Jetzt streiten sie doch.
Dabei fing alles so friedlich an. Wie jede normale Einladung zum Essen.
Schade, dass ich von den geladenen Gästen der einzige war, der Zeit hatte.
Dabei hatte sich Paul so viel Mühe mit dem Essen gegeben. Eine leckere Gazpacho als Vorspeise, Hähnchen im Schokoladenmantel als Hauptgericht
und der krönende Abschluss: Weißweinmousse. Paul hatte für mehr Gäste gekocht, aber wie es üblich war, kamen einige der Absagen sehr kurzfristig.
Mir ist etwas dazwischengekommen, mir geht`s nicht gut. Die üblichen Vorwände. Die Ausflüchte waren nicht einmal sehr originell, aber man scheute sich zuzugeben, dass man keine Lust hatte. Jetzt musste das kleine Festmahl für drei Personen herhalten. Paul und Alwin könnten morgen noch davon essen. Wenn die beiden dann noch zusammen sind. So wie die streiten.
In letzter Zeit war das oft der Fall, und immer wegen Kleinigkeiten. Kein Wunder dass heute keiner ihrer Freunde kommen wollte. Nur ich war so blöd. Ich hätte auch nicht gedacht, dass sie in meiner Gegenwart streiten.
Es ist, als wäre ich Luft. Warum sie streiten? Alles fing mit dem Weißwein an, der zu wertvoll für die Mousse war. Zumindest Alwins Meinung nach. Aber
Paul konnte der Wein nicht gut genug sein. Und schon lagen sie sich in den Haaren.
Und in was für einer Lautstärke. Ob die Nachbarn das hören? Vielleicht sollte ich mich zurückziehen. Einfach gehen. Die Gastgeber würden das vermutlich
nicht einmal bemerken. Aber das kann ich nicht machen. Etwas Anstand besitze ich noch. Am Tisch kann ich auch nicht sitzen bleiben. Irgendwann
wird einer der beiden auf die Idee kommen, mich in den Streit einbeziehen zu müssen. Wäre nicht das erste Mal. Ich will für niemanden Partei ergreifen,
die Streitereien gehen mich nichts an. Das ist deren Sache. Ich mag sie beide, aber im Moment nerven sie nur.
Ah, welche Ruhe. Die Geräusche aus dem Nebenzimmer sind nur noch gedämpft zu hören. Hier lässt es sich länger aushalten, auch wenn ich
mich in der Kitschfalle der Wohnung befinde. Hellblaue Kacheln. Gut, es ist kein Rosa, aber ein dunklerer oder hellerer Ton hätte dem Klo auch nicht
geschadet.
Der Duschvorhang ist ebenfalls hellblau, aber angenehmer anzusehen. Kleine Eisschollen und Pinguine mit Mützchen und Schal tummeln sich auf dem Plastik. Alwin liebt Pinguine. Vielleicht deswegen das Blau. Würde mich nicht wundern, wenn die Farbe der Kacheln Arctic Blue heißen würde. Der Klodeckel
ist ebenfalls mit diesen Pinguinen bemalt. Was soll`s. Mit geschlossenen Augen ist es egal, an welchem Ort man ist. Ich denke an angenehmere Dinge und verdränge den Streit. Es ist wie eine Flucht vor dem Alltag. Wie lange ich wohl hier bleiben kann? Irgendwann muss ich das Klo auch wieder
verlassen. Spätestens wenn ich nach Hause will. Vielleicht sollte ich gleich gehen. Den Umweg über die Toilette hätte ich mir auch sparen können.
Hier habe ich zwar Ruhe, aber wie lange lässt sich der Kitsch ertragen?
Am Spiegel kleben Pinguinbilder, es gibt eine Zahnbürste in Pinguinform, Seifen, sogar die Klobürste steckt in einem hässlichen übergewichtigen
Plastikvogel, der annähernd Ähnlichkeit mit einem Pinguin hat, aber doch ein Papageientaucher ist. Ob Alwin den Unterschied kennt? Es wäre wirklich
besser gewesen, gleich zu gehen. Die hören sowieso nicht auf.
Der Streit ist lauter geworden. Ah, ein blaues Badradio, natürlich in Pinguinform. Die Musik angeschaltet und klassische Töne verdrängen sanft
den Lärm. Sieht man von der Örtlichkeit ab, ist es jetzt sehr heimelig.
Immerhin macht die Toilette einen gepflegten Eindruck und auch der Geruch des Duftspenders ist angenehm.
Das Telefon klingelt. Es ist lauter als das Radio, aber die beiden Streithähne ignorieren das. Wenn man streitet, vergisst man scheinbar die Umgebung.
Die Zwei scheinen wirklich alles vergessen zu haben. Ich höre den Anrufbeantworter nicht, also nehme ich an, dass der Anrufer entweder aufgegeben hat oder die Maschine ausgeschaltet ist. Mir kann das auch egal sein. Warum bin ich überhaupt noch hier? Ständig stelle ich mir die Frage, aber ich ändere nichts an meiner Situation. Ich sollte wirklich gehen. Ob ich aus dem Fenster klettern soll? Dann muss ich an den beiden nicht vorbei. Was für ein seltsamer Gedanke. Im Erdgeschoss wäre das ja kein Problem,
aber im dritten Stock? Eine Sportskanone bin ich nun wirklich nicht. Schade eigentlich. Die Gesichter will ich sehen, wenn sie erfahren würden, dass ihr Gast durch das Toilettenfenster geflohen ist. Ob sie sich irgendetwas dabei denken würden? Aber ob ich ihnen dann jemals wieder unter die Augen treten kann?
Ein lauter Schrei reißt mich aus meinen Gedanken. Der Streit wird seinen Höhepunkt erreicht haben. Ein weiterer Schrei, der dem ersten an Lautstärke
in nichts nachsteht. Dann Stille, tödliche Stille. Nichts ist zu hören.
So, als ob die beiden zur Vernunft gekommen wären und sich in den Armem liegen und knutschen. Dann kann ich den Heimweg antreten.
Jetzt wird hektisch an meine Tür geklopft. Vorbei mit der Ruhe. Der Abend wird also eine Fortsetzung erleben. Hoffentlich streiten sie nicht wieder.
Ich öffne die Tür. Paul steht davor. Verzweifelt, verheult. So, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Und sprachlos. Schweigend deutet er ins Wohnzimmer.
Alwin liegt regungslos am Boden. Eine Flüssigkeit hat sich auf dem Teppich ausgebreitet. Scherben liegen in der Nähe. Ich beuge mich zu Alwin. Sein Kopf ist zertrümmert. Paul kann sehr stark sein. Blut vermischt sich mit der Soße des Schokoladenhuhns. Meine Erste Hilfe-Kenntnisse sagen mir schon, dass wir nicht viel machen können. Nur leise dringen Pauls Worte an mein Ohr: „Das wollte ich nicht, es war ein Unfall ...“
Immer wieder dasselbe, wie ein Mantra.
Jetzt warten wir. Polizei und Krankenwagen sind unterwegs. Ich versuche Paul zu beruhigen, aber der ist in seiner eigenen Welt. Ich bin wieder nicht
vorhanden.
Und Alwin lebt nicht mehr.
Jetzt ist die ganze Wohnung ein Ort der Stille.
Erstveröffentlichung
: Verstärker 4 (Online-Version 2006)
http://www.verstaerker-online.de/
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2008
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