wir sind nicht verheiratet!“, brüllte ich ungehalten. Von der anderen Seite des Raumes erschollen die gleichen Worte aus Liliths Mund. Verdutzt schwiegen die Leute im Saal und schauten zuerst auf Lilith und dann auf mich. Ich kniff die Lippen zusammen. Na toll. Das war mal wieder so typisch. Eigentlich könnte ich in ein Fettnäpfchen einziehen...
„Wollen wir nicht endlich tanzen?“, meinte Lilith. Glücklicherweise setzte da das Himmelsorchester ein und alle stoben auf die Tanzfläche. Ich ging zu Bloody-Bunny, doch Mathilde hielt sie zurück und flüsterte ihr noch etwas zu, dass ich allerdings nicht verstand. Ich hielt mich dezent im Hintergrund und als sich Hilde von ihr abwandte, um mit Heinrich zu tanzen, forderte ich auch Lilith auf.
„Wir müssen es den Leuten sagen, Paton!“, beschwor Lilith mich, als wäre sie tatsächlich meine Frau.
„Ja, wenn wir unsere Glückwünsche über das Brautpaar aussprechen.“
„Gute Idee!“, sie strahlte mich an und wir tanzten beschwingt weiter.

Der Walzer endete mit einem schönen Akkord und es wurde Beifall geklatscht.
Dann wurde die Torte angeschnitten. Anne hatte ganze Arbeit geleistet. Die Torte war vierstöckig. Sie bestand natürlich aus Blut. Ganz oben stand ein Brautpaar, allerdings eines aus Elfenbein – also nicht ess-bar. Wie erwartet hatte Beatrice die Hand auf der Johns beim Anschneiden, der fantastisch schmeckenden Torte.
Alle hatten sich mit einem Stück Kuchen und einem Gläschen Blut an die lange Tafel gesetzt, das Braut-paar am oberen Ende. Zu seiner Linken Zachathrustra und ich, zu seiner Rechten Lilith, Heinz und Hilde.
John stand auf und las sein Eheversprechen vor. Es war so schön, dass alle vor Rührung seufzten, außer mir. Mir war es zu kitschig. Beatrice erhielt für ihres Applaus und Zachathrustra las ein wundervolles Ge-dicht vor, sodass mancherorts Taschentücher zum Einsatz kamen.
Heinrich und Mathilde trugen eine Ballade vor. Fast jeder in dem Raum schien verzaubert und dann kamen Lilith und ich an die Reihe. Wir hatten gemeinsam ein Gedicht über die Liebe geschrieben. Jeder trug eine Strophe vor:

Liebe ist wie ein Vogel.
Manche wissen, dass sie kommt, nur nicht wann.
Manche wissen, dass sie entfliegt, nur nicht wann.
Sie kann man nicht zähmen, in einen goldenen Käfig stecken,
denn sie muss fliegen, sich auf die Suche nach dem richtigen Ort machen,
um zu überleben.

Liebe ist wie eine Blume.
Zuerst wächst sie ganz vorsichtig und zart.
Wenn es dann wärmer wird, streckt sie sich und erblüht zu voller Schönheit.
Dann wird es kälter – und die Blume verwelkt und stirbt.


Liebe ist wie Luft.
Sie ist lebenswichtig, doch überall ist sie anders.
Mal ist sie rein und riecht, nach Land, Natur und Freiheit.
Mal ist sie schwer und riecht nach Krankheit, Öde und Enge.
Doch jeder braucht sie gleich dringend.
Manche sind ein Leben lang glücklich mit der guten Luft – sie sind gesegnet und klug.
Manche finden sich mit der stickigen Luft ab – sie sind verloren und schwach.
Manche suchen nach ihr, bis sie zufrieden sind – sie sind stark und mutig.


Bei allen anderen hatten sie am Ende geklatscht, doch bei uns war alles still. Zachathrustra lief eine Träne über die Wange, Beatrice ebenfalls. Dann begann zögerlich der Applaus und schwoll zu einem ohrenbetäu-benden Crescendo an.
„Lang sei tot das Ehepaar Vampire.“, rief irgendjemand, dem ich am liebsten den Hals umgedreht hätte. Wieso ging es nicht in ihre Köpfe, dass Lilith und ich NICHT verheiratet waren? Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, ergriff ich abermals das Wort:
„Ich denke, es gibt etwas zu klären ... Lilith und ich sind nicht verheiratet. Es war nur eine Ausrede, die zu ernst genommen wurde.“
- Totenstille -
Doch dann erklang wieder die Stimme:
„Schön sei der Tod von Lilith und Pater Vampire.“
Uns wurde also verziehen und unsere Zeit als Ehepaar vergessen und es wurde noch ein sehr schöner und lustiger Tag.
***
Ein Jahr später ...

Ich stand bei der Taufe neben Paton und strahlte wie ein Honigkuchenpferd, während er das Neugeborene aus den Armen seiner stolzen Mutter Beatrice nahm und mir in die Hand drückte. Ich hielt das Köpfchen des Jungen behutsam über das Taufbecken und Paton vollzog die Taufe. Zum Schluss sagte er:
„Hiermit bist Du auf den Namen Lyell John Rodney Ridley getauft.“
Ich musste unwillkürlich lächeln. Den ersten Namen hätte Paton am liebsten geflüstert. Es war mir von Anfang an klar gewesen, dass das Kind einen Namen von Paton bekommen würde, so wie seine Mutter mal in ihn vernarrt war. Doch er würde sich irgendwann damit abfinden müssen, sich seinen zweiten Namen mit einem kleinen, süßen, blond gelockten und blauäugigen Jungen teilen zu müssen. Nämlich mit meinem Patensohn.

Kapitel 33
Zweite Chance
1.April.1913
„Da bist Du ja endlich Paton!“, meckerte mir SEINE Stimme zur Begrüßung entgegen.
Ich hatte Lilith soeben aufgetragen gehabt, den Kapellenboden zu schrubben, als Mathilde förmlich herein-geschwebt kam und mir mitteilte, dass ER mich sprechen wollte.
„Ja ja, ungeduldiger geht’s aber auch nicht, oder?“, schnauzte ich verärgert zurück. Glücklicherweise war unser freundschaftliches Verhältnis so gut, dass er mir solche Sprüche nicht übel nahm.
„Also, was gibt’s?“, frage ich seufzend.
„Eine Menge. Ich habe beschlossen, bestimmten Leuten aus der Hölle eine zweite Chance zu geben. Das heißt, demnächst wird sich euer Zwischengeschoss füllen. Du kannst Lilith ausrichten, dass ich Mr. Oliver keine Chance gebe, aber ihrem 'Onkel' Rodney.
Nun zu Dir. Du hältst Gottesdienste ab und bist für die Frömmigkeit eines jeden verantwortlich. Deine Brüder und Schwestern werden Dir helfen.
Und ich wollte Dich auf etwas vorbereiten. Ich werde nämlich auch Deinem Mörder eine Chance geben.“ ER machte eine Pause, in der ich versuchte, zu begreifen, was ER gesagt hatte.
„Du ... Du ...“, stotterte ich dann, als SEIN Satz zu mir Durchdrang.
"April, April?", fragte ich unsicher, obwohl ich wusste, dass ER ganz sicher nicht scherzte.
"Das ist kein Scherz Pater."
„Du kannst Preston nicht herholen. Er hat seinen Bruder ... er hat mich getötet. Er ist wie Du schon sagtest, ein Mörder.“, wisperte ich fassungslos. Könnte es sein, dass Gott seinen Verstand verloren hatte?
„Natürlich habe ich noch alle Tassen im Schrank!“, wies er mich zurecht.
„Außerdem war Preston betrunken!“, fuhr er fort.
„Das ändert nichts!“, schrie ich jetzt wütend.
„Paton Lyell Vampire. Finde Dich mit der Situation ab.“, befahl er und entließ mich.

Kapitel 34
Verlorene Liebe

1.April 1913
Ich hastete in die Kapelle, deren Boden Bloody-Bunny schrubben sollte. Ich hatte tolle Nachrichten. Jeden-falls für sie. Denn ich würde mich freuen, wenn mein Onkel die Möglichkeit hätte, in den Garten Eden zu kommen.
Ich öffnete die Seitentür der Kapelle und rannte zum Altar. Wollte ich jedenfalls. Der Boden war nämlich frisch gewienert, deshalb logischerweise auch sehr rutschig. Und ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders als bei dem Kapellenboden.
Bloody-Bunny stand an den Bänken und polierte diese. Ich konnte sie gerade noch packen, als es mir die Füße unter mir wegzog. Doch das plötzliche Gewicht – nicht das ich so schwer wäre- hatte sie nicht erwar-tet, sodass sie ebenfalls ausrutschte, sich aber an einer Sitzbank festhalten konnte.
„Na, mein Kleiner, warum so stürmisch?“
Ich verzog das Gesicht. Wie ich diesen „Spitznamen“ hasste.
„Ich habe eine Überraschung für Dich, Bloody-Bunny!“, schlug ich zurück. Sie wollte sich etwas über ihren linken Ringfinger ziehen, als sie merkte, dass es nicht zum Überziehen gab. Entsetzt blickte sie zu mir.
„Ich habe meinen Ring verloren. Ich wollte ihn gerade anziehen, als Du Dich an mit festgehalten hast. Oh, mein Gott! Er ist mir aus der Hand gefallen, weil ich mich an der Bank gekrallt habe. Was hast Du getan?“, beschuldigte sie mich. Ich sah sie fassungslos an. Sie hatte einen Ring von ihrer Schwester Magdalena und ihrem Bruder Oscar bekommen, als sie geheiratet hatte.
Seit ich Lilith kannte, hatte sie Tag für Tag den Ring an ihrem Finger getragen. Er war golden mit einem kleinen Saphir in der Mitte. Zur linken Seite des Steins war ein „M“ eingraviert, zur rechten ein „O“. Sie hatte ihn nur zum Putzen abgelegt.
Ich sah ihre Hand an. Sie war nun bleich und sah seltsam zerbrechlich aus. Ich hatte ein schlechtes Gewis-sen. Ich war irgendwie mit Schuld. Aber ihre Vorwürfe waren unberechtigt. Ich glaubte, ich würde mit der Verkündung der Überraschung doch lieber noch etwas warten.
***
ich saß traurig in meinem Zimmer, nachdem ich Paton zornig in der Kapelle sitzen gelassen hatte. Dieser eingebildete, sture Pater. Er war Schuld, dass mein Ring weg war. Wie man auch so dämlich sein konnte.
Die Tür sprang auf und Beatrice kam hereingepoltert, was so gar nicht ihre Art war.
„Lyell ist weg!“, heulte sie.
„Was?“, ich sprang auf.
„Ich hab schon überall gesucht. Aber Arthur Collins ist auch nirgendwo aufzufinden. Lilith, hilf mir!"
Ich nahm sie in den Arm. Arthur Collins war kurz nach Lyells Taufe hergekommen. Er vergöttert Beatrice. Er lauerte ihr hinter jeder Ecke auf, hatte versucht, John einzuschüchtern und Lyell Angst zu machen. Bea-trice hatte seine Annäherungsversuche geekelt abgelehnt.
"Wenn dieser Dreckssack mein Baby hat, dann mach ich ihn fertig", dachte ich und rannte in die Kapelle. Ich wusste nicht, wieso, aber ich hatte so ein Gefühl in der Magengrube, dass dort etwas passieren würde.
Schließlich trat ich durch das Tor. Keine fünf Meter von mir entfern, stand mein süßer Engel Lyell. Hinter ihm kniete ein großer, schlanker Mann mit schulterlangen, fettigen, schwarzen Haaren. Er war unrasiert und auch ungewaschen, was man roch. Es war Arthur Collins.
Im Augenwinkel bemerkte ich Konstanze vor der Turmtür stehend, beachtete sie aber nicht.
„Lass ihn los!“ Ich hatte Tränen in den Augen.
„Nein.“, fauchte er. Das war mein Signal. Ich stürzte mit gefletschten Zähnen auf ihn zu und schlug auf ihn ein und kratzte ihn. Und wenn er nicht so gestunken hätte, dann hätte ich ihn auch gebissen. Mit der einen Hand hielt er den Kleinen fest, den anderen Arm schlang er mir um die Hüfte und zog mich an sich. Sein Mundgeruch schlug mir entgegen und mit wurde so schlecht, dass ich alles nur noch benebelt sah.
Ich hielt den Atem an und trat ihm zwischen die Beine.
Er heulte auf und ich riss ihm den Jungen aus der Hand, stellte diesen auf den Boden und nahm ein Holzteil einer kaputten Bank und schlug zu. Collins direkt in sein hässliches Gesicht. Ohnmächtig sank er auf den Boden. Oder polterte eher.
„Alles in Ordnung?“ Ich eilte sofort zu Lyell. Der nickte nur und sah mich bewundernd an.
Ich nahm ihn auf den Arm und blickte zur Turmtür. Konstanze war verschwunden.
***
Ich saß mit allen anderen im Speisesaal, um Beatrice zu trösten. Es war klar gewesen, dass sich Lilith allei-ne auf die Suche nach Lyell machte. Anfangs war ich sehr verärgert gewesen, doch jetzt machte ich mir langsam Sorgen.
Plötzlich knallte die Tür auf und Konstanze stand da.
„Collins hatte Lyell und Lilith hat ihn verprügelt. In die Kapelle, schnell!“, schrie sie. Alle folgten ihr. Na ja. Fast alle. Ich ließ ihnen den Vortritt.


Kapitel 35
Ruhm und Entschuldigungen

Ich genoss den Ruhm, den man mir entgegenbrachte, seit ich Lyell gerettet hatte.
Jeder sah mich an, als wäre ich eine Kaiserin. Alle machten mir Platz, jeder grüßte mich höflich. Und doch fehlte mir etwas. Ich blickte häufig an meiner rechten Schulter hinab, doch Paton stand nie da. Er fehlte mir. Nein. Tat er nicht. Seine Motzerei, seine lustige Art, seine Fürsorge und seine Vertrauen fehlten mir...
Ja. Er fehlte mir. Doch wir würdigten uns keines Blickes.
Mir begegneten oft Hilde und Heinz, doch beide, sahen mich immer vernichtend an. Erst vor kurzem, hatte mich Hilde zurechtgewiesen, wieso ich nicht mehr mit Paton reden würde. Er wäre jetzt wieder so alleine, wie er es war, bevor ich kam. Ich hatte Tonnen von Schuldgefühlen gehabt. Und ich musste ihr sogar zu-stimmen. Er tat mir richtig Leid.
Da ich nicht mutig genug war, gleich zu ihm zu gehen und mich zu entschuldigen, ging ich in die Kapelle und kniete mich auf eine Bank, um zu beten:
„Lieber Gott. Ich habe mich mit Paton gestritten und vermisse ihn. Ich weiß, dass ich ungerecht war, aber mein Ring hat mir so viel bedeutet und Paton ist eigentlich gar nicht Schuld. Bitte lieber Gott, gib mir Kraft, die richtigen Worte für eine Entschuldigung zu finden. Es tut mit unendlich Leid.“
„Du brauchst Dich gar nicht mehr zu entschuldigen.“, sagte eine ruhige Stimme. Ich blinzelte verwirrt.
„Gott? Sag bloß, Du antwortest jetzt doch?“
„Dreh Dich um!“, meinte die Stimme jetzt genervt.
„Oh!“, stellte ich fest, als ich sah, dass Paton hinter mir saß. Er hatte wohl im Beichtstuhl gesessen und alles mitangehört, denn die Tür stand offen.
„Es tut ...“, fing ich an, doch er unterbrach mich.
„Schon verziehen.“
Ich lächelte und umarmte ihn dankbar. Dann zog er meinen Ring aus der Tasche, der leuchtete und glänzte. Ich rief ein freudiges „Ah.“ aus und steckte mir den Ring an den Finger.


Kapitel 36
Wiedersehen mit dem Mörder

8. Januar 1914
Wir empfingen alle „Toten der Hölle“ an der Pforte des Klosters. Zachathrustra wurden die Hände geschüt-telt. Dann kam ich an die Reihe. Ich hieß alle herzlich Willkommen. Nach mir nannte alle Paton ihren Na-men und wurden von ihm notiert. Dann bekam jeder von Bruder Bernhard einen Tagesplan.
Die meisten kannte ich nicht, doch den meisten sah ich an, dass sie „böse“ waren. Einige hatten Augen-klappen, anderen fehlten Körperteile und wieder gab es welche, die so einen Gesichtsausdruck hatten, dass ich sofort wusste, dass sie nichts Gutes im Sinn hatten. Die meisten waren Männer. Von manchen hatte ich schon etwas gehört.
„Sind Sie nicht Blackbeard?“, fragte ich, ohne auf meine Manieren zu achten, als ich einem Mann mit lan-gem schwarzen Bart vor mir hatte.
„Aye, Lady. Sind Sie nicht mein Weib?“, fragte er. Ich ließ seine Hand sofort los und sah zu Paton, der neben mir stand und mir auch sofort zur Hilfe eilte, indem er den Piraten mit einem so funkelnden Blick bedachte, dass dieser sogleich verstummte.
Und so ging es die meiste Zeit weiter. Ich war richtig froh, dass ich mich schon mit Paton versöhnt hatte, denn keiner konnte seinem „bösen Blick“ etwas erwidern. Er war sozusagen mein Schutzengel.
„Hallo.“ Ich hörte Zachathrustras Stimme nun schon zum x-ten Mal, doch jetzt klang sie eisig. Ich drehte mich zu ihr um, um den Neuen zu begrüßen, den sie so hasserfüllt begrüßt hatte. Doch als ich ihn sah, stockte mir der Atem.
Vor mir stand ein Mann, der über einen Kopf kleiner war als ich. Er hatte schulterlanges, braunes Haar, braune Augen und trug teuere Kleidung. Ich wusste sofort, dass ich Preston Lewis Vampire vor mir hatte. Er war Patons perfektes Ebenbild. Er lächelte mich an. Ich fühlte mich elend. Denn sein Lächeln war nicht freundschaftlich, sondern anzüglich. Ich blickte zu Paton, doch diesmal hielt er seinen Blick stur auf sein Blatt gerichtet, obwohl er nichts schrieb.
„Holldrijoh schöne Maid. Preston Vampire.“, stellte er sich vor. Er hatte seinen Bruder wohl noch nicht bemerkt.
„Ähm. Willkommen. Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen.“
„Kommt ganz darauf an, was Du mir zu bieten hast.“, fragte er.
„Äh.“, ich geriet ins Stottern. Er trat auf mich zu, ich wich zurück.
„Hör auf Preston. Miss Parker ist nicht eine Deiner Flittchen.", fauchte Paton seinen Bruder an.
Prestons Augen weiteten sich vor Schreck und er wandte den Kopf blitzartig zu Paton. Er setzte einen so hasserfüllten Blick auf, dass ich dachte, er sei der Teufel höchst persönlich.
Wenn mir diese Situation nicht so unangenehm gewesen wäre, hätte ich gelacht. Beide hatten denselben Blick aufgesetzt und funkelten sich an.
„Bruder Samuel. Würden Sie Mr. Vampire bitte in seine Kammer bringen?“, meinte Zachathrustra be-stimmt.
Dieser packte den „bösen“ Zwilling und verschwand. Ich atmete auf und ging ins Bad, um mir die Hände zu waschen.

Kapitel 37
Tète á Tète im Kleiderschrank

8. Februar 1914
Ich war gerade von einer geheimen Konferenz im Badezimmer der Frauen zurückgekehrt. Alle wussten natürlich, man konnte es kaum übersehen, wer Preston Lewis war und es bekamen auch alle mit, welche Stimmung zwischen den Brüdern herrschte.
Es verging kein Tag, an dem sie nicht stritten und irgendwelche Gegenstände oder Beschimpfungen umher flogen. Anfangs war ich überrascht gewesen, wie gut ein Priester schimpfen konnte.
Deswegen hatten wir beschlossen, dass alle Paton, ebenso Zachathrustra, Hilde, Heinz und ich, ehrfurchts-voll mit „Pater Vampire“ ansprechen sollten. Schließlich wollten wir Preston zeigen, wo es hier lang ging.
Preston war im wahrsten Sinne des Wortes eine Ausgeburt der Hölle. Er war arrogant, grabschte die Frauen gerne ans, ließ unverschämte Sprüche los und tat nicht den geringsten Handgriff.
Es klopfte und ich rief
„Herein.“ Wünschte mir aber, es nicht getan zu haben, als unser Höllen-Filou eintrat.
„Wunderschönen guten Abend Miss Lilith.“, wünschte er mir mit einem unverschämten Grinsen.
„Nicht mehr.“, erwiderte ich kühl, "was wollen Sie hier?“
„Nun ja, ich wollte mal sehen, wie das schönste Frauenzimmer hier lebt. Sie haben es nett hier!“
„Danke, aber eine Bazille verseucht die Luft im Raum. Wenn es sich nicht verzieht, hole ich das Karbol.“
„Oh Miss Lilith. Womit habe ich das verdient? Haben Sie schlecht zu Abend gegessen?"
„Nein, denn Sie waren nicht dort. Also war es köstlich.“
Ich war dankbar, dass denen aus der Hölle das Essen auf das Zimmer gebracht wurde.
„Ich würde Sie gern auf einen Spaziergang einladen, Miss Lilith.“
„Nein, danke, ich verzichte, Mr. ...“, ich brachte es nicht über mich, ‚Vampire’ zu sagen.
„Sie sind also nicht geneigt mich zu begleiten?“ Er sah mich mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen an, dass mir gar nicht gefiel. Plötzlich presste er meine Hand an seine Wange und begann, sie zu küssen.
Angewidert entriss ich ihm diese wieder und trat einen Schritt zurück. Eckel überkam mich. Die Stelle, an der er mich geküsst hatte, brannte.
Obwohl er kleiner war, als ich, war er stärker. Er drängte mich in die Kammer, die ich als Kleiderschrank nutzte und presste mich gegen eine Wand. Mit der einen Hand hielt er mich in Schach, mit der anderen fummelte er ungeschickt an den Knöpfen meines Kleides herum.
Doch in diesem Moment hörte ich, wie jemand meine Zimmertür öffnete und ich schrie um Hilfe.
Paton stand mit einer Bibel in der Hand da und starrte die Szenerie ungläubig an.
Ich mit seinem Zwillingsbruder an mich gepresst, der sich abmühte, mein Kleid mit einer Hand zu öffnen.
Paton sagte kein Wort, sondern holte aus und warf die Bibel an den Kopf seines Bruders.
Dieser sank zusammen und ich stolperte über ihn, doch Paton fing mich auf und einen Augenblick später, waren wir in dessen Büro.
„Bleib hier!“, meinte er und verschwand abermals.
***
Ich kam mit grimmiger Genugtuung in mein Büro zurück. Meine Hand tat zwar weh, aber das störte mich wenig.
Bloody-Bunny saß mit einem großen Glas Blut auf der Couch. Sie war blass und sah erschrocken aus.
„Wie geht es Dir?“
„Miserabel.“
„Kann ich verstehen, aber ich hab Dir jemanden mitgebracht.“ Lyell kam hinter mir zu seiner Tante gelau-fen.
„Geht’s Dir gut, Tante Lilith?“
„Jetzt, wo Du da bist, ja.“
Lyell unterhielt Lilith den ganzen Abend, bis beide schließlich Arm in Arm auf dem Sofa einschliefen. Ich setzte mich in einen Sessel und wachte über beide.
Am nächsten Morgen war Lilith gut gelaunt und Preston ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken.
Bei der Abendpredigt jedoch, war er anwesend und Lilith starrte ihn gerade zu an.
Er hatte am Hals blaue Flecke und, wie es ihr schien, eine gebrochene Nase. Ich hätte Künstler werden sollen.
Höllenbewohner waren wie Engel. Also wie Menschen, aber unsterblich und trotzdem verletzbar. Hihi.

Als wir wieder im Büro waren, platzte Lilith heraus:
„Was hast Du mit Preston gemacht?“ Ich konnte ein Funkeln in ihren Augen sehen.
„Nun ja ... ich habe Dich gerächt.“ Sie sah mich ungläubig an.
„Mensch, guck nicht so. Wir haben uns schon in der Wiege geprügelt. Nur, dass er damals schneller war.“ Ich grinste.
„Du hast Preston tatsächlich verprügelt?“
„Was soll dieser überraschte Unterton?“
„Tja, ...“, sie musterte mich, „ er sieht etwas stärker aus als Du!“
„Träum weiter, Bloody-Bunny.“
Seitdem schätzte sie mich gewaltig!

Kapitel 38
Die innere Stärke

Es waren einige Wochen vergangen, Preston hatte sich erfolgreich integriert.
Ich lehnte mich entspannt in meinem Sessel zurück und freute mich, endlich Ruhe zu haben, als die Tür aufschwang. Es war Lilith und sie meinte, ich müsse unbedingt kommen. Es gäbe Schwierigkeiten. Wir rannten – ich rannte, Lilith ging nur schnell – zum Vorraum der Kapelle, wo uns Rodney Wellows, Za-chathrustra, John, Beatrice und drei, mit wohl bekannte Typen standen.
Der Mittlere war klein, fett und hatte eine Glatze, auf der Schweiß glänzte. Eine runde Nickelbrille, die auf seiner Kartoffelnase saß und einen kleinen, schmallippigen Mund mit verfaulten Zähnen. Sein Name war Edgar.
„Ach, der Pater!“, begrüßte er mich mit unfreundlicher, piepsiger Stimmer.
Links neben ihm stand Charly, der das genaue Gegenteil Edgars war. Er war einen Kopf größer als Lilith, zaundürr und hatte schulterlange, schwarze Haare. Außerdem ein schönes, junges Gesicht. Er nickte mir zur Begrüßung zu. Er war der einzig Vernünftige.
Rechts neben Edgar stand Ramona. Sie war so unscheinbar, das ich sie erst jetzt bemerkte. Sie hätte auch gut ein Teil der Wand sein können. Sie war klein, sie ging mir ungefähr bis zur Brust, war dürr, hatte hüft-langes, mausfarbenes Haar und eine ruhige, sanfte Stimme
„Pater. Schön Sie zu sehen.“
Die drei kamen aus der Hölle und wurden regelmäßig vom Teufel hoch geschickt, um zu prüfen, wer wie-der in die Hölle sollte.
„Pater, wir sollen Rodney Wellows, ehemaliger Advokat, wieder in die Hölle bringen. Nach dem Erachten des Höllenfürsten war sein Betragen nicht zufrieden stellend.“
Obwohl Ramona so unscheinbar war, hatte sie die Zügel in der Hand. Die zwei Männer standen neben ihr wie Statuen.
„Wie kann der Höllenfürst wissen, was hier oben vor sich geht?“, fragte ich argwöhnisch.
„Nun ja, der Fürst hat seine Mittel und Wege.“, antwortete sie lächelnd.
Und ich wusste sofort, wer „die Mittel und Wege“, gewesen war.
Deswegen hatte sich Preston Stift und Feder leihen wollen.
Es gab eine Art Postschach in Zachathrustras und meinem Büro. Dort konnten wir Nachrichten von IHM und dem Teufel empfangen, aber auch losschicken.
Preston hatte gesagt, er wolle das von mir aufgetragene Gedicht schreiben. Und ich hatte ihn auch noch alleine gelassen. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein?
Dieser miese Spion. Ich würde ihn sofort in die Hölle schicken und selbst, wenn ich ihn höchstpersönlich dort hinbringen musste.
„Rodney hat sich vorbildlich verhalten, aber euer „Mittel und Wege“ könnt ihr wieder mitnehmen.“
Ich verschwand in Prestons Zimmer, in dem er auf dem Bett saß. Bevor er reagieren konnte, stand er auch schon vor den „Prüfern“ und wurde kreidebleich.
„Ich weiß zwar nicht, was der euch geschrieben hat, aber es ist falsch. Er ist der Einzige, den ihr mitneh-men könnt. ER wird entscheiden, wer nach oben oder nach unten kommt, bzw. hier bleibt. Aber ich denke bei meiner Verwandtschaft kann ich da selbst entscheiden“
Damit verschwanden sie lautlos.
Ich drehte mich um und wollte in mein Büro, doch Lilith war mir dicht auf den Fersen. Sie strahlte, wie die Sonne höchstpersönlich.
„Danke Paton. John, Rodney und ich stehen für immer in Deiner Schuld.“
Ich war den Rest des Tages sehr stolz auf mich und froh, endlich meinen furchtbaren Zwillingsbruder los zu sein. Ich sah Preston Lewis Vampire nie wieder.


