SOLHEIM
03 | ATLANTIS
von Jón Faras
Eine Dystopie
© 2016 Jón Faras
Alle Rechte vorbehalten.
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Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua
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gewidmet
La Grande Racine
01 | KERKER
Die Kraft ließ nach. Das sichere Gefühl, dass es zum letzten Mal geschehen würde, gab Lilian einen Moment der inneren Ruhe. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich Illusionen über ein Leben nach dem Tod machten. Doch das Gefühl der ewigen Stille, der Auflösung ins Nichts und der Niederlegung aller irdischen Zwänge war der einzige Lichtblick, der ihr noch blieb. Es war nicht so, als wäre sie nicht noch immer kämpferisch. Der rebellische Geist versiegte nie und sie würde nicht nachgeben, möge kommen, was wolle.
Eigentlich, dachte sie, konnte sie sich doch glücklich schätzen, dass der Foltermeister der Guardians ein einfallsloser Idiot war. Brutal und irrational, doch nicht mit der nötigen Fantasie, die es brauchte, wenn man Informationen aus jemandem herausholen musste. Dennoch würde diese Folter mit ihrem Tod enden. Auf einen anderen Ausgang zu hoffen war unsinnig.
Und so war es ein Gefühl von Triumph und Beklemmung gleichermaßen, als sich die Tür zu dem verdunkelten Raum öffnete und Lilian ihren grobschlächtigen Peiniger sah, der eine schwere Eisenstange in der Hand hielt. Brutal. Endgültig. Aber wenn er glaubte, das alleine würde ausreichen, um sie doch noch zum Reden zu bringen, dann war er noch dümmer als er aussah.
Ihr Stolz meldete sich tief aus ihrem Inneren. Es war ohnehin bereits ein Punkt überschritten worden, an dem sie sich nicht mehr sicher war, ob sie überleben und die Erinnerungen an die ihr widerfahrenen Misshandlungen mit sich tragen wollte. Als Märtyrer sterben erschien ihr dagegen fast erstrebenswert.
Als die Guardians sie in ihrem Appartement in der Pyramide erwischt hatten, waren ihr die Augen verbunden worden und sie war in diesem Raum gelandet ohne sagen zu können, wo sich dieser befand. Sie hatten Lilian auf eine Liege gefesselt und ihr die Haare abrasiert, sie alle paar Minuten mit harten Stockschlägen traktiert und mit einem Messer ihre Fußsohlen aufgeschnitten.
Die ersten Stunden waren dabei die schlimmsten gewesen, denn sie hatten Grenzen überschritten, die Lilian nie zuvor passiert hatte. Sie hatte noch geschrien, als sie mit den Handgelenken an die Decke gehängt wurde und man ihr die Kleider vom Leib riss, mehrere Eimer Eiswasser über ihr auskippte und sie schließlich für Stunden dort hängen ließ.
Dabei war es weniger die Zuspitzung gewesen, die Lilian schockierte, als vielmehr der Umstand, dass sie sich bis zu diesem Zeitpunkt nie richtig vor Augen geführt hatte, in was sich diese Stadt verwandelte. Seit dem Verschwinden Zervetts, den Kämpfen mit den Visaren in der Oper und der Abreise der meisten ihrer Gefährten nach Atlantis war Fleet City zu einer Stadt des Wahnsinns geworden. Das Sangre strömte nun offenbar massiv in ihre Welt und verstärkte den Einfluss auf die Menschen.
Aus den Plänen, eine starke Allianz gegen die eindringenden Visaren aufzubauen, war nichts geworden. Stattdessen kämpften jetzt die Loge, die Guardians und der Schwarze Turm für ihre eigenen zweifelhaften Interessen, und in ihrem Windschatten folgten kriminelle Banden, Splittergruppen ehemaliger privater Sicherheitsdienste und Bürgerwehren, die an einigen Orten der Stadt die Disctrict Police unterstützten. Die Visaren waren bislang noch nicht aus der Oper vorgedrungen, doch jeder Versuch, das Gebäude zu übernehmen, war gescheitert.
Und dann war da das, was das Sangre mit dem Individuum anstellte. Noch vor einem halben Jahr war Lilians größte Sorge, dass der triebhafte Sangre-Rausch sie im falschen Moment dazu brachte Sex mit Freunden und Fremden zu haben, und unschöne Komplikationen nach sich zu ziehen. Doch auch wenn solche Situationen wild und schwer zügelbar waren – sie wusste es von einer Nacht mit Sayuri aus eigener Erfahrung – sie bewegten sich noch nicht im Bereich von Brutalität und Grausamkeit. Doch jetzt fühlte sich Fleet City an wie eine einzige Perversion.
Auch die Feinde und Verbündeten hatten sich verschoben. Jeremy Cassidy und der Schwarze Turm waren die einzigen echten Aliierten, die Lilian und ihrem Team noch blieben. Und Lilian war alles andere als glücklich über diese Liaison. Doch Loge und Guardians arbeiteten gegen sie, dabei waren die eigentlichen Feinde die Visaren in der Oper, die Wolfen und Ossfhang, die unter dem Floß durch die Kolonien marodierten, und schließlich die Quetzals, die sich der Stadt noch nie weiter als ein paar Kilometer genähert hatten, aber jede Form von Flügen zum Erdboden war nicht mehr sicher.
Der Foltermeister näherte sich und wollte nach Lilians Kinn greifen. Doch Lilian kannte diese Behandlung mittlerweile, zog den Kopf weg und schnappte mit den Zähnen nach der Hand des Mannes. Dieser stieß ihr seine Faust so heftig in den Bauch, dass ihr die Luft wegblieb. Noch bevor sie wieder atmen konnte, griff der Mann nach ihrer linken Brust und drückte hart zu. Sie schrie entsetzt auf.
„Joseph wird ungeduldig”, teilte ihr der Foltermeister mit. „Er will Antworten!”
„Jo soll sich ins Knie ficken!”, entgegnete Lilian, „sag ihm das!” Sie ignorierte den Schmerz in ihrer Brust, holte aus und rammte ihren Kopf in sein Gesicht. Sie konnte spüren, wie seine Nase brach. Als sie aufsah, war sein Gesicht blutüberströmt. Er wankte und machte einen Schritt zurück.
Die Stadt trägt eine hässliche Maske, dachte Lilian, als der Foltermeister sich von ihr wegdrehte. Oder vielleicht ist es doch eher die Maske, die sie abgenommen hat, um ihr hässliches Gesicht zu zeigen. Dass die Loge nach dem Abgang von Zervett nicht von ihren kriminellen Machenschaften ablassen würde, war Lilian klar gewesen. Seth Warren war wieder in der Stadt und hatte Gerüchten zufolge die Leitung der Loge übernommen.
Doch was sie wirklich verstört hatte, war der Zerfall des Black Phoenix. Jo Martin und seine Guardians hatten das Oberkommando übernommen und die meisten Teams, die eigentlich unabhängig voneinander funktionieren sollten, unter ihre Führung gezwungen. Die Pyramide war nun ganz in der Hand der Guardians – vielleicht abgesehen von den unteren Ebenen, in denen sich einzelne Gruppierungen eingenistet hatten, allen voran die Bastet, eine Art Sekte, die die freie Entfaltung des Sangres predigte. Aber auch die versprengten Gruppen des Black Phoenix, die sich den Guardians widersetzten, waren in den hinteren Winkeln der unteren Pyramide zu finden.
Dies alles hatte nur wenige Wochen gedauert. Es war so, als hätte die erneute Visarenaktivität in der Oper und das Verschwinden Zervetts den Startschuss für den Verfall von Ordnung und Vernunft in der Stadt gegeben. Lilian fand es erschreckend, wie schnell die Welt aus den Fugen geraten konnte.
Dass sie in Gefangenschaft der Guardians geraten war, hatte Lilian anfangs geärgert. Es waren nicht so sehr die Schmerzen oder die Erdniedrigungen, die sie durch ihre Peiniger hinnehmen musste. Diese hatten bereits in den ersten Stunden ihrer Gefangenschaft ihr Pulver verschossen. Einen klaren Gedanken fand Lilian erst danach wieder, als ihr klar wurde, dass sie es bereits hinter sich hatte. Vielleicht nicht die Qualen, wohl aber das Leben. Und das ließ sie Schmerzen hinnehmen. Sie musste sich keine Gedanken darüber machen, welche Narben auf Körper und Seele zurückblieben, wenn die Gewissheit bereits da war, dass ihr Leben hier in diesem Raum enden würde.
Verärgert war sie darüber, dass ihre Mission gescheitert war. Isaak hatte auf sie vertraut, als er ihr Fleet City überließ und mit seiner Crew nach Atlantis aufbrach. Ihr Tod würde ebenso eine Enttäuschung für ihn sein wie der verlorene Kampf gegen ihre Feinde. Sie konnte nur hoffen, dass er und Ninive hinter dem Atlantis-Portal eine bessere Welt erreichen würden.
Fuck!, dachte sie, als ihr bewusst wurde, dass diese Gedanken ihr letztlich doch die Tränen in die Augen trieben. Sie war neidisch. Neidisch auf die Dinge, die ihre Gefährten noch erleben, die Welten, die sie noch sehen, und die Momente, die sie zusammen haben würden. Während sie nicht mehr da wäre. Nur noch ihre leere Hülle. Sie musste an Fox‘ toten Körper denken, den die Visaren auf die Spitze der großen Kuppel der Oper genagelt hatten, für die ganze Stadt sichtbar. Lilian hatte sich gezwungen, hinzusehen. Sie wollte die Wahrheit kennen, auf die sie sich einließ. Sie wollte wissen, was passieren würde, wenn man nicht vorsichtig genug war. Ein Mahnmal. Vielleicht auf eine verquere Art auch eine Hoffnung. Es hatte alles nichts genützt.
Der Foltermeister drehte sich nun wieder zu ihr. Er hatte die Eisenstange in der Hand. Lilian straffte sich innerlich und beobachtete, wie er ausholte. Gleich ist es vorbei, dachte sie, gleich sind alle diese Gedanken weg.
Doch so einfach sollte es nicht für sie werden. Die Eisenstange traf mit voller Wucht ihre linke Hand. Lilian schrie auf, als sie spürte, wie die feinen Knochen brachen. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie hatte sich in den letzten Stunden öfter gefragt, warum sie das tat. Sie hatte sich mit dem bevorstehenden Tod abgefunden, warum kämpfte sie dennoch gegen die Ohnmacht an, die ihr den Schmerz nehmen würde?
Krachend traf die Stange ihre rechte Hand. Der Foltermeister holte wieder aus, bevor Lilian es richtig registrierte. Offenbar war er nun endgültig in seinen eigenen Sangrerausch verfallen. Die Stange zertrümmerte ihre Füße, bevor der Mann mit ihren Beinen weitermachte. Lilian hielt sich vor Schmerz schreiend noch immer bei Bewusstsein. Irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein flüsterte eine Stimme, dass jeder weitere Knochenbruch die Chance auf vollständige Heilung verringern würde.
Und dann war der Rausch des Mannes vorbei. Lilian hing noch immer an ihren Fesseln von der Decke. Sie wollte versuchsweise ihre Gliedmaßen bewegen, doch außer aufflammendem Schmerz rührte sich nichts mehr. Die Arme hatte der Mann verschont, damit sie sich noch immer in ihren Fesseln halten konnte.
„Deine letzte Gelegenheit”, knurrte der Foltermeister, doch Lilian sah ihm an, dass er selbst nicht mehr damit rechnete, dass sie in diesem Leben noch irgendeinen Laut von sich geben konnte. Lilian wollte ihm ins Gesicht spucken, doch ihr Mund und ihre Kehle waren trocken. Fieberhaft raste ein Gedanke durch ihren Kopf: Der letzte Moment deines Lebens, Lilian, das letzte, was du auf dieser Welt tun wirst.
Doch es gab nichts mehr. Keine Gegenwehr, kein Schrei, keine Tränen und kein Wort. Einzig der Gedanke daran, dass sie ihren Teil dazu beigetragen hatte, dass die anderen ihre Mission vielleicht noch erfüllen konnten. Ein schwacher Trost.
Der Foltermeister trat einen Schritt zurück und hob die Stange über den Kopf. Er holte aus und ließ sie auf Lilian hinunterrauschen. Lilian warf instinktiv mit letzter Kraft ihren Kopf zurück, dann schlug die Stange auf ihrem Brustbein ein.
Der Tod kam wie ein blauer Blitz, der aus ihrem Brustkorb brach. Verdammt, dachte Lilian, selbst beim Sterben hat das fucking Sangre seine Finger mit im Spiel!
Ihr blieb der Atem weg.
Moment mal!, drängte sich ein weiterer Gedanke nach vorne, einem Toten kann doch der Atem nicht mehr wegbleiben!
