Der Percy Circus im Norden von Londons Viertel Clerkenwell war kein guter Ort, wenn man zu viel getrunken hatte. Die kreisrunde Straße, die für die britische Hauptstadt typisch einen kleinen, von einem schwarzen, eisernen Zaun umsäumten Grünbereich einfasste, schien in alle Richtungen eine Steigung zu haben. Zumindest kam es June Mayberry so vor, als sie sich noch immer schwankend auf den Weg nach Hause machte. Über die King’s Cross und Farringdon Road wäre es nur ein Fußmarsch von fünfzehn Minuten gewesen, doch der Londoner Verkehr war auch jetzt, mitten in der Nacht, kaum weniger aktiv als am Tag, und June konnte den Lärm der Hauptstraßen beim besten Willen nicht ertragen.
Die Kopfschmerzen hatten eingesetzt, noch bevor sie aufgestanden war. Wäre sie zuhause in ihrem Bett gewesen, sie hätte ihren körperlichen Zustand ignoriert und bis zum nächsten Abend durchgeschlafen, doch das war in dieser Nacht in mehrerlei Hinsicht keine Option.
Es war schon nach halb fünf am frühen Morgen, als June in einem völlig zerwühlten Hotelbett aufgewacht war. Die Tatsache, dass es nicht ihr eigenes Zimmer war und ein fremder Arm auf ihrem Rücken lag, war dabei nicht die schockierendste Tatsache, denn dieses Erlebnis hatte June beileibe nicht zum ersten Mal. Doch der Umstand, dass sie sich im ersten Moment an gar nichts seit dem Vorabend erinnern konnte, alarmierte sie.
Sie legte den schmalen, fremden Arm zur Seite und stellte erleichtert fest, dass das tiefe, gleichmäßige Atmen in der Dunkelheit neben ihr dadurch nicht gestört wurde. Im Licht, das durch einen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen fiel, sammelte sie mühsam ihre Kleidung zusammen, die vor dem Bett auf dem Boden lag, in einem Durcheinander mit Kleidern, die definitiv nicht ihre waren.
Sie machte ein paar vorsichtige Schritte zur Tür des kleinen Badezimmers und kämpfte dabei gegen die horizontale und vertikale Orientierungslosigkeit an, die das überwältigend Schwindelgefühl in ihrem Kopf auslöste. Im Bad angekommen, knipste sie das Spiegellicht an und zog die Tür hinter sich zu. Wankend stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich, während das Pochen in ihren Schläfen die Sekunden runterzählte, bis ihr Gehirn schließlich feststellte, dass es ihren Gleichgewichtssinn beim besten Willen nicht mit dem Bild vor ihren Augen in Einklang bringen konnte. June spürte das Unausweichliche.
Der Klodeckel war oben und das war ein Glück, denn ihr Körper ließ ihr kaum Zeit zur Reaktion. June fiel auf die Knie und warf den Kopf nach vorne, als sie sich schmerzhaft übergab. Ihr Herz raste, als sie Augenblicke später gegen die nachhallenden Magenkrämpfe ankämpfte. Sie fluchte innerlich, als sie ihre völlig durchwühlte Masse an Haaren sah, die rund um ihr Gesicht im Porzellan hing.
Dies, dachte June, ist dann wohl ein neuer Tiefpunkt meiner Existenz. Anstatt wie ein weiblicher Casanova nachts aus dem Zimmer einer Liebhaberin zu fliehen, kotze ich mir beim Fluchtversuch in die Haare.
Sie setzte sich auf den kalten, gefliesten Boden und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand. Immerhin hatte ihr Körper nun für einen hoffentlich andauernden Moment das Gefühl, sich der Giftstoffe entledigt zu haben. Ihr Magen beruhigte sich und mit einigen tiefen, bewussten Atemzügen schaffte es June, ihren Puls zu beruhigen.
Seufzend stand sie auf, zog die Duschabtrennung von der kleinen Badewanne zurück und griff nach der Brause. Sie wollte nicht riskieren, dass sie beim Duschen Lärm machte und die Person im Bett aufweckte, doch sie musste sich die Haare waschen, bevor sie das Zimmer verließ, daran ging kein Weg vorbei.
