Mit einem Aufschrei erwachte Chatt’ra.
Wie die Nächte davor auch hatte er schlecht geträumt. Und jedes Mal war es sein Schrei, der ihn davon überzeugt hatte, nicht gestorben zu sein.
Nachdem die ersten Sekunden der Desorientierung abgeschüttelt waren nahm er den sanften Summton wahr, der Ruf seines Meisters.
Chatt’ra seufzte und verließ sein Bett. Er wusste nicht, wie lange sein Meister bereits nach ihm verlangte, also war für das morgendliche Reinigungsritual nicht viel Zeit. Hastig zog er sich eine schlichte hellbraune Robe über, das Zeichen des Lehrlings, und eilte zu seinem Meister, der am anderen Ende des Ganges warten würde.
Als Chatt’ra das Zimmer seines Meisters betrat, saß dieser auf dem Boden und schien zu meditieren. Seine Augen waren geschlossen, seine Hände seitlich vom Körper abstehend.
Chatt’ra betrat vorsichtig und leise den abgedunkelten Raum, und versuchte jedes Geräusch zu unterdrücken.
„Wurde aber auch Zeit!“ Die Stimme seines Meisters klang ungeduldig. Chatt’ra zuckte zusammen, vielleicht hatte er seinen Lehrer zu lange warten lassen. Sein Meister erhob sich ohne einen Laut von sich zu geben, dann sahen ihn die engen violetten Augen durchdringend an. Ein langgliedriger Zeigefinger stieß in Richtung Chatt’ra, berührte ihn aber nicht.
„Du weißt, was heute für ein Tag ist?“
Chatt’ra nickte. „Ja, Meister.“
„Gut. Ich hoffe Du hast alle Vorbereitungen getroffen. Ich will nicht von Dir enttäuscht werden!“
Abermals nickte Chatt’ra, dann zog er sich nach einem weiteren Handzeichen seines Meisters wieder zurück.
Nachdem sich die Schiebetür hinter ihm geschlossen hatte, ließ er ein ärgerliches Stöhnen hören. Wegen dieser Kleinigkeit hatte er sich so beeilt. Aber er war nur der Schüler, und musste den Worten seines Meisters folgen.
Es war durchaus ein wichtiger Tag, nicht nur für Chatt’ra und seinen Meister. Das Leben aller Shan’ri stand auf dem Spiel.
Vor einigen Monaten hatten die Raumspäher Erstkontakt mit einer fremden Rasse, den Arth’ri. Diese widerlichen Spinnenwesen waren nicht sonderlich freundlich, sie stellten sogar eine große Gefahr für Shan dar.
Nachdem es den Wissensbewahrern gelungen war die Sprache der Arth’ri einigermaßen zu entschlüsseln, wurde ersichtlich, dass sie eine Eroberung Shans planten. Ihr eigener Planet war zerstört worden, ob durch eigenes Verschulden oder Fremdeinwirkung war nicht bekannt, und nun suchten die Spinnenwesen eine neue Heimat. Shan schien das zu bieten, was sie benötigten: Ein gemäßigtes, bis tropisches Klima, viele Trockengebiete und nur wenige Kälteregionen. Der Planet der Shan’ri musste ein Paradies für sie sein.
Natürlich wurden Schritte gegen diese Invasion unternommen. Techniker und Wissensbewahrer suchten Mittel und Wege sich gegen die fremde Macht wehrhaft gegenüberstellen zu können.
Obwohl die Zeit begrenzt war, es war nicht bekannt wann die Fremdwesen angreifen würden, machte man große Fortschritte:
Jede größere Stadt wurde von einem Kraftfeld umgeben, welche jede Art von Energiewaffen einfach abprallen ließ und die Raumspäher wurden mit effektiveren Waffen versehen.
Man war vorbereitet, die Arth’ri hätten jeden Tag kommen können. Die Shan’ri warteten.