Lilian ächzte, als sie ihren Kopf, der im Nacken lag, wieder hob. Ein großer, länglicher, dunkler Fleck prangte zwischen ihren Brüsten, doch Lunge und Herz hinter ihren Rippen schienen noch zu arbeiten.
Sie sah vor sich. Der Foltermeister lag tot zu ihren Füßen. Die schwere Eisenstange war von Lilian Torso abgeprallt und hatte mit voller Wucht seinen Schädel gespalten und war erst in seiner Körpermitte stecken geblieben. LIlian wurde bei diesem Anblick schlecht, und es war dieses Gefühl, das ihr sagte, dass sie doch noch einen Funken Hoffnung auf dieses Leben haben durfte.
Hinter ihr waren Schritte, sofern das immer lauter rauschende Blut in ihren Ohren diesen Eindruck nicht verfälschte. Kalte Finger legten sich auf ihre Haut, strichen über ihre Schultern und ihren Rücken. Die Hand war behutsam, vorsichtig – eine Art von Berührung, die sie nicht mehr kannte. Jemand rief ihren Namen und strich ihr über die rasierten Haarstoppeln an ihrem Hinterkopf.
„Lilian!”
Sie konnte nicht antworten.
„Lilian!”
Sie kannte die Stimme. Und es war eine gute Stimme. Eine Stimme, die Leben versprach. Inmitten dieses Infernos. Lilian fühlte die Ohnmacht. Und jetzt kämpfte sie nicht mehr. Sie ließ sich fallen. Das letzte, was sie wahrnahm, bevor sie in einen langen Schlaf fiel, war das Gesicht. Sasha.
02 | AUF SEE
Das Meer war aufgewühlt. Und dasselbe konnte man auch über Isaaks Gedanken sagen. Es waren Wochen vergangen, seitdem das Schiff vom Außenposten des Black Phoenix in den Vorbergen unweit Fleet Citys gestartet war und Kurs auf die Atlantis-Station genommen hatte. Die ersten Tage versprachen noch ein schnelles Erreichen der Station, die sich nach den Koordinaten, für die sie in der Oper Fleet Citys schwer gegen die Visaren hatten kämpfen müssen, mitten im südlichen Atlantik befand.
Das Wetter war bereits bei ihrem Aufbruch stürmisch gewesen, doch das war nichts Ungewöhnliches für die Wintermonate. Dann aber waren die Quetzals am Himmel erschienen. Die gefiederten Drachen, gegen die sie bereits einmal auf ihrem Weg in die Karibik gekämpft hatten, waren keine Gegner, mit denen sie sich anlegen wollten. Schon gar nicht in der Anzahl, die jetzt regelmäßig am Himmel zu sehen war.
Zu ihrem Glück schien die lindwurmartigen Ungetüme aber nicht zu interessieren, was weiter unten geschah. Und so steuerte Isaak das Schiff in den Tiefflug und hielt es dort. Sie hatten die Geschwindigkeit deutlich verringern müssen, doch die Quetzals ließen sie in Ruhe. Und als sie schließlich das offene Meer erreicht hatten, glitt das Schiff unterhalb der 50-Höhenmeter-Marke über die Wellen.
Isaak hatte den Pilotensitz an Sequana übergeben und sich auf den Weg in seine Koje gemacht. Doch er wusste bereits, bevor er seine Kabine betreten hatte, dass er nicht würde schlafen können. Also wechselte er den engen Jumpsuit gegen eine bequeme Hose und einen löchrigen Strickpullover und ging aufs Observationsdeck. Der Raum unter der Kuppel aus Panzerglas war sein Lieblingsort an Bord. Einige gepolsterte Liegen standen dort, von denen er den Himmel und den Horizont beobachten und gleichzeitg ein Heads-up-Display aufrufen konnte, das ihm neben den Parametern des Navigationscomputers auch seine persönlichen Daten und Notizen zeigte.
Isaak schob die Reiseinformationen mit einer Geste zur Seite und rief seinen Datenpool auf. Die Themen, die sich das Display direkt von seinem Comdevice zog, erschienen willkürlich vor seinen Augen, ordneten sich dann aber in eine Struktur, die seinem Arbeitsverhalten entsprach. Eine Notiz war dabei nahezu mit jeder anderen verbunden: das Wort „Starla”.
Starla war … etwas. Oder jemand. Und es war in ihm. Und über das Klonprojekt trug es auch noch ein Klon in sich. Charles Bruchot, der das Projekt in Paris lange geleitet hatte, und durch oft auch zweifelhafte Geschäftsverbindungen viele Details kannte, hatte Ninive im Verdacht. Doch auch wenn jeder, mit dem Isaak darüber gesprochen hatte, Bruchots Meinung als wahrscheinlich ansah, es blieb eine Vermutung.
Isaak hatte gemische Gefühle, was diese Theorie betraf. Einerseits sprach einiges dafür. Er hatte Nina, seine Freundin in der Zeit vor seinem Kälteschlaf vor über einhundert Jahren, anfangs in Ninive wiedererkannt. Die besonderen Fähigkeiten, die Ninive allen anderen Klonen – selbst Sequana – voraus hatte, deuteten ebenfalls auf die Existenz eines …
Ja, was denn eigentlich? Die „Essenz Starlas”. So hatten es die Gesandten von Jor genannt. Isaak vermutete, dass es sich dabei um etwas Ähnliches wie das Sangre handelte. Eine besondere Energie vielleicht. Vielleicht auch eine besondere Eigenschaft des Sangres? Doch bei dem Wenigen, was sie über die Sangre-Energie wussten, war es sinnlos, sich Gedanken darüber zu machen, was die Essenz Starlas eigentlich sein sollte. Für den Moment reichte es völlig zu wissen, dass diese existierte. Und dass sie nicht die einzigen waren, die ein Interesse an dieser Essenz hatten.
Isaak sah auf, als sich die Luke zum Observationsdeck öffnete. Sayuris Kopf erschien, und kurz darauf schlüpfte sie ganz in den Raum. Die dunkelhaarige Frau mit den asiatischen Gesichtzügen steckte in einem locker sitzenden Schlafjumpsuit aus hellbraunem Stoff. Zuammen mit ihrem runden Gesicht und den dunklen Augen sah sie aus wie ein hübscher Teddybär.
„Du schläfst schon wieder nicht?”, fragte sie zur Begrüßung.
„Deine Nacht war auch nicht besonders lang”, entgegnete Isaak und zog mit dem Fuß eine zweite Liege neben seine.
„Bist du schon wieder auf Spurensuche?” Sayuri setzte sich auf den Rand der Liege, zog den Reißverschluss des Jumpsuits bis zur Hüfte auf und streckte seufzend ihren Oberkörper, der in enger, schwarzer Funktionswäsche steckte.
„Rasmus hat ein Update geschickt”, entgegnete Isaak und hob die Hand, als Sayuri augenblicklich hellwach von ihrer Liege rutschte und sich auf seine setzte, um einen Blick auf seine Daten zu werfen.
„Zeig her!”, sagte sie und boxte ihn in die Seite.
„Nichts bahnbrechendes, leider”, entgegnete Isaak und rutschte ein Stück zur Seite.
„Dann grübelst du immer noch wegen Starla?”, fragte Sayuri interessiert.
„Es lässt mich einfach nicht schlafen”, sagte Isaak und warf Sayuri einen schnellen Seitenblick zu.
Eigentlich war das nur die halbe Wahrheit. Es gab noch etwas anderes, das ihn deutlich mehr beschäftigte. Als sein Comdevice registrierte, dass Sayuri sich seiner Position näherte, war auf dem Display eine Notiz verschwunden, die in Isaaks Device mit der höchsten Beschäftigungszeit in den letzten Wochen versehen war. „Wer besuchte Ninive?”, hatte dort gestanden. Und genau das war auch die Frage, die sich Isaak immer wieder stellte.
Als sie aus Fleet City aufgebrochen waren und mit dem ganzen Team den Außenposten angesteuert hatten, von dem ein Teil von ihnen kurz darauf Richtung Atlantis aufbrechen sollte, hatte Ninive die meiste Zeit des Weges in einer verdunkelten Kabine verbracht. Nach der Schlacht an der Oper gegen die Visaren waren ihre Augen und Sehnerven so sehr überreizt, dass sie tagelang brauchte, bis sie die Augen bei Licht wieder schmerzfrei öffnen konnte. Und dort in dieser verdunkelten Kabine war jemand zu ihr gekommen, hatte das Licht hochgedreht, sodass sie ihren Besucher nicht sehen konnte, und mit einem Stimmverzerrer zu ihr gesprochen.
Ninive hatte das nur Isaak anvertraut, und das aus gutem Grund. Es waren nur Mitglieder ihrer Gruppe an Bord. Nur diese kamen infrage, wenn es darum ging, den geheimnisvollen Besucher ausfindig zu machen. Zudem wollte Isaak nicht, dass der Gedanke, unter ihnen könnte ein Verräter sein, die Runde machte. Zumal er zugeben musste, dass der geheimnisvolle Besucher keine schlechten Absichten zu haben schien. Die Person hatte Ninive eine Art metallischen Talisman in die Hand gedrückt, als „Entschuldigung”, wie sie sagte. Sie solle diesen immer sichtbar bei sich tragen, sobald sie Atlantis erreichen würde, hatte die mysteriöse Person Ninive noch mitgegeben.
Natürlich hatte sich Isaak sofort Gedanken gemacht, wer einen Grund gehabt hätte, sich bei Ninive zu entschuldigen. Ninive selbst war ihm dabei keine große Hilfe. Ihrer Meinung nach gab es nichts, für das sich irgendjemand bei ihr hätte entschuldigen müssen. Isaak war natürlich sofort Ilyena eingefallen. Er hatte mit ihr geschlafen, während Ninive in der Wildnis um ihr Überleben kämpfte. Er selbst hatte Ninive dafür um Verzeihung gebeten, doch er konnte sich kaum vorstellen, dass Ilyena ihr gegenüber Schuldgefühle hatte. Schon eher wahrscheinlich fand er es, dass sich Lynx dafür entschuldigt hätte, dass Ninive diese Schmerzen und den vorübergehenden Verlust ihrer Sehkraft erleiden musste, weil diese sie vor den Visaren gerettet hatte. Doch aus welchem Grund dann diese Heimlichtuerei?
Es gab für Isaak niemanden in ihrer Gruppe, der dafür wirklich infrage kam. Und das machte ihn unsicher, denn es bedeutete, dass jemand – vielleicht war diese Person sogar jetzt bei ihnen an Bord – ein Geheimnis hatte, das offenbar mit Atlantis zu tun hatte. Einem Ort, von dem vorgeblich keiner von ihnen wusste, was dort auf sie warten würde. Wie konnten sie sicher sein, dass der offen getragene Talisman nicht eine Art Falle war?
„Weißt du, wer C. ist?”, fragte Sayuri und highlightete mit ihren Fingern eine Notiz auf dem Display.
„Ich habe einen Verdacht”, entgegnete Isaak und lächelte. Noch so eine offene Frage, doch in diesem Fall hielt er es für wahrscheinlich, dass er die Lösung herausgefunden hatte. Der geheimnisvolle „C.” war derjenige, der ihnen Zervetts Notruf und die geheim übermittelten Koordinaten weitergegeben hatte, durch die sie überhaupt nur an Zervett drangeblieben waren.
„Na los! Wer ist es?”, fragte Sayuri ungeduldig.
„Du hast ihn nie kennengelernt, oder?” Isaak fing ihre Faust ab, die ihn erneut spielerisch boxen wollte. „Lumière.”
„Nein, den habe ich nicht kennengelernt”, entgegnete Sayuri, „aber wäre er nicht viel eher L. als C.?”
„Lumière ist nur sein Deckname aus seiner Zeit als Söldner in Paris”, sagte Isaak, „sein wirklicher Name ist Cygne.”
„Oh, ein schöner Name!”, befand Sayuri. „Aber das würde doch bedeuten, dass er gar kein Verräter ist, sondern sich nur bei Zervett eingeschlichen hat, um uns zu helfen, oder?”
„Ich kenne Lumière selbst nicht besonders gut, aber er ist wohl ein Mensch, dessen Entscheidungen und Loyalität nicht in denselben Maßstäben nachzuvollziehen sind, wie unsere. Ich wäre daher vorsichtig, ihn allzu schnell zu rehabilitieren.”
„Dennoch wissen wir, dass er uns geholfen hat.”
„Sofern ich richtig liege.”
„Sofern du richtig liegst”, stimmte Sayuri zu. „Hast du Coolridge eigentlich erreicht?”
„Nathan? Nein”, Isaak schüttelte den Kopf. Der Mann, der Isaak aus dem Kälteschlaf geholt hatte, der ihn auf Zervett angesetzt und ihm viele Geheimnisse über das Klonprojekt und das Sangre verraten hatte, gehörte auch – wie Zervett – zu den Gesandten von Jor. Es war diese Gruppe, deren Hintergründe für sie momentan das größte Geheimnis war.