Sie trocknete ihre wellige, voluminöse Haarpracht so gut es ging mit einem Handtuch und warf es dann achtlos auf den Boden, dann griff sie nach ihrer Kleidung. June musste einen Fluch unterdrücken, als sie feststellte, dass ein entscheidendes Kleidungsstück fehlte. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie zurück in das Hotelzimmer gehen und nach der fehlenden Unterhose suchen sollte, doch sie wollte nicht riskieren, dass sie vor ihrem Verschwinden entdeckt werden würde. Also schlüpfte sie mit einem Seufzen direkt in ihre Hose und zog die restliche Kleidung an. Sie stopfte ihre feuchten Haare unter die große Kapuze ihrer schwarzen Weste mit dem aufgestickten Sex-Pistols-Schriftzug auf dem Rücken, tastete dann die hinteren Taschen ihrer Jeans ab, um sicher zu gehen, dass Portemonnaie und Handy an ihrem Platz waren und warf noch einmal einen prüfenden Blick in den Spiegel. Immerhin, der schwarze Lidstrich saß und der Mascara war kaum verschmiert, sodass June nun äußerlich ein Bild bot, das nach einer langen Samstagnacht akzeptabel war.
Erst als sie die Steigung zum Percy Circus hinauf nahm, vorbei an der Nummer 16, in der Lenin mit seiner Frau vor einhundertzwölfeinhalb Jahren für einige Wochen für den dritten Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands residierte. June hielt an, um die nahenden Lichter eines Autos passieren zu lassen, bevor sie Great Percy Street überquerte und den Circus südwärts zum Prideaux Place umrundete.
Der Blick zu Nummer 16 und den neueren Gebäuden nördlich des Circus’ brachten eine Erinnerung zurück. Sie hatte Stunden zuvor hier gestanden mit einer anderen Frau ...
„Lenin hat schon vorher hier in Clerkenwell gewohnt, aber nicht am Percy Circus sondern am Holford Square“, sagte Leona, „das war 1902 oder so. Er musste aus Munschen abhauen, weil ihm die Polizei dort auf den Leib rückte wegen der Zeitung, die er rausbrachte.“
„Meinst du München?“, fragte Jessica lachend und sprach den Namen der Stadt in akzentfreiem Deutsch aus.
„So, genau das nämlich“, bestätigte Leona unbeirrt und zog sich die Kapuze vom Kopf. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr in welligen Strähnen bis auf die Schultern.
„Du weißt viel über Lenin und seine Bande“, stellte Jessica fest und stütze sich auf der Motorhaube eines parkenden Kleinwagens ab. „Wir sind gleich in meinem Hotel, ich kann mich auch kaum noch auf den Beinen halten.“
„Du hast zu viel getrunken“, Leona rülpste geräuschvoll, „aber ohne Stoff keine richtige Party, oder?“
„Benimm dich“, kicherte Jessica gleichermaßen schockiert und fasziniert von der Fremden. Leona war für sie ein Geschenk des Himmels in dieser Nacht. Jessica hatte früher am Abend Informationen erhalten, die in Kürze ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen würden. Ein Leben, das sie sich mühsam erarbeitet hatte. Und das nur, weil sie der falschen Person vertraut hatte. Trotz aller Vorsicht.
„Man hat Lenin sogar ein Denkmal errichtet am Holford Square“, führte Leona weiter aus, „später, als er es an die Macht geschafft hatte. Der damalige russische Botschafter in London – ich hab’ seinen Namen vergessen ... vielleicht Strugatzky oder so? Jedenfalls der hat sein Denkmal enthüllt.“
„Ist das weit von hier?“, fragte Jessica.
„Nicht geografisch“, gab Leona zurück.
„Hä?“
„Aber zeitlich“, erklärte Leona, „die Nazis haben es dem Erdboden gleich gemacht. So wie auch den ganzen Holford Square. Gib’s nich’ mehr!“
Jessica schwieg. Wann immer das Gespräch auf die in London allgegenwärtig scheinenden Narben des zweiten Weltkriegs kam, hielt sie sich zurück, das hatte sie in ihrer Jugend gelernt.
„Wo ist dein Hotel?“, fragte Leona.
„Komm mit“, Jessica atmete erleichtert auf, „nur noch ein paar Schritte.“
June ging die Fernsbury Street entlang in Richtung Wilmington Square. Die Oktobernacht war angenehm mild, auch wenn June bei knapp über zehn Grad froh war, unter der ärmellosen Weste ein langärmeliges Shirt zu tragen. Die Bewölkung des Vortags löste sich nach und nach auf und für einen Moment gab sich June der Illusion hin, nach einigen Stunden Schlaf zu Hause frisch und munter in einen ruhigen Sonntag zu starten.