Kapitel 39
Zurück auf die Erde

8. September 1914
Ich saß ungeduldig hinter Patons Schreibtisch. Es war Krieg auf der Erde ausgebrochen und täglich kamen mehr Menschen. Da ER nicht sofort über das Schicksal der Toten entscheiden konnte, mussten sie ins Zwi-schengeschoss, in dem immer noch Tote aus der Hölle wohnten. Paton hatte alle Hände voll zu tun, Zim-mer oder andere Wohngelegenheiten zu finden. Ständig kam jemand in sein Büro, um sich zu beschweren. Deshalb saß ich jetzt hier. Ich sollte mich um die Beschwerden kümmern, während Paton versuchte, ir-gendwo Platz zu schaffen. Es mussten sogar schon Privatzimmer geräumt, sodass John, Beatrice und Lyell ebenfalls mit mir in Patons Büro hausten.
Es klopfte.
„Herein.“, rief ich. Eine Frau betrat den Raum.
„Guten Tag.“, sagte sie schüchtern.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich.
„Nun. Der Pater gab mir die Anweisung ins Frauenzimmer 72 zu gehen. Ich weiß allerdings nicht, wo das ist.“
Ich holte einen Plan hervor, den mir Paton gegeben hatte. Darauf war der Umriss des Klosters. Auf den Zimmern standen die Gemeinschaftszimmer mit der jeweiligen Zimmernummer. Die so genannten „Frau-en- und Männerzimmer“ waren von Paton gegründet worden. Es hieß eigentlich nur so, weil sich Frauen bzw. Männer diesen Raum teilen mussten.
„Das Frauenzimmer befindet sich im Westflügel im dritten Stock.“
Ich zeigte ihr das Zimmer auf dem Plan. Sie bedankte sich und ging zur Tür, als ich sie aufhielt.
„Wieso ist Krieg ausgebrochen?“, wollte ich wissen.
„Das österreichische Königspaar wurde in Sarajevo erschossen. Es ist schon fast ein Weltkrieg. Deutsch-land, Frankreich, Österreich und Russland sind bis jetzt in diesen Kampf verwickelt. Aber da Großbritan-nien ein Verbündeter Frankreichs ist, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie aufhören, nur zuzusehen.“, erzählte sie traurig. Ich bedankte mich und sie ging.
Und so ging es den ganzen restlichen Tag weiter, bis Paton zu mir kam.
„Willst Du raten, was wir machen?“, fragte er grinsend.
„Wir bauen ans Kloster an, damit mehr Platz ist?“, fragte ich hoffnungsvoll.
„Nein.“, sagte er gedehnt.
„Wir gehen auf die Erde zurück!“
„Was?“, schrie ich entgeistert, „es ist Krieg! Was wollen wir unten?“
„Auf dem Schlachtgeld den Verwundeten helfen, damit sich das Zwischengeschoss nicht noch mehr füllt.“
„Was ist, wenn wir angegriffen werden? Und wo sollen wir schlafen?“, fragte ich zweifelnd.
„Dann kommen wir bei Christine unter.“, antwortete er munter.
„Wer ist Christine?“
„Ein Engel, die ich ... eine Freundin.“, wich er aus.
Ich grinste, sagte jedoch nichts.
***
Sie schmunzelte, sagte jedoch nichts. Wir trafen die nötigen Vorbereitungen: Proviant verstauen, ein paar Kleidungsstücke einpacken und das Ich-werde-zum-Mensch-Gebräu trinken. Nachdem wir letzteres getan hatten und wieder gut aussahen, verabschiedeten wir uns von Zachathrustra, Hilde, Heinz und der Familie Ridley.
Dann traten wir wieder hinaus in das Nichts und eins, zwei, drei waren wir auf der Erde und es war scheuß-lich. Wir waren in Deutschland, um genauer zu sein, in München gelandet.
Ich hatte eine Arzttasche dabei und Lilith eine Krankenschwesterausrüstung. Wir hatten erfahren, dass alle Ärzte aufgefordert worden waren, in den Lazaretten zu helfen.
Wir hasteten eine Straße entlang, zum nächsten Lazarett. Ich sah, wie Lilith weiß im Gesicht wurde. Sie hatte noch nie Menschen verarztet oder gepflegt. Aber ich hatte ihr eine kleine Anweisung gegeben. Gegen was, welche Salbe half, welche Medikamente bei welchen Schmerzen halfen und wie man Verbände anleg-te.
Unsere Aufgabe war simpel: wir hatten von IHM ein Pulver bekommen, dass wir den Verwundeten geben sollten, damit sie genesen, also nicht sterben würden und das Zwischengeschoss würde sich hoffentlich nicht noch mehr füllen. Aber die Soldaten würden nicht noch mal kämpfen. Nein, sie hätten den unbändi-gen Wunsch ihre Familie zu finden und mit ihnen an einen sicheren Ort zu fliehen.
Und wir hatten noch einen Vorteil: Alle im Zwischengeschoss, in der Hölle und im Garten Eden konnten jede Sprache verstehen und sprechen. Sonst hätte es große Komplikationen gegeben. Und so hieß ich nicht Paton Lyell Vampire, sonder Dr. Phillip Frohsinn und Lilith war Schwester Apolonia Ludwig.
Wir betraten das Lazarett und selbst mir wurde ein wenig übel. Überall lagen Männer, die meisten in Lum-pen gehüllt. Es stank nach Äther, Chinin, Angst und Schmerz.
Ein paar Männer schrieen und überall liefen Ärzte und Schwestern umher.
Auch wenn es makaber klingt, aber das Chaos war perfekt. So würde niemand bemerken, was wir mit den Patienten anstellten.

Kapitel 40
Christine
8. September 1914
Paton klopfte so laut, dass es in der Straße widerhallte und ich erschrocken zusammenzuckte. Die Tür öff-nete sich und eine Frau, besser gesagt, ein Engel, stand vor uns.
„Hallo Christine.“, begrüßte Paton die Frau. Sie war so groß wie er, schlank, hatte blonde Haare und strah-lend blaue Augen, die sich weiteten, als sie Paton sahen.
„Pater.“, stellte sie verblüfft fest, doch dann klang ihre Stimme eisig.
„Was machst Du hier?“, fragte sie.
“Wir brauchen einen Unterschlupf.“, erklärte Paton.
„Ach, und da hast Du gleich an mich gedacht?“ Sie sah ihn zähneknirschend an.
„Nein, Pater, verschwinde. Diesmal werde ich Dir nicht helfen. Diesmal musst Du alleine sehen, wie Du aus einem Schlamassel herausko ...“, sagte sie, doch Paton schob sich einfach an ihr vorbei ins Haus.
Christine schaute mich mit offenem Mund an. Ich schaute wahrscheinlich ebenso verblüfft zurück. Dann folgte ich Paton – er war immerhin mein Mentor. Doch als ich an ihr vorbeigehen wollte, hielt sie mich fest.
„Wer bist Du?“, fragte sie zornig.
„Lilith Vamp ... Parker. “
„ So so, Lilith Vamparker.” Sie grinste mich amüsiert an. Dann schaute sie wieder zornig, als ein
„Christine, ich glaube, Dein Wasser kocht.“, aus dem Haus drang. Sie schnellte herum und rannte in das Zimmer. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, folgte ich ihr.
Es gab eine Stube und zwei weitere Räume: Küche und Abort. Eine schmale Treppe führte wahrscheinlich ins Schlafzimmer.
Ich ging in die Küche, in der Christine sich beeilte, das spritzende und blubbernde Wasser vom Herd zu nehmen. Vor mir stand ein Tisch hinter dem Paton saß und ein Bild in der Hand hielt. Ich ging um den Tisch herum und sah mir ein Foto an, das an der Wand hing.
Darauf war Christine zu sehen, die einen jungen Mann umarmte und wie die Sonne strahlte. Ich holte Luft, als ich erkannte, dass Paton der Mann war.
„Lilith?“ Ich drehte mich schnell zu Paton um und stellte mich vor das Bild.
„Ich hab mich verschluckt.“, stammelte ich. Paton sah wieder auf das Bild in seiner Hand und auf, als Christine zu uns kam.
„Du hast geheiratet?“, fragte er sie.
„Ja. Und Sebastian wird jeden Moment nach Hause ...“
„Ein Sterblicher. Sebastian.“, sinnierte Paton einfach weiter.
„Pater. Ich kann Dir deswegen diesmal keinen Unterschlupf gewähren. Wenn Sebastian nach Hause kommt ...“
„Hält er mich auch für Deinen Bruder?“
„Paton!“, schrie sie. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie seinen Namen kannte.
„Schatz?“, ertönte eine Stimmer von der Tür und ein blonder, großer – hässlicher – Mann trat zu uns. Er sah Paton und mich an und wendete sich dann an Christine.
„Ich dachte, Dein Bruder lebt in England.“
Christine setzte schon zu einer Erklärung an, doch da sprang Paton auf und schüttelte Sebastian die Hand.
„Dr. Phillip Frohsinn. Freut mich, Sie endlich kennen zu lernen. Wie macht sich meine Schwester als Ehe-frau? Darf ich vorstellen: Schwester Apolonia Ludwig.“
Er sah Paton wie einen Trottel an.
„Ich dachte, sie hießen Jens.“, fragte er mit dümmlichem Unterton.
„Sein zweiter Name.“, sagte ich rettend, als Paton Christine einfach nur anstarrte.
„Würdest Du bitte noch etwas Wasser holen, Schatz.“, ordnete Christine an. Ihr Mann war gehorsam und verschwand.
„Jens also ...“, stellt Paton mit säuerlicher Miene fest.
„Nachdem Du vor 50 Jahren einfach verschwunden bist, haben das auch andere Leute bemerkt. Da hab ich halt einen Namen gebraucht.“
„Und wie wäre es mit einem richtigen Namen gewesen?“
„Jens ist ein richtiger Name.“
„Wenigstens ist Sebastian schlimmer.“
„Findest Du?“, schnappte sie.
„Ja, finde ich. Wenn Du schon einen Sterblichen heiraten musstest, hättest Du Dir nicht vielleicht einen Klugen nehmen können?“, flehte Paton schon fast. Als ob Christine sich gegen ihren Mann entscheiden würde.
„Er ist klug!“ Jetzt war sie sauer.
„Er ist ein Idiot.“, gab Paton gleichgültig zurück.
„Nein. Er ist nur nicht reich.“
„Noch schlimmer.“
„Oh, halt den Mund, Paton!“
Ich war die ganze Zeit stumm da gestanden, doch jetzt wollte ich die Streiterei nicht länger mit anhören.
Ich ging zu Paton, der emsig weiterschimpfte, packte ihn am Kragen und schleifte ihn mit mir aus dem Haus. Dann knallte ich die Tür zu und meinte:
„Ich habe Hunger."

„Ich kann nicht mehr.“, maulte ich. Wir waren jetzt fast zwei Stunden umhergewandert, auf der Suche nach einer Unterkunft, die wir uns leisten konnten. Doch wir fanden keine.
Ich stand am Viktualienmarkt und Paton verschwand in eine Kneipe, um nochmals nach einer Unterkunft zu suchen, als ein alter, blinder Mann gegen mich lief und ich stürzte.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Er ertastete meinen Arm und half mir beim Aufstehen.
„Ich bin ja so tollpatschig.“, entschuldigte er sich abermals.
„Nein. Du bist blind.“, sagte Paton, der jetzt zu uns stieß.
„Pater? Pater Vampire? Bist Du das?”
„Jawohl!“, Paton grinste.
„Gehört die Frau, die ich umgehauen habe, zu Dir?“
„Ja. Mein Name ist Lilith Parker.“, stellte ich mich vor.
„Pater Klein.“, er schüttelte meine Hand. Dann wandte er sich wieder an Paton.
„Was macht ihr hier?
„Wir suchen eine Unterkunft. Mehr darf ich nicht sagen.“, antwortete dieser.
„Vergiss es. Hier bekommst Du nichts. Es herrscht Krieg, mein Freund. Such Dir einen Bekannten, bei dem Du wohnen kannst. Ich selbst wohne bei einer frommen, achtköpfigen Familie und schlafe auf dem Boden ihrer zwei Zimmer Wohnung.“
"So schlimm?"
"Ja."
"Danke Pater. Gott schütze Dich!"
"Dich auch Pater Vampire. Sie auch Fräulein Parker."
Damit verschwand er.
"Was machen wir jetzt Paton?"
"Wir gehen zu Christine zurück!"
"Aber die…"
"Komm einfach mit."
Ich folgte ihm. Er würde schon wissen, was er tat.
Tatsächlich. Christine nahm uns auf. Sie sagte nicht viel. Sie führte uns nur die Treppe hoch und verwies auf eine Tür, die neben der Schlafzimmertür war. Eine kleine Kammer mit zwei Betten darin. Unser Ge-päck stand mitten im Raum.
"Danke Christine. Dein Mann ist kein Idiot."
Christine lächelte.

Kapitel 41
Enttäuschte Liebe
28. September 1914
„Schwarzmarkt?“
Ich lachte. Paton stand in seinem Arztkittel vor mir.
„Was ist daran so lustig?“, keifte er.
„Nun ja, ein Arzt auf dem Schwarzmarkt ist wirklich sehr unauffällig.“
Er schnaubte nur missbilligend und setzte schon zu Erklärung an, als Christine auch schon herangeeilt kam und Paton zwei Taschen in die Hand drückte. Er stolzierte zur Tür hinaus, nicht ohne mich noch einmal böse anzusehen.
Christine sah ihm kopfschüttelnd hinterher, bevor sie sich zu mir umdrehte.
„Also los. Dann lass uns mal an die Arbeit gehen.“, sagte sie munter und wir fingen an, den Schutt weg zuräumen, der im Wohnzimmer lag, da es gestern eine Explosion gegeben hatte. Wir unterhielten uns recht gut, bis mir das Bild von ihr und Paton in der Hand lag.
„Ihr seid keine Geschwister. War mal was zwischen euch?“, fragte ich und zeigte ihr das Bild.
„Nein. Eigentlich nicht. Ich war in ihn verliebt, aber wir sind nur gute Freunde gewesen. Vor 50 Jahren hat ER dann beschlossen, dass ich ein Engel sein sollte. Als Paton mich auf die Erde begleitete, gestand ich ihm meine Liebe. Und er hat mir einen Korb gegeben.“, sagte sie mit säuerlichem Unterton.
Ich beschloss, ihr aus heiterem Himmel von Kornelia zu erzählen.
„Das wusste ich ja gar nicht.“, meinte sie, als ich geendet hatte.
In dem Moment öffnete sich die Tür und Paton trat mit voll bepackten Taschen ein.
„Ich hab alles bekommen.“, verkündete er fröhlich.
Christine sprang auf Paton zu und umarmte ihn. Paton schaute mich verdutzt über ihre Schulter an. Ich zuckte nur die Achseln und tat so, als wüsste ich nicht, was in Christine gefahren war.
„Es tut mir so Leid Paton, wenn ich das gewusst hätte.“ Sie ließ ihn los und putzte sich die Nase.
„Was ist los? Wer hat Dir was erzählt?“, fragte er argwöhnisch, wobei er mich ansah.
„Ich hab ihr nur erklärt, warum sie eine enttäuschte Liebe ist.
***
„Du hast ihr von Kornelia erzählt?“, brüllte ich zum x-ten Mal und stakste zornig durch die Wohnung.
„Ja, Paton.“, meinte Lilith nun etwas ungeduldig, während sie hinter mir her rannte.
„Warum? Warum?“ Ich blieb abrupt stehen und drehte mich um, sodass sie gegen mich prallte.
„Wieso? Das ist meine Privatsache!“
„Ja, aber die Frau war total verzweifelt.“
In diesem Moment kam Christine herein.
„Ich war verzweifelt? Das hätte ich aber mitbekommen.“
„Ja, natürlich, wer ist denn hier total betroffen herumgelaufen?“
„Ich nicht!“
„Natürlich. Du hast geschaut, wie sieben Tage Regenwetter!“
„So ein Unfug.“
„Ladys, Ladys. Bitte kein Streit, ihr seid doch keine kleinen Mädchen mehr!“
Sie schwiegen.
„Aber ich bin doch nicht die Einzige, die in Dich verliebt war, oder?“, fragte Christine.
„Meine Cousine war auch in ihn vernarrt.“
„War die hübscher als ich?“, wollte Christine wissen.
„Ja.“, sagte Lilith, ohne zu zögern.
„Lilith!“, sagte ich empört.
„Stimmt doch.“
„Was fällt Dir ein, Du taktlose Gans?“ Lilith holte entsetzt Luft.
„Aber man soll nicht lügen!“
„Schluss jetzt, Lilith. Christine, hör jetzt auf.“
„Nein.“, antworteten sie mir im Chor.
„Beatrice ist hübscher als sie, was soll ich denn sonst sagen? Du hast gesagt, lügen ist eine Sünde!“
„Ja, aber Notlügen ...“
„Notlügen, Paton. Lüge bleibt Lüge!“
„Schon, aber ...“
„Jetzt hört schon auf.“, keifte Christine dazwischen.
„In meinem Haus wird nicht gestritten!“
„Das sagst gerade Du!“, schrie Lilith sie an.
„Mir reicht's jetzt, ich gehe!“, zischte ich, machte auf dem Absatz kehrt und knallte die Tür zu.
Diese Weiber. Man konnte nicht einmal richtig mit ihnen streiten.

Ich suchte das nächst beste Lazarett auf und machte mich an die Arbeit.
Einige Leute konnte ich mit dem Pulver nicht vollständig heilen. Das waren jedoch diejenigen, die Körper-teile verloren hatten. Aber ich konnte ihre Schmerzen lindern.
„Sie haben doch bestimmt eine Familie!“, meinte ein Mann, dessen Wunde ich säuberte.
„Ähm. Nein. Habe ich nicht.“, antwortete ich etwas verlegen.
„Aber Sie sind doch noch so jung. Wieso helfen Sie Menschen, die sowieso sterben. Retten Sie ihr eigenes Leben. Dieses Lazarett steht bestimmt schon auf der Abschussliste unserer Feinde. Und es sind so viele Ärzte hier.“
Jung. Ich hätte fast laut aufgelacht. Wenn der wüsste, dass vor ihm einer saß, der weit vor der Gründung des Deutschen Reiches gelebt hatte...
„Ich helfe gerne und möchte Leben retten. Nicht mein eigenes. Sondern andere. Hier, trinken Sie das.“ Ich hielt ihm gerade das Pulvergebräu hin, als der Boden erzitterte.
„Oh, nein. Nicht schon wieder.“, murmelte ich. Es war Stille eingetreten. Ich stand auf.
„Wir werden angegriffen. Jeder hilft mit, so gut er kann, wir müssen in die Stadt fliehen.“
Zu meinem Wunder hörten alle auf mich.
Ich hatte das Beben sofort wieder erkannt. Es war DAS Vorzeichen auf einen Angriff.
Ich schaffte den Mann nach draußen und rannte wieder ins Zelt. Doch kaum das ich drinnen war, wurde die erste Ladung Sprengpulver geworfen und das Zelt explodierte. Alles flog umher und begann zu brennen. Die Hitze breitete sich blitzschnell aus und ich erinnerte mich daran, dass ich jetzt ein Mensch war und ebenfalls (noch mal) sterben, leiden und vor allem: ersticken konnte. Rauch war in der Luft und ich be-feuchtete mein Stofftaschentuch mit Wasser und hielt es mir vor Mund und Nase. Der Rauch war inzwi-schen so dick, dass ich kaum noch Luft bekam.
Ich befeuchtete noch weitere Tücher und hielt jedem, der an mir vorbeilief, eines hin. Ich drückte gerade einer Schwester einen Lappen in die Hand, als der Boden wieder erzitterte, doch diesmal so stark, dass ich den Halt verlor und stürzte. Eine weitere Sprengladung wirbelte Staub und Erde auf und ich wurde unter Dreck, Liegen und Toten begraben.
***
„Da! Da steht er!“, rief Christine schrill. Wir hatten stundenlang nach Paton gesucht. Doch ich hatte nicht weit genug gedacht, sodass wir nur in Kirchen, Klöstern und Kapellen gesucht hatten.
Als wir erfuhren, dass ein weiteres Lazarett angegriffen worden war, waren wir sofort hingerannt. Aber es war eine Absperrung errichtet und die Listen am „schwarzen Brett“ aufgehängt worden.
Ich ging schnell zu ihr. Sie stand vor der Vermisstenliste. Und dort stand auch
„Dr. Phillip Frohsinn – vermisst.“
Mir stockte der Atem. Christine jammerte los.
„Oh nein. Was ist, wenn er tot ist. Mein Gott!“
„So ein Idiot!“, rutschte es mir raus. Dafür erntete ich verwunderte Blicke. Ich zog Christine mit mir, zu-rück in ihre Wohnung. Wir sprachen kein Wort miteinander. Als wir die Tür aufmachten, blieben wir ge-schockt im Türrahmen stehen. Vor uns stand ...
***
„Wo seid ihr gewesen?“, motzte ich gleich los. Ich hatte all meine Kraft dazu aufgebracht, mich aus dem Dreck zu buddeln. Kaum war ich frei gewesen, hatte ich versucht ein paar mit dem Pulver zu retten, doch auch ich selber hatte einiges abgekriegt. Ich hatte mich zu Christines Haus geschleppt, um es leer vorzufin-den.
„Paton!“, schrie Christine und umarmte mich.
„Du bist ja verletzt!“, stellte sie fest. Ach ne!
„Was hast Du denn gedacht. Das ich wie Hermes zwischen den Trümmern aufsteige?“, fragte ich. Dann kam Lilith auf mich zu und pferchte mich aufs Sofa, während Christine mit Alkohol kam. Lilith träufelte etwas auf einen Stofffetzen – so wie ich es ihr gezeigt hatte – und drückte ihn mir ans Hirn.
„Au. Das kann ich selbst!“
„Nein, mein Kleiner.“ Ich schnitt eine Grimasse und ließ die Behandlung über mich ergehen.
***
Der Erste Weltkrieg endete am 11.November 1918 und wir retteten 500 Soldaten das Leben, obwohl trotz-dem noch zu viele starben.
In Deutschland und Österreich wurde die Demokratie ausgerufen.
Am 12.November 1918 verabschiedeten wir uns von Sebastian und Christine, die ihren Sohn Phillip auf dem Arm hatte. Phillip war am 24.August 1917, mitten in der russischen Oktoberrevolution, auf die Welt gekommen. Sebastian gab ihm den Namen in Andenken an seinen „Onkel“.


Kapitel 42
New York, New York
19. Mai 1937
Ich stand neben Paton und hatte meine englische Miene, wie dieser Ire es nannte, aufgesetzt. Mit der engli-schen Miene war gemeint, dass meine Miene wie aus Marmor gemeißelt wirkte.
John hatte genau dieselbe Miene aufgesetzt. Trotzdem drang ein Schluchzen aus meiner Kehle und Paton reichte mir ein Taschentuch, er wirkte beherrscht wie immer.
Beatrice stand neben mir und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Heute war der große Tag!
Lyell, mein erstes Patenkind und Sohn der Ridleys, seine kleine Schwester Fabienne und ihr jüngerer Bru-der Etienne, ebenfalls meine Patenkinder standen am Klosterportal. Lyell hielt seine wunderschöne Frau Liv im Arm.
Sie hatte pechschwarze, hüftlange Locken, braune Mandelaugen und einen zimtfarbenen Teint. Sie war über einen Kopf kleiner als ich.
Lyell und sie hatten vor fünf Jahren geheiratet und mein Patensohn hielt seine vierjährige Tochter Isabelle an der freien Hand. Sie war ein Ebenbild ihrer Mutter, bis auf die blauen Augen, die so munter funkelten, wie die ihres Vaters.
Fabienne stand neben Liv. Ihr Ehemann Adriano Lerra hatte ihr einen Arm um die Taille gelegt. Lyell und sie glichen sich wirklich erstaunlich. Dieselben blauen Augen und dieselben blonden Locken.
Adriano war ein lustiger Bursche. Ich mochte ihn. Er war groß, breit und eigentlich braun gebrannt, wie es sich für einen echten Italiener gehörte. Seine schwarzen Locken standen wirr vom Kopf ab und in seinen dunklen Augen saß der Schalk. Er war ein Dauergrinser.
Er und Fabienne hatten vor knapp einem Jahr geheiratet und unter Fabiennes Kleid konnte man schon ein kleines Bäuchlein ausmachen.
Etienne, mein Lieblingspatenkind, tanzte vollständig aus der Reihe.
Er war nicht klein und stämmig. wie seine Geschwister, sondern groß und schlaksig, hatte schwarze Lo-cken und dunkle Augen. Er hätte der Bruder von Liv sein können.
Seine Hand lag auf der Schulter seiner Frau Zara. Sie stammte aus Schwarzafrika und waren erst gestern verheiratet worden.
Heute durften sie in den Garten Eden.
Die Kinder von Leuten, die in der Hölle oder im Zwischengeschoss hausten, mussten nicht auch unbedingt dort bleiben. Wenn sie sich anständig benahmen, dann konnten sie in den Garten Eden aufgenommen wer-den. Ich umarmte alle nacheinander und reichte dann jedem meiner Patenkinder ein Photo, auf den Paton, Beatrice, John, Lyell, Liv, Isabelle, Fabienne, Adriano, Etienne, Zara und ich zusehen waren.
"Danke Tante Lilith!", ich schloss Etienne noch mal in den Arm.
Die Pforte öffnete sich und sie traten alle in das strahlende, weiße Licht.
Die Pforte schloss sich wieder – sie waren weg!
***
Ich eilte in mein Büro. Schließlich wollte ich nicht weiblicher Sentimentalität zum Opfer fallen. Insgeheim war ich ein bisschen eifersüchtig auf diese Glückspilze. Die Bitterkeit stieg in mir hoch. Wann war ich endlich dran? 305 Jahre Zwischengeschoss waren schließlich genug. Doch eine Überraschung lenkte mich von meinen düsteren Gedanken ab. Zachathrustra saß auf der Couch in meinem Büro.
"Hallo Paton, mach nicht so ein verdrießliches Gesicht! Ich hab einen Auftrag für Dich und Lilith!"
"Was für einen? Teufelinnen jagen?"
"Nein, zumindest nicht direkt. In New York lebt die gute Mrs Joy-Meyer. Sie zählt schon 87 Jahre, ist aber noch gut bei Gesundheit und Verstand! Und sie hat ein riesiges Vermögen: ihr Problem! Ihre Enkelin Syd-ney-Ellison hat schon zweimal versucht sie umzubringen, doch Mrs Joy-Meyers Schutzengel Alice hat es zum Glück verhindern können. Aber wie Du weißt haben Schutzengel nicht nur einen Schutzbefohlenen und Alice kann nicht permanent über Mrs Joy-Meyer wachen.
Lilith wird sich als Gesellschafterin für Mrs Joy-Meyer ausgeben und Du als Leibarzt.
Streu das auf Mrs Joy-Meyer!", sie reichte mir einen kleinen Beutel, "dann wird sie ganz überzeugt sein, dass sie euch einstellen will.
Hier sind eure Lebensläufe und Zeugnisse." Sie deutete auf Ledermappen, die auf meinem Schreibtisch lagen.
"Brecht heute Abend noch auf! Viel Glück. Ihr müsst gut auf Mrs Joy-Meyer aufpassen. Sie soll nämlich erst in drei Monaten, am 26. August sterben! Haltet ihre Enkelin von ihr fern. Die ist mindestens genauso gefährlich wie eine Teufelin. Bis zum 26. August bleibt ihr auf der Erde. Auf Wiedersehen Paton!" Sie umarmte mich und verließ das Büro.
Unglaublich! Drei Monate Erde, fast so gut wie Garten Eden. Ich schlug die erste Mappe auf. Lilith Zeug-nis und Lebenslauf.
Sie würde Rosemarie Barnes heißen, aus Oregon stammen, am 14. August 1912 geboren und Tochter eines Sherrifs sein.
Nun schlug ich meine Mappe auf.
Ich würde Doktor Adam Shaw heißen, am 04. März 1902 geboren sein und ein sauberes Einser-Zeugnis vom Harvard haben Ich stammt als ältester Sohn aus einer Arztfamilie, welche in Boston lebte. Meine jün-geren Brüder Nigel und Anthony waren ebenfalls Ärzte.
Ich schnappte mir die Mappen und ging zu Lilith. Hoffentlich hatte sie sich schon wieder beruhigt.
***
Ich saß in meinem Zimmer und atmete tief durch. Meine aufgewühlten Gefühle hatten sich wieder beruhigt.
Es klopfte.
"Herein!" Ein über alle vier Backen grinsender Paton betrat den Raum. Ich hob die rechte Augenbraue.
"Was ist denn mit Dir los?" Wenn es hier oben Glücksspiel gegeben hätte, dann wäre der Hauptgewinn im Lotto wohl der Grund für diese ungewohnte Mimik gewesen.
"Oh Lilith! Lilith stell' Dir vor: wir dürfen wieder auf die Erde."
"So? Wenn wir wieder eine Teufelin jagen müssen, dann ohne mich!"
"Nee, hör' zu: auf der Erde, genauer gesagt in New York lebt die 87-jährige Mrs Joy-Meyer. Sie soll am 26. August dieses Jahres sterben, aber ihre Enkelin beabsichtigt ihre Großmutter etwas schneller ins Gras bei-ßen zu lassen. Mrs Joy-Meyer hat nämlich ein beträchtliches Vermögen.
Du sollst die Gesellschafterin spielen und ich den Leibarzt. Bis zum 26. August machen wir Ferien auf der Erde!"
"Was? Oh mein Gott, das ist ja großartig!"
"Du hast es erfasst!"
Er reicht mir eine lederne Mappe, welche ich aufschlug.
Laut dem darin befindlichen Lebenslauf heiß ich Rosemarie Barnes, war am 14. August 1912 geboren und stammte aus Oregon. Ich verzog das Gesicht. Das hieß, ich würde mir einen westamerikanischen Akzent zu legen müssen. Wie ein Amerikaner sprechen zu müssen traf mich hart. Ach, Du mein geliebter englischer Akzent!
Na gut, wenigstens war mein Vater Will Barnes ein Sheriff. Oh herrje! Ich hatte acht Geschwister: Will junior, Seth, Luise, Melanie, Sue, Edward. Bernhard und Jackson.
Wenigstens gab's zu ihnen eine Lebensgeschichte: Will junior war ebenfalls Sheriff in meinem Heimatdorf namens Antelope. Seth lebte als Cowboy in Texas, Luise hatte geheiratet und mich und Melanie nach New York mitgenommen. Sue hatte nach Washington geheiratet, Edward war Farmer in Montana. Bernhard und Jackson wohnten noch zu Hause. Wir waren dank meiner Mutter Emily Barnes sehr wohlhabend. Sie war die Tochter des Bürgermeisters von Antelope.
"Schön. Wann brechen wir auf?"
"Heute Abend. Komm um 18 Uhr in mein Büro!"
"Mach ich. Bis später."
Er ging wieder.
Sofort fing ich an zu packen. Ich nahm natürlich nur die besten Sachen mit.