Zu einigen Mitgliedern dieser Gruppe hatten sie nähere Informationen – oder sogar Kontakt. Doch Nathan Coolridge, den Isaak zuletzt in Hamburg gesehen hatte, war der einzige von ihnen, bei dem er auf Informationen hoffen durfte. Aber diesen erreichte er seit ihrem Abflug nicht mehr.
Die Luke zum Observationsdeck öffnete sich erneut und Ninive erschien in einem anthrazitfarbenen Jumpsuit. Die offenen, noch feuchten Haare verrieten, dass sie gerade aufgestanden war und geduscht hatte.
„Komm zu uns!”, rief ihr Sayuri gutgelaunt entgegen, „auf Isaak wäre noch etwas Platz.”
„Den überlasse ich dir”, antwortete Ninive und blieb mitten im Raum stehen, machte einen Ausfallschritt und streckte die Arme vor sich aus.
„Tai Chi?”, fragte Sayuri interessiert und ahmte Ninives Bewegungen mit ihren Händen nach, wodurch sie Isaaks Kinn erwischte, der sie daraufhin kurzerhand von der Liege auf den Boden schubste.
„Ich vergesse immer, wie das heißt”, entgegnete Ninive und verlagerte langsam ihr Gewicht. „Rasmus hat mir das geschickt. Er sagte, es helfe meiner Genesung.”
„Und, hat er Recht?”, fragte Sayuri und warf Isaak auf dem Boden sitzend eine Kusshand zu.
„Ich glaube nicht”, antwortete Ninive verzögert, „aber es hilft mir, mich in meinem Körper besser zu fühlen.”
„Hab ja nie verstanden, warum jemand wie du mit einem Körper wie deinem Probleme hat”, Sayuri erhob sich vom Boden. „Aber um meinen eigenen Komplexen vorzubeugen gehe ich jetzt duschen und ziehe mir etwas eleganteres an.”
„Warum?”, fragte Isaak, der seinen Blick schon wieder ganz den Daten vor seinen Augen zugewandt hatte, „du bist doch so schön flauschig.”
„Du hast mich doch von der Liege geschubst, Alter!”, gab Sayuri zurück, „das haste jetzt davon!”
Isaak lachte und winkte ihr hinterher, als sie durch die Luke verschwand. Er war froh, dass Sayuri mit an Bord war. Sie war erst in Fleet City neu ins Team gekommen und kannte viele Dinge, die die anderen erlebt hatten, nur aus Erzählungen. Doch vielleicht auch deshalb brachte sie eine Belebung ins Team, die ihnen gut tat. Sayuri hatte Isaak erzählt, dass sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, dazuzugehören. In Fleet City war sie immer Außenseiterin gewesen. Und sie hatte alles – inklusive ihrem Leben – aufs Spiel gesetzt, als sie in ihr Team wechselte. Jetzt war sie so etwas wie der positive Pol in ihrer Crew. Eine Funktion, die Lilian früher – bevor die Last von Fleet City auf ihren Schultenr lag – erfüllt hatte, als sie noch in Europa waren.
„Hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen”, hörte er Ninives Stimme neben ihm. „Du brauchst Ruhe, Isaak!”
„Das ist aber nichts, was ich einfach so ausstellen kann”, entgegnete er und rutschte ein Stück zur Seite. „Und tu nicht so, als würdest du das können!”
„Da hast du wohl recht”, Ninive ließ sich auf der Kante der Liege nieder. Der schwache Duft von Seife begleitete sie. „Aber ich mache mir Sorgen um dich.”
„Um mich?”, Isaak wandte sich verwundert vom Display ab und sah sie an. Die Rötung ihrer Augenlider und die Spuren geplatzter Äderchen im Weiß von Ninives Augen waren nur noch schwach zu erkennen. Die Spuren, die die Visaren an ihr hinterlassen hatten, verblassten allmählich ganz. „Mir geht es gut. Es ist nur …”
„Ich weiß”, Ninive legte eine Hand auf seine Stirn und betrachtete ihn nun ebenfalls. „Frustration …”
„Ja. Nein … vielmehr die Untätigkeit hier an Bord.”
„Sequana sagt, wir müssten Atlantis bald erreichen”, entgegnete Ninive.
„Was bedeutet ‚bald‘? Einige Tage? Noch einige Wochen?” Isaak kannte die Antwort natürlich. Wenn die Reisegeschwindigkeit beibehalten werden konnte, dann wären es nur noch drei oder vier Tage.
„Einige Tage”, Ninive wedelte mit der Hand in der Luft über ihm herum. „Und die können wir besser nutzen, als immer nur auf dieselben Fragen zu starren, die wir nicht beantworten werden.” Sie spielte mit dem Reißverschluss ihres Jumpsuits und legte ihre andere Hand auf seine Brust.
„Was, hier?”, fragte Isaak und sah an ihr vorbei zur Luke. „Auf dem Observationsdeck?”
„Wer soll uns hier observieren?”, gab Ninive zurück. „Sequana und Inaktu sind im Cockpit, Sayuri ist duschen gegangen. Und Eva und Solvejg schlafen. Außerdem können wir die Luke verriegeln.”
„Gut, überredet”, Isaak griff nach Ninives Taille und zog sie weiter auf die Liege, „auch wenn du vergisst, dass Sayuri überall ihre komischen Kameras anbringt.”
„Sie ist selbst Schuld, wenn sie sich das ansieht”, entgegnete Ninive und zog mit einer schnellen Bewegung den Reißverschluss ihres Jumpsuits auf.
03 | SCHULD
„Ihr Name?”, fragte die weißgekleidete Dame am Empfang der Traumaklinik des Farley Memorial Hospitals ohne aufzusehen.
„Winston Kalahari”, sagte Seamus und zog die gefälschte ID, die ihm Ilyena mitgegeben hatte und von der er lieber nicht wissen wollte, woher sie diese hatte, durch den Scanner.
„Ach, Sie wollen zu Miss Lazarus?”, bemerkte die Empfangsdame interessiert. „Das arme Ding!”
„Deshalb habe ich die hier”, entgegnete Seamus mit einem Lächeln und hob einen großen Strauß Blumen über den Rand des Tresens, damit ihn die Dame sehen konnte. Lilian hasste Schnittblumen, und so hatte Seamus den nicht ganz billigen Strauß nur zu Tarnung gekauft. Sie mussten vorsichtig sein. Seamus gefiel es nicht, dass Lilians Name – auch wenn es nur ihr falscher war – bereits an der Rezeption der Trauma-Abteilung geläufig war. Zudem der symbolträchtige Nachname, den ihr Rasmus verpasst hatte. Maia Lazarus.
Er wolle dem Schicksal damit eine Retourkutsche verpassen, hatte Rasmus gesagt, wenn er es schon nicht den Guardians zeigen konnte. Seamus hatte das für riskant gehalten, doch angesichts des aufgewühlten Zustands, in dem sich Rasmus befand, nachdem Seamus und Sasha Lilian im letzten Moment aus dem Folterkeller der Guardians geholt hatten, brachte er es nicht über sich, dagegen Einspruch zu erheben.
Die Fahrstuhltüren glitten zu. Alleine im Aufzug gab Seamus das 31. Stockwerk an und lehnte sich an der Kabinenwand zurück. Er dachte an den Moment zurück, in dem sie Lilian gefunden hatten. Wie lange war das jetzt her? Ein paar Wochen bereits? Während er eine ganze Weile geschockt auf Lilian gestarrt hatte und sich einreden musste, dass das, was er dort sah, noch Lilian war, reagierte Sasha wie eine Maschine. Kalt und emotionslos, aber dennoch effektiv und richtig. Die wenigen Berührungen, mit denen sie Lilian das Signal der Rettung gab, wirkten auf Seamus eben so einstudiert wie gekonnt.
Sasha hatte bereits die Fesseln gesprengt, als er wieder reagierte – und das vor allem, weil Lilians zerstörter Körper ansonsten zu Boden gefallen wäre. Und so hielt er sie, die auch in der vollen Blüte ihres Lebens immer zerbrechlich wirkte, mit zittrigen Händen, spürte die Wärme ihrer Haut, die ihm endlich das Signal gab, dass es tatsächlich Lilian war, die er dort hielt, und nicht nur noch eine tote Hülle.
Sasha hatte beeindruckende Sangrefähigkeiten, daran gab es keine Zweifel, doch ihre Stärke war das Zerstören. Sie schaffte es, die Energie dafür aufzubringen, Lilian so zu stabilisieren, dass Seamus es wagen konnte, sie zur nächsten Notaufnahme zu bringen. Doch danach war Sasha erschöpft. Seamus hatte zu diesem Zeitpunkt gücklicherweise zu sich selbst zurückgefunden. Er hatte Lilian in eine Decke gehüllt und war mit ihr losgelaufen.
Er verließ den Aufzug und bog in einen langen Flur ein, an dessen Ende Lilians Zimmer lag. Es war für ihn mittlerweile zur Routine geworden, unauffällig die Gänge entlang zu spähen, um Auffälligkeiten zu erkennen. Einen neuen Stationsarzt, sich eigenartig verhaltende Besucher oder – und das war am wahrscheinlichsten – Mitglieder der District Police. Doch auch dieses Mal konnte er am Ende des Flurs aufatmen, als er die Tür zu Lilians Zimmer öffnete. Niemand – außer der ihm mittlerweile bekannten Ärzte und Pfleger – war zu sehen.
„Hey”, begrüßte ihn Lilian vom Krankenbett aus, als er die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte.
„Wie geht es dir?”, fragte Seamus routiniert. Er überhörte ihre Antwort darauf. Eigentlich war es egal, was sie sagte, er wusste, dass es Lilian erst wieder gut gehen würde, wenn sie auf eigenen Beinen stehen und ihre Gruppe anführen würde.
„Sie kennen deinen Namen mittlerweile bereits unten am Empfang”, brummte Seamus. „Das ist nicht gut.”
„Glaubst du immer noch, Jo würde mich hier besuchen?”, fragte Lilian. Ihre Stimme klang fester und nicht mehr so brüchig wie beim letzten Mal, als Seamus an ihrem Krankenbett gewesen war.
„Ich schließe es nicht aus”, entgegnete Seamus.
„Er hätte mich doch längst gefunden, Seamus”, Lilian lächelte, „ihm ging es nur darum, mich unschädlich zu machen.”
„Und du glaubst, von diesem Ziel ist er abgerückt?”
„Nein, Seamus”, Lilian seufzte, „das Ziel hat er bereits erreicht.”
„Nein, Lil, du wirst wieder auf die Beine kommen. Du wirst deine Kraft zurückgewinnen. Du wirst …”
„… aber nicht mehr das Team führen”, entgegnete Lilian sanft. „Er hat mich als Anführerin gefürchtet. Und die werde ich nicht mehr sein. Ich werde zu lange brauchen, um wieder bei Kräften zu sein.”
„Dafür, dass die Guardians dir jeden zweiten Knochen gebrochen haben, ist deine Genesung erstaunlich schnell!”, widersprach Seamus.
„Es geht nicht um meinen Körper. Es geht um … du weißt, was ich meine. Ich ertrage selbst deinen Blick kaum. Ich weiß, was du gesehen hast, wie du mich gesehen hast.”
„Ich war so geschockt, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann, Lilian.”
„Das spielt aber doch keine Rolle, Seamus”, Lilian wandte den Blick zum Fenster. „Ich weiß es. Ich fühle es. Egal wer mich ansieht, ob ihr, meine engsten Freunde, oder die Ärzte und Pfleger. Ich fühle mich, als würde jeder Blick tief in mein Innerstes vordringen. Und die verletzte, gedemütigte, hilflose Seele sehen, die mir noch geblieben ist.”
„Allein dass du noch lebst, Lilian, ist der Beweis für deine Stärke”, entgegnete Seamus. Er wusste, dass er nicht mit ihr diskutieren sollte. Egal wie irrational ihre Gefühle und Gedanken sein mochten, er hatte kein Recht, diese zu korrigieren. Doch es fiel ihm schwer zu akzeptieren, dass ein Teil der Lilian, die er kannte und – nicht nur als Anführerin – schätzte, nicht mehr da war.
„Seamus?”, Lilian wandte sich ihm wieder zu. „Du weißt, dass es jetzt an dir ist, die Führung zu übernehmen, oder?”
„Wer? Ich?!” Seamus schüttelte den Kopf.
„Natürlich du”, Lilian lächelte. „Wer denn sonst? Sasha? Ilyena? Rasmus?”
„Was ist mit Cyprien?”
„Er ist gut als Stütze für das Team”, entgegnete Lilian, „aber als Anführer? Nein, ich denke, daran würde er scheitern. Du bist es, Seamus. Und das weißt du auch, denke ich. Je eher du das einsiehst, umso besser.”