Auch wenn Clerkenwell beileibe kein Geheimtipp war und die Straßen des Viertels von hippen Geschäften und verwöhnten, finanziell bessergestellten Neueinwohnern überliefen, so hielt Junes Liebe zu dem Viertel noch immer. Der linke Geist vergangener, radikalerer Tage, als sich Lenin und Trotzki in den Gassen Londons trollten und die Pubs leer soffen, weil alle Gehirne großer Denker in Junes Welt Alkohol als Treibstoff und Trostpflaster gleichermaßen brauchten, war in Clerkenwell präsent, wenn man um ihn wusste.
Natürlich machte sie sich keine Illusionen, zu was die Ideologie dieser Köpfe am Ende geführt hatte. June war nicht direkt ein Fan, sie war nur fasziniert von diesem Teil der Geschichte und wünschte sich, dass mehr Menschen, die heutzutage, da viele Teilzeitlinke es sich im Bürgertum bequem gemacht hatten und ihre halbgaren Statements über die sozialen Netzwerke in die Welt pusteten, sich bewusst wurden, wie Menschen wie Lenin mit seiner Arbeit für die Zeitung Iskra für ihre Ideologie gekämpft hatten. Spätestens im nüchternen Zustand hatte June zu dieser eindeutig nostalgischen Einstellung natürlich auch differenziertere Gedanken, doch das interessierte sie in diesem Moment nicht so sehr.
June spürte erneut ein flaues Gefühl im Magen. Es wuchs bereits seitdem sie den Percy Circus verlassen hatte. Anfangs versucht sie es zu ignorieren, doch bald war es zu stark dafür. Sie hielt am Wilmington Square an und lehnte sich gegen einen der klobigen, schwarzlackierten Mülleimer, die das Tor zur kleinen Parkanlage flankierten. Sie hatte nicht das Gefühl, sich erneut übergeben zu müssen, doch irgendetwas stimmte nicht. Ihr Puls war wieder schneller und sie merkte, dass sie trotz der leichten Kleidung und mäßigen Temperaturen schwitzte.
Vorsichtig ging sie weiter ostwärts entlang der Tysoe Street. Das Schwindelgefühl und der schwankende Gang hatten nachgelassen. June war Alkohol gewöhnt und konnte auch mit heftigeren Abstürzen wie dem in dieser Nacht mit einer gewissen Routine umgehen. Doch das ungute Gefühl, das sich in ihr breit machte, schien eine andere Ursache zu haben. Und zwar keine körperliche, wie ihr kurz darauf klar wurde.
Körperlich hingegen war ein ganz anderes Problem. Vor den stärkeren Drinks, die sie in der Nacht mit Sicherheit gehabt hatte, konnte sie sich noch an einen Pub und diverse Pints Pale Ale erinnern, die sich nun meldeten. Vor einigen Jahren hatte June an einem anderen Sonntagnachmittag verkatert vor ihrem Computer gehangen und aus Langeweile Informationen zum Thema Penisneid gegoogelt. Sie hatte dieses Phänomen – so es denn überhaupt existierte – nicht nachvollziehen können, mit einer rein praktikablen Ausnahme: die Anatomie hatte eindeutig Männer darin begünstigt, nachts betrunken in die Grünanlage zu pissen. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit war das, fand June.
Als sie zwei Minuten später auf den Fußweg durch den Spa Fields Park abbog, steckte sie die Hände in die Taschen ihrer Weste und ertastete neben Kleingeld, zwei Tampons, ihrem Schlüssel, zwei Kronkorken und einem Pappbierdeckel, von dem sie keine Ahnung hatte, wie dieser in ihrer Tasche gelandet war, eine fast leere Packung Taschentücher. Sie warf einen Blick in die Umgebung, schickte eine Danksagung gen Himmel an die Stadtplaner von Clerkenwell für die Berücksichtigung mehrerer Grünanlagen und schlug sich in die Büsche.
„Hat dich deine Freundin hier sitzen lassen?“, fragte die Fremde und platzierte sich kurzerhand auf dem Stuhl neben Jessica an dem kleinen, runden Tisch in der Ecke des Pubs.