Nach einer Stunde hatte ich vier Koffer gepackt.
Nun eilte ich zu Beatrice und John, um mich von ihnen zu verabschieden.
Beatrice, die sich immer noch nicht richtig beruhigt hatte, brach wieder in Tränen aus. John sah mich ver-nichtend an.
"Bitte Beatrice. Wir sind nur drei Monate weg und ich kann Dir Durch die lebenden Engel Nachricht sen-den.", versuchte ich sie auf Französisch zu beruhigen.
Sie schniefte.
"Du hast Recht. Ich führe mich wirklich auf wie ein kleines Mädchen! Hier." Sie nahm den Ring ab, den Lyell ihr einmal von der Erde mitgebracht hatte.
"Dann vergisst Du uns nicht!" Ich steckte den Ring an. Er war aus Silber mir einem Bernstein in der Mitte.
"Danke. Ich pass gut auf ihn auf!" Ich umarmte die beiden zum Abschied und ging noch zu Rudolph, um auch ihm Adieu zu sagen.

Ihr fahrt ganze drei Monate weg?"
"Ja."
"Alle Achtung. Ist ja wie ein Sechser im Lotto."
"Nein, der Sechser im Lotto ist der Garten Eden."
"Gut, dann wie ein Fünfkommamneuner."
"Genau."
Ich schlürfte meinen Tee. Earl Grey mit Milch. Das hatten die in New York ganz sicher nicht.
"Und Du gehst in einer Stunde? Solltest Du dann nicht noch ein wenig an Deinem Akzent arbeiten?"
"Du hast Recht. Weißt Du denn, wie der westamerikanische Akzent klingt?"
"Natürlich. Geh zu Erick, der stammt aus Tillamook."
"Ah, danke. Dann werde ich gleich mal hingehen. Mach's gut Rudolph!"
"Du auch Lilith. Vergiss mich nicht."
"Wie könnte ich denn meinen glühendsten Verehrer vergessen?"
Lachend verließ ich seine Kammer.

Erick Summer war ein typischer Amerikaner von 55 Jahren.
"Du möchtest also den Akzent lernen?", fragte er mit diesem Akzent, der so breit war, dass ich immer an Kaugummi denken musste, den man auseinander zog.
"Ja bitte."
"Okay, dann musst Du erst einmal breiter und nicht so ordentlich reden."
Ich übte eine dreiviertel Stunde. Erick war höchst zufrieden mit mir.
Ich schritt zu Patons Büro, nachdem ich die Koffer ins Foyer geschleppt hatte.
***
Pünktlich um sechs Uhr öffnete sich die Tür und Lilith kam herein.
"Guten Abend Miss Barnes, bereit?"
"Du hast auch geübt?", fragte sie mich ebenfalls in diesem ekelhaften Amerikanisch.
"Ja.", antwortete ich mit Bostoner-Dialekt.
Ich hatte mir vor zirka acht Jahren ein Buch beschaffen lassen, in dem alle amerikanischen Akzente aufge-führt waren.
"Ich habe ein Buch mit amerikanischen Dialekten. Das habe ich auch mit im Gepäck.
"Gut und jetzt gib dieses widerliche Gesöff her!"
Ich reichte ihr einen Becher und gleichzeitig kippten wir diesen Trunk hinunter.
Also falls ich noch öfter auf die Erde muss, beantrage ich eine schmackhaftere Variante vom diesem Ge-bräu. Vielleicht kann man's mit Whisky mischen!
Ich fühlte, wie es brannte und gleichzeitig, wie ich breiter wurde.
Nach einer schieren Ewigkeit hörte dieses Brennen auf und ich betrachtete mich im Spiegel. Ja, schmuck wie eh und je.
Auch Lilith betrachtete sich zufrieden.
"Hast Du Deine Koffer schon ins Foyer gebracht?"
"Jawohl Doktor Shaw."
"Dann lass und jetzt aufbrechen."
Wir gingen schweigend ins Foyer. Morgen würde sich Lilith als Gesellschafterin vorstellen und ich mich übermorgen als Arzt.
Wir würden so lange bei Robert Salomon, einem lebenden Engel in der Second Avenue wohnen.
Im Foyer standen Lilith Koffer. Es waren sage und schreibe vier Stück. Vier!
"Muss das sein?"
"Wir sind drei Monate weg."
"Ja und? Du stammst aus einem winzigen Dorf!"
"Wir können einen Teil ja irgendwo lagern. Auf jeden Fall werde ich nicht rumlaufen wie eine Vogel-scheuche."
"Eitelkeit ist keine Tugend!"
"Meckern auch nicht. Los, komm jetzt!"
Das Tor ging auf und wir schleppten die Koffer hinaus ins Nichts.
Ich ergriff ihre Hand und Augenblicke später brach der Fußboden weg.

Ich schlug die Augen wieder auf und schon standen wir am Hafen von New York.
Ich ging zu einem Taxi und mit Hilfe des Taxifahrers hievten wir alles Gepäck in den Kofferraum.
***
Ich hatte noch nie so eine riesige Stadt gesehen!
Es gab gigantische Häuser, genannt Wolkenkratzer, auf denen Schriftzüge mit mannshohen Buchstaben leuchteten.
Es war alles so beeindruckend, dass ich einfach nicht genug Augen hatte, um alles zu erfassen.

Wir kamen in der Second Avenue an. Dort stand eine Reihe kleiner Häuser.
Vor der Nummer 26 hielten wir an.
Wir wurden anscheinend schon erwartet, denn ein Herr trat aus der Haustür und eilte auf uns zu.
Paton und er fielen sich lachend in die Arme. Schienen ja gute Freunde zu sein.
Ich stieg aus dem Wagen.
"Darf ich vorstellen: Lilith Parker, Robert Salomon. Ein alter Freund von mir."
"Freut mich!" Wir schüttelten uns die Hände.
Zusammen trugen wir die Koffer ins Haus.
Ich hatte eine gemütliche Kammer mit Bett, Schrank, Frisierkommode und einem Regal.
Auf dem Boden lag ein dicker, weißer Teppich, auf dem es sich eine braune Katze gemütlich gemacht hat-te.
"Das ist Mickey. Ich hoffe, Du hast nichts dagegen, dass sie auf Deinem Teppich liegt."
"Nein, im Gegenteil. Ich mag Katzen! Mister Salomon, darf ich Sie etwas fragen?"
"Wenn Du mich Robert nennst, gerne!"
"Wie alte Freunde sind Sie…..bist Du und Paton?", korrigierte ich mich schnell.
"Wir haben zusammen in der Armee gedient. Ich starb zehn Jahre nach ihm an einer Grippe. Heute un-denkbar, aber damals leider alltäglich.
Nach meinem Austritt aus der Armee habe ich Paton gesucht und gefunden. Ich hab mich dann in dem kleinen Dorf in der Nähe des Klosters niedergelassen.
Ich bin bei ihm immer artig zum Beichten gegangen und kam wahrscheinlich deswegen in den Himmel."
Er zwinkerte mir zu.
Robert schien mir ganz sympathisch. Er hatte etwas Lausbubenhaftes an sich.
"Ich hab noch eine Frage. Dürfte ich einen Teil meiner Habe bei Dir lassen?"
"Klar!"
"Danke. Ich werde wohl öfter herkommen zum Briefeschreiben."
"Die ich dann mitnehme?"
Ich lächelte.
"Das wäre außerordentlich nett."
***
"Lilith, hör auf herum zu rennen, wie ein angeschossenes Huhn!"
"Aber wie verhält man sich als Gesellschafterin und dazu bin ich auch noch auf irgendeinem Kaff aus Ore-gon."
"Erstens: sprich nicht so englisch und Zweitens: Du siehst gut aus."
Ich fasste Bloody-Bunny an den Armen.
"Du machst das schon Große. Außerdem hast Du dieses Pulver. Dir kann nichts passieren."
Ich schaute sie an.
Sie hatte sich diese Olympiarolle gemacht und trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock.
"Und jetzt sag mir noch einmal, was wir einstudiert haben."
Sie räusperte sich.
"Guten Tag. Mein Name ist Miss Rosemarie Barnes und Mrs Joy-Meyer erwartet mich schon.
Dann gehe ich in das Zimmer und streue Mrs Joy-Meyer das Pulver auf den Kopf.
Guten Morgen Mrs Joy-Meyer. Ich bin Ihre neue Gesellschafterin Rosemarie Barnes.", ratterte sie in die-sem furchtbaren Akzent herunter.
"Also Lilith, Du kannst es und jetzt geh."
***
"Guten Tag. Mein Name ist Rosemarie Barnes und Mrs Joy-Meyer erwartet mich schon."
Ich setzte mein nettestes Lächeln auf, um die Sekretärin zu überzeugen.
"Sie stehen aber nicht im Terminkalender!"
"Ganz sicher?"
Ich streute etwas Pulver auf das Haar der Dame.
"Oh, aber natürlich. Ich bringe Sie zu Mrs Joy-Meyer."
Wir gingen durch das helle Empfangszimmer in einen Flur, den etliche Portraits zierten, weiter in ein ganz in blau und gold gehaltenes Zimmer.
"Madame? Das ist Rosemarie Barnes."
Ich sah eine alte Frau in einem Stuhl am Fenster sitzen.
Sie drehte sich um.
Die Sekretärin hatte sich entfernt.
"Wer sind Sie? Hat meine Enkelin Sie geschickt?"
"Nein Madame." Ich trat schnell zu ihr und ließ auch ihr das Pulver auf das Haar rieseln.
"Ach natürlich! Die Gesellschafterin. Freut mich, dass Sie gekommen sind."
"Aber selbstverständlich Madame."
Ich knickste und überreichte ihr die Mappe.
Mrs Joy-Meyer schlug diese auf und dabei konnte ich sie beobachten.
Trotz ihres Alters saß sie gerade in dem Sessel. Ich schätzte sie etwa auf meine Größe.
Ihr Gesicht war vom Falten überseht, doch die dunkelbraunen Augen schienen einen zu verschlingen.
Der Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
"Also Rose. Dein Lebenslauf stellt mich sehr zufrieden. Deine Schwester wohnt also hier in New York?"
"Ja Madame."
"Du wirst sofort Dein Zeug holen lassen und hier einziehen. Elvira wird Dir zeigen, wo Deine Kammer ist.
Elvira!", rief sie und die Sekretärin erschien wieder.
"Rose ist ab jetzt meine neue Gesellschafterin. Schicken Sie bitte Lorentz, um Roses Gepäck zu holen. Wir werden jetzt den Arbeitsvertrag aufsetzten!"
Der Vertrag war wirklich mehr als großzügig: ich bekam Kost und Logis, zehn Dollar pro Woche und je-den Dienstag freien Ausgang.
Sie unterschrieb den Vertrag und schob ihn zu mir. Ich konnte ihre saubere Unterschrift sehen. Muriel Joy-Meyer. Ja, Muriel passte.
Auch ich unterschrieb und musste höllisch aufpassen, nicht mit Lilith Parker zu unterschreiben.
"Gut, nenn Lorentz Deine Adresse und er holt Dein Gepäck."
"Jawohl Madame."
Ich knickste noch einmal und ließ mich von Elvira in einen kleinen Raum führen, der aber trotzdem sehr wohnlich wirkte.
Ein Kamin befand sich darin, ein Tisch mit einem Schachspiel darauf und ein Bücherregal an der Wand.
In einem der Sessel saß ein Mann mit einer aufgeschlagenen Zeitung.
"Das ist Lorentz, der Chauffeur der gnädigen Dame. Lorentz? Das hier ist Rose. Sie ist ab heute die Gesell-schafterin von Mrs Joy-Meyer. Du sollst bitte ihr Gepäck abholen.
"Wo wohnst Du denn?" Lorentz drehte sich zu mir.
Er hatte ein volles Gesicht mir vielen Falten. Trotz seines Alters hatte er sehr viele, wenn auch graue Haare auf dem Kopf und war genau wie Elvira wohlgenährt. Den Dienstborten im Joy-Meyer'schen Haushalt schien es nicht schlecht zu gehen.
"Second Avenue 26."
Lorentz zog seine buschigen Augenbrauen hoch und seine braunen Augen trugen einen erstaunten Aus-druck in sich.
"Ja. Ich wohne momentan bei meiner Schwester."
"Da muss sie aber ziemlich reich sein."
"Mein Schwager ist Juniorchef eines Automobilkonzerns."
"Ah ja! Gut, dann werde ich mal aufbrechen."
Robert und Paton waren vorgewarnt. Robert würde sich als mein Schwager ausgeben und Paton hielt sich versteckt.
"Schön, dann komm mit Rose. Ich zeig Dir Dein Zimmer und danach stell' ich Dir die anderen Dienstboten vor."
Elvira führte mich in das oberste Stockwerk.
"In dem Zimmer unter dem Dach hat Mrs Joy-Meyers vorige Gesellschafterin Mason gewohnt.
Du wirst das Privileg genießen mit Madame um sieben Uhr zu dinieren. Du wirst auch um neun Uhr mit ihr speisen und um ein Uhr wird der Lunch eingenommen."
Sie öffnete die Tür zur Dachkammer und trat ein. Ich folgte ihr.
Das Zimmer war sehr groß: helle Decke, Wände und ein heller Boden. Es standen auch helle Möbel, die offensichtlich aus Frankreich stammten im Zimmer und sogar ein kleines Klavier.
"Du hast ein eigenes Badezimmer!" Elvira deutete auf eine Tür.
"Komm, ich stelle Dir jetzt noch die Dienstmädchen Susan und Laura vor, den Koch Frank und den Butler der gnädigen Dame: Leon.
Susan und Laura waren gerade in Wohnzimmer und polierten unter viel Gekicher Kelche.
Es waren Schwestern, die unterschiedlich waren wie Sonne und Mond.
Susan war klein, zierlich, hatte güldenes Haar, blaue Augen und einen rosa Mund.
Laura war ein bisschen größer, fülliger, mit fast schwarzem Haar, einem kirschroten Mund und auch blauen Augen. Die einzige Gemeinsamkeit!
Sie begrüßten mich sehr freundlich, quetschten mich aus und informierten mich über die neuesten Neuig-keiten aus New York.
Frank war auch schon älter, vielleicht Ende vierzig und sah immer noch recht attraktiv aus.
Leon schien genauso alt zu sein wie Mrs Joy-Meyer, doch sein aufrechter Gang und das Funkeln in seinen grauen Augen verrieten, dass er hier das Heft noch ziemlich aktiv in der Hand hielt.
Inzwischen war Lorentz wieder da und richtete mir Grüße von meinem 'Schwager' aus und den Wunsch sie nicht zu vergessen und sie an meinem freien Tag doch mal besuchen zu kommen.
Nun wurde ich zu Mrs Joy-Meyer gerufen.
"Da Du neu bist in New York will ich Dir ein bisschen die Stadt zeigen." Sie war vollständig angezogen und hatte einen Stock in der Hand.
Sie hackte sich bei mir unter. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass sie in ein Korsett geschnürt war. Außerdem trug sie eins dieser langen, bis zum Boden reichenden Kleider, die auch ich einst trug.
"Gerne doch!"

Wir saßen in der Limousine und fuhren in Richtung Central Park.
"Ich hoffe Deine Schwester hat Dir nicht schon ganz New York gezeigt?"
"Nein, sie hatte noch keine Gelegenheit."
"Umso besser. Dann bleibt mehr für mich."

Wir stiegen am Central Park aus.
"Danke Lorentz. Du kannst wieder ins Appartement zurückfahren. Wir werden für den Rückweg die Sub-way nehmen."
Ich schnaubte. 'Appartement', klar, natürlich! Haus, das so groß ist wie zehn Appartements, hätte besser gepasst.
Wir fingen an spazieren zu gehen. Trotz des hohen Alters war Mrs Joy-Meyer noch gut zu Fuß.
Eine Weile schwiegen wir, doch als wir an den blühenden Kirsch- und Apfelbäumen vorbeikamen, blieben wir verzückt stehen und es entstand doch noch ein Gespräch.
"Weißt Du Rose, ich bin sehr froh, dass ich jetzt jemanden habe, der für mich da ist. Das Alter ist doch einsamer, als man glauben mag. Und mein Enkelin Sydney-Ellison ist mir auch keine große Stütze. Wenn sie nicht irgendwo mein Geld verprasst, liegt sie im Bett und schläft."
Sydney-Ellison? Also die Amerikaner waren schon ein bisschen verrückt. Aber gut, das Gespräch bewegte sich in gewünschter Richtung.
"Ihre Enkelin wohnt bei Ihnen?"
Ja. Momentan allerdings ist sie in London. Aber ich glaube nicht, dass ein so nettes Mädchen wie Du unbe-dingt meine Enkelin kennen lernen möchtest."
Wunderbar, wenn diese Sydney-Ellison, also dieser Name war wirklich unmöglich, bei ihrer Großmutter wohnte, könnten wir sie optimal überwachen. Ich würde heute mal in Ellisons – ich weigere mich das Mäd-chen wie eine Stadt zu nennen – Zimmer vorbeischauen.
Wir flanierten noch eine Weile durch diesen riesengroßen Park, der schon fast einem Dschungel glich.
Mrs Joy-Meyer erzählte mir allerlei Dinge über New York. Vor der Gründung bis zur Gegenwart schien diese Frau alles, wirklich alles, über diese Stadt zu wissen.
Doch sie wurde müde und wir fuhren per U-Bahn zurück. Diese Subway war viel schneller, als die Londo-ner 'Tube', mit der ich 1898 zum ersten und zum letzten Mal gefahren war. Gut, vielleicht lag das auch daran, dass seit 1898 ein paar Jährchen vergangen waren und sie Technik sich weiterentwickelt hatte.
Aber es stank fürchterlich! Ich zog die Limousine definitiv vor.

In der Halle erwartete uns eine aufgeregte Elvira.
"Gott sei Dank sind Sie endlich da gnädige Frau. Miss Sydney-Ellison erwartet im kleinen Salon auf Sie!"
"Sydney-Ellison ist hier?" Verflogen war die Müdigkeit der gnädigen Frau und sie marschierte im Stech-schritt in den kleinen Salon.
Nur zur Information: der 'kleine' Salon war 200 Quadratmeter groß. Der große 250 Quadratmeter.
Ich glaube, hier hätten alle Bewohner des Zwischengeschoss Platz.
Wir betraten den Raum.
Ich erblickte eine jüngere Frau, die sich grazil erhob und förmlich auf uns zu schwebte. Sie war nicht so groß wie ihre Großmutter, vielleicht einen halben Kopf kleiner. Man hätte sie als gottgleich beschreiben können: mahagonifarbene, glänzende Wellen fielen locker um ein kantig, leicht gebräuntes Gesicht. Doch nicht zu markant, um maskulin zu wirken. Auch sie hatte große, rehbraune Augen, die perfekt von einem Wimpernkranz umrahmt wurden. Darüber saßen zwei geschwungene Augenbrauen, an denen normale Frauen stundenlang hinzupften.
Eine aristokratische Nase führte zu naturroten, vollen Lippen, die jeder Mann mit Sicherheit gerne geküsst hätte.
Meine Blicke wanderten weiter hinab. Sie trug ein schlichtes, beiges Kostüm, das aber bestimmt sündhaft teuer gewesen war und ihre schlanke Gestalt aufs Beste betonte.
Wie gesagt: man hätte können, wenn nicht eine beängstigende Hinterlist in ihren Augen geglimmt und ein verkniffener Zug um den Mund das Gesicht nicht regelrecht entstellt hätten.
"Sydney-Ellison? Wolltest Du nicht erst in vier Tagen wieder kommen?"
"Ja Großmutter, das hatte ich vor, aber London war so verregnet. Da bin ich früher gekommen."
"Ich hoffe, Du bleibst nicht lange!"
"Keine Sorge. Morgen werde ich nach Paris fahren."
"Ach, willst Du wieder mal mein Geld für Schuhe und Kleidung ausgeben?"
Darauf gab Sydney-Ellison keine Antwort, sondern stürmte aus dem Zimmer.
Ich war schockiert! So hätte meine Großmutter nie mit mir gesprochen und ich auch garantiert nicht mit ihr.
Erschöpft ließ sich Mrs Joy-Meyer auf einen Stuhl sinken.
"Ich weiß einfach nicht, was ich mit ihr tun soll!"
"Warum setzen Sie Sydney-Ellison nicht einfach auf die Straße?"
"Das würde ich gerne Rose, wirklich! Doch ich habe meiner Tochter Venus – also mir wurden die Ameri-kaner immer suspekter. Mein Name war richtig dröge dagegen – versprochen auf Sydney-Ellison aufzupas-sen, bis sie heiratet. Sie will nur nicht. Ich habe ihr so viele nette Männer vorgestellt, aber keinen wollte sie."
***
Heute war Dienstag. Lilith hatte mich gestern noch schnell angerufen und gesagt, sie hätte heute frei.
Nach dem Frühstück im Joy-Meyer'schen Anwesen würde sie hierher kommen.
Ich war gespannt wie ein Regenschirm, was mir Bloody-Bunny alles erzählen würde.
Gestern hatte ich den ganzen Tag mit Robert zusammen gesessen und uns über die guten, alten Zeiten un-terhalten.
Er hatte mir auch ziemlich viele Fragen über Lilith gestellt, die er offensichtlich mochte.
Ich hatte ihn jedoch zurechtgewiesen, dass Lilith mein Schäfchen war und sie unter meinem Schutz stand.
Doch ich kannte Robert. Er war niemand, der so leicht aufgab.

Lilith stürmte zur Tür herein.
"Hallo Paton! Ich bin mit der Limousine hergefahren worden. Ist das nicht toll? Überhaupt ist alles toll. Das Haus ist riesig. 5.000 Quadratmeter! Sag mal, wie viel Quadratmeter hat das Kloster? Ich glaube in das Haus passen alle vom Zwischengeschoss rein!"
"Gut Lilith. Schön! Aber bitte hör auf zu schnattern!"
"Tut mir Leid Paton, aber das ist alles so aufregend! Auf jeden Fall musst Du auf die Enkelin aufpassen. Sie ist wunderschön, aber ziemlich hinterhältig. Mrs Joy-Meyer ist aber sehr umgänglich.
Die Bediensteten sind auch alle freundlich. Ich war gestern mal in Sydney-Ellisons Zimmer und…"
"Wer ist Sydney-Ellison?"
"Die Enkelin!"
"Die heißt Sydney-Ellison?"
"Ja, ich weiß. Sie heißt wie eine Stadt. Aber weißt Du, wie ihre Mutter hieß? Venus! Welcher Mensch heißt schon 'Venus'?"
"Meine liebe Lilith. Das hätte ich Dir gleich sagen können, dass die Amerikaner ziemlich verrückte Namen haben." Ich lächelte über das Entsetzen mit dem Lilith das erzählte.
Tja, meine 'kleine' Engländerin, nicht jeder konnte so einen guten Geschmack haben, wie wir Iren.
"Na ja. Auf jeden Fall war ich in ihrem Zimmer. Ein wahnsinniges Penthouse. Einfach traumhaft! Schau mal, was ich gefunden habe."
Sie schüttete den Inhalt ihrer winzigen Handtasche auf den Küchentisch.
Eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, einen Lippenstift und ein Tütchen mit weißem Pulver.
"In der Flasche ist Arsen, der Lippenstift ist chlorgetränkt. Es ist übrigens dieselbe Marke, wie die von Mrs Joy-Meyer und in dem Tütchen ist glaube ich Kokain oder so.
"So, so. Das ist ja schockierend!", lachte Robert, der soeben das Wohnzimmer betrat.
"Hallo Sherlock! Schön Dich wieder zu sehen."
"Ich weiß Mister Watson. Ich war mit einem Fall beschäftigt! Ich hoffe, Du entschuldigst Paton und mich kurz?"
"Klar doch! Bleib anständig Paton." Er zwinkerte mir zu, worauf ich errötete. Was dachte Robert nur von mir?
Ich konnte sehen, wie Lilith ein Grinsen unterdrückte und mich in die Küche schleifte.