„Ich weiß nicht, ob ich mir das zutraue”, entgegnete Seamus, und doch verspürte er Stolz und Tatendrang, als er genauer darüber nachdachte.
„Das spielt keine Rolle”, sagte Lilian, „ich tue es.”
Seamus nickte und Stille kehrte ein. Er hatte dieses Gespräch vorhergesehen, wenn er ehrlich zu sich war. Niemand außer ihm war geeignet. Und er fühlte sich bereit. Während die Stadt um ihn herum der Maßlosigkeit, Gewalt und den Trieben zum Opfer fiel, war es für ihn, als wachte er langsam aus einem langanhaltenden Rausch auf. Fast drei Jahre lang hatte er in Fleet City damit zugebracht, sich dem lockeren Leben hinzugeben – was bei ihm vor allem hieß, dass er sich jeden zweiten Abend mit einer anderen Frau zum Sex traf. Das Sangre hatte ihn eher und stärker im Griff als alle anderen. Doch seit einiger Zeit war das Verlangen verschwunden. Der Rausch war nicht mehr da. Zuerst hatte sich Seamus ernüchtert gefühlt. Als wäre der Sinn seines Lebens von ihm genommen.
Aber schließlich spürte er, wie groß die Befreiung war, die er erlebte. Seine Gedanken waren klar, seine Sinne ungetrübt – nichts konnte ihn mehr aus der Ruhe bringen. Nichts, außer der Anblick Lilians in den Klauen der Guardians.
„Du siehst gut aus”, hörte er Lilian sagen. „So hatte ich dich gar nicht mehr in Erinnerung.”
„Na, besten Dank auch!”, entgegnete Seamus gespielt empört.
Lilian kicherte.
„Ich habe mein Leben auf Vordermann gebracht”, fuhr er fort und spürte, dass ihm angesichts Lilians Reaktion leichter ums Herz wurde. „Keine Frauen mehr. Kein Alkohol. Kein billiges Essen. Kein Fleisch.”
„Wie bist du darauf gekommen?”, fragte Lilian verwundert.
„Ich … ich kann dir das nicht so genau sagen. Der Wunsch, auf diese Dinge zu verzichten, war einfach irgendwann da.”
„Und wann genau?”, bohrte Lilian weiter.
„Na, ungefähr … zu der Zeit, als wir in die Neokaribik geflogen sind. Auch wenn ich da noch nicht wusste, wie sehr es mich verändern würde.”
„Es tut mir so leid, Seamus”, sagte Lilian zu seiner Überraschung mit zittriger Stimme.
„Was denn?”, Seamus sah sie an.
„Dass ich Fenja nicht retten konnte.”
„Fenja?” Seamus brauchte einen Moment, bis er verstand, was sie meinte. „Du denkst, es war Fenja, die mich zu einem besseren Leben bekehrt hat?” Seamus musste lachen.
„Hast du den Gedanken nie in Erwägung gezogen?”
„Natürlich habe ich das, aber … du hast sie doch kennengelernt, Lilian, was glaubst du, zu welchem Leben sie mich wohl eher getrieben hätte?” Seamus grinste, als Lilian nichts darauf erwidern konnte. „Ich denke, dass ich in Fenja mehr als nur einen One-Night-Stand sah, lag vielleicht an dem Wandel in meinem Kopf, aber niemals anderherum.”
„Dann tut es mir dennoch leid”, beharrte Lilian, doch sie klang nicht mehr so bedrückt wie noch kurz zuvor.
„Du kannst nichts dafür, Lilian.”
„Natürlich”, Lilian schüttelte energisch den Kopf, wodurch ihre dunklen Haare, die bereits wieder mehrere Zentimeter lang waren, hin und her flogen. „Mein Kommando, mein Team, meine Mission. Ich trage die Verantwortung. Das solltest du dir als zukünftiger Anführer gut merken!”
„Ja, die Verantwortung”, stimmte Seamus zu, „aber nicht die Schuld.”
„Wo soll der Unterschied sein?”
„Der Unterschied ist himmelweit!”, sagte Seamus. „Aber ich denke nicht, dass ich dir das wirklich erklären muss.”
„Ich bin mir nicht so sicher”, Lilian schlug die Bettdecke ein Stück zurück. „Mein Verstand weiß es, aber mein Herz fühlt sich schuldig.”
„Deine Hand ist nicht mehr geschient?”, versuchte Seamus, das Thema zu wechseln.
„Nur die Rechte. Die Linke wird noch ein paar Tage brauchen. Und die Ärztin hat gesagt, dass sie will, dass ich nächste Woche ein paar Schritte gehe.” Lilian drehte ihre rechte Hand und bewegte die Finger. „Siebzig Prozent Kunststoff, dreißig Prozent Knochen. Ich habe darüber nachgedacht, wie viel von meinem Körper künstlich sein muss, dass ich nicht mehr ich bin.”
„Und, bist du zu einem Ergebnis gekommen?”
„Nein. Aber meine Hand fühlt sich noch als Teil von mir an. Ich denke, damit kann ich leben.” Lilian steckte die Hand wieder unter die Bettdecke. „Denkst du manchmal an sie?”
„An Fenja?” Seamus nickte. „Ja, oft.”
„Trauerst du?”
„Eine schwierige Frage”, entgegnete Seamus. „Ich versuche, die positiven Dinge zu sehen.”
„Was für positive Dinge?”
„Du warst mit Fenja nicht einverstanden, du hast ihr – vielleicht zurecht – nicht vertraut, und dennoch hast du dein Leben aufs Spiel gesetzt, um sie zu retten.”
„Mein Team, meine Mission, meine Verantwortung … du kennst die Nummer mittlerweile”, entgegnete Lilian.
„Natürlich”, Seamus nickte und drehte die nächsten Sätze in seinem Kopf herum, bevor er sie aussprach, „aber du hast es auch gemacht, weil du sie für mich retten wolltest. Und das ist mir mehr Wert als alles andere.”
Lilian starrte ihn an und öffnete ihren Mund, doch sie fand offensichtlich nicht die richtigen Worte. Sie wandte sich von ihm ab und starrte sekundenlang zum Fenster, bevor sie schließlich doch noch etwas sagte. „Du bist mein bester Freund, Seamus, das weißt du doch, oder?”
„Und deshalb will ich nie wieder in eine Situation kommen, in der ich dich so finde, wie dort bei den Guardians”, sagte er, „für alles andere fühle ich mich bereit.”
„Die Zeiten sind zu unsicher, um dir zu versprechen, dass es nicht wieder vorkommen wird”, entgegnete Lilian, „aber …”, sie winkte ihn zu sich an die Bettseite, nahm seine Hand und führte sie unter die Bettdecke. Er spürte die warme Haut an ihrem Schlüsselbein und wollte beschämt die Hand zurückziehen, als sie seine Finger tiefer führte, doch dann spürte er eine kleine Narbe auf ihrem Brustbein.
„Das ist der Grund, warum ich lebe. Diese Narbe hat mir nicht die Folter zugefügt, sondern die Entladung von Sashas Sangre, als die Eisenstange zurückgeprallt ist.”
Lilian ließ seine Hand los. Seamus war sich nicht sicher, ob sie erwartete, dass er sie zurückzog. Er wartete einen Moment, dann löste er den Kontakt.
„Du meinst, ich soll Sasha nicht mehr von deiner Seite lassen?”
„Oh, Mann! Nein, bitte … ich bin ihr zu Dank verpflichtet, aber …”, Lilian brach den Satz lachend ab, bevor sie wieder ernster wurde. „Nein, ich meine damit, dass es einer unfassbaren Portion Glück zu verdanken ist, dass ich noch lebe. Sekunden später und ich wäre Brei gewesen. Dieses Glück, Seamus, das beschützt mich.”
„Aber dann kannst du mir doch versprechen, dass du nicht noch einmal solche Qualen erleben musst”, sagte Seamus. Er wollte es scherzhaft sagen, doch es klang verdammt ernst.
„Ja”, sagte Lilian leise. „Versprochen.”
04 | SCHIFFBRUCH
„Geht es allen gut? Die Bord-Com noch online?” Ninive hämmerte mit den Fingern auf die aufblinkenden Warnmeldungen des Displays.
„Wir leben noch”, war Sequanas angestrengte Stimme im Bordfunk zu hören, „aber die Flugbahn fühlt sich nicht richtig an!”
„Bereitet euch darauf vor, dass es ungemütlich wird”, knurrte Isaak vom Pilotensitz aus. „Wir werden sehen, ob das Ding wasserdicht ist.”
„Wir können den Kurs noch abfangen!”, rief Ninive gegen das ohrenbetäubende Donnergrollen an. „Der Nav-Computer ist wieder am Arbeiten.”
„Zu spät!”, widersprach Isaak, „wenn wir jetzt nicht die Wasserlandung einleiten, zerstören wir das Schiff beim Aufschlag auf die Wellen.”
Erneutes Donnergrollen. Eine Weile sagte niemand etwas.
„Ninive?”, fragte Sequana wieder über den Funk.
„Verdammt, Isaak hat Recht”, gab diese zurück. „Alles festhalten, wir gehen auf Tauchgang!”
Isaak nickte ihr zustimmend zu, dann riss er das Neigungsruder nach vorne. Die Nase des Schiffs senkte sich augenblicklich und sie gingen in einen Sturzflug über.
Ninive lehnte sich im Co-Piloten-Sessel zurück und zog die Gurte fester um ihren Oberkörper. Das Schiff war für solche Manöver ausgelegt, selbst bei rauer See, doch ein mulmiges Gefühl blieb dennoch.
Sie hatten die Koordinaten, die den Standort der Atlantis-Station angeben sollten, am frühen Morgen erreicht, doch unter ihnen war nur das offene Meer gewesen. Unschlüssig hatten sie das Schiff einige Zeit über dem Wasser kreisen lassen, während Sayuri sich die Bordgeräte näher ansah. Ein Fehler im Navigationscomputer hatte ihnen den falschen Standort angezeigt, das war das Ergebnis ihrer Untersuchung. Glück im Unglück war, dass Sayuri es schaffte, diesen Fehler zu beheben.
Doch während dieser Verzögerung hatte sich der Himmel verdunkelt und die stürmische See hatte sich in eine tobende Flut verwandelt. Isaak, der gegen Abend das Steuer wieder von Sequana übernommen hatte, blieb nichts anderes übrig, als das Schiff höher in die Luft zu bringen, denn der Sturm drohte, sie wie eine Feder im Wind einfach in die Wellenberge zu drücken.
Doch da waren die Quetzals, offensichtlich durch den Sturm nervös geworden, die wenig Verständnis für ihren neuen Kurs gezeigt hatten. Und so blieb ihnen nun nichts anderes übrig, als im letzten Schein der fernen Sonne in die Fluten des Atlantiks einzutauchen. Nicht weit entfernt von seiner tiefsten Stelle.
Das Durchbrechen der Wellen schüttelte sie durch. Der Schlag der Wassermassen gegen die Bordwände war ohrenbetäubend, und dennoch war die Stille, die kurz darauf folgte, als ihr Fall gebremst und weder Sturm noch Wellen mehr an ihnen zerrten, beängstigender.
„Wie lange können wir tauchen?”, fragte Isaak neben ihr ruhig.
„Laut Bordinformationssystem bis zu sechs Stunden”, gab Ninive zurück.
„Reicht das, um aus dem Sturm herauszukommen?”
„Träum weiter!”, meldete sich Sayuri über Funk, „allein das Sturmzentrum ist den Wetterdaten zufolge so groß wie ein ganzer Kontinent.”
„Dann müssen wir also in dieser rauen See tatsächlich an die Oberfläche?”, versicherte sich Isaak.
„Sieht so aus”, kommentierte Sequana.
„Aber erst in sechs Stunden”, warf Ninive ein, „vielleicht schwächt sich der Sturm bis dahin ab.”
„Nicht wahrscheinlich aber auch nicht völlig unmöglich”, sagte Sayuri, „aber wir können ohnehin nur abwarten.”
„Ich fahre alle nicht unbedingt benötigten Systeme runter”, sagte Ninive und widmete sich wieder dem Display vor ihr. „Das gilt auch für die COM-Anlage. Den Notfallkanal lasse ich geöffnet.”
Ruhe kehrte im Cockpit ein, als die Funkkanäle schließlich deaktiviert waren. Ninive fuhr die weiteren Systeme herunter, leitete die Energie auf die Sauerstoffaufbereitung um und schaltete dann die nicht benötigten Displays ab. Sie sah Isaaks Gesicht vom spärlichen Licht des Navigationscomputers beschienen. Er studierte ruhig den Kurs und korrigierte die Parameter in der Routeneingabe minimal mit dem Steuerknüppel.
„Was ist das?”, fragte Ninive plötzlich, als sie aus dem Augenwinkel einen langen Schatten in einiger Entfernung vorbeischwimmen sah, „tauchen die Quetzal auch?”