„Sie ist nicht meine ...“, Jessica schüttelte den Kopf, „ach egal.“
„Cool“, kommentierte die fremde Frau. „Ich setze mich hierhin, ist doch okay, oder?“
„Äh“, entgegnete Jessica perplex. Abgesehen davon, dass die Fremde sich bereits gesetzt hatte, bevor sie die Frage stellte, war sie nicht gerade daran interessiert, jetzt alleine zu sein. „Ist okay.“
Sie sah die Fremde interessiert an. Sie war etwa in ihrem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger, aber das konnte auch daran liegen, dass sie sich offensichtlich nicht um ein besonders erwachsenes Outfit scherte.
„Weißt du, dass sich an diesem Tisch Lenin und Stalin zum ersten Mal getroffen haben?“, fragte die Fremde.
„Bitte was?“, entgegnete Jessica verwirrt.
„Lenin und Stalin kennst du? Zwei tote Russen?“
„Stalin war Georgier, oder?“, konterte Jessica und stellte zufrieden fest, dass es in den Augen der Fremden erfreut aufblitzte.
„Besserwisser!“, urteilte sie.
„Du brichst das Eis, indem du völlig unvermittelt mit irgendwelchen historischen Fakten kommst, aber nennst mich einen Besserwisser?“, Jessica lachte.
„Es hat funktioniert“, die Fremde grinste, „du machst nicht mehr so ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter!“
„Es war nur ein anstrengender Tag, nichts Besonderes“, log Jessica, „aber ja, du hast recht. Du hast es geschafft, mich mit deinem Bullshit aufzuheitern.“
„Was heißt hier Bullshit?“, fragte die Fremde mehr interessiert als empört.
„Dieser Tisch ist ganz sicher noch keine hundert Jahre alt“, Jessica klopfte auf die hölzerne Tischplatte.
„Möbelexpertin?“
„Gesunder Menschenverstand“, entgegnete Jessica.
„Der wird überbewertet“, die Fremde lachte rau, „aber du hast natürlich recht. Es war nicht dieser Tisch, die beiden saßen sicher an der Bar.“
„Aha“, gab Jessica skeptisch zurück.
„Doch, kannste nachlesen, hier ist irgendwo eine Plakette, auf der das steht ... und Plaketten lügen nicht, oder?“
„Wenn du das sagst“, kommentierte Jessica unbestimmt.
„Mein Bullshit kann sehr unterhaltsam sein, wenn man den gesunden Menschenverstand mal ausschaltet. Es ist Samstag, das ganze Viertel macht sich bereit für die Wochenendpartys ... oder wie die gentrifizierende Masse ihre abendlichen Wochenendaktivitäten sonst so nennt.“
„Wie wäre es“, sagte Jessica, ohne zu ahnen, welchen Pfad sie und die Fremde damit betraten, „wenn du mir einen Drink ausgibst? Du scheinst den Pub hier zu kennen, ich bin nicht mal aus London.“
„Du trinkst, was ich dir bestelle?“, fragte die Fremde und bleckte die Zähne. Sie wirkte gefährlich auf Jessica, aber gerade so sehr, dass sie genau die richtige Gesellschaft für diesen Abend war.
„Du zahlst, ich trinke“, bestätigte Jessica heroisch, „und wenn du es übertreibst musst du dafür sorgen, dass ich später zurück zu meinem Hotel finde.“
Die Clerkenwell Close zog sich durch die alten Häuser bis zum südlich angrenzenden Clerkenwell Green. Dabei war das Green historisch nicht begrünt gewesen, sondern hieß nur so, weil es dem Vorbild anderer Greens – einer Art Dorfanger – folgte, die in den Ortsteilen und Vororten Londons üblich waren.
Vom Green war es nur noch ein Katzensprung bis zur Turnmill Street, in der June zuhause war. In elisabethanischen Zeiten, als Clerkenwell noch außerhalb der Stadtgrenze Londons lag, war der Straßenzug berüchtigt für seine Bordelle. Die puritanischen Gesetze endeten am Rand der Hauptstadt, was den Vororten eine Grundlage für ihre ganz eigenen Geschäftszweige gab.
Dass sich in einem Ort, der nach der frühen Präsenz von Geistlichen benannt war, eine Halbwelt befreit von strengen Gesetzen bildete, stellte sich June gerne als Ursprung einer freiheitlichen, anarchischen Grundhaltung vor. Vermutlich war es in Wahrheit in erster Linie ein Nährboden für zwielichtige Gestalten, die den eigenen Vorteilen und nicht einer Ideologie folgten, doch June wusste, dass die Ursprünge revolutionärer Gesellschaftsumbrüche nicht selten den Preis florierender Verbrechen mit sich brachten.