"Also, was gibt's Bloody-Bunny? Nach allem was Du gefunden hast, ist Sydney-Ellison ja kein braves Mädchen!"
"Du sagst es! Das müssen wir dringend ändern! Meinst Du, man könnte Sydney-Ellison dieses weiße Wil-lenspulver dauerhaft einhauchen und sie dann nach seinen Wünschen konfigurieren?"
"Wenn Du es schaffst es dauerhaft in den Körper zu injizieren, dann ja. Aber wie willst Du das schaffen?"
"Man könnte es doch durch das Ohr oder die Nase…"
"Du müsstest es schaffen, dass sich das Blut nicht erneuert."
"Wenn man tot ist, dann…"
Mir gefiel der Ton gar nicht!
"Lilith, Adriana, Mariah Parker, denk nicht mal dran. Die Idee ist gut, aber wenn Sydney-Ellison tot ist, ist keinem geholfen. Wir müssen uns eine andere Methode einfallen lassen.
"Die da wäre Doktor Vampire?"
"Das weiß ich noch nicht Miss Parker, aber mir wird schon was einfallen."
Ich war entsetzt über Liliths Kaltblütigkeit. Da kam doch das de la Fleur'sche Blut durch.
"Okay. Ich gehe hoch und schreib Briefe. Du kannst Dir was überlegen.
***
Ich stieg die Treppe hinauf. Ich wollte Briefe an Zachathrustra, Rudolph und meine Cousine schreiben.
Am Treppenabsatz stand Robert.
"Na, das Schäferstündchen genossen?"
Ich blickte ihn verwirrt an. Entstammte dieser Mann wirklich dem selbem Zeitalter wie Paton?
"Ja, ja!", antwortete ich schnell.
"Schon was von New York gesehen?"
"Den Central Park und die Hochhäuser."
"Hat es Dir gefallen?"
"Ja. New York ist eine schöne Stadt." Ich wollte in mein Zimmer!
"Wenn Du noch etwas von New York sehen willst, stehe ich Dir gerne zur Verfügung!" Er strich mir über das Haar, lächelte mich auf eine Weise an, die mir einen Schauer über den Rücken jagte – sie erinnerte mich an Randall – und verschwand. Das könnte ein Problem werden!
***
Ich vergaß über die Grübelei ganz, dass ich heute zu Mrs Joy-Meyer wollte.
Schnell erhob ich mich aus dem Sessel. Ich hatte schon eine recht passabel Lösung.
Ich schlüpfte in einen Anzug, strich meine Haare glatt. Robert hatte sie mir abgeschnitten. Wie ich diese mit Pomade geglätteten, kurzen Haare hasste! Letztes Mal hatte es über ein Jahr gedauert, bis sie wieder ihre ordnungsgemäße Länge erreicht hatten.
Es klopfte.
"Wer da?"
"Robert, ehrwürdiger Priester!"
"Komm rein Du Scherzkeks."
Ein breit grinsender Robert kam herein.
"Also Deine Lilith ist ein klasse Mädchen! Nur ein bisschen schüchtern!"
"Robert, lass sie in Ruhe!"
"Ich dachte, ihr wärt kein Paar!"
"Sind wir auch nicht, aber…" Ich wusste nicht, ob es Bloody-Bunny Recht wäre, wenn ich Robert ihre Geschichte erzählte, aber es war zu ihrem Schutz.
"Hör zu: Lilith ist durch Suizid gestorben, weil ihr Ehemann sie schwer misshandelt hat. Lilith hat genug von Männern."
"Wann hast Du gesagt ist sie gestorben?"
"Vor ungefähr 30 Jahren."
"Wird es da nicht langsam Zeit, dass sie sich mal wieder dem anderen Geschlecht zuwendet? Schließlich ist sie keine Nonne!"
"Robert, lass sie in Frieden. Du bist zwar mein Freund, aber deswegen lasse ich Dich nicht schalten und walten, wie es Dir passt. Wenn mir Klagen zu Ohren kommen, glaube ich nicht, dass Du den Posten noch lange innehast. Du weißt, dass ER mich ganz gut leiden kann. Wenn Lilith Dich attraktiv findet, wird sie Dir das schon zeigen. Bloody-Bunny ist niemand, der lange auf den Busch klopft."
"Wie Du meinst Paton. Viel Glück!"
"Danke."
Ich trat aus dem Zimmer und ging zu Liliths.
"Herein!", antwortete sie auf mein Klopfen.
"Lilith? Ich werde jetzt losgehen. Gibt's noch etwas, dass ich wissen muss?"
"Nein. Viel Glück Doktor Shaw."
"Danke Miss Barnes."
Ich verließ sie wieder, warf Robert noch einen letzten ermahnenden Blick zu und ging zur Straßenecke, wo ein Taxistand war. Nach Lilith war ein Taxi angenehmer als die Subway.

"Guten Tag. Mein Name ist Doktor Adam Shaw. Mrs Joy-Meyer hat mich hergebeten."
Ich stand in einem sehr großen Salon, in dem eine sehr hübsche Dame an einem Tisch saß.
"Doktor Adam Shaw? Sie sind aber nicht im Kalender eingetragen!"
"Was? Das ist unmöglich!"
Ich trat zu ihr und ließ ihr etwas weißes Pulver auf den Kopf rieseln.
"Oh! Verzeihung. Ich hab ihren Namen übersehen. Das passiert mir in letzter Zeit häufiger! Ich werde sie gleich zu Mrs Joy-Meyer bringen."
"Sehr liebenswürdig."
Die junge Dame führte mich einen langen, dunklen Gang entlang. Vor einer Flügeltür blieb sie stehen und klopfte.
"Herein!", ordnete eine herrische Stimme an.
"Mrs Joy-Meyer? Hier ist Doktor Shaw für Sie!"
Die Sekretärin verschwand.
"Doktor Shaw? Ich kenne keinen Doktor Shaw!"
"Aber natürlich! Wir haben telefoniert." Flink trat ich auf sie zu und verabreichte auch der guten Frau ein bisschen Pulver.
"Ach ja richtig! Verzeihen Sie, das Alter! Ja wissen Sie, ich bin jetzt auch schon 87 Jahre alt und ab und zu habe ich gewisse Unpässlichkeiten. Ich hätte gerne fachkundiges Personal in meiner Nähe."
"Verständlich Madame."
Ich reichte ihr meinen Lebenslauf, den sie durchlas.
"Sie scheinen ein wirklich begabter Mann zu sein. Ich bin dafür, dass wir gleich die Arbeitsbedingungen regeln."
"Unbedingt Madame."
Sie setze einen wirklich großzügigen Arbeitsvertrag auf.
Freie Kost, Logis und 30 Dollar pro Woche.
Schade, dass wir das Geld nicht ausgeben durften.
Während Mrs Joy-Meyer schrieb, beobachtete ich sie. Lilith hatte mir schon erzählt, wie Muriel aussah.
Ja, sie machte in der Tat einen stolzen und unbeugsamen Eindruck.
Das weiße Haar war fein säuberlich hochgesteckt, sie trug ein langes Kleid, welches hochgeschlossen war und darunter klar erkennbar ein Korsett.
Lilith hatte das verwirrt. Sie meinte, sie könne nicht verstehen, warum Muriel sich das freiwillig antue. Aber Bloody-Bunny war sowieso kein konservativer Typ.
Sie setzte gerade den Punkt hinter den letzten Satz des elegant geschriebenen Vertrags, da wurde die Tür aufgerissen und ein Wirbelsturm in Form einer jungen Frau fegte herein.
"Sydney-Ellison! Wie oft soll ich Dir noch sagen, dass Du anzuklopfen hast?"
Das war Sydney-Ellison? Bloody-Bunny hatte sie als göttinnengleich beschrieben und ich gab ihr Recht. So ein schönes Wesen hatte ich noch nie gesehen, mit Ausnahme von Kornelia, versteht sich.
Doch dieses hinterlistige und zornige Funkeln in diesen zauberhaften, rehbraunen Augen und er viel zu verkniffenen Zug um den perfekten Kussmund machten ihr Feengesicht schrecklich hässlich.
"Wer ist das Großmutter?" Sie zeigte mit einem schmalen, perfekt gepflegten Finger auf mich.
"Man zeigt nicht mit Finger auf Leute. Das ist Doktor Shaw, mein neuer Hausarzt."
Sie funkelte mich hasserfüllt an. Die Spiele konnten beginnen. Gut gegen Böse.
"Ich wollte Dir nur sagen, dass ich jetzt an den Hafen fahre und für vierzehn Tage in Paris bin."
"Viel Vergnügen Sydney-Ellison!"
Sie rauschte von dannen.
"Verzeihen Sie Doktor Shaw. Sydney-Ellison ist ein bisschen ungezügelt. Wenn Sie erlauben, werde ich nach Elvira verlangen. Sie soll Ihnen das andere Personal vorstellen.
Ihr Gepäck wird Lorentz, mein Chauffeur, abholen. Allerdings müssen Sie warten, denn er muss mit Si-cherheit meine Enkelin zum Hafen kutschieren."
"Wenn Madame gestatten, würde ich das gerne selber machen. Ich muss noch etwas in der Stadt erledigen."
"Nun gut! Hier." Sie reichte mir einen zwanzig Dollarschein.
"Madame! Das ist viel zu viel Geld."
"Nein, für das Taxi und Ihre Besorgung."
"Zu freundlich."
"Schon gut!"
Sie zog an einer Schnur und Elvira erschien wieder.
"Bitte zeig Doktor Shaw sein Zimmer. Er bekommt das im Westflügel. Dann stelle ihm doch bitte die ande-ren Abgestellten vor. Doktor Shaw wird dann nochmals aufbrechen, um Besorgungen zu machen!"
"Sehr wohl Madame!"
Auch mir wurden Sarah, Laura, Erick und Leon vorgestellt. Alle waren sehr freundlich zu mir.

Mein Zimmer war mehr eine eigene kleine Wohnung. Sie gefiel mir ausgesprochen gut. Das 'Zimmer' war hell und freundlich mit modernen Möbeln eingerichtet.
Ich fuhr zurück in die Second Avenue. Ich hatte noch ein bisschen an meiner Theorie zu Sydney-Ellison gefeilt und ich fand die Idee ganz zufrieden stellend.
***
Ich saß mit Mickey auf den Schoß im Wohnzimmer und streichelte sie.
Robert war Gott sei Dank ausgegangen. Nicht, dass er ein unsympathischer Mann gewesen wäre, aber ich fühlte mich einfach noch nicht bereit für eine Romanze.
Gut, das mit Randall lag 30 Jahren zurück, aber trotzdem war mir einfach nicht wohl bei dem Gedanken, wieder einen Mann zu lieben. Irgendwann, aber nicht jetzt.
Die Tür ging auf.
"Lilith?" Es war Paton.
"Na Doktor Shaw? Erfolg gehabt?"
"Natürlich! Mir ist übrigens etwas Geniales eingefallen!"
"Du möchtest mir eine Tasse Earl Grey machen!"
"Nein. Wegen Sydney-Ellison. Ich hab sie gesehen. Du hast Recht. Sie sieht aus wie ein Engel!"
"Selbstverständlich. Hab ich ja gesagt."
"Lilith, unterbrich mich nicht andauernd!"
"Entschuldige!"
Paton warf mir einen seiner strengen Paterblicke zu, doch ich grinste ihn nur unverschämt an. Ich war in-zwischen abgehärtet!
"Also, die lebenden Engel haben so eine Art Radar an ihrem Körper, damit ER weiß, wo sie sich rum trei-ben. Nicht, dass sie irgendwo in der Weltgeschichte rum eiern und ihren Spaß haben. Dieser Radar ist etwa daumennagelgroß und sieht aus wie die Haut. Er passt sich perfekt an den Hautton an. Wenn wir jetzt die-sen Sender mit dem Pulver bestreuen und an Sydney-Ellison anbringen, wird sie dauerhaft einem Befehl unterliegen. Das Pulver dringt durch das Blut in den Körper ein und wenn wir noch etwas Wiederholungs-schmiere…"
"Wiederholungsschmiere? Was ist das denn?"
"Lilith, wenn Du mich ausreden lässt, dann erfährst Du's schon. Ich habe Dir doch gesagt: nicht unterbre-chen!"
"Entschuldigt Pater, denn ich habe gesündigt!"
"Schon gut meine Tochter. Also: Wiederholungsschmiere ist ein Gel, das man auf Gegenständen auftragen kann und wenn man etwas, zum Beispiel dieses Pulver, auf diese Schmiere streut bildet es sich automatisch neu nach, wenn alles aufgebraucht ist!"
"Das ist super!"
"Klar!"
"Gut, dann können wir ihr befehlen nett zu sein und zu heiraten!"
"Jawohl! Aber leider ist sie zwei Wochen in Paris."
"Das ist doch gut. Genug Zeit, um einen passenden Ehemann für sie zu suchen."
"Also, ich hätte da schon jemanden!"
"Robert?"
"Genau!"
"Schön, ganz in meinem Interesse!"
"Ist er Dir zu nahe getreten?"
"Nein. Bis jetzt noch nicht. Aber wie wollen wir Robert überreden Sydney-Ellison zu heiraten?"
"Auf die gleiche Weise wie Sydney-Ellison!"
"Das funktioniert auch bei Toten?"
"Sonst hätte ich mir diesen Plan nicht ausdenken können!"
"Schon okay Du alter Meckerfritze. Sehr schön, dass ich so einen klugen Mentor habe."
"Hat alles seine Vorteile meine liebe Bloody-Bunny."
"Du sagst es Kleiner!"
Er streckte mir die Zunge raus und ich warf ein Kissen nach ihm.
"Ich werde dann mal hinaufgehen und bei IHM entsprechendes Material anfordern."
"Ich werde auch zu Muriel zurückkehren und mir eine Verkupplungstaktik ausdenken."
"Du?"
"Wer denn sonst? Schließlich habe ich Beatrice und John auch zusammengebracht."
"Na dann Amor: schnappe Dir Pfeil und Bogen und vollbringe gute Taten."
"Ja, ja. Schon recht Du alter Schwätzer!"
"Hey, das 'alter' nimmst Du zurück. Ich sehe schließlich aus, als wäre ich gerade mal 30 Jahre alt."
"Ja, als wärst Du erst gestern gestorben."
"Ach, geh mir aus den Augen, Du freches Weibsstück."
"Mach die Augen zu, dann muss ich mich nicht so anstrengen. Bis später!"
Ich lief zu dem Taxihaufen an der Straßenecke und fuhr zum 'Appartement'.
***
Lilith und ich saßen in meinem Zimmer. Morgen würde Syd, wie wir beschlossen hatten Sydney-Ellison zu nennen, wiederkommen.
"Ich habe mir folgendes überlegt: da übermorgen Dienstag ist, werde ich zu Robert fahren. Mit dem präpa-rierten Sender. Ein bisschen mit ihm flirten und ihm das Ding dann an den Hals kleben mit dem Befehl sich in Syd zu verlieben, wenn ich ihren Namen nenne. Dann schnappe ich mir meine Koffer und da es immer-hin drei sind, wird Robert mir helfen, sie hierher zu fahren.
Morgen misch ich Syd ein bisschen Abführmittel ins Essen und…"
"Lilith! Das ist grausam!"
"Vielleicht, aber sonst kommst Du nicht an sie ran und außerdem hat sie Muriel so viele Sorgen gemacht, da kann sie auch ein bisschen leiden!"
"Hmh!"
"Hör auf rumzumosern. Du kannst ihr dann den Sender anbringen und sich befehlen, sich in Robert zu verlieben."
"Aye, aye Madam."
"Der Plan ist doch gut, oder?"
"Bis auf…"
"Paton. Ich meine in Wesentlichen!"
"Ja. Im Wesentlichen ist er phantastisch."
"Toll, dass Du mit mir übereinstimmst. Ich werde jetzt mit Mrs Joy-Meyer zu Abend essen."
"Guten Appetit!"
"Danke."
Die Tür schloss sich.
ER hatte mir die Sender tatsächlich gegeben, nachdem ich ihm Roberts Verhältnis zu Lilith klar gemacht hatte. Ich hatte auch etwas Abführmittel in der Arzttasche, aber wohl fühlte ich mich bei dem Gedanken nicht!
***
"Robert? Würdest Du mir bitte helfen die Koffer zu Muriel zu bringen?"
"Aber gerne Lilith!"
Ich hatte den Radar auf der Hand. Robert kam in mein Zimmer und ich trat auf ihn zu.
"Vielen Dank!" Ich tat so, als würde ich ihn umarmen. Blitzschnell befestigte ich den Sender an seinem Hals.
"Verlieb Dich in Sydney-Ellison, sobald ich sie Dir vorstellt! Du bist der Bruder meines Schwagers!"
Gestern hatte ich ihr das Abführmittel ins Abendessen geschmuggelt und heute Morgen hatte sie Paton rufen lassen.
Er hatte seine Aufgabe erfüllt.
"Dann komm!"
Wir luden die Koffer ein und fuhren los.
***
"Kommen Sie Miss Joy-Meyer. Die frische Luft wird Ihnen gut tun!"
Ich hatte Sydney-Ellison heute Morgen ein Mittel gegen das Abführmittel gegeben und es hatte bereits gewirkt.
Ich musste sie jetzt nur noch runter in den Salon bekommen. Lilith wollte um drei Uhr herkommen.
"Wenn Sie meinen!"
Sie zog ihren Sommerpelzmantel an und wir gingen in die Halle. Ein Wunder!
Lilith stand in dieser – mit Robert!
"Oh! Guten Tag Doktor Shaw. Geht es Ihnen wieder besser Sydney-Ellison?"
"Ja, danke. Wer ist Ihr Begleiter?"
"Das ist Robert Salomon!", sagte ich überbetont.
Ein Lächeln – ich hatte Sydney-Ellison noch nie lächeln sehen – machte sich auf ihrem Gesicht breit, mit dem sie noch schöner aussah.
"Ich bin entzückt!"
"Ich ebenfalls. Sie sagten doch frische Luft würde mir gut tun Doktor Shaw. Robert? Würden Sie mich begleiten?"
"Mit dem größten Vergnügen! Rose, Du brauchst mich nicht mehr, oder?"
"Nein. Geh ruhig." Natürlich flog unsere Tarnung nicht auf. Schließlich machte der Befehl sich zu Verlie-ben Robert nicht kopflos, wie viele andere Männer.
Die beiden verschwanden.
"Grins nicht so selbstgefällig Paton! Das war mein Plan!"
"Aber ich hatte die Idee mit den Sendern."
"Okay. Wir sind beide Genies."
"Logisch."
"Ich werde jetzt zu Muriel gehen und ihr sagen, dass ihre Enkelin ein Date hat."
***
"Was? Sydney-Ellison ist ausgegangen? Mit einem Mann?"
"Ganz Recht. Dem Bruder meines Schwagers! Er hat mir Einkäufe hergebracht und als die beiden sich sahen, war es um sie geschehen!"
"Dem Himmel sie Dank. Wenn meine Enkelin endlich heiraten würde, wäre das so schön!"
Sie wird ganz sicher!
"Wir werden sehen. Natürlich wäre das erfreulich!"
"Erfreulich? Ein Grund die Korken knallen zu lassen wäre das!"
Ich lächelte in mich hinein.


"Großmutter?" Sydney-Ellison schaute schüchtern zur Tür hinein.
Ihr Benehmen hatte sich merklich gebessert, seit sie mit Robert liiert war.
"Was gibt's mein Kind?" Auch Muriel war viel freundlicher.
"Robert hat mir einen Heiratsantrag gemacht!"
"Wirklich? Oh Kind, wie wundervoll!" Mrs Joy-Meyer klingelte nach Leon.
"Bringen Sie Champagner! Wir haben eine Verlobung zu feiern!"
"Sehr wohl Madame!" Leon war der Einzige – außer Paton – der von Muriel gesiezt wurde.
"Wann möchtet ihr heiraten?"
"Sobald wie möglich!"
"Übermorgen?"
"Perfekt! Ich möchte eine große Hochzeit."
"Selbstverständlich. Ich kenne einen ganz exquisiten Schneider, Dekorateur und eine Musikgruppe, die zum Dahinschmelzen schön spielt."
Natürlich konnten lebende Engel lebendige Menschen heiraten. Nur wussten die sterblichen Lebenspartner nicht davon, dass sie mit einem lebenden Toten verheiratet waren, bis auch sie das Zeitliche gesegnet hat-ten und schließlich eingeweiht wurden.
Ich lächelte, als Muriel 'kenne' sagte. Abgerichtet und auf diesen Tag spezialisiert hätte besser gepasst. Sie hatte mir verraten, dass sie den Leuten Geld zahlte, damit sie auf Abpfiff bereitstanden.
***
Die Musik ertönte und die Türen gingen auf. Herein geschwebt kam Sydney-Ellison.
Sie trug ein langes mit Perlen geschmücktes Hochzeitskleid.
Ihr Haar kunstvoll hochgesteckt und sie strahlte so überirdisch glücklich, dass alles um sie herum verblass-te.
Am Altar stand ein nicht weniger strahlender Robert.
Heute wurde aus Miss Joy-Meyer Mrs Salomon.
Die Musik verstummte. Wir setzten uns und der Priester begann mit der Zeremonie.

Das Auto fuhr mit den Frischvermählten in die Flitterwochen davon. Ziel war Limerick. Robert wollte nach über 300 Jahren seine Heimatstadt besuchen.
Geschafft! Wir hatten unser Ziel erreicht.
Jetzt mussten wir noch drei Wochen warten, dann würde auch Mrs Joy-Meyer ihre verdiente Ruhe finden.
Wir würden nach der Beerdigung wieder ins Kloster zurückkehren. Ein bisschen freute ich mich schon. Dann konnte ich wieder predigen, Ministranten herumscheuchen, mit Rudolph blöde Witze reißen und mit Zachathrustra diskutieren.
"Noch 20 Tage!" Lilith hatte den gleichen Gedanken.
Nach der Beerdigung würden wir in das Haus zurückfahren, uns die Koffer schnappen und das Kloster zurückkommen. Sobald wir im Kloster standen, hätte man uns hier vergessen. Dann hätte es im Joy-Meyer'schen Haushalt nie eine Rosemarie Barnes und einen Doktor Adam Shaw gegeben.
"Ja. Wirst Du New York vermissen?"
"Ein bisschen. Aber London ist und bleibt einfach unvergleichlich."
"Du und Dein London! Limerick ist die eindruckvollste Stadt der Welt!"
"Pah!"
***
"Mrs Joy-Meyer war eine willenstarke Frau, die bis zum letzten Atemzug wusste, was sie wollte. Wir wer-den sie vermissen."
Mindestens 300 Leute standen am Grab von Muriel.
Ich war todmüde. Gestern konnte ich einfach nicht schlafen. Es ist furchtbar zu wissen, wann ein Mensch stirbt! Es ist nervenaufreibend.
Syd und Robert standen am Grab. Tief betroffen.
Auch die anderen Angestellten waren sehr niedergeschlagen. Doch ich wusste, dass es Muriel gut ging.
***
Wir stiegen aus dem Wagen aus. Hier im Haus von Muriel sollte der Leichenschmaus stattfinden, an dem wir nicht teilnehmen würden.
Unbemerkt schlüpften Lilith und ich in mein Zimmer, in dem unser Gepäck stand.
Bloody-Bunny und ich fassten und an den Händen und einen Augenblick später standen wir im Foyer des Klosters.
Auf der Erde hatte man uns jetzt vergessen und hier konnte der alltägliche Wahnsinn wieder beginnen!


Kapitel 43
Einladung in die Hölle
26.08.1953
Ich war nervös.
Paton hatte gestern Abend eine Nachricht aus der Hölle bekommen. In dieser stand, dass der Satan uns höchstpersönlich sehen wolle.
Wir gingen durch das Klosterportal in das Nichts. Ich krallte mich an Patons Arm fest.
Nun standen wir in einer schwarzen Grotte und um uns herum war dichter Nebel.
Es stank betäubend nach Schwefel.
Plötzlich ertönte eine Stimme. Sie klang wie Donnergrollen.
"Willkommen Pater. Willkommen Miss Lilith. Es freut mich, dass Sie meiner Bitte nachgekommen sind und…"
"Lass gefälligst das Gesülze und komm zur Sache Luzifer.", unterbrach ihn Paton unhöflich.
"Wie ich sehe, bist Du immer noch so ungestüm Paton Lyell. Nun, wenn Du es so eilig hast, komme ich gleich zum Geschäft. Ich möchte euch anbieten, Belzebub und Teufelin zu werden."
"Was?" Patons Stimmen hallte an den Wänden wider, "wir sollen Belzebub und Teufelin werden? Hast Du nicht aufgepasst? Wir haben eine Deiner Teufelinnen verbannt! Gundula, falls Dir das was sagt?"
"Ja. ich erinnere mich!", erwiderte Luzifer gelassen, "heißt das also nein?"
"Ja! Was denn sonst? Manchmal sollte man meinen der Sturz in die Hölle hat Dir nicht gut getan!"
Paton packte mich am Arm. Sekunden später standen wir im Foyer des Klosters.
"Paton! Spinnst Du? Du kannst den Teufel doch nicht so anfahren."
"Und ob ich das kann. Was soll Luzifer mir bitte tun? Er kann nicht hierher. Der Boden des Klosters ist geweiht. Und was meinst Du, was ER Luzifer erzählen wird, wenn ich ihm von diesem Angebot erzähle?"

Ich erfuhr nicht viel, aber dennoch genügend: ER war zu Luzifer in die Hölle herabgekommen und hatte ihm derart die Meinung gesagt, dass Satan nie wieder Prüfer ins Zwischengeschoss geschickt hatte. Ich war mir sicher, dass er auch keinen Belzebub oder Teufelin auf die Erde mehr schickte, doch da sollte ich mich irren…


Kapitel 44
Kontakt mit Kornelia
24.06.1959
Endlich! Ein Brief von Kornelia. Ich rannte gespannt in mein Büro. Vor lauter Freude hätte ich fast Bruder Bernhard umgerannt.
"Tut mir Leid Bernhard!", rief ich ihm noch schnell über die Schulter zu ohne stehen zu bleiben.
Am Schreibtisch angekommen riss ich den Umschlag auf.

Mein geliebter Paton,
endlich weiß ich, wo Du bist und wie es Dir geht. Ich halte Dir einen Platz hier im Garten Eden frei – bei mir! Ich hoffe Du verzeihst mir, dass ich Dich damals auf der Erde alleine ließ.
Ich habe nicht aufgehört Dich zu lieben und daran zu glauben, Dich wieder zu sehen. Jetzt ist es schon über 300 Jahreher, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber mein Herz hat immer Dir gehört. Ich…

Es klopfte.
"Herein!", rief ich genervt. Wer zum Henker musste mich jetzt stören?
Lilith trat ein.
"Bruder Samuel braucht dringend Deine Hilfe beim Schmücken der Kirche.
Ich seufzte. Kornelia würde wohl warten müssen. Ich verschwand.
***
Paton legte ein Blatt Papier – wohl ein Brief – auf den Tisch und rauschte an mir vorbei.
Neugierig sah ich mir das Blatt genauer sein.