„Wo?”, fragte Isaak alarmiert und sah sich um. Ninive deutete in die Richtung, in der der große, lange Schatten nun erneut auftauchte. Er wirkte massiver und weniger schlank als die Körper der Quetzals, doch das konnte im schwachen, von unscharfen Schatten durchzogenen Restlicht, das von der Oberfläche zu ihnen hinab drang, täuschen.
„Das da?”, fragte Isaak schmunzelnd und lehnte sich zurück. „Der ist für uns ungefährlich.”
„Was ist das?”, fragte Ninive erneut und ärgerte sich, dass Isaak offenbar mehr wusste als sie.
„Ein Wal, Ninive”, entgegnete er, „der kommt nicht aus den Korridoren. In den Ozeanen dieser Welt gab es auch schon vorher beeindruckende Kreaturen. Dazu hat es das Sangre nicht gebraucht.”
„Ein Wal?”, Ninive wusste, dass Isaak aus seinem Leben vor über einem Jahrhundert, als die Welt noch umspannt war von Wohlstand und vor allem einem unerschöpflich scheinenden Informationsfluss, Wissen hatte, dass sie nicht haben konnte, doch jetzt fühlte sie sich dumm. Wie hatte es passieren können, dass die Menschheit das Wissen über solch gigantische Lebewesen, die in ihren Meeren lebten, einfach vergaß?
„Als ich klein war”, fuhr Isaak fort, „hatte ich ein Buch aus Plastik, das man kleinen Kindern mit in die Badewanne geben konnte. Darin waren verschiedene Fische und andere Meeresbewohner abgebildet.”
„Dann ist ein Wal also ein großer Fisch?”, fragte Ninive und versuchte sich Isaak als kleines Kind vorzustellen, was ihr jedoch misslang.
„Biologisch gesehen ist der Wal kein Fisch sondern ein Säugetier”, entgegnete Isaak, „aber die Form und der Lebensraum sind denen von Fischen ähnlich.”
„Was haben Kinder zu deiner Zeit noch in Plastikbüchern gelernt?”, fragte Ninive ernst und versuchte sich nicht durch Isaaks Lachen irritieren zu lassen. Sie hatte das Gefühl, sie müsse zumindest die grundlegenden Erfahrungen der Spezies Mensch zur Zeit des letzten Milenniums machen, um eine Chance zu haben, Isaak irgendwann ebenbürtig zu sein. Es war nicht so, als hätte er das jemals von ihr gefordert, doch Ninive war sich sicher, es würde die Chance auf eine normale Beziehung zu ihm – irgendwann, wenn dies alles vorbei sein würde – deutlich erhöhen.
Isaak erzählte ihr viel in den nächsten Stunden. Von der Welt, wie sie früher war, von Tieren, die er im Zoo gesehen hatte, denen Menschen auf den verschiedenen Kontinenten begegnet waren. Von Ländern und Völkern, Kulturen und bemerkenswerten Orten.
„Warum hat die Menschheit das alles aufgegeben?”, fragte Ninive schließlich. „Wie viele Jahrhunderte hat es gedauert, bis das alles aufgebaut war?”
„Jahrtausende”, entgegnete Isaak aus dem Dunkel neben ihr. Das Licht von der Oberfläche war seit einigen Stunden völlig verschwunden und nur die Notbeleuchtung der wenigen aktiven Displays sorgte für etwas Licht. „Aber ganz so war es nicht. Es gab Höhen und Tiefen. Große Reiche und große Kulturen wurden aufgebaut und verschwanden wieder. Dinge wurden schon immer zerstört und boten später oft den Nährboden für Neues.”
„Aber das Wissen wurde immer mehr, oder?”
„Auch das nicht … glaube ich. Soweit ich weiß, gab es Zeiten im Mittelalter, als das Wissen über vorangegangene Epochen – wie die Antike – verloren gegangen ist. Erst später wurde es durch unermüdliche Arbeit der Wissenschaft wiedergewonnen.”
„Also besteht Hoffnung für die Menschen?”, fragte Ninive ernst. „Gehen wir nur durch ein dunkles Kapitel?”
„So sehe ich das gar nicht, Ninive”, antwortete Isaak, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte. „Es gibt Fortschritt in dieser Zeit, den ich vor einhundert Jahren als nicht sehr wahrscheinlich gesehen habe.”
„Du meinst die Energie, oder?”
„Richtig. Zu meiner Zeit wurden die Rohstoffe der Erde ausgeschlachtet, obwohl wir längst das Wissen darum hatten, dass wir damit unser eigenes Grab schaufeln. Vielleicht ist das etwas, für das wir dem Sangre dankbar sein können.”
Ninive nickte und blendete die Außenscheinwerfer auf, als sie meinte, etwas Schattenhaftes im Dunkeln des Meeres gesehen zu haben.
„Ich verstehe, warum du deine alte Welt zurück willst”, sagte sie dann.
„Ich will meine alte Welt nicht zurück”, entgegnete Isaak.
„Nicht? Aber ich dachte, deshalb sind wir auf der Suche nach dem Sangre, damit du … dein Leben damals, Isaak, es wurde dir genommen.”
„Und dafür wurde mir ein neues geschenkt”, entgegnete Isaak, „und über das will ich mich nicht beklagen. Weißt du, Ninive, es stimmt schon, dass ich tief in meinem Inneren immer den Rest einer Hoffnung haben werde, dass alles noch einmal so wird, wie früher. Doch das ist in etwa so, wie ich mit Zwanzig wehmütig an meine Kindheit und mit Dreißig an die Unbeschwertheit der Zwanziger dachte. Doch das beruhte immer darauf, dass ich das Gefühl hatte, für mein Leben noch nicht den richtigen Sinn gefunden zu haben. Ich habe mich nie damit abfinden können, einfach den Tag zu leben. Und jetzt habe ich ein Ziel, etwas, auf das sich hinarbeiten lässt. Und es ist ein gutes Ziel.”
„Aber welches Ziel ist es, wenn es nicht die Rückkehr in dein altes Leben ist?”, fragte Ninive verwirrt. Sie spürte ein aufgeregtes Kribbeln in ihrem Inneren. Sie selbst hatte sich so oft die Frage gestellt, auf welches Ziel und welchen Sinn ihr Leben hinauslief. Als Klon war sie immer dazu erzogen worden, einer Mission oder einem Auftrag zu folgen, und erst in den letzten Jahren hatte sie mehr und mehr verstanden, dass sie sich nun das Ziel selbst suchen musste. Doch sie spürte, dass sie noch zu wenig vom Menschsein verstand, um diesen Schritt zu gehen.
„Mein altes Leben kommt nie mehr zurück, denn Zeit lässt sich nicht aufhalten und nicht umkehren. Mein Ziel ist es, aus diesem Leben, das mir bleibt, das Beste zu machen”, Isaak lächelte. Ninive sah es nicht, doch sie konnte es hören.
„Also willst du das Sangre aufhalten, um dir in dieser Welt ein neues Leben aufzubauen?” Das fand Ninive in Ordnung, das war ein Ziel, mit dem sie umgehen konnte. Doch was dann? Welches Ziel hatte dieses zukünftige Leben dann?
„Du setzt die Prioritäten falsch, Ninive”, entgegnete Isaak, „das Sangre aufzuhalten ist nur ein Schritt auf dem Weg zum eigentlichen Ziel.”
„Und was ist dieses eigentliche Ziel?”
„Du.”
Ninive starrte Isaak an. Oder zumindest starrte sie in die Dunkelheit, aus der Isaaks Stimme kam. Sie konzentrierte ihr Sangre auf die Augen und fokussierte den Blick, bis sie seine Umrisse sah. Er saß ruhig im Pilotensitz zurückgelehnt und hatte die Arme auf die Lehnen gestützt.
Sie wollte etwas antworten, doch die Dinge in ihrem Kopf waren durcheinandergebracht. Sie hatte gehofft, von Isaak ein Ziel oder einen Sinn zu erfahren, den sie als ihren eigenen übernehmen konnte. Doch sie konnte sich schwerlich selbst zum Ziel haben. Oder doch?
„Hallo?”, meldete sich in diesem Moment der Notfallkanal des Bordfunks.
„Sayuri, was gibt’s?”, antwortete Isaak.
„Habt ihr die Sensorensysteme ausgeschaltet?”
„Ähm … nein”, antwortete Ninive noch halb in ihren Gedanken und warf einen Blick auf das Display für die Energiesteuerung. „Die sekundären Kreisläufe und redundanten Sensorsysteme habe ich offline genommen, aber …”
„Okay, okay, dann stört entweder irgendetwas die Messdaten der Außenbordsensoren oder die Software zur Wetterdateninterpretation macht Scheiß!”
„Was willst du uns sagen, Sayuri?”, fragte Isaak.
„Ich will sagen, dass das Messbild behauptet, an der Oberfläche wäre ruhige See”, kam es über den Funk zurück, „kein Sturm, kein Wellengang, kein gar nichts.”
„Das ist doch gut für uns, oder?”, fragte Ninive.
„Wenn das stimmen würde, dann ja”, Sayuri klang wenig zuversichtlich, „aber selbst bei bestem Wetter auf See können solche Daten nicht passen.”
„Wie weit sind wir noch von den Atlantiskoordinaten entfernt?”, fragte Ninive in Isaaks Richtung.
„Wenige Stunden”, entgegnete Isaak, „wenn Sayuri dieses Mal die Ortung richtig programmiert hat.”
„Du siehst es nicht, aber ich strecke dir meine Zunge entgegen”, kommentierte Sayuri.
„Niedlich”, bemerkte Isaak.
„Hört mal einen Moment auf zu flirten”, mischte sich Ninive dazwischen, „ich habe eine Theorie.”
„Schieß los!”, sagte Sayuri, „ist bestimmt interessanter als das, was Isaak von sich gibt.”
„Klappe, Sweetheart”, kommentierte Isaak und benutzt dabei den Kosenamen für Sayuri, den er sich von Lynx abgeguckt hatte.
„Wir wissen nicht, was genau die Atlantisstation ist und wer sie bewohnt – wenn sie bemannt ist”, fuhr Ninive fort, „aber wir sind uns doch einig, dass ihre Baumeister mit hoher Wahrscheinlichkeit uns überlegen sind, wenn es um Technologie und vor allem um Sangre-Tech geht, oder?”
„Aha!”, sagte Sayuri, „ich glaube, mir gefällt, was du denkst!”
„Ich halte es zumindest für nicht ganz unmöglich, dass die Station von einem Sangreschild oder ähnlichem umgeben ist, der sie sichert. Und so eine verborgene Seestation wird doch zu allererst von den Gewalten des Ozeans bedroht.”
„Klingt das logischer als gestörte Sensoren, Sayuri?”, fragte Isaak in seiner typischen Art, jede Vermutung auf ihre Wahrscheinlichkeiten zu testen.
„Erstaunlicherweise tut es das”, sagte Sayuri, „denn die Sensoren haben Fehlerkorrekturen und prüfen sich gegenseitig. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass etwas von außen die Daten der Sensoren verfälscht und die Systeme stört, müsste diese Störung auch noch zufällig dafür sorgen, dass die unabhängig laufenden Fehlerkorrekturroutinen ein kohärentes Bild abgeben. Das tun sie nämlich, und deshalb ist dieses eigentlich fehlerlose System mit hoher wahrscheinlich korrekt am Arbeiten.”
„Warum hast du dann gefragt, ob wir die Systeme abgeschaltet haben?”, fragte Ninive verwundert.
„Nur um sicher zu gehen”, entgegnete Sayuri. „Naja, und weil ich meinen eigenen Augen nicht getraut habe.”
„Sangreschild oder nicht”, sagte Isaak und nickte Ninive zu, als diese die Außenlichter und ersten Sekundärsysteme hochfuhr, „dann ist über uns ruhige See. Und das bedeutet, wir können auftauchen.”
Die Lichter und Displays flammten wieder auf und tauchten das Cockpit in ein kaltes, blaues Licht. Während Ninive die Energieumverteilung und den Reboot der Systeme durchführte, leitete Isaak den Auftauchvorgang ein.
„Hast du Angst?”, fragte Ninive einige Minuten später, als das Schiff mit stetiger Geschwindigkeit zur Wasseroberfläche aufstieg und sie beide in die Rückenlehnen der Sitze presste.
„Angst? Wovor? Vor dem Auftauchen?”, fragte Isaak.
„Nein, nicht vor dem Auftauchen. Eher vor dem, was uns auf der Station erwartet”, sagte Ninive.
„Natürlich habe ich das”, entgegnete Isaak, „wir wissen nicht, wer oder was dort ist, ob wir freundlich empfangen werden oder nicht, ob wir jemals wieder von dort weg kommen … aber die größte Angst ist, dass wir dort keine Antworten finden.”
„Hmm….”, machte Ninive.
„Was ist?”, fragte Isaak, „keine zufriedenstellende Antwort?”