Sie stellte sich gerne vor, dass sich Lenin und Stalin wirklich im Crown & Anchor, der heutigen The Crown Tavern, am südlichen Ende des Greens getroffen haben, auch wenn es gute historische Gründe gab, die dieser Legende widersprachen. Der radikale Idealist Lenin trinkt ein Pint dünnes Ale mit dem Ganoven aus Georgien, nicht wissend, dass er seine Ideologie Jahre später, als Lenin von Schlaganfällen gezeichnet sein Wort bei seinen eigenen Gefolgsleuten gegen Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili alias Stalin nicht mehr durchsetzen konnte, in eine Schreckensherrschaft verwandeln würde. Lenin war sicherlich kein Heiliger – auf welchen Revolutionsführer traf das schon zu? – doch June dachte oft über eine alternative Realität nach, in denen er Stalin nicht getroffen und stattdessen seinen alten Gefährten Trotzki in seiner Nachfolge gestärkt hätte. So hatte das Pub in Junes unmittelbarer Nachbarschaft die Atmosphäre weltpolitischer Tragik. Zumindest in ihren Augen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Jessica. Sie war sich alles andere als sicher, ob sie die Fremde schon nach ihrem Namen gefragt und sie diesen wieder vergessen hatte, oder ob ihr diese Idee bisher noch nicht gekommen war. Sie hatten sich mittlerweile aus ihrer Kneipenecke hervorgewagt und saßen nun am Ende der langen Bar in unmittelbarer Nähe zu den Zapfhähnen.
„Alpha Leonis.“
„Na klar ...“, Jessica lachte, „ich nenne dich Leona.“
„Davon würde ich dir abraten.“
„Warum?“
„Laserkanone.“ Die Fremde klopfte beiläufig auf die speckige, dunkelbraune Aktentasche, die sie achtlos auf den Barhocker neben sich geworfen hatte.
„Dann nicht Leona“, Jessica griff nach der Hand der Fremden und zog sie von der vermeintlichen Laserkanone weg. „Aber ich werde dich nicht Alpha Leo...sowieso nennen.“
„Gut“, die Fremde seufzte theatralisch und zog ihre Hand nicht zurück. Zum ersten Mal. „Ich bin Harey. Harey Kelvin.“
„Harry?“ Jessica zog die Brauen hoch.
„Ja, nenn mich Harry“, die Fremde zuckte mit den Schultern und schob sich die ins Gesicht gerutschte Kapuze ein Stück zurück, wodurch mehr von ihrer voluminösen dunklen Haarpracht hervorquoll.
Jessica nahm ihren Drink und biss auf den Strohhalm, bevor sie die letzten, verwässerten Reste ihres Cocktails, an dessen Namen sie sich schon nicht mehr erinnern konnte, zwischen den Ruinen der Eiswürfel hervorsog.
Die Fremde passte optisch in das Ambiente. Sie zeigte eindeutig eine gewisse Punk-Attitüde in ihrem Sex-Pistols-Hoodie mit den abgeschnittenen Ärmeln, dem breiten Nietenarmband, der kunstvollen aber etwas farblosen Tätowierung eines Löwen auf dem Oberarm, den mit roten Bändern hochgeschnürten Stahlkappenstiefeln und der engen Hose aus schwarzem Leder-Imitat. Und gleichzeitig waren da die kleinen Zeichen eines intellektuellen Hintergrunds, den man in einem solchen Pub irgendwo zwischen Islington und Bloomsbury erwartete.
„Leona“, versuchte es Jessica erneut, nachdem sie entschieden hatte, dass die Fremde ihre Laserkanone nicht zücken würde, solange sie deren Hand festhielt, „ich bin Jess.“
„Ja“, entgegnete die Fremde.
„Was?“
„Das sagtest du bereits vor ein oder zwei Drinks“, die Fremde, die nicht Leona genannt werden wollte, lachte.
„Oh, whoops“, Jessica war von Leonas dreckigem Lachen sofort angetan. „Hab ich vergessen.“
Vergessen war ein gutes Stichwort. Es funktionierte ganz gut an diesem Punkt. Und Jessica wollte vergessen mehr als alles andere. Sam vergessen. Antonia vergessen. Das Abendessen, das Gespräch, die Enthüllungen. Und den Plan, den sie zu fassen noch nicht ganz bereit war.