Mein geliebter Paton,
endlich weiß ich, wo Du bist und wie es Dir geht. Ich halte Dir einen Platz hier im Garten Eden frei – bei mir! Ich hoffe Du verzeihst mir, dass ich Dich damals auf der Erde alleine ließ.
Ich habe nicht aufgehört Dich zu lieben und daran zu glauben, Dich wieder zu sehen. Jetzt ist es schon über 300 Jahre her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber mein Herz hat immer Dir gehört. Ich liebe Dich und werde auf Dich warten. Du bist der einzige Grund, warum mir der Tod Spaß macht! Ich habe gehört, Du bist jetzt Priester. Habe ich Dir schon mal gesagt, dass ich Männer in Kutten liebe?
Aber Du solltest Dich wirklich schämen! Zu Dir passt eher ein… na ja, ich möchte jetzt nicht ausführlicher werden!
Ich muss zur Post.
Ich hoffe, Dich bald wieder in meine Arme schließen zu können!
Deine Dich über alles liebende
Kornelia

"Mit dem Inhalt zufrieden?" Paton stand im Türrahmen angelehnt da und sah mich an.
"Na ja!", gab ich zurück. Also dieser Schmelz war nichts für mich!
Ich legte den Brief hin und ging an ihm vorbei.
Sein Blick ruhte auf mir. Als ich ihn erwiderte, musste ich kichern.
"Was passt denn eher zu Dir, als eine Kutte? Die Kluft des Folterknechts?" Bevor er irgendetwas sagen konnte, rauschte ich davon.


Kapitel 45
Der Hippie-Priester
30.12.1966
Mein Güte sah ich gut aus!
Ich stand vor meinem Spiegel – ohne meine Kutte. Aber keine Angst! Ich war bekleidet.
Statt dieser trug ich eine Schlagjeans und ein beiges Leinenhemd mit einer geflickten Jeansweste darüber.
Meine Haare trug ich offen, sodass sie mir über die Schulter hingen.
So ging ich in die Kapelle, um sie für Weihnachten zu schmücken.
Ich war nicht der Einzige, dem die Mode der Hippies zusagte. Allerdings gab es auch Leute, wie Lilith, die über unseren Stil nur die Nase rümpften.
In der Kirche angekommen, holte ich ein riesiges Leinentuch hervor und malte das Friedenszeichen drauf. Ich hing es hinter den Altar.
Lilith kam herein. Im Glockenrock und Bluse.
Sie verkniff sich bei meinem Anblick ein Lachen. Doch beim Anblick des Tuches weiteten sich ihre Au-gen.
"Oh Paton! Das ist wundervoll! Das passt ganz toll zu Weihnachten. Eine super Idee!"
"Vielen Dank gnädiges Fräulein."
"Schon gut. Welches Gewand möchtest Du tragen?"
"Das grüne!"
"Grün?" Sie runzelte die Stirn.
"Ja, grün!", meinte ich langsam.
Sie zuckte die Achseln und ging zum Schrank, um das Gewand zu holen.
"Gott bin ich froh, dass Du wenigstens die Messe ordentlich angezogen hältst!", meinte sie frech grinsend, als sie mir in das Messgewand half.
Ich schnitt eine Grimasse und wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als leider schon die ersten Vampire in die Kapelle kamen. Ich beschloss sie später zur Schnecke zu machen.

Als ich sie nach der Predigt suchte, fand ich sie fluchend vor der Besenkammer stehen.
"Mist verdammter. Bleib jetzt stehen Du Drecksding!"
Die Besenkammer war so überfüllt, dass kein Besen stand.
"Lilith! Hör auf mit dem Geschimpfe! Versuch es noch mal. Ohne Fluchen. Es wird funktionieren!"
"Das sagt gerade der Richtige!", doch sie tat wie ihr geheißen.
Es klappte wirklich.
"Kruzifix! Ich hätte jetzt nicht gedacht, dass das geht!", murmelte ich erstaunt.
Bloody-Bunny fing das Kichern an.
"Sei still! Hilf mir lieber den Speisesaal für Heiligabend zu schmücken!"
"Mit dem allergrößten Vergnügen!"

Nur zur Information: ich habe Lilith nicht zur Schnecke gemacht. Hab's vergessen! Werde es aber bei Ge-legenheit nachholen!


Kapitel 46
Elvis – Fan

Es kam die Zeit of Rock'n' Roll, die einen der besten Sänger der Welt hervorbrachte. Elvis Presley. Und es gab nicht einen im Zwischengeschoss, der nicht Elvis-Fan war. Selbst der Hippie-Freak Paton, war ein großer, wenn nicht sogar der Größte Elvis-Fan. Abgesehen von mir.
Er hatte es sogar geschafft, auf ein Konzert gehen zu dürfen. Gott meinte, er hätte sich eine Belohnung verdient. Ich wurde allerdings nicht eingeladen mit ihm zu gehen. Ich war deshalb nicht besonders gut auf den Priester zu sprechen.
Aus diesem Grund suchte ich ihn am Morgen nach dem Konzert in seinem Büro auf, wo ich ihn allerdings nicht antraf.
Ein Zettel lag auf seinem Schreibtisch:

Komm in die Kapelle und hilf mir beim Schrubben.
Paton L. Vampire.

Genervt befolgte ich seine Anweisung. Als in die Kapelle betrat, hörte ich ihn schon singen:
“Every man has a flaming star, over his shoulder...“
Ich prustete los. So wie er mit einem Besen als Mikrofon in seiner Kutte in einer Seifenlache stand, musste man bei diesem Anblick einfach lachen.
Er sah nur auf und streckte mir gut gelaunt die Zunge raus.
„Ich nehme an, dass Du gestern einen tollen Abend hattest.“, fragt ich jetzt wieder beleidigt.
„Na, wir haben heute wohl schlecht geschlafen...“, meinte er.
„Stimmt“, sagte ich, „ ich durfte nämlich hier bleiben, während sich andere auf einem Elvis Konzert ver-gnügt haben.“
Ich nahm mir einen Lappen und begann zu wischen. Er schien wohl begriffen zu haben, dass man den Bo-den mit einem Besen nicht waschen kann und stellte ihn beiseite.
„Bist Du sauer, weil ich Dich nicht mitgenommen habe?“, fragte er ungläubig.
Ich wollte schon „Ja“ sagen, doch ich fand mich mit einem mal ziemlich kindisch.
„Na ja, ich hatte gedacht, dass Du mich mitnimmst, um nicht alleine gehen zu müssen.“, sagte ich auswei-chend, obwohl mein Ärger schon wieder verflogen war.
„Ich bin ja auch nicht alleine gegangen. Ich hatte Christine dabei.
„Eine Selbstverständlichkeit!“, sagte ich, als ob es wirklich nichts gäbe, das logischer erscheinen würde.
Paton schmunzelte. Dann putzten wir die Kapelle und Paton drückte mir ein Päckchen in die Hand. Ich bereute sofort auf ihn sauer gewesen zu sein, als ich erkannte, dass es ein T-Shirt mit aufgedrucktem Elvis Gesicht war.

Kapitel 47
Die Geschwister Fürchterlich
18.07.1972
Heute sollte eine neue Verstorbene ins Zwischengeschoss kommen: Magdalena Beens.
Paton hatte mir aufgetragen sie zu empfangen. Er musste Bastian und Konstanze bei ihrer Strafarbeit be-aufsichtigen.
Das Tor öffnete sich und eine alte Frau kam von einem Engel geleitet herein.
"Guten Tag. Mein Name ist Lilith Parker und…"
"Lilith? Oh mein Gott! Du hast keine Hasenzähne mehr, aber sonst hast Du nicht verändert. Was machst Du denn hier?"
Das konnte doch nicht sein! Stand da vor mir meine kleine Schwester?
"Magdalena? Warum heißt Du denn Beens mit Nachnahmen? Hast Du zweimal geheiratet?"
"Dreimal!"
"Dreimal?"
"Ja. Ich habe mich zweimal scheiden lassen!"
"Oh, wie schrecklich!"
"Nein. Schließlich haben wir und nicht mehr geliebt."
"Aber warum bist Du hier?"
"Ich hatte zu viele Affären."
"Was?" Ich war fassungslos. Meine kleine Schwester war so ein Luder gewesen?
"Ja. Das war auch immer der Scheidungsgrund. Also die Männer sind auch manchmal empfindlich. Wenn sie ein Techtelmechtel haben, muss ein 'Entschuldigung' reichen. Wenn die Frau aber eine Liebelei hatte, dann sofort Scheidung. Also ich kapier's nicht! Außerdem hatte Roy und mein zweiter Ehemann auch durchaus ihre Betthäschen!"
"Und Du musst jetzt abwarten und erst mal hier bleiben?"
"Ja. Die Engel sehen gerade mein Sündenregister durch."
"Weißt Du was mit Mutter, Vater und Oskar ist?"
"Mutter ist kurz nach Deinem Tod gestorben. Sie hat es nicht verkraftet, dass sich eins ihrer Kinder um-bringt…"
"Oh mein Gott! Das ist…"
Ich fing an zu weinen.
"Es ist doch nicht Deine Schuld. Das konntest Du doch nicht wissen. Aber was wir uns immer gefragt ha-ben: warum hast Du Dich umgebracht? Randall war doch immer so gut zu Dir und…"
"Nein!" Unter vielen Tränen erzählte ich ihr die Wahrheit.
Ich hatte in den Briefen, die ich ihr geschrieben hatte immer lügen müssen.

"So ein Schwein!"
"Du sagst es Schwesterherz."
"Was hat sich dieses Arschloch nur dabei gedacht?"
"Magdalena!"
"Ja ist doch wahr! Wo ist er?"
"In der Hölle."
"Da gehört er definitiv hin. Aber warum darfst Du nicht in den Garten Eden? Verbrochen hast Du doch nichts!"
"Selbstmord ist eine Todsünde."
"Aber das war doch der einzige Ausweg."
"Erzähl das mal IHM."
"So ein Quatsch!"
"Ja. Aber nicht zu ändern. Kannst Du Dich noch an unsere Cousine Beatrice de la Fleur erinnern?"
"Klar. Ihr Bruder Gaston ist wie Oskar im Ersten Weltkrieg gefallen.
"Was?"
"Ja. Vater ist an einer Lungenentzündung gestorben."
"Oh wie furchtbar."
"Was meinst Du, wie traurig ich war? Aber sie scheinen im Garten Eden zu sein."
"Was sollten sie denn bitte in der Hölle? Aber ich kann Paton fragen. Er ist der Priester hier und heißt ei-gentlich Pater Vampire. Er weiß so was.
Ach ja: Beatrice ist auch hier im Zwischengeschoss und sie…"
"Diese Ziege ist hier? Und da hast Du nicht um Versetzung gebeten?"
"Sie ist ganz nett geworden! Sie hat sich mal tierisch in Paton verknallt. Kannst Du Dich noch an Onkel Rodney erinnern?"
"Logisch."
"Der hat einen Neffen namens John Ridley und den hat Beatrice geheiratet, da Paton nicht zu haben war."
"Warte mal. John Ridley? Ungefähr ein Jahr nachdem Du gestorben bist, ist Randall auch abgenippelt. Er hat sich mit einem John Ridley duelliert und ist dabei umgekommen. Vater hat die Sache sehr traurig ge-macht! Er hat einen Zeitungsartikel, der von dem Ereignis berichtete, aufgehoben.
Ich hatte ihn noch vorgestern in der Hand. Sue, meine Urenkelin wollte ihn sehen. Sie ist Historikerin und liebt so altes Zeug. Weißt Du, worum es in diesem Duell ging?"
"Ja. Um mich!" Ich erzählte ihr also von unserem ersten Einsatz auf der Erde.
"Randall hat Dich echt nicht erkannt?"
"Nein!"
"Arsch…"
"Ja, ich weiß! Komm, wir gehen mal zu Paton."

Wir fanden ihn auf dem Altar sitzend und Konstanze und Bastian beim Flurwischen beaufsichtigend.
"Ist das der neue Schützling?"
"Ja. Meine Schwester Magdalena."
"Was? Heißt das etwa, ich muss zwei Parkers ertragen?"
"Ganz Recht!"
"Freut mich Sie kennen zu lernen Miss Parker!"
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite Paton."
Er war mir einen bösen Blick zu, den ich mit einem Schulterzucken parierte.
"Hör mal Paton, kannst Du uns sagen, wo unser Bruder Oskar Parker und unsere Eltern Theresa und James Parker sind?"
"Ja, das könnte ich."
"Bitte Paton."
"Wenn ich mir überlege, wie frech Du schon wieder warst!"
"Nie wieder bin ich frech!"
"Für diese Lüge müsste ich Dich kreuzigen lassen, aber ich bin ja nicht so!"
"Danke Paton. Du bist der Beste!"
"Hör auf zu schleimen. Sonst rutsch ich noch aus!"
Ich warf ihm eine Kusshand zu und schleifte Magdalena zu Beatrice und John.

"Magdalena? Das ist doch schon eine Ewigkeit her, seit wir uns gesehen haben!" Beatrice umarmte Magda-lena stürmisch.
Mein Schwesterchen schaute mich fragend an.
"Freut mich auch Dich wieder zu sehen!"
Wir setzten uns zum Teetrinken und ratschten über die guten, alten Zeiten.
Beatrice schien Magdalena ein bisschen unheimlich zu sein. Sie schaute mich die ganze Zeit sehr zweifelnd an.
Wenig später gesellte sich Paton zu uns.
"Eure Familie ist im Garten Eden!"

Genau wie Magdalena. Zwei Monate nach ihrer Ankunft im Zwischengeschoss durfte sie ebenfalls in den Garten Eden.


Kapitel 48
Ein tolles Vorbild
03.08.1983
"Bloody-Bunny!" Ich stürmte aus ihrem Zimmer. Fast stieß ich mit ihr zusammen.
"Oh! Hallo Paton. Alles palleti?"
"Nein! Hast Du schon wieder mal geraucht, obwohl ich es verboten habe?"
Sie sah betreten drein.
"Hast Du etwa die Zigaretten in meinem Zimmer gefunden?"
Ich nickte düster.
"Wieso schnüffelst Du in meinem Zimmer rum?"
"Ich will nicht, dass Du noch einmal rauchst! Sonst rede ich mit Zachathrustra!"
"Die qualmt doch selber!", maulte sie. Ich rauschte an ihr vorbei.
Auf halbem Wege in die Kapelle kam mir Bruder Bernhard entgegen. Er klopfte mir auf die Schulter.
"Na Pater? Schlecht gelaunt?"
Ich knurrte ihn nur an. Dann roch ich es. Es lag in der Luft. Eine Spur Rauch!
"Wer raucht hier?", fragte ich ihn drohend. Bruder Bernhard machte eine Unschuldmiene.
"Keiner!"
Da öffnete sich die Tür der Kapelle und es traten Brüder und Schwestern heraus. Alle eine Zigarette in der Hand.
Ich starrte sie fassungslos an. Als sie mich sahen, verstummten sie. Peinlich berührt sah mich Bruder Bern-hard an.
"Hör mal Paton. Wir wollen einfach rauchen. Ist das so schlimm?"
"So schlimm?", keuchte ich, "klar. Ihr seid schon tot und könnt dadurch nicht durchs Rauchen sterben, schon klar. Aber", ich fing das Brüllen an, "IN DER KIRCHE? ICH GLAUBE ES JA NICHT! IHR SEID NONNEN UND MÖNCHE UND RAUCHT IN DER KIRCHE?"
Langsam, Entschuldigungen murmelnd, verließen alle unter meinen strafenden Blick den Gang.
Ich trat in das Gotteshaus und setzte mich auf den Altar.
Ich überlegte, was ich Zachathrustra erzählen sollte, als sie schon würdevoll durchs Kapellenportal ge-schritten kam.
"Hallo Paton. Ich habe schon von dem Vorfall gehört! Ich gebe Dir vollkommen Recht! In der Kirche darf nicht geraucht werden. Egal welche Strafe Du ihnen erteilst, Du hast meine Zustimmung."
Sie verließ mich wieder. Kurz darauf trat Lilith ein. Mit einer Kippe in der Hand.
"Fluppe aus verdammt!", schnauzte ich sie an.
Sie schnitt eine Grimasse und drückte sie aus. Ich funkelte sie an.
"Ich mach den Müll wieder weg!", versuchte sie mich zu beruhigen.
"Hier wird nicht gepafft!", meinte ich nur und begann das getrocknete Wachs vom Altar zu kratzen.
"Du rauchst doch auch.", fuhr sie mich an.

"Tu ich nicht!"
"Dann wird's Zeit!"
"Lilith!"
"Paton?"
Sie grinste.
"Du bist ja schon süchtig nach den Dingern." Sie zuckte die Achseln.
"Tja, dieses Problem wirst Du so schnell nicht bewältigen.", meinte sie leichthin.
"Hör auf. Zigaretten sind kein Segen."
"Denkst Du, Du Nichtraucher."
"Ich sehe das nicht als Schimpfwort."
"Looser!"
"Hör auf!"
"Looser!"
"Ruhe!"
"Looser!"
"Lilith!"
"Ja, Du Looserpaton?"
"Hör auf!", schrie ich sie an und warf dabei eine Kerze um.
Der Vorhang fing sofort Feuer.
Schnell löschten wir ihn, bevor die ganze Kapelle in Flammen aufging.
***
Er holte tief Luft und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
"Hast Du mal 'ne Kippe?", fragte er.
Wortlos hielt ich ihm mein Etui hin. Er schnappte sich eine Camel und ließ sich von mir Feuer geben.
Zusammen rauchten wir eine. Ja, Paton war ein echt tolles Vorbild.

Ich hab übrigens Mitte der Neunziger aufgehört. Man stinkt einfach furchtbar!


Kapitel 49
Ein freies Kloster

09.02.1996
Ich wachte mit einem fürchterlichen Kater auf. Gestern hatten wir Zachathrustras 300. Geburtstag gefeiert und Blut von Alkoholikern getrunken. Ja, auch Vampire wie wir konnten uns einen Rausch antrinken. Da-gegen gab es nur ein Mittel: ausnüchtern und warten, bis das ganze Blut verbraucht war. Danach mussten wir Blut von reinen Menschen trinken. Welche, die gesund gegessen, nicht geraucht und nicht getrunken hatten.
Ich setzte mich auf und fuhr erschrocken zusammen, als Simon schnarchte.
Angewidert blickte ich zu ihm. Das schwarze Haar klebte schweißnass am Kopf. Die Haut war aufgedun-sen und auf dem Kissen war ein dunkler Speichelfleck. Wie konnte ich nur so etwas lieben?
Ich nahm Papier und Stift.

Simon,
Sorry, aber ich kann nicht mehr mit die Deine sein. Ich habe das Gefühl, wir haben uns auseinander ge-lebt!
Lilith

Ich zog mich an und torkelte in mein Zimmer.
Ich hatte meinen Verehrern nie gesagt, wo ich wohnte. Wenn es doch jemand herausgefunden hatte, war ich einfach umgezogen.
Das Kloster war auch inzwischen gewaltig gewachsen.
Als ich hierher kam, wohnten hier 300 Leute. Inzwischen waren es über 1.000. Die Menschen wurden im-mer schlechter.
Endlich war ich da.
Ich verschloss die Tür und trancte.
***
"Lilith! Mach die Tür auf!"
Hart hämmerte ich gegen diese. Das war zwar nicht förderlich gegen den Kater, aber ich musste dringend mit diesem Frauenzimmer reden.
Ja. Auch ich, Paton Lyell Vampire hatte gestern ein Tröpfchen Blut zu viel getrunken!
Ich hörte, wie der Riegel zurückgeschoben wurde und eine verschlafene und vom Kater gezeichnete Bloo-dy-Bunny stand vor mir.
"Mach nich so 'n Krach!"
"Simon war gerade bei mir und hat sich ausgeheult, dass Du ihn verlassen hast."
"Brüll nich so rum. Komm rein!"
Sie ließ sich auf das Bett fallen. Ich mich in den Stuhl. Nie wieder alkoholvermischtes Blut!
"Ja, ich habe Simon verlassen. Es hat zwischen uns einfach nicht mehr gepasst. Ist das jetzt eine Sünde, wenn man seinen Partner, den man nicht mehr liebt, verlässt?"
"Nein, aber Du hast ja nicht nur einen Partner verlassen, sondern…." Ich zog eine Liste hervor, auf die ich Liliths Verflossene aufgeschrieben hatte.
"Es waren auch noch Francois, Anton Ludwig, Sven, Manuel, Richard, Christian, Julian, Oliver, Samuel, Joseph, Greg, Justin, Michael und jetzt Simon."
"Du hast alle aufgeschrieben?"
"Ja. Lilith: es wird Zeit, dass Du Dich bindest. Wohin soll das alles führen? Wir sind doch hier keine Part-nervermittlung. Männer sind schließlich keine Kleidungsstücke, die man täglich wechseln kann."
"Das meinst Du. Paton, wir sind doch hier ein freies Kloster. Der Richtige war halt noch nicht dabei! Au-ßerdem kann nicht jeder so enthaltsam sein, wie Du und einer einzigen Frau hinterher trauern."
"Lass Kornelia in Ruhe!"
"Dann lass mich in Ruhe. Hast Du dran gedacht, dass sie sich vielleicht neu verliebt hat?"
"Niemals!"
"Und wenn doch?"
"Das würde sie niemals tun. Wir haben eine Tochter!"
"Es sind schon 359 Jahre seit damals vergangen. Eine lange Zeit!"
"Halt den Mund Lilith!" Am liebsten hätte ich ihr eine geknallt, aber wenn ich das getan hätte, hätte ich meine beste Freundin verloren.
So stürmte ich einfach nur wütend aus dem Zimmer.
Aber das Thema beschäftigte mich doch. Ich ging zu IHM. Vielleicht wusste ER etwas.
***
Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen Paton gegenüber.
Das war absolut scheiße gewesen.
Ich tigerte unruhig in meinem Zimmer umher.
Jetzt war mir erst recht schlecht.
Ich zog mich in den Beichtstuhl zurück.
Wie hatte ich nur so etwas sagen können? Ich war so blöd! Mein Gott war ich blöd!
***
Ich betrat strahlend das Kloster. ER hatte gesagt, dass Kornelia mich immer noch liebte und sogar darauf bestanden hatte ins Zwischengeschoss zu kommen.
Alles in bester Ordnung! Jetzt musste ich nur noch Bloody-Bunny finden, die sicher ein schrecklich schlechtes Gewissen hatte. Sie um Vergebung betteln lassen, die ich ihr großzügig erteilte, und dann war alles gut.

In ihrem Zimmer war sie nicht. Also ging ich zum Beichtstuhl. Dort zog sie sich immer zurück, wenn sie nachdenken wollte.

Ich hatte Recht. Sie saß total weggetreten auf der Bank.
***
Paton öffnete grinsend die Tür meines Verstecks. Das war schon mal nicht schlecht.
"Tut mir Leid Paton. Ich war total fies und hab mich schrecklich benommen.", legte ich gleich los.
Er hielt mir den Mund zu.
"Ich auch. Aber alles in Butter. Kornelia liebt mich immer noch. Sie wollte sogar ins Zwischengeschoss kommen!"
"Woher weißt Du das?"
"ER hat es mir gesagt!"
"Das ist großartig!"
Ich umarmte ihn.

Seitdem ließ Paton mich herumfuhrwerken wie ich wollte. Es war mein Tod und er wollte mir nicht reinre-den. Schließlich hatte ich das auch nie getan.


Kapitel 50
Übervölkerung
11.09.2001
Frauen und Kinder weinten oder blickten verwirrt umher. Männer kauerten sich an die Wände. Überall standen Leute: im Foyer, in den Fluren und in der Kirche drängelten sie sich.
"Entschuldigen Sie bitte! Dürfte ich mal durch?"
Ich quetschte mich zu Bloody-Bunny durch, die alle wie ein Leuchtturm überragte.
Zwar konnte sich das Kloster je nach Bedarf ausdehnen, doch fast zweitausend Menschen auf einmal war etwas viel.
500 Menschen, die ganz sicher hier blieben, hatte ich schon untergebracht.
Natürlich blieben nicht alle 2.000 Menschen hier, aber bei manchen musste noch entschieden werden, wo-hin sie sollten.
Der Grund für diese Überbevölkerung war, dass heute in New York zwei Flugzeuge in das World Trade Center geflogen waren knapp 3.000 Menschen das Leben gekostet hatten. Es war ein Terroranschlag gewe-sen. Die Terroristen waren ebenfalls ums Leben gekommen und schnurstracks in die Hölle. Da gehörten sie auch hin. In das Dunkelste und schwefelverpestete Loch!
Endlich hatte ich mich zu Lilith durchgekämpft.
"Im Westflügel sind 300 Zimmer frei. Bitte bring die hier hin!" Ich reichte ihr eine Liste.
"Okay Paton!" Sie nahm ein Megafon und rief die Namen auf. Die Leute erhoben sich und folgten Lilith ängstlich.
Bis zum Abend hatte jeder ein Zimmer oder war in den Garten Eden beziehungsweise in die Hölle geholt worden.
***
"Ich fühle mich, als wäre ich tot!"
"Das kommt vielleicht daher, dass Du tot bist!"
Ich streckte meinem besserwisserischen Mentor die Zunge raus.
"Ich weiß, wie Du das meinst!"
Ich schlürfte genüsslich meinen Blutorangentee. Der erste diese Woche! Die Nachwirkungen des An-schlags waren verherrend gewesen: es waren noch mal 200 Leute hergekommen, die ganzen Menschen die ihren Verletzungen erlegen waren.
Jetzt hatten wir 1.300 neue Bewohner im Zwischengeschoss. Diese hatten alle einen Schock und mussten therapiert werden. Paton, Zachathrustra und ich waren im Dauereinsatz. Das ich in den 80gern Psychologie studiert hatte, kam mir jetzt zugute.
Paton rieb sich müde über die Augen, wobei müde natürlich der falsche Ausdruck war. Wir trancten schließlich nur, um die Zeit totzuschlagen, noch so ein zweideutiger Begriff!
"Ich glaube, ich habe heute mit 200 Leuten geredet!"
"Ich auch und Zachathrustra sogar mit 300. Es sind jetzt noch 100 übrig. Ich denke morgen ist das alles vorbei, dann kehrt wieder ein bisschen Ruhe ein."
"Hoffentlich. Vor allen, dass die armen Leute ein bisschen Frieden und Zerstreuung finden."

Ich hatte Recht. Eine Woche später lachten die ersten Leute wieder. Und ein Jahr später war die Sache so gut wie vergessen.
Zumindest im Zwischengeschoss. Aber wir hatten trotzdem jedes Jahr einen Gottesdienst zum Gedenken an diesen Tag.