„Das sind alles sehr rationale Gründe”, entgegnete Ninive, „ich würde es daher eher Bedenken nennen, nicht unbedingt Angst.”
„Vielleicht”, gab Isaak zu, „aber sieh dich um. Es ist dunkel, eigenartig still, wir haben schwer erklärbare Messergebnisse und etwas scheint nicht normal zu sein dort oben. Das kannst du jetzt Unbehagen nennen, aber Unbehagen und Bedenken ergeben für mich Angst.”
„Interessant”, bemerkte Ninive und grübelte darüber nach. Es gab noch immer einige Konzepte der menschlichen Empfindungswelt, die sich ihr nicht zur Gänze erschlossen. Wenn Isaak Recht hatte – und Menschen tendierten dazu, sich zu irren, wenn es um ihre eigenen Gefühle ging – dann war Angst etwas grundlegend fundiertes, das einen Sinn hatte. Einen Sinn, der so trivial war, dass man sich darüber keine Gedanken machen musste. So trivial wie ein Wal in den Weltmeeren.
05 | ANDENKEN
Es gab Momente, in denen erkannte Seamus, dass es das Leben war, das einen Rausch auslösen konnte, dem er sich nicht verweigerte. Die Schönheit eines Augenblicks war so etwas. Kein körperlicher Rausch, eher einer des Geistes. Es war die schräg einfallende Wintersonne an diesem kalten Tag, die ihn bereits seit dem Morgen in einem Zustand des Hochgefühls getragen hatte. Er war im Door Park mit Tumbleweed laufen gegangen. Der zottelige, schwarze Hund, den Ninive aus der Wildnis mit in die Stadt gebracht und schweren Herzens zurückgelassen hatte, als sie zur Atlantisstation aufgebrochen war, hatte nicht lange gebraucht, um sich eine neue Bezugsperson zu suchen.
Und Seamus merkte, dass er aus der Anhänglichkeit des Tieres Vertrauen in sich selbst und den von ihm eingeschlagenen Weg zog. Ein Tier machte sich keine Gedanken um Höflichkeit, Mitleid oder Diplomatie. Dass Tumbleweed in ihm seine neue Leitfigur sah, wertete Seamus als ehrliche Bestätigung für das, was er war und tat. Und spätestens seit Lilian vor wenigen Tagen aus dem Farley Memorial entlassen worden war und er sich eingestehen musste, dass sie noch auf längere Zeit auf Hilfe angewiesen sein würde, war es für ihn wichtig, Stärke aus dieser Bestätigung zu ziehen.
„Der Park ist schön im Winter”, sagte er eigentlich zu sich selbst, doch die blonde Frau, die nackt auf dem Sofa hinter ihm lag, nahm es als Anlass, das Gespräch aufzunehmen.
„Eigentlich sollte ich es als Beleidigung empfinden, dass du dir lieber den Park ansiehst, als das hier”, sagte Lynx. Seamus drehte sich nicht zu ihr um, doch er kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie bei diesen Worten spielerisch ihren Körper präsentierte. „Doch ich muss zugeben, dass es sich auch befreiend anfühlt. Außerdem ist der Park wirklich schön im Winter.”
„Du weißt, dass du gut aussiehst, Lynx”, Seamus lachte und kraulte Tumbleweed, der sich leise neben ihn gesetzt hatte, hinter den Ohren.
„Ja, ja”, Lynx stand vom Sofa auf, wickelte sich in eine dünne Wolldecke und trat neben Seamus ans Fenster. „Das Schöne ist doch, dass ich darüber bei dir nicht mehr nachdenken muss. Und wenn man sich erstmal daran gewöhnt hat, dass du körperlich unbeteiligt bleibst, hat das doch seine Vorzüge.”
„Körperlich unbeteiligt?”, fragte Seamus erstaunt, „ich habe für dich mein Hemd ausgezogen, und außerdem …”
„… außerdem waren Hände und Mund in vollem Einsatz”, Lynx lachte dreckig, und fuhr mit ihren Fingern über seine nackten Schulterblätter, „ich weiß, ich weiß … und du weißt, was ich meine.”
„Natürlich”, entgegnete Seamus. „Ich bin gerne mit dir zusammen, wirklich. Aber ich habe meinen Weg gewählt, und Enthaltsamkeit hört nicht zwischen den Beinen auf.”
„Manche würden sogar sagen, sie fange dort erst an”, entgegnete Lynx lachend und sah zu Tumbleweed hinab, der seine Schnauze an ihrem Schienbein rieb. „Du bist dir aber im Klaren darüber, dass ich mich nicht ewig damit zufrieden geben werde, oder?”
„Natürlich”, Seamus drehte sich nun doch zu ihr und schenkte ihr ein Lächeln, „und ich würde dir dazu auch nicht raten. Ich weiß, wie die wahre Lynx ist. Ein Biest, herrisch, immer in der Kontrolle.”
„Wir verstehen uns”, Lynx nickte und wurde plötzlich ernster, „aber zurzeit habe ich nicht das Gefühl, Herrin über irgendetwas zu sein. Also komme ich zu dir, gebe mich deinen Händen hin und lecke meine Wunden. Das ist schön, Seamus. Ich sehe dich nicht als Liebhaber. Ich sehe dich als meinen Heiler.”
„Und als Freund, hoffe ich”, ergänzte Seamus. „Denn wir können jeden Funken Freundschaft gebrauchen in diesen Tagen.”
„Deshalb ist es gut, Lilian hier zu haben”, sagte Lynx, „ich habe nicht ruhig schlafen können, seitdem sie … so lange sie im Krankenhaus war.”
„Dennoch ist es schmerzhaft, sie so zu sehen”, Seamus seufzte. Lilian war seit ihrer Ankunft in Lynx‘ Villa am Rande des Door Parks ein Quell der Lebensfreude. Seamus fragte sich, wie ein Mensch, der durch die schlimmste aller Höllen gegangen ist, der noch immer nicht alleine gehen und die Arme nur eingeschränkt bewegen konnte, so dass sie sich bei alltäglichen Kleinigkeiten wie dem Duschen oder Anziehen helfen lassen musste, so viel Positives ausstrahlen konnte.
Doch Lilian tat es, und sie steckte die anderen an. Seitdem sie nach den Räumen des Black Phoenix und Lilians Appartement in der Pyramide auch ihr Hauptquartier in Chapel Shire aufgeben mussten, um nicht von den Guardians oder sonstigen Gegnern aufgespürt zu werden, hielten sie sich in Lynx’ Villa versteckt, die im verschlafenen, zurückgezogenen Villenviertel stand, das wie eine bebaute Halbinsel in den Door Park hineinragte. Doch erst seit Lilians Rückkehr hatten sie das Gefühl, dass sie hier ein neues Zuhause hatten.
Rasmus hatte seine Gerätschaften rechtzeitig aus dem alten Hauptquartier retten können und sich in einem Raum im zweiten Stock der Villa in einem großen Erker seine Werkstatt neu eingerichtet. Seit Lilians Rettung hatte er sich in Arbeit gestürzt und mit Cyprien, der noch immer viele Kontakte aus seiner Zeit bei der District Police hatte, ein Kommunikationsnetzwerk versprengter Widerstandsgruppen gegen die Guardians aufgebaut. Er war oft bei Lilian im Krankenhaus, doch er sprach nicht viel darüber. Seamus hatte ihn in Ruhe gelassen, da er sich nur ungefähr vorstellen konnte, wie er sich fühlen musste.
Erst am Abend vor Lilians Rückkehr hatten sie zusammen in der übergroßen Küche im Erdgeschoss gesessen und stumm lauwarmen Kaffee getrunken, als Rasmus schließlich sagte, dass er Lilian liebe. Seamus war das nicht neu – vermutlich wussten es alle in der Villa Anwesenden bereits – doch Rasmus hatte mit ihm nie so offen darüber gesprochen.
„Das Leben kann so schnell vorbei sein”, hatte Rasmus weiter ausgeführt, „keine Zeit mehr zu verlieren.”
„Heißt das, du willst ihr endlich sagen, was schon viel zu lange unausgesprochen ist?” Seamus hatte sich das Sticheln nicht verkneifen können.
„Ich habe bisher immer auf die Situation Rücksicht genommen und …”, begann Rasmus, doch Seamus hatte gelacht, zwei Bier geholt und Rasmus den Kaffee weggenommen.
„Auf dich. Auf euch, mein Freund!”
Und Rasmus hielt sich an seinen Plan. Nachdem Lilian am Tag darauf alle begrüßt hatte, zeigte Rasmus ihr das Zimmer, in dem sie untergebracht werden sollte, und sie waren danach für den Rest des Tages verschwunden.
„Wir brauchen eine konkrete Aufgabe”, holte ihn Lynx aus seinen Gedanken zurück. „Rasmus und Cyprien haben ihre bereits gefunden, aber was bleibt uns anderen?”
„Sasha findet immer eine Schlägerei, in die sie sich einmischen kann”, entgegnete Seamus scherzhaft, doch Lynx hatte Recht. Er war bereits seit einigen Tagen fieberhaft am überlegen, was ihr nächster Schritt sein würde. Der Schwarze Turm war dort draußen und focht ihre Kämpfe gegen die Loge und die Guardians. Sie selbst waren nur noch ein kleines Team in einer zurückgezogenen Villa, und auch wenn Cyprien und Rasmus gute Arbeit leisteten, da waren noch Sasha und Lynx, Ilyena und er selbst. Und sie brauchten eine Aufgabe!
„Ich frage mich noch immer, ob es nicht einen Weg gibt, etwas gegen die Visaren zu unternehmen”, begann Seamus vorsichtig. Er wusste, dass er sich damit in eine schwierige Diskussion mit der Frau stürzte, die einst die Wächterin des Fraktals der Visaren gewesen und deren Zwillingsschwester von den Visaren aufgeschlitzt und an die Kuppel der Oper genagelt worden war.
„Daran habe ich auch schon gedacht.” Lynx‘ Antwort kam für ihn überraschend. Sie sah seinen Gesichtsausdruck und lachte leise. „Ich will noch immer nicht in die Oper”, stellte sie klar, „aber ich sehe die Notwendigkeit, etwas zu unternehmen. Nur ist dir doch auch klar, dass wir in der Oper nicht lange genug überleben würden. Ganze Teams des Schwarzen Turms sind nicht mehr zurückgekehrt.”
„Gut, einverstanden, nicht die Oper. Aber an was hast du dann gedacht?”
„Ich habe über Fenja nachgedacht. Sie ist von den Visaren verschleppt worden, wenn ich eure Schilderungen korrekt in Erinnerung habe.”
„Ja”, bestätigte Seamus, „das war in der Neokaribik.”
„Spielt keine Rolle”, entgegnete Lynx und ging zum Sofa zurück, wo sie sich hinsetzte. „Sie ist verschleppt worden, nicht gleich getötet. Die Visaren scheinen ein Interesse an ihr zu haben. Also sollten wir vielleicht ihren Hintergrund näher in Augensch…”
„Oh Mann, ich Riesenarsch!” Seamus schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
„Das wollte ich damit jetzt eigentlich nicht sagen”, bemerkte Lynx.
„Und dennoch hast du Recht!”, Seamus schüttelte fassungslos seinen Kopf, bevor er weitersprach. „Ich war einmal in Fenjas Wohnung, bevor ich sie mit in unser Team brachte. Und dort habe ich – und ich frage mich, wie ich Idiot das vergessen konnte – in einem ihrer Zimmer ein Portal gefunden.”
„Ein Portal!?” Lynx ließ die Decke los, die ihr daraufhin über die rechte Schulter rutschte.
„Ja, ein Portal. Ich weiß nicht wohin, aber es war vermutlich ein stabiler Durchgang … in die Korridore, oder was weiß ich”, Seamus schüttelte sich, „wie konnte mir das entfallen?”
„Nun ja, die Zeiten waren … interessant”, sagte Lynx beschwichtigend, „aber gut, dass du dich wieder daran erinnerst. Da sollten wir mit unserer Spurensuche anfangen.”
„Du hast natürlich vollkommen Recht”, stimmte Seamus zu, „doch ich gebe zu Bedenken, dass wir nicht ohne weiteres zu ihrer Wohnung hin spazieren werden.”
„Warum nicht?”
„Sie liegt in der Pyramide, Ebene 5, direkt bei den Sperrbezirken.”
„Oh.”
„Genau”, bestätigte Seamus, „so ist es. Aber es ist deutlich weniger unmöglich als ein Vorstoß in die Oper.”
„Richtig, ein Fortschritt”, stimmte Lynx zu, „bleiben wir bei den Dingen, die uns Hoffnung machen.”