„Was machst du für ein Gesicht?“, fragte Leona. „Ich lass dir das mit dem Namen für heute Nacht ausnahmsweise durchgehen. Aber nur, weil ich schon betrunken bin.“
„Ich muss dich also nicht Harry nennen?“, fragte Jessica.
„Nope.“
„Was für eine Erleichterung!“
„Warum? Ist Harry ein Stimmungskiller?“ Erneut das dreckige, heisere Lachen.
„Oh, Harry wäre immer und definitiv ein Stimmungskiller“, Jessica grinste, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Gesichtsausdruck erneut kurz versteinerte.
„Hey“, Leona zog ihre Hand zurück und drehte Jessicas Barhocker zu sich, „irgendwas auf dem Herzen? Wenn ja, dann sag es mir jetzt, bevor ich wieder so nüchtern bin, dass mich anderer Leute Probleme einen Scheiß interessieren.“
„So schnell wirst du bestimmt nicht wieder nüchtern“, Jessica deutete auf die leeren Gläser, die vom Barkeeper, der sich am anderen Ende der Bar durchgehend im Gespräch mit seinen Stammgästen befand, nicht weggeräumt worden waren.
„Bis morgen früh bestimmt“, entgegnete Leona ungerührt.
„Was meinst du damit?“, fragte Jessica und spürte einen leichten, angenehmen Anfall von Schwindel. „Willst du etwa die Nacht mir mit verbr...“
„Shhht!“, zischte Leona. „Mach die anderen nicht neidisch!“
Jessica sah sich irritiert um. Niemand saß in Hörweite. Und außerdem taten die Manic Street Preachers mit ihrem „Motorcycle Emptiness“ aus den basslosen Boxen der Musikanlage des Pubs ihr Übriges.
„Aber ernsthaft, erst der Spaß, dann das Vergn... nee... oder so ähnlich?“ Leona verzog albern das Gesicht. „Was hast du auf dem Herzen?“
„Willst du jetzt wirklich darüber sprechen?“, seufzte Jessica.
„Warum nicht?“
„Weil ... also erstens, das Thema killt definitiv jede deiner Hoffnungen für heute Nacht, und ...“
„Hey!“, unterbrach Leona und deutete auf das Löwentattoo auf ihrem Oberarm, „siehst du das? Das ist das Zeichen einer Göttin, die für Krieg und Sex steht. Die hat mich noch nie im Stich gelassen.“
„Äh ... klar ...“, Jessica fragte sich, ob sie den Geisteszustand der Fremden nicht doch etwas zu positiv eingeschätzt hatte, „aber ... zweitens: wenn ich dir von dem erzähle, was mich beschäftigt, dann müsste ich dir eine Frage stellen, die zu beantworten du später bestimmt bereuen würdest.“
„Wetten, dass nicht!“, entgegnete Leona und schlug Jessica zur Verdeutlichung mit der flachen Hand auf das Knie.
Jessica sah die Fremde an. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihr, dass Leona – oder wie sie auch immer heißen mochte – wohl so ziemlich alles ernst meinte, was sie sagte. Der feste, direkte Blick der fremden Frau, ihr wildes Aussehen, hinter dem Jessica so viel mehr vermutete als nur einen rebellischen Pseudo-Punk aus der Bürgerschicht, die permanente Anspannung, die die Muskeln an Armen und Schultern verrieten und im Kontrast zu ihrer zur Schau getragenen coolen Gleichgültigkeit stand ...
„Ich stelle dir die Frage“, sagte Jessica schließlich, „aber nicht jetzt. Später. Hast du eine Wohnung in der Nähe?“
„Ja, aber die kommt nicht in Frage“, entgegnete Leona trocken.
„Freundin?“
„Nope.“
„Freund?“
„Nope.“
„Was dann?“
„Neugierige Mitbewohner und mein echter Name auf dem Klingelschild.“
Jessica lachte erleichtert. Das war ein rationaler Grund, den sie verstehen konnte. Sie selbst war hier in London fast völlig anonym. Die wenigen Kontakte, die sie noch hatte und die sie erkennen würden, waren in dieser Gegend mit großer Wahrscheinlichkeit nicht anzutreffen. Und den kleinen Ort, an dem sie ihr echtes ... reguläres Leben führte, würde hier wohl niemand kennen.