Und dann verbreitete sich das Gerücht, das alle Schutzmassnahmen nutzlos waren. Chatt’ra wusste, dass dies den Tatsachen entsprach. Tsoth’og, der größte Hellseher seiner Zeit hatte das Ende der Shan’ri vorhergesehen. Die Rasse würde auf Shan keine Zukunft haben, sobald die Invasion der Arth’ri begonnen hatte. Tsoth’og hatte den Sieg der Spinnenwesen gesehen.
Dieses Wissen wurde aber geheim gehalten, nur konnte man Gerüchten keine Kerker bauen.
Chatt’ra wusste aber auch, dass die Techniker riesige Raumkreuzer entwarfen um einen Grossteil der Bevölkerung evakuieren zu können. Er hoffte nur, dass sie Zeit für die Fertigstellung hatten. Über die Fortschritte in den Hangars war er aber nicht informiert. Er kannte dort niemanden, und einem Lehrling des Wissens war man nicht verpflichtet irgendwelche Informationen mitzuteilen.
Chatt’ra hatte eine wichtige Aufgabe übernommen. Er wusste nicht, warum ausgerechnet er dafür in Frage gekommen war, aber er tat das, was man von ihm verlangte. Auch wenn es für ihn ein gefährliches Unterfangen war, und sehr viel zu verlieren war.
Einer der Seher hatte in einem Traum eine Gruppe Arth’ri auf Shan landen sehen, unbemerkt in einem der Waldgebiete. Sie hatten die Fähigkeit sich wie die Einwohner des Planeten zu tarnen, infiltrierten die Shan’ri um Informationen zu sammeln, und den geeigneten Zeitpunkt der Invasion bestimmen zu können. Einer Gruppe Soldaten war es gelungen einen dieser Arth’ri zu fangen, und entsprechende Informationen aus ihm zu locken.
Die Infiltratoren hatten wöchentliche Treffen, bei denen sie ihre Erkenntnisse austauschten.
Den Technikern war eine Tarnvorrichtung gelungen, die es erlaubte das Aussehen eines Arth’ri anzunehmen. Ein Übersetzer sorgte für die richtige Sprache und das Verständnis der Spinnenworte.
Chatt’ras Meister war an seinen Schüler herangetreten und hatte ihm von den Aliens erzählt. Chatt’ra sollte als getarnter Arth’ri Informationen sammeln.
Der junge Shan’ri war sich nicht sicher, ob er der Aufgabe gewachsen war, aber Widerworte wurden nicht geduldet, und es war ersichtlich, dass der Meister nicht klein beigeben würde.
So musste sich Shan’ri seinem Schicksal stellen und die widerlichen Arth’ri unterwandern.
Und heute war der Tag des Treffens. Die Nächte zuvor hatte Chatt’ra schlecht geschlafen, sein Appetit war nicht sehr groß, und seine Knie zitterten, nur bei dem Gedanken an die Spinnen.
Am heutigen Tage war alles noch viel schlimmer. Das köstliche Mahl, welches man ihm zubereitet hatte, konnte er nicht lange für sich behalten, und selbst die Meditationen, die ihm sein Meister gelernt hatte, konnten an seiner Nervosität nichts ändern.
Ein Heiler hatte Mitleid mit dem jungen Spion und bereitete einen Trank der Beruhigung zu. Tatsächlich zeigte dieser auch Wirkung, Chatt’ra wurde ruhiger, und auch seine Aufregung wurde auf ein Minimum reduziert.
Als Shan’ri schlich er aus dem großen Gebäudekomplex, welcher die Schule der Magier darstellte, als Arth’ri schlich er in den Wald, auf die Lichtung, die als Treffpunkt erwählt worden war.
Chatt’ra hoffte, dass die Batterien seiner Tarnvorrichtung nicht versagten. Dann war er geliefert, wenn er nicht schnell eine glaubwürdige Ausrede bereit hatte.