„Ich war beim Phoenix”, erinnerte Seamus sie, er war sich nicht sicher, ob Lynx‘ letzte Bemerkung sarkastisch gemeint war oder nicht. „Ich kenne die Pyramide einigermaßen. Ich war bereits dort. Wir könnten ein Shuttle nehmen und im Sperrbezirk in Ebene vier landen. Dort sind einige Widerstandsnester ehemaliger Phoenix-Agenten. Die können uns helfen. Fenjas Appartement hat einen Balkon an der Außenhaut, vielleicht können wir uns den Abstieg in Ebene fünf ganz sparen.”
„So oder so müssen wir durch das Gebiet der Bastet. Und wir wissen nicht, welche Bereich von der Loge oder den Guardians kontrolliert werden.”
„Wäre es einfach, wäre es keine Aufgabe für uns, oder?”, fragte Seamus schulterzuckend.
Er schickte Lynx – nachdem sie sich wieder angezogen hatte – los, um die anderen zu informieren, dass sie sich zu einem gemeinsamen Abendessen treffen würden, um den nächsten Einsatz zu besprechen. Die blonde Frau war von der Aussicht darauf, das Nichtstun zu beenden, so begeistert, dass sie barfuß loslief und ihre Schuhe neben dem Sofa in Seamus Zimmer vergaß – was Lynx sonst nie passiert wäre.
Seamus dachte zurück an die drei Jahre, die sie in Fleet City zugebracht hatten, bevor Eva, Isaak und Jeremy auf dem Floß aufgetaucht waren und die Dinge in Unordnung gebracht wurden. Rückblickend musste er sagen, hatten sie es sich damals zu bequem gemacht. Die relative Sicherheit der Stadt hatte sie eingelullt, bis es fast zu spät war. Er hatte sich geschworen, es dieses Mal nicht so weit kommen zu lassen. Und dennoch waren einige Wochen ins Land gegangen, seitdem sie Lilian befreit hatten, bis sie nun schließlich wieder konkrete Schritte unternahmen.
Er setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, legte die Hände auf seine Beine und streckte den Rücken. Es waren erst wenige Wochen vergangen, seitdem er in einer Videokonferenz mit Ninive an Bord des Schiffs Richtung Atlantis-Portal und Rasmus oben in seiner Werkstatt über Meditationstechniken gesprochen hatte. Es war das Ende eines der üblichen, meist ereignislosen Statusgespräche, das sie regelmäßig machten. Rasmus hatte erzählt, dass er einige alte Daten, die er auf den Rechnern des Schachhauses gefunden hatte, durchgegangen war, und das interessanteste daran die Aufzeichnungen über Meditation und ähnliche Themen gewesen waren. Doch sowohl Seamus als auch Ninive hatten ein deutliches Interesse daran, und schließlich hatte es Seamus geholfen, sich noch konzentrierter auf seinen neuen Lebensstil einzustellen.
Seamus fragte sich, während er den warmen Atem Tumbleweeds an seiner rechten Hand spürte, ob dieser neue Weg, den er ging, nur ein vorübergehender Abschnitt war, der als eine Art Verteidigungsmechanismus gegen diese Stadt und das Sangre wirkte. Oder würde er nun bis an sein Lebensende enthaltsam leben? Er dachte an die nackte Lynx in seinem Bett und an ihre erste Begegnung vor einigen Monaten zurück, als er keine schöne Frau, die für ihn in Reichweite schien, ausgelassen hatte. Doch selbst die Gedanken an ihre gemeinsame Nacht lösten in ihm kein Verlangen mehr aus. Er erkannte die Schönheit des Augenblicks, ihre Körper engumschlungen in der teuren Seidenbettwäsche in Lynx‘ Luxusloft im alten Hafendistrikt, aber er hatte kein Interesse mehr daran, mehr als nur Beobachter oder helfende Hand zu sein. Und Seamus konnte sich nicht vorstellen, warum sich das noch einmal ändern sollte.
06 | EDGE
Vielleicht lag es an der Dunkelheit, doch der erste Anblick war einigermaßen ernüchternd, fand Ninive. Das große, schwimmende Gebilde wirkte wie eine Stadt aus weißen und metallischen Kästen, die in keiner erkennbaren Ordnung um einen zentralen Komplex gruppiert waren, der wiederum einem großen, modernen Hochhaus ähnelte.
Sie waren aufgetaucht und hatten festgestellt, dass sowohl Sayuris Messdaten als auch ihre Vermutung, dass die Atlantisstation von einem Schutzschild umgeben war, richtig waren. Während sich die Meeresoberfläche zwischen ihnen und der nur noch wenige hundert Meter entfernten Station glatt und fast unbewegt erstreckte, war im Schein der Lichter der Station hinter ihnen eine Linie vor dem Horizont zu erkennen, an der das Meer tobte.
Sie hatten lange darüber nachgedacht, wie sie an der Station ankommen sollten, hatten sich jedoch dafür entschieden, ihre Lichter zu aktivieren und bereits früh auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatten keinerlei Informationen über die Station, die ganz offenbar nicht verwaist war, ein unbemerktes Eindringen war daher ein viel zu großes Risiko und setzte sie sofort in ein falsches Licht.
Wie zur Bestätigung ihres Vorgehens kam ihnen kurz darauf ein kleines Boot entgegen. Einige Menschen waren an Bord, die sowohl ihre Sprache sprachen als auch ansonsten nicht den Eindruck machten, aus den Korridoren oder von einem anderen Ort zu kommen.
„Wer schickt euch?”, fragte ein rotblonder Mann in einer jumpsuitähnlichen Uniform, der an der Reling des kleinen Boots erschienen war.
„Niemand”, entgegnete Isaak wahrheitsgemäß, nachdem er sich mit Ninive kurz beraten hatte.
„Wir sind auf eigene Faust hier”, bestätigte Ninive.
„Aus welchem Grund?”, fragte der Rotblonde einigermaßen verwirrt. Ninive konnte es ihm nicht verübeln. Es war für sie schwer vorstellbar, dass öfter Schiffe hier draußen auf dem Atlantik, weit entfernt von jeder Küste, den Weg zur Station fanden.
„Wir …”, Ninive zögerte und sah Isaak an, der jedoch nur ratlos guckte. „Wir suchen nach jemandem”, fuhr Ninive fort, ihrer ehrlichen Linie treu bleibend.
Der Mann auf dem Boot drehte sich zu einer dunkelhaarigen Frau um und wechselte mit ihr einige Worte.
„Ich glaube, die Situation ist für die genauso skurril wie für uns”, sagte Ninive.
„Aber er hat gefragt, wer uns geschickt hat”, gab Isaak zu Bedenken, „also kommt es wohl vor, dass Schiffe hier an der Station ankommen.”
„Hallo?”, unterbrach sie der Rotblonde. „Ich komme zu euch an Bord und bringe euch zum Dock. Danach bringen wir euch zur Chefin. Die soll sich um die Angelegenheit kümmern.”
Isaak trat zurück und machte den Weg für den Mann frei, der von der Bordwand des kleinen Boots aus durch die Seitenschleuse zu ihnen stieg. Ninive reichte ihm die Hand und half ihm hoch. Aus der Nähe betrachtet gab es doch einige Eigenarten, die Ninive an ihm feststellen konnte, und die sie bei der Frau an Bord des kleinen Bootes ebenso gesehen hatte. Die Köpfe waren etwas spitzer und die Augen auffallend groß, zudem wirkten die Beine im Verhältnis zum Oberkörper deutlich länger, vor allem die Unterschenkel, die zudem einen leichten Bogen nach hinten beschrieben. Es waren nur Kleinigkeiten, die bei einem Menschen vorkommen können, aber bei zwei Menschen, die ansonsten nicht gerade so wirkten, als sein sie Geschwister? Das war auffällig.
„Ninive Solheim”, stellte sich Ninive vor und erntete einen irritierten Blick des rotblonden Mannes, der sie dabei jedoch so lange ansah, dass sie die kleinen Lichter in seinen Augen sehen konnte. Es wirkte so, als habe er ein kleines Display in jedem seiner Augäpfel. Ninive fühlte sich sofort unangenehm an die Blitzaugen der Visaren erinnert und zog ihre Hand zurück.
„Wer ist der Pilot?”, fragte der Rotblonde und ging ins Innere des Schiffs.
„Ich bringe dich hin”, sagte Isaak kollegial und führte den Mann in Richtung Cockpit.
Ninive sah ihnen nach und entschied sich, nicht zu folgen. Sequana war am Steuer und Inaktu Co-Pilot, das Cockpit würde voll genug sein, wenn der Fremde und Isaak ankamen.
„Die lassen uns einfach so auf die Station?”, wunderte sich Sayuri, die Ninive auf dem Weg von der Schleuse zur Mannschaftsmesse entgegenkam. „Das ist aber sehr nachlässig von denen.”
„Offensichtlich sind sie sich ihrer Sache sehr sicher”, entgegnete Ninive, „vielleicht haben sie uns schon gründlich durchgescannt? Oder sie wissen ganz einfach, dass sieben einsame Reisende hier draußen auf dem Meer keine große Gefahr für sie darstellen.”
„Ich wäre trotzdem vorsichtiger”, beharrte Sayuri, als sie in die Messe traten, in der bereits Solvejg und Eva waren. „Wir könnten eine Bombe oder so mit an Bord haben. Oder deren Chefin ermorden wollen oder so.”
„Warte mal ab, ob die uns einfach so vom Schiff lassen”, Ninive ging zu einem der Schränke und holte eine Flasche Wasser hervor. „Vermutlich haben die einen Sicherheitscheck oder sowas.”
Ohne bewusst darüber nachzudenken tastete Ninive nach dem kleinen Talisman in der Brusttasche ihres Jumpsuits, den sie von dem unbekannten Besucher erhalten hatte. Sie solle diesen auf der Atlantisstation jederzeit sichtbar tragen, hatte die geheimnisvolle Person gesagt. Streng genommen war sie noch nicht auf der Station, doch sie musste sich bald entscheiden, ob sie dem Ratschlag vertrauen oder ihn für eine Falle halten sollte.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis das Schiff schließlich in das Dock der Station eingelaufen war. Sie hatten zuvor ein breites Tor passiert, hinter dem sich eine Art breiter Kanal anschloss, der in einem leichten Bogen auf das zentrale Gebäude der Station zu führte, kurz zuvor aber in einer Art kleinem Hafenbecken endete, das von einem umlaufenden Steg umgeben wurde.
Das Schiff legte seitlich an und wurde von einigen Menschen in olivgrünen Jumpsuits vertäut, bevor der Rothaarige bat, die Schleuse zu öffnen. Ninive ging zur Steuerungskonsole hinüber und gab den Öffnungsbefehl ein. Dabei ließ sie den Talisman aus ihrer Brusttasche gleiten und hängte ihn sich um den Hals.
Die Luke der Schleuse öffnete sich und der Rothaarige trat vor. „Die Kommandantin kommt jetzt an Bord”, verkündete er und beugte sich leicht nach vorne aus dem Schiff. Die Frau, der er die Hand reichte, um ihr an Bord zu helfen, war etwa Ende 30 und zeigte ähnliche Merkmale, wie der rotblonde Mann. Doch besonders auffällig waren ihre feuerroten Haare und ihre Sommersprossen.
„Willkommen an Bord, Kommandantin”, versuchte es Ninive erneut mit einer höflichen Geste und streckte die Hand aus, bevor sie sich daran erinnerte, wie der rotblonde Mann sie aufgenommen hatte. Doch die Kommandantin sah sie freundlich an und schütelte die Hand.
„Danke. Bist du der Captain hier an Bord?”, fragte sie Ninive.
„Nein, ich … wir haben eigentlich keinen”, entgegnete Ninive perplex.
„Wer ist denn euer Anführer?”, fragte die Kommandantin, „mit wem muss ich sprechen, wenn es um euer Anliegen geht?”
„Mit uns allen, fürchte ich”, meldete sich jetzt Isaak zu Wort, der zusammen mit Sequana und Inaktu die Mannschaftsmesse betreten hatte.
„Das ist etwas ungewöhnlich”, entgegnete die Frau wenig begeistert.
„Ungewöhnlich ist wohl die ganze Situation, meinst du nicht?”, fragte Isaak.
Die Kommandantin musterte ihn aufmerksam, sah dann zu Ninive, die ihr bedeutete, sich an den Tisch zu setzen, und nickte schließlich. „Also gut …”
„Kann ich etwas zu trinken anbieten?”, fragte Eva, als sie sich alle gesetzt hatten, doch der Blick der Kommandantin ließ sie verstummen.
„Ich bin Kommandantin Czarina Piloty, General in den Diensten von EDGE”, begann die Kommandantin. „Ich will ganz ehrlich sein: Diese Station ist kein Ort der Öffentlichkeit. Wer hier zu uns kommt, der hat ein klares Anliegen und einigen Aufwand betrieben, um uns zu finden. Niemand findet uns durch Zufall. Und wer uns findet und nicht offiziell angekündigt ist, hat in der Regel Absichten, die sich nicht mit unseren Interessen decken.”