„Ich habe ein Hotelzimmer“, sagte Jessica und spürte ihr Herz pochen und das Blut in den Ohren rauschen. Das geschah immer, wenn sie dabei war etwas zu tun, das sie sonst nicht tat. Und eine fremde Frau aus einer Bar abgeschleppt hatte sie schon seit langer Zeit nicht mehr.
„Ich besorge uns einen Wagen“, Leona rutschte von ihrem Barhocker, wühlte sich durch die welligen Haare und zog die Kapuze zurecht. Dann ging sie zum anderen Ende der Bar und wechselte einige Worte mit dem Barkeeper, den sie offenbar kannte.
Die Crown Tavern war beleuchtet. June beobachtete den jungen Mann, der beneidenswert behände den Boden wischte. Er würde ganz sicher nicht den halben Sonntag mit dem Kampf gegen einen kolossalen Kater verbringen. Andererseits war es früher Sonntagmorgen und er musste Geld verdienen. Das war nur aus Junes jetziger Situation eine verlockende Aussicht.
Hier hatte die Nacht begonnen. June hatte durchaus die Absicht gehabt, einige Bier zu trinken und sich wehrlosen Fremden aufzudrängen, immerhin war Clerkenwell ihr Revier. Doch dass es so heftig werden würde, hatte sie nicht erwartet. Sie war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass das Hotelzimmer, in dem sie orientierungslos erwacht war, auf eine Frau namens Jessica gebucht war. Und vermutlich war es ebendiese Jessica gewesen, deren ruhigen Atem sie neben sich im Dunkel gehört hatte, als sie das Hotelbett verließ.
Doch warum war sie so abgestürzt? June behielt gerne einen letzten Rest Kontrolle über sich. Irgendetwas musste sie aus dem Konzept gebracht haben. Während sie darüber nachdachte meldete sich das flaue Gefühl in der Magengegend wieder. Es war so, als hätte sie irgendetwas unglaublich dummes angestellt, ohne dass sie sagen konnte, was es war.
Sie lehnte sich an die Hausecke gegenüber der Crown Tavern und warf einen Blick die Straße zurück auf die Kirchturmuhr von St. James. Kurz vor fünf. Was für ein Glück ist die Existenz von Kirchen doch für Betrunkene, dachte June, wenn ich in diesem Zustand mein Handy aus der Tasche holen müsste, um die Uhrzeit zu checken, würde es mir bestimmt auf den Boden fallen. Und in tausend Stücke zerbrechen.
June fasste an ihrer Wange. Der Gedanke an ein hypothetisch zerbrochenes Handy hatte ihr Tränen in die Augen getrieben.
„Scheiße, June!“, sagte sie halblaut zu sich selbst, „geh nach Hause, dein Kopf fängt an, verrückt zu spielen.“
Doch ein Gedanke hatte sich festgesetzt. Ihr Handy! Wenn sie die Dunkelheit, die ihre jüngere Erinnerung umgab, richtig durchdrang, dann hatte sie einen Freund angerufen, als sie den Pub verließ, oder?
„Okay, jetzt die Frage“, sagte Leona, als sie mit Jessica kurze Zeit später in einem Uber zum Hotel saß.
„Die Sache ist nicht für fremde Ohren bestimmt“, sagte Jessica und warf einen schnellen Blick auf den Fahrer.
„Yo, Rizhwan ist ein Freund“, entgegnete Leona, rückte dann aber auf der Rückbank näher an Jessica heran, „außerdem spricht er wie alle Uber-Fahrer nur gebrochen Englisch und hat bald keinen Job mehr, wenn die Stadt den Laden dicht macht.“
Jessica schluckte. Meinte die Fremde das Ernst?
„Fick dich!“, rief der Fahrer nach hinten, doch sein Tonfall war eher belustigt.
„Hör mal“, Leona sah Jessica tief in die Augen, „was ich da gerade gesagt habe, war rassistischer Scheißdreck, und dafür hättest du mir sofort eine reinhauen müssen, klar?“
„Äh“, entgegnete Jessica. Sie hatte auf einmal wieder das Gefühl, sich auf die falsche Person einzulassen.
„Ich habe dir doch gesagt, dass die Leute deinen Humor nicht verstehen, Harey“, sagte der Fahrer in akzentfreiem Englisch.
„Dann heißt du wirklich Harey?“ Jessica war von sich selbst überrascht, dass ihr ausgerechnet diese Frage am wichtigsten schien.