Er war nicht der erste. Ein Arth’ri wartete schon ungeduldig auf seine Mitverschwörer. Chatt’ra hatte seine Hausaufgaben gewissenhaft erledigt, und erkannte anhand einer Narbe an einem der Beine des Spinnenwesens, dass es sich um Scharduk handelte. Es schüttelte ihn beim Anblick des Arth’ri. Diese fremdartigen Wesen hatten sechs mit Borsten behaarte Beine, die in einer einzelnen scharfen Klaue endeten. Der Körper glich der einer Spinne, auch wenn der Oberkörper dem eines Shan’ri glich, allerdings von brauner Farbe, nicht blau, wie das bei den Einwohnern von Shan der Fall war. Der Kopf war haarlos wie der der Shan’ri, anstelle der Ohren hatten sie nur kleine Schlitze, und statt zwei, hatten sie vier Augen, zwei große und zwei kleinere, die tatsächlich an die Augen der viel kleineren Spinnen von Shan erinnerten. Der Mund war zahnlos, nur zwei kleine Mandibeln waren für die Nahrungsaufnahme vorgesehen. Die Arme der Arth’ri glichen denen der Shan’ri, auch sie hatten fünf Finger, die sie auch zum Greifen benutzen konnten.
Chatt’ra wusste dass die Arth’ri auch die Fähigkeit hatten, Spinnenweben aus ihren Hinterleibern zu spritzen. Seine Tarnung erlaubte ihm das nicht, aber er würde diese Fähigkeit auch nicht brauchen.
Als Scharduk den Neuankömmling sah lief er zu ihm und begrüßte ihn mit den seltsamen klackenden Lauten seines Volkes.
Chatt’ra hörte die ungeduldigen Worte über seinen Übersetzer.
„Na endlich, ich dachte schon keiner würde kommen. Was hat Dich solange aufgehalten ... und ... wo sind die anderen?“
Chatt’ras Spinnenkörper zuckte mit den Schultern. „Ich kann Dir die Frage auch nicht beantworten, aber ich bin sicher, die anderen kommen auch gleich.“
Als ob sie auf das Stichwort gewartet hätten traten zwei weitere Arth’ri auf die Lichtung. Ein kleinerer und eine viel größere Gestalt, die Chatt’ra als das eindrucksvolle Weibchen Akraka identifizierte. In ihrer Begleitung befand sich Trunk, ein eher zurückhaltendes Wesen, dem Zrka, dessen Körper jetzt Chatt’ra angenommen hatte, misstraute. Aber der Shan’ri würde keinem der Spinnenwesen trauen können, immerhin waren sie Feinde seiner Welt.
Sharduk und er verbeugten sich vor dem großen Weibchen.
Die Spinnenwesen setzten sich ins Gras der Lichtung. Akraka sah jeden einzelnen an, und die Männchen beugten die Häupter, auch Chatt’ra. Dann begann das Weibchen zu sprechen. Der Shan’ri war andere Stimmen gewohnt, die Frauen seines Volkes hatten eine weiche, melodische Stimme. Vielleicht war Akraka auch nur eine Ausnahme, sie klang alles andere als weiblich. Es könnte auch nur am Übersetzer liegen. Frauenstimmen waren wohl nicht vorgesehen. Interessiert lauschte Chatt’ra den Worten der Spinnenfrau.
„Wie ich sehe, leben noch alle. Ein gutes Zeichen. Wir können später unsere Erfahrungen austauschen, zuvor habe ich Euch einige Dinge mitzuteilen, die von Interesse sein dürften.“
Es schien als ob sie eine bewusste Pause machen würde, um ihren Worten mehr Wirkung verleihen zu können.
„Man hat mir mitgeteilt, dass die Invasion kurz bevor steht. Man wird die heute gesammelten Daten noch auswerten, dann beginnt der Angriff. Das Oberkommando ist der Meinung genug Wissen über die Bewohner dieses Planeten gesammelt zu haben. Bald können wir dies unsere neue Heimat nennen.“
Der Jubel der Arth’ri-Männchen schien nicht enden zu wollen. Chatt’ra war schockiert. Was würde nach dem Treffen passieren. Wie sollte er die anderen Shan warnen können?