Kapitel 51
Euda!!!
25.11.2005
"Yo Euda, was geht ab?" Paton begrüßte Nick, seinen neuen Busenfreund aus der New Yorker Bronx.
Paton war momentan voll auf dem Hip-Hop-ich-bin-ja-so-cool-Tripp.
Mir ging das gewaltig auf den Keks und nicht nur mir. Zachathrustra verdrehte auch jedes Mal genervt die Augen, wenn sie Paton herangangstern sah.
Er lief in diesen unmöglichen Baggy-Hosen rum, die nicht mal Sindbad, der Seeräuber, getragen hätte. Dazu diese weiten, unkleidsamen T-Shirts, die mit irgendwelchen bescheuerten Logos versehen waren. Und auf dem Kopf so eine oberpeinliche Kappe.
Seine Gangart war natürlich auch obermegalässig: da diese Piratenhosen so tief saßen, musste man die Knie nach außen drehen, damit die Hose nicht runter rutschte. Vielleicht war es noch erwähnenswert, dass die Unterhose aus dem Hosenbund heraushing, vielleicht aber auch nicht.
Ich hatte auf jeden Fall nie wissen wollen, welche Boxershorts Paton trug. Gut, die Boxershorts waren eine positive Veränderung. Sonst hatte er immer diese baumwollene Ganzkörperunterwäsche getragen, mit Po-klappe.
Zu diesem total hippen Pinguingewatschel kam auch noch so ein Geschüttel hinzu, sodass es aussah, als leide er unter extremen Schluckauf.
Aber zurück zu unseren zwei Gangstarappern.
"Isch hab de neue Single von de 50 Cent: 'Candy shop'."
"Voll krass Alter. Checken wir's gleisch ma?"
"Yo!"
"Jungs, bitte tut das woanders!", mischte ich mich jetzt ein, denn die beiden machten tatsächlich Anstalten, diese 'Musik' im Gemeinschaftsraum anzuhören.
"Boah Lil", wie mich Paton neuerdings nannte," chill ma!"
Ich spürte, wie meine Zähne noch ein bisschen spitzer wurden.
"Genau Lil, sei ma'n biss'n chillig!"
Nick sah mich unverschämt an. Er war mit seinen 20 Jahren so ein Dummbach. Kein Wunder, dass sie ihn erschossen hatten.
Ich hasste das Wort 'chillen'. Ich hasst sowieso die ganze 'Sprache'.
"Rede anständig mit mir Nickolas!"
"Nenn misch ned Nickolas Lil, boah, isch weis, wo Dein Bett schläft. Also pass auf."
"Nickolas, natürlich weißt Du, wo ich nächtige und außerdem: hassuharramasch?" Nick sah mich perplex an.
"Ey Lil, leck misch fett, Du kannst ja red'n!"
"Nein, lieber nicht Paton. Was würde Kornelia nur dazu sagen?"
Seine Miene verfinsterte sich. Darauf hatte ich es angelegt. So würde er nie vor Kornelia treten.
Und ich hatte Recht. Am nächsten Tag lief er wieder in Priesterkutte und baumwollener Ganzkörperunter-wäsche rum.
Nickolas schmollte anfangs, doch Zachathrustra und ich nahmen ihn unter unsere Fittiche und es wurde doch noch ein gebildeter, junger Mann aus ihm, der sich richtig artikulieren konnte.


Kapitel 52
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben
15.08.2007
Paton war am Morgen meines 125. Geburtstages zu mir gekommen und hatte mir verkündet, dass wir zum dritten Mal auf die Erde Durften.
"Gott möchte, dass wir einen Schutzengel beschützen!", meinte er.
"Einen Schutzengel?", fragte ich ungläubig nach.
"Ja. Der Schutzengel Louisa beschützt einen Rechtsanwalt in München namens James MacLeod. Er selbst kommt aus Inverness.
Mr MacLeod hat einen Schwerverbrecher, auf den es der Teufel abgesehen hatte, auf Kaution frei bekom-men.
Da er so großes gewagt hat, schickte Gott einen Schutzengel, um auf Mr MacLeod zu achten. Schutzengel können weder getötet noch verletzt werden. Aber man kann sie trotzdem bezwingen. Man muss ein ver-schließbares Gefäß nehmen, einen Mondstein hineinlegen und in die Nähe des Schutzengel stellen. Dieser wird von dem Mondstein angezogen und dann nur noch Deckel drauf und die Sache ist geritzt.
Wir sollen nun Louisa helfen die Teufelinnen, die sie mit dem Mondstein jagen, zu verbannen.
Natürlich darf James MacLeod nichts merken, geschweige denn passieren."
"Und wie verbannen wir die Teufelinnen? Hoffentlich nicht so, wie beim letzten Mal." Ich fühlte über die alte, zwanzig Zentimeter lange Narbe an meinem Bauch.
"Nun, Du kämpfst nicht, aber Du darfst auf MacLeod aufpassen!"
"Aha. Ich darf also das Kindermädchen spielen!"
"Genau!"

So tranken wir wieder das Gebräu. Doch wir wurden mit den Fähigkeiten eines Schutzengels ausgestattet. Sicher war sicher.
Wir verabschiedeten uns von den Bewohnern des Klosters, die uns viel Glück wünschten und traten hinaus in das Nichts. Den Bruchteil einer Sekunde später standen wir in der Heilig-Geist-Gasse, wo zum Glück niemand war.
"Wo sollen wir hin?", fragte ich.
"In das Hotel am Viktualienmarkt.", antwortete Paton prompt, "ich habe für uns reserviert."
Also trappten wir los.
Eine etwas müde wirkende, aber freundliche Rezeptionistin empfing uns und gab uns die Zimmerschlüssel. Ich hatte das Zimmer 400 und Paton Zimmer 401.
Unser Gepäck hatte Paton schon vorher auf die Erde gebracht. Natürlich gut getarnt.
Nun liefen wir diesem nach, das von einem Pagen nach oben gebracht wurde.

Das Zimmer war hübsch. Es hatte einen langen, hellen Flur, ein Wohnzimmer, in dem ein nettes Sofa stand und eine kleine Hausbar eingerichtet war. Es gab auch einen Balkon, von dem ich den ganzen Viktualien-markt überblicken konnte.
Außerdem hatte ich noch ein kleines Badezimmer mit Wanne. Das Schlafzimmer war ebenfalls geräumig. Mit einem bequem aussehendem Bett, einem riesigen Schrank und Frisierkommode.

Ich hatte gerade den letzten Koffer unter das Bett geschoben, als Paton eintrat.
"Gefällt Dir Dein Zimmer?", erkundigte er sich.
"Ja. Es ist schön."
"Gut, dann lass uns ins Wohnzimmer gehen und eine Flasche Sekt köpfen. Schließlich hattest Du gestern Geburtstag und wir haben noch gar nicht richtig gefeiert."
Als jeder endlich mit einem Glas Sekt in der Hand auf der Couch saßen, fing Paton an.
"Du hast schwedisch gelernt und das wird uns sehr nützen. Denn Du gibst Dich als Dolmetscherin Adrian-na Svenson aus. Du kommst aus Stockholm. Der Mandant, den MacLeod hat, ist ebenfalls aus Schweden. Ein lebender Engel übrigens und er kann weder Englisch noch Deutsch. Du musst also übersetzen!
"Aha. Aber MacLeod wird doch nicht immer mit ihm zu tun haben."
"Nun, nicht direkt mit dem Mandanten, aber mit den Dokumenten aus Schweden. Er hat keine Zeit, alles im Ausland übersetzen zu lassen, denn er muss die 'Unschuld' des lebenden Engels, Linus Anderson heißt er, binnen 100 Tagen beweisen, sonst wird er nach Texas ausgeliefert, wo er die Todesstrafe bekäme."
"Halt! Jetzt bin ich verwirrt. Ich dachte Anderson kommt aus Schweden?"
"Tja, das ist alles ein bisschen verwirrend! Aber so soll es sein. Natürlich ist der Fall frei erfunden.
Also: Anderson hat Urlaub in Texas gemacht und dort angeblich acht Frauen umgebracht. Dann ist er nach München geflohen, da er in Deutschland geboren wurde und somit die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Er ist aber in Stockholm aufgewachsen. Die amerikanische Justiz wollte ihn verurteilen, aber man konnte erwirken, dass er hier in Deutschland verurteilt wird. So können wir James MacLeod optimal überwachen."
"Oh Gott. Wer hat sich denn so was Verwirrendes ausgedacht?"
"Ich!"
"Hätte ich mir denken können! Aber was ist mit diesem anderen Schwerverbrecher, den James MacLeod auf Kaution frei bekommen konnte?"
"Das ist doch was anderes! Zuerst hat er diesen Schwerverbrecher freibekommen, auf den es Luzifer abge-sehen hatte. Der Satan war dann sauer und hat die Teufelinnen auf James MacLeod und seinen Schutzengel angesetzt. Und nun sollen Louisa und ich die Teufelinnen bannen! Ach ja, was soll das heißen, 'hätte ich mir denken können'?"
Ich grinste.
"Gute Nacht Paton."
"Hmpf! Gute Nacht Lilith!"
Er ging aus dem Zimmer und mir schwirrte der Kopf von diesem Spinnenetz. Zum Glück hatte er eine Liste dagelassen, auf der alles noch einmal fein säuberlich stand. Ich schnappte sie mir und fing an, sie auswen-dig zu lernen.

16.08.2007
Ich stand entsetzt vor dem Spiegel.
Ich hatte einen knielangen, mausgrauen Rock an, darüber eine kurzärmelige, weiße Bluse, die bis auf den letzen Knopf geschlossen war und darüber ein graues Jackett. Meine Haare hatte ich zu einem strengen Knoten frisiert und ich hatte mich nicht schminken dürfen. Außerdem trug ich Gesundheitsschuhe, eine dicke Lesebrille und eine schwere Ledertasche.
"Nett siehst Du aus Adrianna.", meinte Paton grinsend.
"Soll ich den armen Kerl erschrecken?"
"Nein, er soll sich nur nicht in Dich verlieben, während der Arbeit."
"Aber er vergisst mich doch wieder, nachdem ich im Zwischengeschoss bin."
"Ja, aber nicht während Deines Auftrags. Das wäre hinderlich bei der Arbeit. Und Du weißt was passieren kann, wenn Anwälte in Fahrt kommen?"
Oh ja! Ich konnte mich noch genau an John Ridleys Kuss im Zug nach London erinnern, den er mir vor 99 Jahren gegeben hatte. Aber inzwischen war er ja Durch Beatrice gezähmt.
"Nun, Du hat Recht!"
Ich ging los. In die Sendlinger Straße 8, wo sich die Kanzlei von James, Peter MacLeod befand.

Zehn Minuten später kam ich an. Ich stieg in den zweiten Stock hinauf und trat Durch eine schwere Türe in einen runden Raum ein. An einem Tisch in der Mitte des Raumes saß wohl die Sekretärin.
"Guten Morgen. Ich bin Adrianna Svenson. Ich glaube Herr MacLeod erwartet mich!"
"Aber ja Frau Svenson!", antwortete die Sekretärin begeistert, "bitte folgen Sie mir."
Sie führte mich in einen großzügigen Raum, in den ein teurer Schreibtisch vor einem großen Fenster stand. Vor dem Schreibtisch stand ein bequem aussehender Ledersessel.
"Warten Sie bitte noch einen Moment auf Herrn MacLeod. Er müsste jeden Augenblick kommen. Möchten Sie in der Zwischenzeit was trinken?"
"Ein Glas Wasser wäre schön." Ich ließ mich in den Ledersessel sinken. Die Sekretärin drückte mir das Glas Wasser in die Hand und verschwand.
Ich hatte natürlich so allerhand über James P. MacLeod gelesen: seine Eltern waren steinreich. Er hatte die besten Schulen besucht und hatte an der Oxford University Jura studiert. Außerdem war er anscheinend ein ziemlicher Weiberheld. Er war am 26. April 1982 geboren. Ich war 100 Jahre älter als er. James MacLeod galt als äußerst ehrgeizig und fleißig. Er hatte in der High School ein Jahr übersprungen und in seinem Studium zwei Semester. Die Kanzlei hatte er von einem alten Freund seines Vaters übernommen. Und James MacLeod war sehr erfolgreich. Leider hatte ich kein Foto in der Akte gefunden. Ich war also äußerst gespannt.
Auf dem Flur erklangen Schritte. Ich stand automatisch auf.
Die Tür wurde geöffnet und was da durch die Tür kam, gefiel mir.
James MacLeod war groß, muskulös mit Sommersprossen. Er hatte eine maßgeschneiderte Hose und ein maßgeschneidertes Hemd an, bei dem er die Ärmel jedoch zurückgeschlagen hatte. Seine Haut glänzte in der Sonne.
Er hatte rote Locken, die von einem Pferdeschwanz gebändigt waren und in der Sonne kupfern leuchteten.
Seine sturmgrauen Augen hinter einer Brille fixierten mich.
"Sie sind also Adrianna Svenson?", stellte er in einem extrem herablassenden Tonfall fest.
"Ja." Okay, vielleicht entsprach sein Inneres seinem Äußeren nicht ganz so wie ich gehofft hatte.
Er schritt auf mich zu. Er war nicht viel größer als ich, vielleicht zehn Zentimeter. Er ergriff meine Hand und schüttelte meine Hand.
"Hoffentlich können Sie mehr, als Ihr Äußeres vorgibt. Als Stilistin wären Sie keine große Klasse.
Jegliche Sympathie, die er sich in den letzten zwanzig Sekunden ergattert hatte, verschwand.
"Tut mir Leid. Jessica Alba hatte keine Zeit. Sie müssen mit mir vorlieb nehmen oder Sie lernen binnen vierundzwanzig Stunden Schwedisch und machen die Arbeit selbst!"
Seine Miene verfinsterte sich.
Tja Herzchen! Ich bin 125 Jahre alt, mich wirft nichts so leicht aus der Bahn. Ätsch!
"Darf ich Sie an den Schreibtisch bitten?" Er drückte mir zwei Mappen in die Hand, deutete auf den Schreibtisch und verschwand.
Unhöflicher, schottischer, geistloser, charakterloser, schnöseliger, arroganter Vollidiot!
Ich atmete tief durch. Bloß keine Panik. Ich war ihm haushoch überlegen. Tja, man sollte den Tag halt nicht vor dem Abend loben.
Ich setzte mich hinter den Schreibtisch, entfernte den Bildschirmschoner des Computers, schlug die Map-pen auf und fing an zu übersetzen.
Gott sei Dank war dieser Büffel den ganzen Vormittag nicht im Büro. Andernfalls hätte ich ihn erdrosselt. Dieses hochnäsige Bürschchen! Ich war 100 Jahre älter – wo blieb da der Respekt?
Gegen Mittag hatte er aber anscheinend nichts mehr zu tun und lungerte in seinem Büro rum.
Er nervte gewaltig!
Andauernd stand er hinter mir, räusperte sich, trat von einen Fuß auf den anderen und fragte die ganze Zeit irgendeinen Mist.
"Was ist denn das für ein Satzbau?", echauffierte er sich zum Beispiel gerade.
"Nun ja, bei den Schweden ist der Satzbau anders und ich soll doch alles wörtlich übersetzen und das ma-che ich."
"Ja, aber…", jetzt riss mir der Geduldsfaden.
"Kein 'aber'! Lassen Sei mich meine Arbeit machen. Ich sage Ihnen schließlich auch nicht, wie Sie Ihre Rechtsfälle lösen sollen."
"Aber ich meine…"
"Niemand hat Sie danach gefragt, was sie meinen. Bitte, wenn Sie alles so gut können und meine Arbeit nicht gut genug ist, machen Sie doch die Übersetzungen!"
Ich schlug mit der Hand auf den Tisch, stand auf, nahm meine Aktentasche und ging. An der Tür ange-langt, drehte ich mich noch mal um
"Ich gehen jetzt etwas essen. Wenn Sie dann immer noch hier untätig im Büro rum stehen, dann können Sie sich jemand anderen suchen, der Ihnen hilft!" Damit begab ich mich in die Mittagspause.

Ich fand ein nettes Restaurant in der Innenstadt, in dem ich etwas aß.
Zu sehr beeilte ich mich nicht und kam eine Stunde wieder in die Kanzlei zurück.
Vorsichtig spähte ich in das Büro und er war tatsächlich weg. Dem Himmel sei Dank!
Ich setzte meine Arbeit ruhig fort.

Zehn Minuten vor Feierabend kam MacLeod wieder herein.
Ich hatte gerade alles abgespeichert und schaute ihn eisig an. Er duckte sich unter meinem Blick – guter Junge!
"Adrianna? Ich darf Sie doch so nennen?", fragte er unsicher.
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, während ich die Papiere ordnete.
"Nun gut. Adrianna: es tut mir wirklich Leid wegen des Zwischenfalls vorhin. Es stand mir nicht zu, Ihre Arbeit zu bemängeln. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen?"
Ich gab ein Brummen von mir, was er offensichtlich als 'ja' deutete.
Fünf Minuten später ging ich aus dem Haus. Ich hatte mit Paton ausgemacht, dass er mich abholte.

Er wartete schon vor der Kanzlei auf mich. Ich stürmte auf ihn zu.
"Ich will wieder ins Zwischengeschoss und zwar sofort. Mit diesem Menschen halte ich es keine drei Se-kunden mehr aus. Soll doch jemand anders das Kindermädchen machen. Ich will nicht mehr!"
"Lilith! Lilith! Jetzt hol erst mal Luft!" Er fasste mich an den Schultern.
"Ich weiß, es ist schwer, aber bitte lass mich nicht hängen. Wir haben schon eine Spur von den Teufelin-nen. Louisa und ich haben die beiden bestimmt in ein paar Tagen. Bitte halte bis dahin durch!"
"Okay für Dich. Aber weißt Du, was er gesagt hat? Dass ich hoffentlich mehr kann, als mein Äußeres ver-spricht! Ich hab Dir gleich gesagt, diese graue-Maus-Geschicht ist blöd!"
"Aha." War alles, was Paton von sich gab. Aber ich kannte diesen Blick! Der Pater heckte irgendetwas aus.


Kapitel 53
Informative Informationen
18.08.2007
Jetzt arbeitete ich schon zwei Tage bei James und es wurde keinen Deut besser.
Ich wachte schon mit einem Brechreiz auf und nur das Mantra: 'Ich tue es für Paton' ließ mich aufstehen, mich in diese hässlichen Kostüme zwängen und zu diesem Büffel gehen.

Ich war etwas zu früh dran.
Neugierig blickte ich mich im Büro um. Es war groß, licht und voller antiker Möbel.
Zu meiner Freude entdeckte ich, dass wir den gleichen Schreibtisch auch zu Hause gehabt hatten. An die-sem hatte mein Vater immer seine Korrespondenz erledigt.
Ich wollte sehen, was sich in der Schublade befand und tatsächlich: nicht abgeschlossen. Sehr naiv der Junge!
Drinnen lagen eine Elvis-CD, Akten, Kaugummi, Stifte und ein Terminkalender.
Diesen nahm ich heraus und blätterte ihn durch. Ganz hinten befand sich ein Jahreskalender, wo Geburtsta-ge eingetragen waren. Keine Interessanten! Nur solche, wie Großmutter: neunter Februar, Mutter: sechster März oder Vater: dritter Juni.
Als ich zum August kam, wurde es interessant! Am vierzehnten August stand dick eingetragen ADRIAN-NA SVENSON. Mit vier Ausrufezeichen an jeder Seite.
Das war ja sehr informativ.
Ich hörte Schritte auf dem Flur. Schnell schleuderte ich den Kalender zurück in die Schublade und schloss diese. Mit einer Unschuldsmiene begann ich meine Arbeit.
James trat ein. Ich musste unwillkürlich lächeln.
"Was ist denn mit Ihnen los Adrianna?"
"Guten Morgen Adrianna. Wie geht es Ihnen heute?", entgegnete ich.
"Ja, ja."
"Wir haben heute aber gute Laune."
"Der Mandant Linus Svenson hat Probleme! Ich brauche die Unterlagen – sofort!"
"Ich muss nur noch drei Seiten übersetzen."
"Bitte beeilen Sie sich." Oh meine Güte! Das Wort 'bitte' gab es doch in seinem Vokabular.

Fünfzehn Minuten später war ich fertig.
Ich überreichte James die Dokumente feierlich.
"Danke. Ich bin dann weg!" Um Gottes Willen! Das Wort 'danke' kannte er auch noch. Ich war begeistert von dem jungen Mann.

Ich wusste jetzt eigentlich nicht mehr, was ich machen sollte. Also ging ich zu der Sekretärin.
"Was soll ich denn bitte machen, wenn ich mit den schwedischen Dokumenten fertig bin?"
"Können Sie Französisch?"
"Oui."
"Also, wenn Sie so nett wären, könnten Sie dann vielleicht diese Unterlagen übersetzen? Der Mann, der das machen sollte, ist heute nicht erschienen. Aber Sie müssen nicht! Nur, wenn Sie wollen. Aber es wäre wirk-lich…"
"Ja. Das mache ich doch gerne." Wenigstens war ein Mensch nett zu mir.
Ich bekam drei Ordner in die Hand gedrückt und unter dieser Last wankte ich in das Büro zurück.

Ha! Pünktlich zum Feierabend hin war ich fertig. Ich überreichte stolz das Übersetzte der Sekretärin, die mir mit Tränen in den Augen zehn Minuten dankte. Na ja, eigentlich sagte sie nur 'Danke' und Schluss, aber man wird doch noch träumen dürfen?

Meine Laune sollte sich noch bessern. Als ich in mein Hotelzimmer trat, erwartete mich dort ein strahlen-der Paton, was total patonuntypisch war.
"Was ist passiert?", fragte ich argwöhnisch.
"Wir haben die Teufelinnen gebannt!"
"WAS? Das ist ja großartig." Ich fiel Paton um den Hals und er erzählte.
Louisa und Paton hatten die Teufelinnen Amelia und Saline im Morgengrauen in den Englischen Garten, an ein ruhiges Eckchen gelockt. Louisa hatte sich als Köder unter einen Baum gestellt, auf dem Paton saß. Mit Bogen und zwei Rubinpfeilen.
Die zwei Teufelinnen waren erschienen und Paton hatte sie gebannt.
"Sauber und ordentlich. So kenne ich Dich Paton." Ich war stolz auf meinen Mentor.
"Danke.", meinte er geschmeichelt.
"Können wir jetzt wieder zurück?"
"Nein!"
"Nein?"
"Nein. Louisa ist sehr erschöpft. Schutzengel sind sehr sensible Wesen. Du wirst den Schutz für James machen."
"Na toll!"
Ich war weder froh noch traurig. Eigentlich fühlte ich nichts. Das machte mir irgendwie Angst!


Kapitel 54
Aus hässlich mach schön!
20.08.2007
"Adrianna! Sie sind toll!" Was waren das denn für neue Töne?
Es war neun Uhr morgens und James stürmte in das Büro.
"Der Fall Linus Anderson ist gewonnen! Dank Ihrer Hilfe. Der Mandant möchte uns gerne zum Essen ein-laden. Morgen Abend im Bayerischen Hof."
Er umarmte mich. Ein durchaus angenehmes Gefühl. Ich kuschelte mich richtig an ihn. Völlig versunken blieben wir ineinander verschlungen stehen, bis ich mich erschrocken losmachte. In einen Auftrag verlie-ben war Tabu!
Verlegen standen wir uns gegenüber.
"Der Bayerische Hof ist sehr schick, also würde ich Ihnen ein elegantes Abendkleid empfehlen und nicht so was!" Er deutet auf mein juttefarbenes Kostüm und verschwand.
Dummer, schottischer Hammel. Jetzt war mir klar, warum wir Engländer die Schotten nicht mochten! Die-ses unsympathische Volk. Ich würde höchstpersönlich dafür sorgen, dass James, Peter MacLeod in die Hölle kam.
Ich hatte keine Lust mehr in der Kanzlei zu bleiben. Schnell schmierte ich eine Nachricht auf einen Zettel und verschwand in das Hotel, um bei Paton Dampf abzulassen.
***
Es war erst viertel nach neun Uhr am frühen Morgen, als es bei mir Sturm klopfe.
"Herein!"
Eine zornige, vor Ärger rauchende Bloody-Bunny kam ins Zimmer gefegt.
"James?" Ich hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
"Dieser…" Den genauen Wortklang wiederhole ich lieber nicht. Ich möchte ein möglichst gutes Bild von Lilith aufrechterhalten.

Total erschöpft ließ sie sich auf die Couch sinken. Sie hatte eine halbe Stunde lang getobt.
"Und jetzt bin ich auch noch von diesem lebenden Engel zum Essen eingeladen."
"Das stehst Du auch noch durch. Auf der Erde sind wir so etwas wie Berühmtheiten Lilith. Linus Anderson möchte Dich unbedingt treffen."
"Was tue ich nicht alles für Dich!"
"Ja. Du bist ein liebes Mädchen Bloody-Bunny!" Erschöpft ließ sie den Kopf gegen meine Schulter sinken.

21.08.2007
"Was machst Du da?", fragte ich entgeistert.
Lilith stand in ihrem Hotelzimmer und um sie herum lag Kleidung in allen Varianten.
"Auf einen Mann sauer sein, der ohne anzuklopfen in mein Zimmer kommt?", antwortete sie genervt.
Doch ich war exzellent gelaunt und so drehte ich mich um, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür. Dann klopfte ich und trat wieder ein.
Lilith stemmte die Arme in die Hüften und sah mich teufelinnengleich an. Ich grinste sie nur an und holte einen Kleiderbeutel unter dem Arm hervor.
"Was hast Du da?", fragte sie neugierig.
"Zuerst solltest Du mir meine Frage beantworten: Was machst Du da?"
"Nichts!" Ich wartete.
"Ach Paton, ich weiß nicht, was ich anziehen soll. Die ganze Zeit frage ich mich, ob das Kleid, der Rock oder die Bluse Jamie gefallen und dabei ist er mir doch total egal."
"Jamie?"
"Ja. Ist die Abkürzung von James."
"Das weiß ich. So, so! Du gibst ihm also einen Spitznamen!"
"Ja und. Jamie klingt halt netter!"
"Aber er ist Dir egal?" Ich lächelte in mich hinein. So egal wie mir Kornelia.
Sie sah mich unbehaglich an.
"Was hast Du jetzt da?", versuchte sie mich abzulenken. Ich tat ihr den Gefallen.
"Vielleicht gefällt das ja Jamie?" Ich hielt ihr den Beutel hin. Sie griff danach und verschwand im Bad. Ich setzte mich auf das Bett und wartete.

Sie kam wieder heraus.
Die Haare hatte sie hochgesteckt, sich sehr kunstvoll geschminkt und mein Kleid an.
Es war Dunkelblau, schmal und bodenlang. Es hatte einen tiefen V-Ausschnitt, der von Strasssteinen ver-ziert wurde. Sie hielt die dazu passende Handtasche, die ich ebenfalls in den Kleiderbeutel gesteckt hatte, in der Hand.
"Seh ich gut aus?", fragte sie zweifelnd.
"Ja.", beteuerte ich.
"Wirklich?"
"Ja!" Sie schwieg einen kleinen Moment.
"Echt?"
"Mensch Lilith! Du siehst toll aus.
Sag mal, kann es sein, dass Du ein bisschen in Jamie verliebt bist?"
Sie starrte mich ertappt an. Bingo! Manche Menschen musste man zu ihrem Glück zwingen und Lilith war so ein Mensch.
"NEIN!!!"
"Wieso machst Du Dir dann solche Gedanken, ob Du Jamie gefällst oder nicht?"
"Hab ich das?"
"Lilith! Du stehst seit zwei Stunden in Deinem Zimmer, nur um Dich für ein Rouge zu entscheiden. Du gehst zum Essen, nur zu einem Geschäftsessen. Nicht zu Deiner Hochzeit."
Sie schaute verlegen weg.
"Ich bin nicht verliebt!", bestritt sie sehr armselig.
Ich lachte laut auf.
"Wenn ich so unverliebt wäre, dann möchte ich nicht wissen, was passiert, wenn Du Dich verliebst. Wenn Du auf ihn schimpfst, hört sich das so an, als wärst Du schon dreißig Jahre mit ihm verheiratet. Er kommt in jedem zweiten Satz vor und Du machst Dir drei Stunden lang Gedanken, was Du anziehen sollst, obwohl er Dir 'egal' ist. Du gibst ihm Spitznamen!" Weiter kam ich nicht, denn plötzlich knallte etwas gegen mei-nen Kopf. Mir hing etwas über das Gesicht. Ich griff danach und hielt es mit zwei Fingern vor mich.
"Nett. Sehr nett!", meinte ich, als ich erkannte, dass es ein BH war, den sie nach mir abgefeuert hatte.
Sie schenkte mir einen Luftkuss.
"Schon gut. Also viel Glück Du Verliebte." Als Antwort streckte sie mir die Zunge raus und verschwand.
***
Ich fühlte mich wie Venus höchstpersönlich in diesem Kleid. Was schwafelte Paton nur? Ich und verliebt?