Die Fremde lächelte, streckte eine Hand aus und griff nach Jessicas Kinn. Jessica spürte wieder ihr Herz klopfen. Worauf ließ sie sich gerade ein? Eine Nacht in einem mittelmäßigen Londoner Hotel mit einer betrunkenen Verrückten, die sich zudem für eine Wegstrecke von knapp zwei Kilometern einen Fahrer kommen ließ – Jessica war sich längst nicht mehr sicher, dass es wirklich ein Uber war – den sie persönlich kannte. Und doch hatte der Griff der Fremden an ihr Kinn etwas eindeutig Verführerisches in diesem Moment.
„Die Frage, die du mir stellen wolltest ...“
Jessica blinzelte, als Leona – oder Harey? – ihr Kinn losließ und sie auffordernd ansah. Was sollte sie jetzt tun? Sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich auf diesen ganzen Abend, die fremde Frau, die Drinks und die Einladung ins Hotel nur eingelassen hatte, weil es ihr beim Vergessen half. Und jetzt fragte diese Fremde nach dem Grund für all das.
Sicher, Jessica hätte sich irgendeine Geschichte einfallen lassen können, zumindest wenn sie etwas nüchterner gewesen wäre, aber andererseits war sie nun an einem Punkt angelangt, an dem sie sich genauso gut Rat von einer irren Fremden mit komischem Namen holen konnte.
„Wenn jemand, den du lange kennst, etwas Schlimmes tut ... seit langer Zeit, was machst du?“
„Darf ich Rückfragen stellen?“, fragte Leona, „oder muss ich mir die Begleitumstände selbst zusammenreimen?“
„Entschuldige“, Jessica nickte und starrte auf die Kopfstützte des Fahrersitzes vor ihr, „ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll und was nicht ...“
„Schon okay“, die Fremde lehnte sich zurück und ihr Gesicht verschwand im Schatten der Kapuze. Nach einigen Sekunden fragte sie: „Das Schlimme, was die Person, die du schon lange kennst, getan hat, betrifft dich selbst?“
„Hm“, Jessica dachte nach. „Ja, ein bisschen schon.“
„Ein bisschen?“
„Es betrifft mich in einem Ausmaß, dass ich die Freundschaft kündigen würde, weil ich der Person nicht mehr vertraue, aber ich könnte die Sache damit abhaken“, entgegnete Jessica und merkte, dass sie mit der Antwort nicht zu viel preisgegeben hatte.
„Aber du bist nicht die einzige“, vermutete die Fremde unter ihrer Kapuze richtig, „andere sind betroffen. Und sie sind so betroffen, dass du davor nicht die Augen verschließen kannst.“
„Genau“, Jessica konzentrierte sich darauf, sachlich zu bleiben, auch wenn sie die Erinnerung an das, was ihr Antonia gezeigt hatte, noch immer den Tränen nahebrachte.
„Ist das Schlimme, von dem du sprichst, eine Straftat?“, fragte die Fremde.
„Ich könnte zur Polizei gehen“, sagte Jessica zur Bestätigung, „aber ... es fühlt sich nicht richtig an. Es fühlt sich so an, als müsste ich mehr tun. Als sei ich irgendwie mitschuld, weil ich es nicht früher bemerkt habe.“
„Ich verstehe“, entgegnete die Fremde und klang plötzlich sowohl nüchtern als auch mitfühlend. Beides kam für Jessica unerwartet. „Ich kann dir nur sagen, was ich tun würde.“
„Und das wäre?“, fragte Jessica.
„Ich würde es selbst in die Hand nehmen.“
June entschied sich dagegen, Rizhwan in dem Moment anzurufen, als die Erinnerung schemenhaft zurückzukehren begann. Sie war zu betrunken, müde und verwirrt. Doch sie dachte noch daran, nachdem sie es irgendwie durch das Treppenhaus bis zu ihrer Wohnungstür geschafft hatte, sich eine Notiz zu machen, dass sie ihn am nächsten Tag anrufen musste. Vielleicht hatte er etwas mitbekommen, was sie mit dieser Jessica besprochen hatte?
Sie schaltete das Display ihres Handys aus und ließ es auf den runden Teppich im Flur fallen. Mühsam schleppte sie sich die letzte Treppe in ihrer zweistöckigen Wohnung nach oben. In ihrem Zimmer angekommen, schaffte sie es gerade noch, aus ihrer Hose zu schlüpfen, dann fiel sie vornüber auf ihr Bett und bewegte sich bis zum fortgeschrittenen Sonntagnachmittag nicht mehr.
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2018
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