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Herr Nikolaus Ludwigs führte ein nicht besonders aufregendes Leben. Geboren 1909, erlebte er zwei Weltkriege, mehrere größere und kleinere Krisen, Regierungswechsel und allerlei weltgeschichtliche Veränderungen, die, abgesehen von den Weltkriegen, kaum Einfluss auf sein persönliches Leben nahmen. Er heiratete jung und liebte seine Frau lange. Sie gebar ihm drei Kinder und starb im hohen Alter. Seine Kinder wuchsen in behüteten Verhältnissen auf, wie man so schön sagt und wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass das Leben der gesamten Familie Ludwigs sehr langweilig war. Das änderte sich auch nicht, als die Tochter Elisabeth einen Friedrichs heiratete und dessen Namen annahm.
Die Tochter und die beiden Söhne setzten die Tradition der Familie Ludwigs fort und setzten jeweils drei Kinder in die Welt, neun Enkelkinder für Nikolaus und seine Frau.
Die Ludwigs führten ein glückliches, ereignisloses Leben, sieht man von den Höhen und Tiefen einmal ab, die man als Großfamilie so hat, aber weiter gab es keine größeren Probleme, niemand geriet auf die schiefe Bahn und sowohl die Kinder, als auch die Enkelkinder studierten und machten ihre Doktortitel in verschiedenen Fachgebieten.
Herr Ludwigs konnte auf ein Leben zurückschauen, das lange währte und mit Stolz hätte er behaupten können, dass er es genossen hatte. Aber es fragte ihn niemand und er selbst kam nicht auf den Gedanken, diese Äußerung von sich zu geben.
Und am 22. Dezember 2009 starb er hundertjährig.

Das könnte eine traurige Geschichte sein, aber wer eines natürlichen Todes in hohem Alter stirbt, hat vermutlich ein ausgefülltes Leben geführt und selbst wenn das des Herrn Ludwigs eher belanglos war, so wollen wir ihn in Frieden ruhen lassen.
Andererseits...stellen wir uns folgendes vor:

Herr Ludwigs stirbt und seine Seele wandert suchend umher.Was sie sucht wissen wir nicht, aber weder Himmel noch Hölle öffnen sich, um der rastlosen Seele Einlass zu gewähren.
Ein Sturm taucht auf, woher er kommt, wissen wir nicht, was er will, bleibt im Verborgenen, aber die Seele, oder wie auch immer man die geistigen Überreste des Nikolaus Ludwigs nennen will, wird durcheinander gewirbelt. Sie versucht zu fliehen und es gelingt. Der Sturm flaut ab und es herrscht Stille.

Und die Seele erlangt Bewusstsein.


Mir ist kalt. Ich kann nichts sehen, ich friere, sogar meine Gänsehaut ist gefroren. Ich kann mich nicht bewegen, ich sehe nichts, ich höre nichts. Ich spüre nichts. Nur KÄLTE. Es ist so kalt. Ich kann nichts sehen, ich kann mich nicht bewegen. Wo bin ich. Es ist so kalt.

Langsam wird es wärmer. Ich friere immer noch, ich kann immer noch nichts spüren, ich sehe nichts, aber meine Gänsehaut taut auf. Langsam. Ich kann nichts sehen, aber langsam höre ich. Dumpfe Geräusche. „Stille Nacht, Heilige Nacht.“
Wo bin ich?

Es wird warm. Ich kann mich immer noch nicht bewegen, ich sehe nichts, ich höre nur dumpfe Geräusche. Gesang, Gespräche.
Ich spüre Wasser auf meiner Haut, ich friere nicht mehr. Aber ich kann mich immer noch nicht rühren, ich kann immer noch nichts sehen.
„Alles schläft, einsam wacht.“

Eine Bürste fährt über meine Haut. Wie angenehm. Aber das Vergnügen ist nur von kurzer Dauer. Ich kann immer noch nichts sehen, ich kann mich immer noch nicht rühren. Und das einzige, was zu hören ist, sind Weihnachtslieder.
„Nur das traute heilige Paar“
Es wird noch wärmer und unangenehm. Etwas, jemand dringt in mich ein und hinterlässt Wärme. Ich kann nichts sehen, ich bin der Person, der Hand, schutzlos ausgeliefert. Jetzt rieche ich. Gebratene Äpfel, Nüsse, warme Pflaumen und Thymian.
„Holder Knab im lockigen Haar“

Das entstandene Loch wird verschlossen. Es sollte weh tun, aber ich spüre nichts. Nur die Wärme in meinem Inneren. Ich rieche Weihnachten, ich sehe nichts, ich kann mich nicht rühren und immer wieder Weihnachtslieder.
„Schlafe in himmlischer Ruh“

Ich rieche Zwiebeln, leicht angebraten, warme Orangen, Karotten. Es wird wärmer. In meinem Inneren und Außen. Ich höre nichts mehr, ich sehe nichts und ich bin immer noch bewegungslos.

Ich werde gewendet und mit Honig bepinselt. Es ist höllisch warm, heiß und ich brutzle vor mich hin. Ist das die Hölle?
Wo bin ich? Ist das das Leben nach dem Tod?
Nichts sehen, nichts hören, nicht bewegen. Irgendetwas oder irgendjemanden schutzlos ausgeliefert?

Und dann kommt der Schmerz. Die Hitze lässt nach, ich komme mir knusprig vor und dann der Stich. Etwas schneidet mich auseinander, ich werde in Stücke geschnitten und jeder Schnitt tut mir weh. Mir? Wer bin ich? Was passiert mit mir?
Ich kann nichts sehen,ich kann mich nicht bewegen. Ich höre Gelächter, Applaus und leise Gespräche. Und von irgend woher ein Weihnachtslied:
„Stille Nacht, Heilige Nacht. Gottes Sohn, o wie lacht“


Und ein zweites Mal verlässt die Seele Nikolaus Ludwigs, denn um ihn geht es ja in dieser Geschichte irgendwie, einen Körper, in Stücke geschnitten, aber noch als Gans erkenntlich.
Und wohin es die Seele diesmal verschlägt, werden wir nicht erfahren.

Aber vielleicht passiert das vielen Seelen. Sie wandern durch die Welt und landen irgendwo. In einem neugeborenen Kind, in einem Fisch, einem Stein oder einer tief gefrorenen Gans, die am Heiligen Abend mit Blaukraut und Serviettenknödel serviert wird.

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Tag der Veröffentlichung: 20.12.2009

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