Vor dem Hotel stieg ich aus dem Taxi und ging hinein.
Ich wurde bereits in der Einganshalle erwartet. Von Jamie und Linus Anderson.
Jamie trug einen Smoking, der ihm ausgezeichnet stand. Bei seinem Anblick wurden mir die Knie weich.
Nein, ich war nicht verliebt!
"Guten Abend die Herren!", begrüßte ich die zwei.
"Guten Abend Frau Svenson.", begrüßte mich Sven.
"Adrianna bitte!"
"Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?", fragte Jamie.
"Gerne!" Wir gingen zur Garderobe.
"Wie ich sehe, haben Sie Ihren Stil geändert."
"Ja." Er streifte mir den Mantel ab.
Im Spiegel gegenüber konnte ich sehen, wie Jamie beim Anblick meines Kleides die Kinnlade auf den Boden fiel und lachte vor lauter Genugtuung in mich hinein.

Linus war so nett, aber ich konnte mich kaum auf das Gespräch konzentrieren, denn aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie mich Jamie wahrhaftig anglotze. Doch immer, wenn ich dann zu ihm sah, war er sehr mit seiner Serviette oder Besteck beschäftigt. Tja, was so ein bisschen Schminke alles ausmachte.

Der Abend neigte sich dem Ende.
"Adrianna? Es wäre mir eine Ehre…"
"Nein, tut mir Leid. Ich werde Adrianna in das Hotel zurückfahren!", unterbrach Jamie Sven unhöflich.
So, so! Tat der Herr das? Dummerweise erfüllte mich diese Aussicht mit Glück.

Wir verabschiedeten uns von Linus und ich stieg in Jamies Jaguar.
Die ganze Fahrt über schaute er mich an und war richtig nett.
"Sagen Sie Jamie: sind Sie jetzt so nett zu mir, weil ich einen Ausschnitt trage?"
"Jamie?"
"Ja! Ich finde 'Jamie' nett. Dann ist das wenigstens ein Teil von Ihnen!"
"Ich war wohl recht ekelhaft zu Ihnen?"
"Allerdings!"
"Nein, ich bin nicht nur nett zu Ihnen, weil Sie einen Ausschnitt tragen. Ich mag Sie, aber na ja. Sie sind so einschüchternd. Selbst jetzt!"
"Es war keineswegs meine Absicht Ihnen Angst zu machen!"
Wir waren inzwischen vor dem Hotel.
"Sie fliegen ja in den nächsten Tagen wieder zurück und ich will Sie vorher noch zum Essen einladen. Morgen? Acht Uhr?"
"Okay. Das Hotel hier hat ein tolles Restaurant."
"Dann morgen acht Uhr im Restaurant?"
"Okay."
Ich wollte schon in das Hotel gehen, als er mich fest hielt.

ER KÜSSTE MICH

Verwirrt stolperte ich in das Hotel.
***
Lilith kam in ihr Zimmer. Ich hatte auf sie gewartet.
Sie kam wie hypnotisiert in den Raum geschwebt.
"Lilith? Geht's Dir gut?"
"Ja!", antwortete sie wie in Trance.
"Ist etwas passiert?"
"Nein."
Sie log.
"Was ist passiert?", fragte ich mit Nachdruck.
"Er hat mich geküsst!", es klang, als wäre sie in einem Traum. Wahrscheinlich war sie es!
Ha! Ich hatte es gewusst. Ich grinste.
"Oh mein Gott! Ich bin verliebt!" Es klang wirklich erstaunt.
"Na herzlichen Glückwunsch!"
Doch anstatt sich zu freuen, brach sie in Tränen aus.
Diese Weiber! Immer mit ihrer Sentimentalität.
"Was ist denn jetzt schon wieder?"
"Ich kann doch nicht dableiben! Ich bin doch tot!", schluchzte sie.
"Wir werden das regeln!" Ich nahm sie in den Arm.
"Wirklich?" Sie tauchte wieder aus meinen Armen auf.
"Ja. Ich spreche mit IHM! Aber jetzt geh Dich abschminken. Du siehst furchtbar aus."
Sie schaute mich zwar wieder so teufelinnengleich an, aber verschwand im Bad.


Kapitel 55
Bis dass der Tod uns scheidet

22.08.2007
Ich war total hibbelig.
Paton hatte mir wieder so ein atemberaubendes Kleid besorgt. Ein violettes Cocktailkleid.
Die Haare trug ich offen und ich hatte mich auch nur ganz wenig geschminkt.
Es war fünf vor acht Uhr.
"Du machst das schon Große!", ermunterte mich Paton.
Ich lächelte ihn unsicher an und ging hinunter.

In der Hotelhalle wartete Jamie schon auf mich.
"Du siehst unbeschreiblich aus." Er küsste mich wieder. Mein Gott, das war so ein tolles Gefühl. Mir wurde ganz schwindelig vor Glück.
Wir setzten uns an den Tisch.
Er überreichte mir einen Strauß Orchideen.
"Woher weißt Du, dass das meine Lieblingsblumen sind?"
"Instinkt! Hör zu Adrianna: ich möchte es nicht so in die Länge ziehen. Ich möchte, dass Du bei mir bleibst. Bitte, geh nicht nach Schweden zurück. Ich liebe Dich. Ich möchte, dass Du hier bleibst!"
Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott!
Er liebte mich! Ich war die glücklichste Frau auf Erden!
"Ja. Ich habe mich auch in Dich verliebt!"
Die ganze Welt wollte ich wissen lassen, dass ich, Lilith, Adrianna, Mariah Parker, James, Peter MacLeod liebte.
Doch da fing es an: ich könnte ihm nie sagen, wer ich war. Für ihn war ich Adrianna Svenson aus Stock-holm. Nie im Leben konnte das funktionieren!
"Nein! Es tut mir Leid. Ich kann nicht!" Ich sprang auf. Wollte in mein Zimmer. Mich auf das Bett werfen und die Welt hassen, weil ich tot war.
Ich wollte sofort ins Zwischengeschoss zurückkehren. Dann würde er mich vergessen.
"Adrianna bitte bleib hier!" Jamie rannte hinter mir her.

Ich knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
Er klopfte dagegen.
"Adrianna!"
"Verschwinde Jamie!"
"Nein! Bitte rede mit mir!"
"Es ist!" Mist! Ich brauchte eine Ausrede, "ich bekomme von dem mitteleuropäischen Klima Ausschlag!" Das war das Unglaubwürdigste, was ich je von mir gegeben hatte.
"Wenn es nur das ist! Dann komm ich mit nach Schweden. Hör zu: ich würde Dich auch mit Hasenzähnen, Warzen, oder Pestbeulen lieben."
"Nein, es geht einfach nicht! Bitte lass mich alleine!"
Ich hörte sich entfernende Schritte.
"Lilith?"
Paton saß auf meinem Bett.
"Du hast ihm einen Korb gegeben!" Er sah aus wie der leibhaftige Racheengel.
"Paton. Es hat doch keinen Sinn."
"Alles hat einen Sinn Lilith. Aber so komplett bescheuert möchte ich auch mal sein!"
Komplett bescheuert?
"Paton, ich bin tot!"
"Diese Kleinigkeit kriegen wir schon geregelt und jetzt lauf ihm nach oder Du kommst in die Hölle!" Er sagte das so drohend, dass ich die Tür aufriss und rannte, als würde ich mit Luzifer Fangen spielen.

Auf der Straße angelangt, sah ich ihn auf der anderen Straßenseite.
"Jamie! James!", schrie ich.
Er drehte sich um.
"Ich will bei Dir bleiben. Ich liebe Dich!"
Er fing an zu strahlen, wie die Sonne in persona und rannte über die Straße auf mich zu.

Was jetzt geschah, veränderte meine Zukunftspläne in Sekunden.

Autoreifen quietschten, ein Aufprall, ein Schrei und Jamie, der bewegungslos auf der Straße lag und liegen blieb.
Eine Blutlache breitete sich aus.

"Jamie!", kreischte ich.
Ich rannte auf die Straße. Immer mehr Leute kamen zu der Unfallstelle. Auch Paton.
"Bitte wach auf. Bitte, bitte, bitte!", doch er wachte nicht auf.
Ich weinte, mein Kopf dröhnte. Ich nahm alles nur noch schemenhaft wahr.
Der Krankenwagen und die Polizei kamen. Man wollte mir Jamie wegnehmen, doch ich ließ nicht los. Ich brüllte den Sanitäter an, er solle seine Pfoten von ihm nehmen!
Eine Hand auf meiner Schulter, Patons Hand.
"Lilith, er ist tot!" Plötzlich wurde ich schwach, hilflos! Ließ Jamie los. Ich hatte die Liebe meines Lebens verloren und ich war schuld daran!
Alles wurde schwarz. Wenn ich nicht schon tot gewesen wäre, hätte ich jetzt sterben wollen!

Ich schlug die Augen auf und starrte an eine weiße Decke.
"Lilith? Ich bin es: Paton. Hast Du Durst?" Ich nickte und ein Becher wurde mir an die Lippen gedrückt.
"Jamie?", krächzte ich.
"Lilith. Er ist tot. Er war sofort tot, als er von dem Auto erfasst wurde."
Ich fühlte Tränen über meine Wangen rinnen.
"Ich habe Schuld. Hätte ich ihn doch nur nicht gerufen! Heutzutage hat doch jeder ein Mobiltelefon. Hätte ich ihn halt angerufen. Oh Gott! Ich hab meine große Liebe getötet!"
"Lilith. Bitte, es war nicht Deine Schuld. Es war ein Unfall."
***
Aber sie wurde von solchen Schluchzern geschüttelt, dass sie nichts mehr erwidern konnte.
Ich nahm sie in den Arm.
"Kann ich gehen?", piepste sie aus meinen Armen.
"Ja. Der Arzt kommt gleich und dann brechen wir auf."
Fünfzehn Minuten später stiegen wir vor dem Hotel aus.
Bloody-Bunny sah furchtbar aus: sie war blass, hatte verweinte Augen und starrte mit glasigem Blick gera-deaus.
Schnell packten wir unsere Sachen und dann fassten wir uns an den Händen, um ins Kloster zurückzukeh-ren.

Doch wir landeten nicht im Foyer des Klosters, sondern im Nichts.
"Paton. Lilith. Herzlichen Glückwunsch. Ihr habt Louisa den Schutzengel und ihren Schützling gerettet!", erklang SEINE Stimme.
Lilith gab ein ersticktes Röcheln von sich.
"Bitte Gott, lass uns ins Zwischengeschoss. Lilith geht es nicht gut."
"Ja. Das sehe ich. Aber ihr kehrt nicht ins Zwischengeschoss zurück. Ihr dürft in den Garten Eden."
"Was?", rief Bloody-Bunny entgeistert, "ich habe gerade einen Menschen umgebracht."
"Nein Lilith!", antwortete ER, "ich habe veranlasst, dass James stirbt. Louisa hat den PKW gefahren."
Ihr fiel die Kinnlade runter und die Augen weiteten sich.
"Wo ist Jamie?"
ER schwieg und das Nichts erhellte sich.


Kapitel 56
Der Garten Eden

Wir standen vor einem großen Torbogen, der von Nebel halb verdeckt war, sodass ich das Muster darauf nicht erkennen konnte. Wir traten hindurch und unser Umfeld erhellte sich. Wir standen in einer Allee und an deren Ende stand eine Frau, die ein Mädchen an der Hand hielt. Wir gingen auf sie zu. Der Nebel wich immer weiter vor uns zurück und es wurde immer heller.
Riesige Silberbirken säumten unseren Weg.
Die Frau war wunderschön. Sie war ein Stück kleiner als Paton, hatte einen hellen Teint und braune Augen. Ihr Haar war ebenfalls braun und fiel ihr in sanften Locken um die Schultern. Auch sie sah Paton an und eine Träne rollte ihr über die Wange.
"Kornelia!", flüsterte Paton und ich riss vor Überraschung die Augen auf.
"Kornelia? Deine Kornelia?", fragte ich, doch Paton stürzte schon auf sie zu und schloss die fest in seine Arme.
Dann wandte er sich an das Mädchen. Sie war ungefähr vier Jahre alt. Sie war Kornelia wie aus dem Ge-sicht geschnitten.
Das musste Viktoria sein.
"Viktoria?"
"Papa?"
Sie fielen sich in die Arme.
Hilfe, war das kitschig!
Als Paton dann auch noch Kornelia liebevoll und zärtlich küsste, drehte ich mich um. Ich war traurig! Kei-ner war da und wartete auf mich.
Ich wollte die Allee weiter hinunter, weiter in das weiße Licht.
"Wo wollen wir denn hin?"
"Jamie?" Ich fuhr herum. Ja, dort stand er. Breit grinsend, " was machst Du denn hier?" Ich war total von den Socken.
"Ich warte auf den vier Uhr Zug. Und Du?"
"Oh Gott Jamie!". Ich sprang ihm glücklich in die Arme.
Das war zweifellos der allerschönste Tag in meinem Tod.
"Na also, geht doch Lilith!
"Woher weißt Du, wie ich heiße?"
Er erzählte mir, dass Gott ihm erzählt hatte, dass ich Lilith, Adrianna, Mariah Parker hieß, 125 Jahre alt war und von meinem Auftrag. Einschließlich seines Todesumstandes, was ich sehr makaber fand.
"Und Du bist nicht böse, dass Du meinetwegen tot bist?", fragte ich ängstlich.
Als Antwort nahm er mein Gesicht in seine Hände und küsste mich.
Dann gingen wir Hand in Hand zu Kornelia und Paton.

Kapitel 57
Wer eine Frau unterschätzt hat, wird das nie wieder tun
16.08.2007
Heute sollte die Übersetzerin Adrianna Svenson kommen. Gut so. Ich hatte schon lange keinen Spaß mehr gehabt. Hoffentlich war sie so eine süße Maus, wie die Kleine aus Frankreich letzten Monat.
In Adriannas Akte war ein ganz nettes Foto gewesen.

Punkt neun Uhr betrat ich meine Kanzlei in der Sendlinger Straße. München war eine wirklich schöne Stadt. Zwar fehlte mir meine Heimatstadt Inverness ein bisschen, aber hier gab es auch jede Menge zu erleben.

"Herr MacLeod? Frau Svenson wartet in Ihrem Büro bereits auf Sie!", teilte mir meine Sekretärin Frau Tasen mit, als ich das Empfangszimmer betrat.
"Danke." Ich steuerte auf mein Büro zu. Na dann: auf in das Gefecht.

Zuerst war ich von der Sonne geblendet, als ich mein Büro betrat. Und als ich Adrianna Svenson erblickte, wünschte ich mir, das wäre auch so geblieben.
Haare streng zurückgebunden, eine dicke Hornbrille auf und ein schlecht geschnittenes Kostüm an. Und dann auch noch Birkenstocklatschen! Furchtbar!
"Sind Sie Adrianna Svenson?" Vielleicht bestand doch noch die mikroskopisch kleine Möglichkeit eines Irrtums.
"Ja." Nein! Ich schritt auf sie zu. Diese Frau war eine Riesin. Meist mussten die Leute zu mir aufschauen. Immerhin maß ich stolze 1.95m.
"Hoffentlich können Sie mehr, als Ihr Äußeres vorgibt. Als Stilistin wären Sie keine große Klasse."
Ihr Lächeln verschwand. Sie funkelte mich wütend an. Okay, jetzt wurde mir doch ein bisschen mulmig. Warum wendete sie sich nicht beleidigt ab?
"Tut mir Leid. Jessica Alba hatte keine Zeit. Sie müssen mit mir vorlieb nehmen oder Sie lernen binnen vierundzwanzig Stunden Schwedisch und machen die Arbeit selbst!"
Ich sah sie düster an. Verdammt! Die wehrte sich. Warum? Das hatte ich noch nie erlebt! Gleichzeitig lief mir ein Schauer über den Rücken. Sie machte mir irgendwie Angst. Wie sie da mit glühendem Blick da-stand, sah sie aus wie eine Amazone. Fehlte nur noch der Sperr!
Auf keinen Fall wollte ich noch länger mit dieser seltsamen Frau in einem Raum bleiben.
"Darf ich Sie an den Schreibtisch bitten?" Ich drückte ihr die zwei Mappen in die Hand, deutete auf den Schreibtisch und verließ fluchtartig das Zimmer.
"Jetzt reiß Dich zusammen Junge!", ermahnte ich mich auf der Treppe, "James Peter MacLeod zieht nicht einfach den Schwanz ein!"
Ich beschloss in die Untersuchungshaft zu fahren. Dort saß der Mandant, der mir Ruhm und Erfolg einbrin-gen sollte: Linus Anderson. Er war ein ganz großer Fisch. Aber leider auch der Grund, warum diese Zumu-tung jetzt in meinem Büro saß.
Die Dokumente, die ich brauchte, um meinen Mandanten zu verteidigen, waren auf Schwedisch.
Eigentlich hatte mich der Auftrag überrascht! Ich war noch sehr jung und bekam im Grunde nur kleinere Aufträge. Letzte Woche jedoch war ein kleiner Mann in meine Kanzlei gekommen.
Im Arbeitszimmer meines Vaters hing ein Gemälde: die Schlacht. Darauf waren Söldner zu sehen, die für Irland im Englischen Bürgerkrieg kämpften.
Sie waren alle klein, hatten schulterlange Haare, die nach hinten gekämmt waren und von einer Schleife im Nacken gehalten wurden. Auch hatte dieser Mann so eine veraltete Sprechweise gehabt. Er war angeblich der Bruder von Linus, Erick Anderson gewesen. Linus Anderson war groß, blond und blauäugig. Aber ob die zwei miteinander verwandt waren oder nicht, konnte mir egal sein. Es war auf jeden Fall mein erster großer Auftrag und ich würde ihn gewinnen!
Die Beweislage war für uns sehr gut: Linus Anderson hatte angeblich acht Frauen missbraucht und umge-bracht. Doch es gab keine Fingerabdrücke, DNA-Spuren oder sonstige Indizien.

"Guten Morgen Herr MacLeod!"
"Guten Morgen Herr Anderson."
"Ist heute die Übersetzerin gekommen?"
"Ja. Wir bemühen uns, Sie so schnell wie möglich hier rauszubekommen. Sie werden sehen, bald sind Sie wieder ein freier Mann."
"Daran hege ich keinen Zweifel.", lächelte er. Also für jemanden, der wegen achtfachen Mord und Miss-brauch im Gefängnis saß, war Linus Anderson fantastisch gut gelaunt.
Wir unterhielten uns noch eine Weile über die Verteidigungsstrategie und dann fuhr ich wieder. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl bei diesem Fall.

Adrianna saß immer noch bei ihrer Arbeit. Ich wollte zwar nicht, aber ich musste unbedingt mehr über diese Amazone herausfinden. Also gesellte ich mich doch zu ihr in das Büro. Aber so ganz wohl fühlte ich mich wirklich nicht in Adriannas Gegenwart. Ich trat verlegen von einem Fuß auf den anderen – wie ein Schuljunge. Dennoch versuchte ich mit ihr ins Gespräch zu kommen. Doch sie ließ mich immer eiskalt abblitzen.
"Was ist denn das für ein Satzbau?" Ich war sauer und musste Dampf ablassen. Ich weiß, ein sehr unfeiner Zug an mir.
Auf dem Computerbildschirm stand
'Wie ich gesagt Ihnen habe'
"Nun ja, bei den Schweden ist der Satzbau anders und ich soll doch alles wörtlich übersetzen und das ma-che ich!", belehrte sie mich. Wieder in diesem eiskalten Ton, der mir Schauer über den Rücken jagte.
"Ja, aber…"
"Kein 'aber'", unterbrach sie mich wütend, "lassen Sie mich meine Arbeit machen. Ich sage Ihnen schließ-lich auch nicht, wie Sie Ihre Rechtsfälle lösen sollen."
"Aber ich meine…" Ja, sie machte mir Angst.
"Niemand hat Sie danach gefragt, was Sie meinen. Bitte, wenn Sie alles so gut können und meine Arbeit nicht gut genug ist, machen Sie doch die Übersetzungen!" Sie hieb mit der Hand auf den Tisch, stand auf, nahm Ihre Aktentasche und ging. Ich war absolut geschockt. An der Tür drehte Adrianna sich noch mal um.
"Ich gehe jetzt etwas essen. Wenn Sie dann immer noch hier untätig im Büro herumstehen, dann können Sie sich jemand anderen suchen, der Ihnen hilft." Dann war sie verschwunden.
Ich ließ mich total perplex in den Sessel plumpsen. So hatte mich noch nie eine Frau behandelt. Sie hatte mich richtig eingeschüchtert. Ich musste mich unbedingt mit jemandem über diese Person unterhalten. Da fiel mir nur einer ein: Alex. Mein bester Freund. Er hatte Psychologie studiert. Er könnte mir sicher diese Hexe analysieren.

"Praxis Doktor Trieb. Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Betty? Hier spricht James. Hat der Herr Doktor Zeit?"
"Wir machen in fünfzehn Minuten Mittagspause. Das weißt Du doch!"
Alex Sprechstundenhilfe Betty war auch so eine süße Maus. Ich hatte schon viele schöne Stunden mit ihr verbracht.
Mit Frauen spricht man nicht, man beschäftigt sich mit ihnen.
Da konnte ich Napoleon nur Recht geben.
"Sag Alex bitte, ich warte vor seiner Praxis auf ihn."
"Mach ich."
"Danke Kleines."
Sie fing an albern zu kichern – wie ich das hasste.

"Na James? Was gibt's?", Alex kam grinsend auf mich zu, "ist die Übersetzerin was für Dich?"
"Pah! Das ist die dümmste Kuh auf der ganzen Welt! Sie sieht aus wie Fräulein Rottenmeier, hat aber eine Zunge, and er man sich schneiden kann. So scharf ist die! Sie hat mir doch tatsächlich Kontra gegeben. Und dann hat sie mich auch noch angepflaumt, als ich ihr eine ganz harmlose Frage gestellt habe."
Wir gingen in unser Stammrestaurant.
Ich bestellt Whisky. Den hatte ich jetzt ganz dringend nötig.
"Erzähl mir noch mehr von Deiner Amazone." Ich lästerte schamlos weiter. Alex lächelte die ganze Zeit so seltsam. Das gefiel mir nicht.
"Was grinst Du denn so? Hast Du im Lotto gewonnen?"
"Du magst Deine Amazone!"
"Was! Spinnst Du jetzt?" Mir kam der Whisky fast wieder hoch.
"Oh! Du magst sie sogar sehr. Ich glaub da hast Du Deine Meisterin gefunden!"
"Du hast 'nen Sockenschuss!"
"Und wie Du sie magst!"
"Tu ich nicht!"
"Doch!"
"Nein!"
"Doch!"
"Nein!"
"Gib es zu: Du bist beeindruckt von ihr!"
"Ja schon…"
"Du findest sie interessant!"
"Wenn Du mit interessant zickig, herrisch und blöd meinst…."
"James!"
"Ein bisschen."
"Na also. Ich an Deiner Stelle würde mich mit ihr anfreunden. Aber entschuldige Dich lieber bei ihr. Sonst macht Dir Deine Amazone das Leben zur Hölle. Sláinthe!"
"Sláinthe*!" Ich kippte den Rest meines Whiskys hinunter. Ich musste mir Mut antrinken.

Ich kam also wieder in mein Büro zurück.
In zehn Minuten hatte Adrianna Feierabend. Oh Gott! Ich war noch nervöser als vor meiner Magister Le-gum-Prüfung. Aber Frauen sind wie Perlen: man muss sie mit Fassung tragen.
Ich betrat den Raum.
Adrianna saß noch am Computer und ordnete die Dokumente. Sie schenkte mir wieder so einen Amazo-nenblick. Ich duckte mich. Es war, als würde die mir ein Messer in den Körper rammen. Ich atmete tief durch. Jetzt bloß nicht kneifen.
"Adrianna? Ich darf Sie doch so nennen?", fragte ich vorsichtig.
Sie zuckte mit den Schultern. So weit so gut. Mein Kopf war noch da, wo er hingehörte. Ich fuhr fort.
"Nun gut. Adrianna: es tut mir wirklich Leid wegen des Zwischenfalls vorhin. Es stand mir nicht zu, Ihre Arbeit zu bemängeln. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen?"
Sie gab ein Brummen von sich. Vielleicht war das Schwedisch für 'ja'? Ich hoffte es.
Die Amazone verließ das Büro und ich sah ihr nach.
Das Telefon klingelte.
"Wie ist es gelaufen?"
"Ich lebe noch!"
"Das war mir klar, wenn Du den Telefonhörer abnimmst. Was hat sie gesagt?"
"Nichts!"
"Wie nichts?"
"Als ich sie gefragt habe, ob ich sie Adrianna nennen darf, wie Du es mir gesagt hast, hat sie nur mit den Schultern gezuckt. Dann hat sie nur ein Brummen von sich gegeben."
"Gerissen!"
"Was?"
"Tja, sie lässt Dich durchaus an sie ran, aber so distanziert, dass sie Dich verunsichert. Du musst aufpassen. Die Frau ist das reinste Überraschungsei. Gute Nacht!"
"Nacht!" Toll. Ich hatte ein Überraschungsei in meinem Büro sitzen.


Kapitel 58
Ein bisschen verliebt
17.08.2007
Ich hatte die ganze Nacht von Adrianna geträumt!
Total verwirrt stand ich auf.
Ich schlug meinen Terminkalender auf. Heute musste ich mich mit dem Staatsanwalt im Gefängnis treffen.
Hinten im Jahreskalender trug ich Adriannas Geburtstag ein. Es erschien mir absolut notwendig. Ich wuss-te, nachdem dieser Fall erledigt war, sah ich sie nie wieder, aber trotzdem wollte ich sie in Erinnerung be-halten.
Verdammt! Alex hatte Recht! Ich war beeindruckt!

Adrianna war schon im Büro. Ich schenkte ihr jedoch keinen Blick, holte nur einige Unterlagen und brauste in das Gefängnis. Dort erwartete mich ein Schock! Es waren neue, sehr belastende Beweise aufgetaucht. Ich brauchte die Dokumente. Die sollten beweisen, dass Linus nie ein sexuelles Interesse an Frauen gehabt hatte. Nach seiner Aussage war er schwul.

Ich redete mich den ganzen Tag um Kopf und Kragen. Einen Teil der neuen Beweise konnte ich widerle-gen, doch ich musste nun schnell meinerseits Beweise erbringen.

Ich kam kurz vor sechs Uhr in die Kanzlei zurück und schaute in mein Büro. Adrianna saß an meinem Schreibtisch. Doch sie hatte ihre Brille abgelegt und schaute den Bildschirm des Computers an. Sie hatte mich wohl nicht bemerkt.
Oh mein Gott! Sie hatte ohne diese grässliche Brille ein zauberhaftes Gesicht. Ich war gebannt.
Leise zog ich mich zurück und versteckte mich in der Besenkammer. Gosh darn it!*
Ich konnte mich doch unmöglich verlieben – und schon gar nicht in die!
Ich hörte Adrianna "Gute Nacht" sagen und Frau Tases Antwort.
Ich trappte wieder in mein Büro. Schnell hatte ich die Unterlagen wieder in ihr Regal zurückgestellt und setzte mich dann noch ein bisschen an meinen Schreibtisch.
Den Terminkalender legte ich in dessen Schublade. Morgen und am darauf folgenden Tag würde ich mit der Verhandlung zu tun haben und ihn nicht brauchen.
Zum Glück wollten Alex und ich uns heute Abend treffen.