„Zrka?“
Chatt’ra hatte nicht gemerkt dass sich Trunk ihm genähert hatte.
„Zrka?“
„Ja?“
„Was ist los mit Dir, Dich scheint die Sache ja gar nicht zu freuen.“
„Doch, doch, natürlich“, beeilte sich Chatt’ra zu versichern. Misstrauisch blickend entfernte sich Trunk wieder. Akraka schien der Meinung zu sein, der Nachricht sei genug Freude gezeigt worden, mit einer einfachen Geste ihrer Hände beendete sie den Jubel.
„Das waren die Guten Nachrichten, aber es gibt auch weniger Gutes zu berichten.“
Erneut machte sie eine kurze Pause.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass einer von Euch dem Feind in die Hände gefallen ist.“
Verwirrt sahen sich die Männchen an. Chatt’ra bekam Schweißausbrüche, die aber durch die Tarnvorrichtung nicht sichtbar wurden. Meinte die Arth’ri ihn? Er hoffte nicht. Vorsichtig sah er sich nach einem Fluchtweg um, aber es sah schlecht aus. Zudem waren die Spinnenwesen vermutlich schneller als er ... und ihre Spinnweben durfte er auch nicht unterschätzen. Also blieb ihm nur die Hoffnung. Er musste hier weg, die Shan’ri mussten gewarnt werden.
„Ich habe meine verlässlichen Quellen“, fuhr Akraka fort, wobei sie jeden einzelnen ihrer Artgenossen musterte. Chatt’ra kam es so vor, als würde ihr Blick bei ihm besonders lange verharren.
„Einer von Euch scheint tatsächlich so unvorsichtig gewesen zu sein. Nachdem ihr aber alle hier seid, ist das wohl auch das Zeichen, dass wir hier einen Spion unter uns haben, ob bewusst oder unbewusst, das wird sich noch zeigen.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um. Statt aber zu gehen wurde auf Chatt’ra ein Strahl Spinnweben abgeschossen. Die klebrigen Fäden trafen sofort, dem Shan’ri war keine Möglichkeit zur Flucht gegeben. Und die Arth’ri schien mit ihrer Fadenproduktion auch nicht mehr aufhören zu wollen.
Als Chatt’ra in eine Art Kokon eingesponnen war hörte die Spinne auf.
„Zrka, ist der Verräter. Oder besser gesagt, das Wesen dass sich als Zrka ausgibt. Es muss eine Täuschungsmaschine besitzen. Sucht sie, aber achtet darauf dass der Gefangene nicht flieht!“
Vorsichtig tasteten die Männchen Chatt’ras Körper ab.
Natürlich fanden sie den Auslöser für seine Tarnung, ebenso wie den Übersetzer. Triumphierend präsentierte Trunk die Gegenstände Akraka.
Diese besah sich diese genau, konnte damit aber anscheinend nicht viel anfangen und zerstörte sie mit der Kraft ihrer Hände. Dann gab sie ein Zeichen und die drei verbliebenen Arth’ri-Männchen stürzten sich auf Chatt’ra.
Der junge Chatt’ra hatte keine Möglichkeit mehr, seinem Meister und den anderen Shan’ri die bevorstehende Invasion mitzuteilen, noch wie sie vonstatten gehen sollte.
Die Arth’ri kamen mit aller Gewalt, schossen wahllos auf den Planeten und viele Shan’ri mussten ihr Leben lassen.
Chatt’ra hatte versagt, aber einer kleinen Gruppe Shan’ri war die Flucht in einem Raumschiff doch noch gelungen. Sie, die einzigen Überlebenden, waren nun selbst auf der Suche nach einer neuen Heimat, so wie es die Arth’ri waren, bevor sie Shan entdeckten.
Chatt'ras großer Tag wurde 2007 für den Wiliam Voltz-Award eingereicht.
http://www.williamvoltz.de
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2008
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