Ich erzählte ihm also bei Whisky mein Problem.
"Tja James. Du hast Dich verliebt. Um das festzustellen muss man kein Psychologe sein. Und bitte wehr Dich nicht. Sie ist Dir ebenbürtig. Bitte: lauf nicht vor Deinem Glück davon."

Verzweifelt, verwirrt, glücklich, ängstlich, und ratlos ging ich nachhause. Ich würde einfach sehen, was sich morgen ergab.


Kapitel 59
In Dubio pro reo
18.08.2007
Hoffentlich war Adrianna fertig!
Ich trat in mein Büro. Adrianna war bereits dort und lächelte mich an. Das machte mich unsicher! Ich konnte dieses Lächeln nicht einordnen. Freute sie sich mich zu sehen oder plante sie meinen Tod?
"Was ist denn mit Ihnen los?" Angriff war die beste Verteidigung!
"Guten Morgen Adrianna. Wie geht es Ihnen heute?", meinte sie spöttisch. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen, wegen meines unmöglichen Benehmens.
"Ja, ja." Welch Scham!
"Wir haben heute aber gute Laune."
"Der Mandant Linus Anderson hat Probleme! Ich brauche die Unterlagen – sofort!"
"Ich muss nur noch drei Seiten übersetzen."
"Bitte beeilen Sie sich." Ich verkrümelte mich in das Wartezimmer für Klienten bis sie mich rief. Na ja eigentlich klang es eher wie ein Befehl.
Sie überreichte mir das Dokument wieder mit einem Lächeln. Also das wurde langsam gruselig.
"Danke. Ich bin dann weg!" Am liebsten hätte ich sie umarmt, geküsst und mit Lob überschüttet, aber man soll ja nichts überstürzen.

Die Gerichtsverhandlung war ein anstrengende Schlacht: am Abend wurde sie 'in Dubio pro reo' eingestellt.

Doch am 19.08.2007 um 19.37 verkündete der Richter: "der Angeklagte Linus Anderson wird des achtfa-chen sexuellen Missbrauchs und Mordes freigesprochen!" Ich ritt auf einer Welle des Glücks! Ich war ja so gut.
"Herr MacLeod. Ich möchte mich bedanken. Sie haben mich gerettet. Ich möchte gerne Sie und Ihre Über-setzerin für übermorgen in den Bayerischen Hof einladen."
"Ich nehme die Einladung dankend an."
Ich war zwar total kaputt, hätte aber die ganze Welt umarmen können. Besonders eine Person!


Kapitel 60
Metamorphose

20.08.2007
"Adrianna! Sie sind toll!" Ich stürmte in das Büro – direkt auf meine schöne Amazone zu.
"Der Fall Linus Anderson ist gewonnen! Dank Ihrer Hilfe. Der Mandant möchte uns zum Essen einladen. Morgen Abend im Bayerischen Hof."
Ich umarmte sie. Ein atemberaubend tolles Gefühl! Mein Herz machte einen erfreuten Hüpfer, als sie sich an mich schmiegte.
So hätte ich ewig dastehen können, doch sie machte sie plötzlich erschrocken los. Mein Herz rutschte in die Hose.
Ich musste meiner Enttäuschung Luft machen.
"Der Bayerische Hof ist sehr schick. Also würde ich Ihnen ein elegantes Abendkleid empfehlen und nicht so was!" Ich deutete auf Ihr Kostüm und zischte dann davon.
"Oh nein James. Das war ganz falsch. Gosh darn it!"
Ich wanderte einmal um den Block.
Als ich mich wieder im Griff hatte, ging ich wieder zurück.

Adrianna war nicht mehr da – scheiße!
Doch ich entdeckte einen Zettel.

Werde heute und morgen nicht mehr kommen. Treffen uns im Bayerischen Hof.
A.S.

Na ja. Wenigstens kam sie zum Essen. Den restlichen Tag verbrachte ich mit schweren Vorwürfen ich war so ein Vollidiot!!!!!!!

21.08.2007
Ich war nervös! Wie sollte ich mich Adrianna gegenüber verhalten? Würde sie mich überhaupt beachten? Aufgekratzt nestelte ich an meinem Smoking rum. Tja, probieren ging über studieren und so machte ich mich auf den Weg.

Linus wartete bereits im Bayerischen Hof, doch Adrianna war noch nicht da. Wir unterhielten uns, während ich auf die Dame des Abends hoffte.
Und dann kam sie: die Brille hatte sie nicht auf und lächelte uns so hinreißend an, dass ich glaubte in einem Traum zu sein.
"Guten Abend die Herren!"
"Guten Abend Frau Svenson.!", entgegnete Linus.
"Adrianna bitte!" Sie lächelte Linus sexy an. Ich wurde eifersüchtig.
Sie brauchte gar nicht erst das Flirten anfangen!
"Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?", fragte ich sie deshalb.
"Gerne!" Sie konnte mir gar nicht so böse sein.
"Wie ich sehe, haben Sie Ihren Stil geändert."
"Ja." Ich streifte ihr den Mantel ab.
Darunter kam ein Dunkelblaues, bodenlanges Kleid zum Vorschein. Mein Gott! Diese Frau hatte eine Topmodelfigur und das Kleid brachte das voll zur Geltung.

Wir setzten uns an den Tisch und nun sah ich auch das Kleid von vorne. Es hatte einen tiefen V-Ausschnitt, verziert mit Strasssteinen. Meine Güte! Sie sah so toll aus. Eine super, mega, tolle Frau.
Ich starrte sie den ganzen Abend an. Sie unterhielt sich aber nur mit Linus. Das war wirklich gemein.

Doch der Abend neigte sich dem Ende zu.
"Adrianna? Es wäre mir eine Ehre…", setzte Linus an. Nur über meine Leiche würde er Adrianna ins Hotel fahren.
"Nein. Es tut mir Leid. Ich werde Adrianna ins Hotel zurückfahren!" Adrianna schaute mich zwar skeptisch an, sagte jedoch nichts. Ein gutes Zeichen.
Wir verabschiedeten uns von Linus und Adrianna stieg in mein Auto.
Ich fing an, mich mit ihr zu unterhalten. Ich wollte erst sehen, ob sie überhaupt gewillt war, mit mir zu kommunizieren.
Und ja: sie redete tatsächlich mit mir.
"Sagen Sie Jamie: sind Sie jetzt nur nett zu mir, weil ich einen Ausschnitt trage?" Sie nannte mich Jamie?
"Jamie?"
"Ja. Ich finde 'Jamie' netter, als James. Dann ist es wenigstens ein Teil von Ihnen." Mein schlechtes Gewis-sen regte sich. Sie schmiss mir wieder so einen Anazonen blick zu, aber diesmal fand ich ihn unglaublich sexy.
"Ich war wohl recht ekelhaft zu Ihnen?"
"Allerdings!"
"Nein. Ich bin nicht nur nett zu Ihnen, weil Sie einen Ausschnitt tragen. Ich mag Sie. Aber na ja, Sie sind so einschüchternd. Selbst jetzt." Gott! Ich konnte nicht glauben, dass ich das gesagt hatte. Was war ich nur für eine Memme?
"Es war keineswegs meine Absicht Ihnen Angst zu machen!" Ah! Schon wieder diese Zunge, an der man sich schneiden konnte.
Wir standen vor dem Hotel und ich half ihr beim Aussteigen. So konnte ich ein bisschen Zeit gewinnen. Jetzt oder nie!
"Sie fliegen ja in den nächsten Tagen wieder zurück und ich will Sie vorher noch zum Essen einladen. Morgen? Acht Uhr?" Bitte sag ja. Bitte, bitte, bitte.
"Okay. Das Hotel hier hat ein tolles Restaurant."
"Dann morgen acht Uhr im Restaurant?"
"Okay." Oh Gott. Sie war so hinreißend. Ich konnte nicht anders! Ich musste es tun.
Ich hielt sie fest, als sie sich zum Gehen wendete.

SIE KÜSSTE MICH

Sie lächelte mich an – yippieh – und schwebte so verführerisch ins Hotel, dass ich mich beherrschen muss-te, um ihr nicht nach zu stürzen.


Kapitel 61
James Bond
22.08.2007
Heute würde ich es Adrianna sagen: dass ich sie liebte und dass sie bitte bei mir bleiben sollte. Ich wollte Adrianna Svenson heiraten.

Ich kam viel zu früh am Hotel an. Nervös wartete ich auf sie in der Hotelhalle.

Um acht Uhr kam sie endlich heruntergeschwebt. Adrianna trug die Haare heute offen. Wie Gold fielen sie ihr bis zur Taille hinab.
Sie trug so ein enges Kleid, dass es mir fast den Atem nahm.
"Du siehst unbeschreiblich aus." Ich küsste sie wieder und sie erwiderte mein Kuss voll und ganz. Ja! Ich würde ihr heute Abend meine Liebe gestehen.
Alex hatte mir gesagt, dass man Frauen keine Rosen schenken sollte – zu abgedroschen, sondern lieber Orchideen.
Wir setzten uns an den Tisch und ich überreichte ihr die Orchideen.
Sie strahlte. Meine Amazone sah jetzt aus, wie der Sonnenaufgang.
"Woher weißt Du, dass das meine Lieblingsblumen sind?" Ihre Lieblingsblumen? Woher wusste Alex, welche Blumen Adrianna am liebsten mochte?
"Instinkt!", antwortete ich schnell, "hör zu Adrianna: ich möchte es nicht so in die Länge ziehen. Ich möch-te, dass Du hier bleibst. Ich liebe Dich!"
Sie schaute mich mit großen Augen an. Oh mein Gott! Sie liebte mich nicht und…
"Ich habe mich auch in Dich verliebt." YEAH! Strike! Hole in one! Am liebsten hätte ich jetzt einen Re-gentanz aufgeführt, aber ich glaube, dann hätte Adrianna die Männer mit den weißen Turnschuhen geholt.
Ich wollte sie gerade noch mal küssen, da rief sie:
"Nein! Es tut mir Leid. Ich kann nicht!" Adrianna sprang auf und rannte davon. Ich verstand erst gar nicht, was los war. Als meine Amazone schon fast die Treppe erreicht hatte, sprang ich auf und rannte ihr wie von Sinnen hinterher.
"Adrianna. Bitte bleib hier!" Was hatte ich nur falsch gemacht?

Sie knallte mir ihre Zimmertür vor der Nase zu. Ich hämmerte dagegen.
"Adrianna!"
"Verschwinde Jamie!" Nur über meine Leiche.
"Nein! Bitte rede mit mir!"
"Es ist…", sie stockte, "ich bekomme von dem mitteleuropäischen Klima Ausschlag!" Mein Gott. Die Frau machte sich aber auch über Unwichtigkeiten Gedanken.
"Wenn es nur das ist! Dann komm ich halt mit nach Schweden. Hör zu: ich würde Dich auch mit Hasen-zähnen, Warzen oder Pestbeulen lieben." Ich wollte aber nicht mehr ohne Adrianna leben.
"Nein, es geht nicht! Bitte lass mich alleine!" Ich wusste, dass ich sie auf keinen Fall heute Abend mehr zu Gesicht bekommen würde.
Langsam ging ich fort. Ich fragte die Rezeptionistin, wann Adrianna auschecken würde. Morgen um acht Uhr. Ich würde da sein und auf sie warten. Kampflos gab ich sie nicht auf!

Ich hatte mein Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hotels geparkt.
Gerade, als ich einsteigen wollte, hörte ich ihre Stimme.
"Jamie! James!" Ich drehte mich um. Sie kam mit wehenden Haaren aus dem Hotel gerannt.
"Ich will bei Dir bleiben. Ich liebe Dich!" O mein Gott! Sie hatte doch keine kalten Füße. Vor Freude fing ich an zu strahlen und rannte über die Straße auf sie zu.

Ich hatte das Auto nicht gesehen.
Plötzlich wurde ich von den Füßen gerissen und schlug dann mit einem schmerzhaften Prall wieder auf.
Alles versank in einem Schwarz.

"James! Wach auf!" Eine sanfte Stimme weckte mich.
Ich öffnete die Augen. Mir tat nichts weh!
Ich …O mein Gott! Ich war tot. Nein!!!! Ich durfte nicht tot sein!
"Vor uns steht James Peter MacLeod. Er war Rechtsanwalt und starb durch einen Autounfall." Die sanfte Stimme gehörte Gott.
Ich sah mich um. Ich stand in einem weißen Nebel.
"Gott?"
"Ja James."
"Bitte. Ich muss wieder runter! Ich liebe meine Adrianna. Ich will sie heiraten. Ich kann jetzt nicht tot sein."
"Keine Sorge James. Lilith wird gleich hier sein!"
"Lilith? Nein. Sie heißt Adrianna."
"Deine Frau heißt Lilith, Adrianna, Mariah Parker. Sie wurde am 14. August 1882 in London geboren und hat Dich die ganze letzte Woche beschützt.
Weißt Du: neben dem Garten Eden und der Hölle gibt es noch das Kloster im Zwischengeschoss. Dort kommen die Leute hin, bei denen wir uns noch nicht einig sind, ob sie in den Garten Eden oder die Hölle kommen sollen. Seit 100 Jahren haust Lilith nun schon dort. Vor einer Woche nun hat sie den Auftrag be-kommen, auf Dich Acht zu geben. Wir haben ihr erzählt, dass der Teufel es auf Dich abgesehen hatte. In Wirklichkeit seid ihr füreinander bestimmt.
"Oh Himmel! Das ist ja alles wie in James Bond!", dachte ich belustigt.
"Ja, ich gebe zu, dass alles einen Hauch von James Bond trägt."
Gott konnte Gedanken lesen? Na, warum nicht? Schließlich war er der liebe Gott.
"Dein Tod war übrigens beabsichtigt! Dein Schutzengel hat das Auto gefahren."
"Toller Schutz."
"So könnt Lilith und Du euren Tod ohne Geheimnisse verbringen. Lilith hat sich immer davor gefürchtet so eine Geheimniskrämerei zu betreiben."
Für manche mag das ein bisschen verwirrend und verängstigend wirken. Aber mir machte es nichts aus, dass meine Frau 100 Jahre älter war als ich und Lilith Parker hieß. Ach Du Schreck! Sie war Engländerin! Na ja, aber eine Außergewöhnliche. Eigentlich fand ich das alles ziemlich cool.
"War der Fall Linus Anderson echt?"
"Nein. Aber Du hast das trotzdem fantastisch gemacht.
Nun müssen wir aber zum Pflichtteil übergehen. Du darfst zusammen mit Lilith in den Garten Eden. Sicher willst Du ihn mit ihr zusammen betreten?"
"Ja. Nur mit ihr."
"Dann warte doch dort." Der Nebel lichtete sich und eine breite Allee mit Silberbirken wurde sichtbar. An deren Ende war strahlend weißes Licht. Der Eingang zum Paradies.
Davor stand eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand.
"Das ist Kornelia und ihre Tochter Viktoria. Frau und Kind von Paton!"
Ich ging auf sie zu und stellte mich neben sie. Glücklich lächelten wir uns an.
Wir warteten vielleicht drei Minuten, da kamen zwei Gestalten auf uns zu. Rechts war tatsächlich der Söld-ner und links ging meine Lilith.
Paton hatte wohl seine Frau entdeckt und stürzte auf sie zu.
Ich schenkte ihnen keine weitere Beachtung. Lilith drehte sich erst von der Szenerie weg und ging dann zielstrebig auf das weiße Licht zu. Sie schaute traurig zu Boden.
Wahrscheinlich wusste sie noch nicht, dass ich mit ihr in das Paradies durfte.
"Wo wollen wir denn hin?" Ich stellte mich ihr in den Weg.
"Jamie?" Sie fuhr herum. Ich musste bei ihrem ungläubigen und total überrumpelten Blick grinsen.
"Was machst Du denn hier?" Na was wohl?
"Ich warte auf den vier Uhr Zug. Und Du?"
"Oh Gott Jamie!" Sie fiel mir um den Hals.
Ich drückte sie fest an mich. Nie mehr würde ich sie verlassen.
"Na also. Geht doch Lilith!"
"Woher weißt Du, wie ich heiße?"
Also erzählte ich ihr das, was ich von Gott erfahren hatte.
"Und Du bist nicht böse, dass Du meinetwegen tot bist?", fragte sie ängstlich.
Als Antwort nahm ich ihr Gesicht vorsichtig in meine Hände und küsste sie.
Dann ging wir Hand in Hand zu Kornelia und Paton.


Kapitel 62
Ende gut, alles gut

22.08.2007
Ich empfing gerade die Nachricht von IHM, dass alle wohl behalten angekommen waren.
Ich war froh, dass James endlich die Richtige gefunden hatte!
Sein Schutzengel zu sein, war so ziemlich das Anstrengenste gewesen, was ich je getan hatte.
Als sein Freund Alex hatte ich ganz gut auf ihn aufpassen und ihn vor schlimmen Tragödien erretten kön-nen!
Tja, jetzt konnte Lilith das Kindermädchen machen.
Die Arme! Sie hatte 100 Jahre warten müssen, bis sie endlich den Richtigen getroffen hatte. Das war eine Belohnung von Gott gewesen. Die Teufelinnen hatte es nie gegeben. Sie waren eine Finte gewesen. Der Pater hatte davon gewusst und weil er so gut dicht gehalten hatte, war seine Belohnung der Garten Eden gewesen.
Zum Glück war ich zusammen mit Louisa gestorben und nach 250 Jahren Ehe immer noch glücklich.
Mein Engel kam gerade in unsere Wohnung getänzelt.
"Alle gut angekommen?"
"Ja mein Engel." Komischerweise konnte sich keiner mehr an das Fahrzeug erinnern, das James überfahren hatte.
"Zum Glück darf der Pater auch endlich nach oben!" Sie ließ sich neben mich auf das Sofa fallen.
"Ja. Er hat es sich verdient." So lange wie Pater Paton Lyell Vampire hatte noch nie jemand im Zwischen-geschoss zugebracht Er hatte lang genug gebüßt, dass er ein Kind unehelich gezeugt und dann seine Frau verlassen hatte.
ER hatte Paton das nie offen gesagt. Der liebe Gott hatte den Pater viel zu gerne, denn er wusste, dass Pa-ton sich schwere Vorwürfe gemacht hätte.
Nun hatte aber Lilith James und Paton seine Kornelia. Ich wünschte ihnen, dass sie alle glücklich wurden.


ENDE


Epilog
25 Jahre später
04.03.2033
"Ende."
Ich schlug mein altes Tagebuch zu und sah glücklich zu meinem Mann und meinen Kindern.
"Wie ging es weiter Mama?", fragte Magdalena-Ellison, die auf dem Boden saß. Sie war meine jüngste Tochter. Sie war 10 Jahre alt, braunhaarig und blauäugig.
"Nun ja…", fing ich an und sah zu Paton, der unter einer großen Linde saß. Wir feierten heute seinen 400. Geburtstag.
Alle hatte wir eingeladen: seine Eltern, meine Eltern, Oskar, Magdalena, deren Kinder, Enkel, Urenkel, Ururenkel, Urururenkel, Zachathrustra – die in 'Rente' gegangen war -, Sydney-Ellison, Robert – bei denen das Pulver längst nachgelassen hatte. Sie hatten sich wirklich ineinander verliebt. Sydney und ich waren inzwischen gute Freundinnen. Sie hatte sich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Deren Kinder, Mrs. Joy-Meyer, Lyell, Fabienne, Etienne und deren Kinder, Beatrice und John – die ebenfalls aus dem Zwischenge-schoss entlassen worden waren.
Paton grinste mich an. Er dachte nicht im Traum daran, selbst etwas zu erzählen.
"Na los Mama!", drängelte ein 1.90m großer Mann, der neben Paton stand und dieser dadurch aussah, wie eine Spielzeugpuppe.
Der junge Mann war muskulös, hatte braune Locken, graue Augen und war mein ältester Sohn namens Alexander-John. Ich seufzte und schlug das dicke Büchlein wieder auf.
"Lilith heiratete James MacLeod und bekam sieben wundervolle Kinder: Anna-Kornelia, Ruth-Beatrice, Magdalena-Ellison, Samantha-Zachathrustra, Alexander-John, Louis-Lyell und Sean-James.
Außerdem sah sie alte Freunde, Eltern und Geschwister wieder."
"Erzähl doch mehr über die Hochzeit. Was für ein Kleid hast Du getragen?", fragte Samantha.
"Ein sehr schönes!", antwortete ich knapp. Meine Hochzeit hatte ich schon tausendmal erzählt.
"Ach Mama…", nörgelte sie.
"Was wurde aus Papa?", fragte Grace. Patons zweitälteste Tochter.
"Paton legte seinen Beruf als Priester nieder. Er wollt nie wieder eine Kutte sehen. Außerdem heiratete er Kornelia und bekam drei weitere Kinder: Grace, Elisabeth und Harry.", erzählte ich, während ich zu ihm sah. Kornelia lehnte liebevoll an ihm und schlang ihre Arme um ihn.
"Krieg ich einen Kakao?", fragte eine Knabenstimme. Zwischen Paton und Kornelia zwängte sich ein klei-ner, süßer Junge hervor. Er hatte wie alle Vampire-Kinder braune Augen und Locken. Er war erst drei Jah-re alt.
"Selbstverständlich!", meinte Paton, bückte sich und nahm Harry auf seinen Arm.
"Will noch jemand einen? Der folge mir in die Küche!"
Seine und meine Kinder erhoben sich geschlossen und trabten in die Küche.
Ich musste schmunzeln. Alle Kinder von Paton und Kornelia waren klein, meine Kinder dagegen riesig. Sean, der Jüngste war mit seinen fünf Jahren nur noch einen Kopf kleiner als Kornelia.
Anna-Kornelia, die Älteste, überragte ihre Patentante fast über zwei Köpfe.
Kornelia kam zu mir und nahm Magdalenas Platz auf dem Boden ein.
"Ihr habt ja ganz schön was erlebt.", seufzte sie.
"Jeder muss seinen Weg gehen, um sein Glück zu finden."
"Nur das ich 379 Jahre gegangen bin."
"Dann würde ich sagen, leg die Beine hoch und lass andere für Dich laufen. Wozu hat man schließlich Kinder?"
"Zum Knuddeln!"
Wir lachten. Aus der Küche kam ebenfalls Gelächter. Jamie und Paton machten sich bestimmt wieder zum Clown.
Jamie kam aus dem Haus auf uns zu.
"Na die Damen. Amüsieren wir uns gut?"
Er reichte uns zwei Tassen mit Kakao.
"Jetzt wo die störenden Männer weg sind!"
"Bitte um Verzeihung mein Schatz, dass ich leider nur ein Mann geworden bin. Ich kann morgen gleich mal zu IHM gehen und einen Prozess anstreben."
"Tu das und vergiss aber nicht, Sean vom Kindergarten abzuholen!"
Das sollte ich vielleicht noch erwähnen: im Garten Eden lebten wir wie Menschen. Wir aßen, schliefen, die Kinder besuchten Kindergarten, Schule und lernten anschließend einen Beruf. Doch es drehte sich nicht alles um Geld oder Macht.
"Wie könnte ich das tun?"
In dem Moment kam Paton mit dem schlafenden Harry auf dem Arm heraus.
"Ich bring ihn mal ins Bett.", informierte er uns.
"Bett ist ein gutes Stichwort! Wir werden dann auch mal die Brut einsammeln, die uns gnädigerweise noch in unserem Haus erträgt."
Wir verabschiedeten uns von allen Gästen, was gute 20 Minuten dauerte und traten in die Küche, wo Rätsel erzählt wurden. Alexander war gerade dran:
"Was trocknet und wird doch wieder nass?"
Ratlose Blicke machten die Runde.
"Ein Handtuch.", löste er auf und lachte.
"Wisst ihr an was mich eure ratlosen Blicke mich gerade erinnert haben?"
"Dass wir jetzt nach Hause müssen. Samantha, Louis, Magdalena, Sean kommt bitte, wir gehen! Und ihr", ich wandte mich an meine drei ältesten Kinder, die nicht mehr zu Hause wohnten, "macht euch auch bald-möglichst auf die Socken."
"Wieso? Wir wohnen doch gleich nebenan!", jammerte Samantha.
"Dann könnt ihr ja morgen wiederkommen!", sagte Jamie. Ich liebte es unterstützt zu werden.
Gemeinsam gingen wir zur Tür, wo Paton und Kornelia standen. Wir umarmten uns zum Abschied und gingen hinter unseren Kindern her. Jamie und ich gingen Hand in Hand.
"Du hast ja wirklich in Deinem Tod ganz schön viel erlebt."
Ich lächelte ihn an und blickte zu dem Haus der Vampires zurück, an dessen Tür immer noch Paton und Kornelia standen und uns nachblickten.
Ja, wir hatten viel erlebt.


Glossar
Personen

Lilith Parker Schülerin des Priesters
Randall Oliver Erster Ehemann von Lilith; ihre Todesursache
Oskar Parker Bruder von Lilith
Magdalena Morton Schwester von Lilith
James MacLeod Ehemann von Lilith
Anna-Kornelia Tochter von Lilith und James
Ruth-Beatrice Tochter von Lilith und James
Magdalena-Ellison Tochter von Lilith und James
Samantha-Zachathrustra Tochter von Lilith und James
Alexander-John Sohn von Lilith und James
Louis-Lyell Sohn von Lilith und James
Sean-James Sohn von Lilith und James
Beatrice de la Fleur Lilith Cousine und Ehefrau von John
John Ridley Bewohner des Zwischengeschoss und Ehemann von Beatrice
Lyell Ridley Sohn von Beatrice de la Fleur und John Ridley
Etienne Ridley Sohn von Beatrice de la Fleur und John Ridley
Fabienne Ridley Tochter von Beatrice de la Fleur und John Ridley

Pater Paton Lyell Vampire Priester des Klosters im Zwischengeschoss
Kornelia Ehefrau von Paton
Viktoria Tochter von Kornelia und Paton
Grace Tochter von Kornelia und Paton
Elisabeth Tochter von Kornelia und Paton
Preston Lewis Vampire Zwillingsbruder von Pater Paton Lyell Vampire

Zachathrustra Mutter Oberin des Klosters im Zwischengeschoss
Anne Köchin des Klosters im Zwischengeschoss
Bastian Sohn der Köchin des Zwischengeschoss und ebenfalls Ministrant
Konstanze Ministrantin des Klosters im Zwischengeschoss
Bruder Bernhard Mönch des Klosters im Zwischengeschoss
Bruder Samuel Mönch des Klosters im Zwischengeschoss
Rudolph Nepumuck Hausmeister des Klosters im Zwischengeschoss
Charlie Prüfer aus der Hölle
Edgar Prüfer aus der Hölle
Ramona Prüfer aus der Hölle

Begriffserklärung

Belzebub Männlicher Gesandter des Satans, um diesem Leute zu
beschaffen, auf die es der Satan abgesehen hat.
Teufelin Weibliche Gesandte des Satans, um diesen Leute zu
beschaffen, auf die es der Satan abgesehen hat.
Gundula Teufelin. Bei ihrem ersten gemeinsamen Auftrag von Lilith und Paton auf der Erde sollen diese Gundula schnappen. Sie hat es auf John Ridley abgesehen. Lilith wird von Gundula schwer verletzt.
Amelia erfundene Teufelin
Saline erfundene Teufelin


Gosh darn it Verdammt noch mal (auf englisch)
Sláinthe 'Prost' auf gälisch

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Widmung V. E. Schlee: ich widme das Buch meiner Mutter, weil es ohne sie nie geworden wäre. Sie hat die Charaktere Bloody-Bunny und Pater Vampire erfunden. Aber ich danke auch meinem Papa und meiner Schwester, deren Charakter ich mir für das Buch ausleihen durfte. Hab euch lieb! Widmung P. Schmid: ich widme das Buch meiner Freundin Koni, die mir mit ihrer Phantasie immer geholfen und mich unterstützt hat.

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