„Wir suchen einen Mann”, begann Ninive, nachdem Czarina geendet hatte und niemand der anderen sofort das Wort ergreifen wollte, „der über diese Station fliehen wollte.”
„Ein Mann? Fliehen?” Czarina verengte die Augen. „Vor wem flieht er?”
„Vor …”, Ninive stutzte. Was sollte sie ihr sagen? Die Wahrheit? Die Idee kam ihr mit einem Mal nicht mehr besonders vielversprechend vor. Doch welche andere Antwort hatten sie? „Er flieht vor seiner Verantwortung für diese Welt. Für das Wohl der Menschheit.”
„Das Wohl der Menschheit?” Czarina zog eine Braue hoch und Ninive wurde unruhig. Warum kam ihr niemand der anderen zuhilfe?
„Das Sangre richtet in dieser Welt immer mehr Schäden an”, fuhr Ninive fort. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie es jetzt noch schlimmer machen konnte. „Und er hat das Wissen und die Möglichkeiten, dagegen etwas zu tun. Stattdessen lässt er uns im Stich und verfolgt seine eigenen Pläne.”
„Ist das so?”, fragte Czarina langsam. „Das würde immerhin erklären, warum ihr verzweifelt genug seid, mit einer Einheit von weniger als zehn Mann den Ozean zu überqueren.”
„Und deshalb wäre es für uns sehr wichtig zu erfahren, ob hier in der letzten Zeit ein Mann durchgekommen ist, der …”, Ninive wuste nicht mehr weiter und verstummte, doch Czarina schien bereit zu sein, das Gespräch weiterzuführen.
„Niemand, der in letzter Zeit hier durchgekommen ist, fällt unter die Sicherheitsstufe, dass ich mit Fremden darüber reden dürfte”, entgegnete Czarina bestimmt. „Aber ich bin gewillt, eure Geschichte zu glauben. Unter Vorbehalt! Ihr versteht sicher, dass ich einige Dinge überprüfen werde.”
„Natürlich”, Ninive sah zu ihren Gefährten und nickte erleichtert. Die Anderen – Isaak ausgenommen – folgten ihrem Beispiel. „Dann warten wir hier, bis d…”
„Das ist mir zu unsicher”, fiel ihr Czarina ins Wort. „Wir haben Quartiere für Gäste, wesentlich luxuriöser als das hier. Dort seid ihr gut untergebracht, bis ich Zeit habe, mich mit eurem Anliegen näher auseinanderzusetzen.”
„Sind wir Gefangene?”, fragte Ninive direkt.
„Gäste”, Czarina rang sich zu einem freundlichen Gesichtsausdruck durch, „keine Sorge. Doch der Unterschied zwischen Gast und Gefangenem auf meiner Station liegt im Luxus der Unterbringung.”
„Ich denke, damit werden wir leben können … müssen”, entgegnete Ninive.
„Wenn eure Geschichte stimmt, dann ist das eine kluge Wahl”, entgegnete Czarina und erhob sich. „Meine Leute werden euch abholen und in die Unterkünfte begleiten.”
Die Kommandantin verließ das Schiff in Begleitung des rotblonden Mannes.
„Ich gehe zur Schleuse und warne euch vor, wenn sie uns holen kommen”, sagte Sequana, deren Tonfall man deutlich anmerkte, dass sie mit der Behandlung ganz und gar nicht einverstanden war. Ninive konnte sie verstehen, doch andererseits brauchten sie nun Geduld und Diplomatie, wenn sie weiterkommen wollten. Insgeheim war sie froh, dass Sasha nicht mit ihnen unterwegs war.
„Ich bin nicht gerne Gefangener”, sagte Inaktu und erntete ein zustimmendes Nicken von Eva.
„Sie hat gesagt, wir sind Gäste”, wandte Solvejg ein. „Es ist nicht schlimm Gast zu sein, oder? Es ist nicht so, als hätten wir die Wahl woanders hinzugehen.”
„Solvejg hat Recht”, stimmte Sayuri zu, „wenn ich euch auch verstehen kann. Aber es hätte deutlich schlimmer laufen können, oder? Wir hätten als Eindringlinge versenkt werden können. Oder auf Bewohner der Station treffen können, die unsere Sprache nicht sprechen. Oder Menschen als Lieblingsfutter ansehen. Oder untot sind!”
„Bist du schon wieder über deinen Zombieserien eingeschlafen?”, fragte Eva und konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Aber du hast Recht. Vor einigen Stunden wussten wir nichtmal, ob wir diese Station jemals finden. Ob die Koordinaten richtig sind. Oder ob dies alles überhaupt existiert. Wir sind unserem Ziel näher gekommen, und das ist es doch, was zählt, oder?”
Während die Übrigen nickten, sah Ninive zu Isaak, der die ganze Zeit über auffallend still geblieben war.
„Alles okay mit dir?”, fragte sie.
„Ich stimme der allgemeinen Meinung zu”, entgegnete er ernst.
„Aber das ist nicht alles, stimmt’s?”, fragte Ninive.
Isaak nickte.
„Was d…?”, begann Ninive, doch ein Geräusch von der Schleuse ließ sie innehalten.
„Nicht jetzt”, murmelte Isaak und stand auf, als Sequana mit einer ganzen Gruppe von Männern und Frauen in dunkelgrauer Uniform in die Schiffsmesse kam. Viele von ihnen wiesen ähnliche körperliche Eigenschaften auf wie der rotblonde Mann. Doch nicht alle. Und einige waren unter ihnen, die Ninive an Bour erinnerten. Er hatte damals zum Abschied gesagt, es gäbe „zivilisierte Wolfen”. Und Ninive war sich fast sicher, dass sie hier erstmals auf diese getroffen war. Sie hofft, dass das ein gutes Zeichen war.
07 | DIORAMA
Das Geräusch der Zentrifugen in den Konzentrator-Generatoren überdeckte alles. Jedes verständliche Wort und auch sonst jedes Geräusch, dass die Menschen im Raum machten, während sie die Hoverpads, die das große Skelett trugen, langsam durch die Halle manövrierten, immer auf das blau schimmernde Tor zu.
Seth Warren stand erhöht auf einem Stapel Kisten und hatte den Job gründlich satt. Aarick Zervett hatte gesagt, er würde ihn mit einer wichtigen Aufgabe betrauen. Einer Aufgabe, die seinen Verdiensten für die Children of Chou gerecht werden würde. Und seiner Loyalität gegenüber dem General. Doch nun bestand sein Job darin, einen einfachen Transport zu überwachen. Und selbst wenn er damit die Verantwortung für ihre wertvollste Fracht hatte, Seth wusste, dass Zervett ihn aufs Abstellgleis schieben wollte.
Er machte sich keine Illusionen, dass seine Zeit als Zervetts Günstling abgelaufen war. Seit Lumière mit an Bord war, schwand sein Einfluss auf den General. Und das war umso ärgerlicher, als dass es Seth selbst gewesen war, der diesen angeheuert und ihm den soziopathischen Klon als tödliche Waffe an die Hand gegeben hatte.
Dass Lumière eher mit dem Klon als mit ihm Freundschaft schließen würde, hatte Seth nicht erwartet. Eher hätte er Dankbarkeit erwartet, dafür dass er Lumière überhaupt erst mit ins Spiel gebracht hatte. Vielleicht hätte er darauf verzichten sollen, Lumières Bettpartner den Schädel wegzublasen, aber er hatte doch sicher gehen müssen, oder nicht?
Und jetzt stand er hier im abgeriegelten Bereich der Station und sah einem Fossil zu, das seinen Weg aus Fleet City nach Ascendor machte und dann … ja, was dann eigentlich? Zervett hatte nicht die Großzügigkeit besessen, Seth in Kenntnis darüber zu setzen, was nach dem Transport nach Ascendor mit Chou passieren sollte. Der General hatte von ihm verlangt, dass er ihm folgte, dass er sein gutes Leben als Chef eines großen Unternehmens in Fleet City aufgeben würde und ihm blind in diese verdammten Korridore folgte.
Und Seth hatte sich darauf eingelassen. Er hatte geliefert und tat dies noch immer. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Gut, vielleicht abgesehen davon, dass er durch eine Leichtsinnigkeit einen Intelchip mit wichtigen Daten verloren hatte. Doch davon wusste Zervett nichts, und dank Lumière hatte Seth die Daten schließlich wieder besorgt, ohne dass der General irgendetwas davon mitbekommen hatte.
Es sei denn … es sei denn, Lumière hatte ihn verpfiffen. Aber das konnte sich Seth wiederum nicht vorstellen. Nicht solange er Zugriff auf seine Ressourcen in Fleet City hatte, wo noch immer Lumières Freunde waren und dieser fürchten musste, dass Seth sie in einen besonders einfallsreichen Tod schickte.
Nur ergab das sofort das nächste Problem für ihn. Seine Stärken, seine Trümpfe lagen in Fleet City. Jetzt, da er die Stadt verließ und sie die Brücke hinter sich abbrachen, gab Seth all das auf. Kein Konzern, keine Privatarmee, keine Reichtümer und keine einflussreichen Freunde mehr. Nur noch Aarick Zervett. Und an dessen Rockzipfel hing mittlerweile dieser verfluchte Lumière.
Und dann war da noch die Loge. Seth konnte nicht verstehen, wie Zervett diese in Fleet City mächtige Organisation einfach so aus der Hand geben konnte. Vielleicht brachen sie die Brücken in die Stadt ab, und vielleicht kehrten sie alle nie mehr zurück. Und vielleicht würde es auch so kommen, wie Zervett behauptete, dass Fleet City kein Jahr mehr blieb, bis die Stadt untergehen würde, doch dennoch empfand es Seth als Verschwendung von Ressourcen, die Loge einem alten Zweifler wie Hérnan Réval in die Hände zu legen.
Natürlich war Seth froh darüber, dass er die Stadt verlassen konnte, bevor sie auf ihren Untergang zusteuerte, denn unter diesen Umständen half wohl auch die Herrschaft über die Loge nicht mehr viel. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte Zervett es erfolgreich geschafft, ihm mit unheilvollen Andeutungen und dem Gerede von rettenden Plänen so viel Angst zu machen, dass er nicht einmal diskutiert hatte, als der General beschloss, die Loge an Hérnan abzugeben.
„Wir sind fast soweit, Seth”, sagte jemand hinter ihm.
Seth drehte sich um und nickte Serena, seiner Sicherheitschefin zu. Zumindest war sie die Leiterin seines Sicherheitsdienstes, als er noch in der Funktion des Chefs von Kema Industries war. Jetzt war sie eine der wenigen Vertrauten, die er mit auf seine Mission nehmen konnte. Mit nach Ascendor.
Seth fühlte sich ein wenig schuldig bei dem Gedanken. Serena war – wenn auch hin und wieder nervig – eine treue Mitarbeiterin und vielleicht die einzige Person, der er in diesen Tagen sein Leben anvertraut hätte. Und dennoch wusste sie noch nicht, was auf sie hinter dem Tor warten würde. Und dass der Rückweg keine Option war. Natürlich, Seth rettete sie damit, aber er tat es dennoch, ohne sie nach ihrem Willen gefragt zu haben. Und das störte ihn. In diesem einen Fall. Wenn auch in keinem anderen.
„Gut, ich kann diese Drecksmaschinen nicht mehr hören”, entgegnete er. „Wird Zeit, dass wir Chou durch das Tor verfrachten und unsere Ärsche von dieser Station schwingen.”
„Ich freue mich, dass ich mal aus der Stadt rauskomme”, sagte Serena in ihrer geschwätzigen Art, die Seth ganz und gar nicht schätzte. Und dennoch ließ er sie gewähren und fuhr nicht sofort dazwischen. Warum eigentlich?
„Ja, schön”, antwortete er reserviert, „aber wir so…”
„Ich meine, ich habe nichts gegen Fleet City”, fuhr Serena fort, „das ist vermutlich der beste Ort auf Erden. Aber dort, wo wir hingehen, da ist nicht mehr die Erde, richtig?”
„Nein. Ist sie nicht.”
„Eben. Und da ist es doch wirklich ganz interessant, wo wir landen. Ich denke, ich w…”
„Serena!”, unterbrach Seth energisch. „Wir haben einen Job zu machen!”
„Klar”, die große Frau zuckte mit den Schultern, „aber der erledigt sich jetzt doch von allein, oder?”
Serena deutete zum großen Tor. Chou schwebte auf den Hoverpads bereits hindurch und verließ damit diese Sphäre. Nur noch wenige Minuten, und der Transportvorgang wäre abgeschlossen. Doch damit blieb Seth noch eine letzte Aufgabe, die er alleine machen musste, und die ihm ein wenig Hoffnung gab, von Zervett nicht ganz aufs Abstellegleis geschoben worden zu sein.
„Ja”, begann Seth wieder gedehnt, „erledigt sich von alleine … klar, gut gemacht. Danke.”
Er rang sich ein Lächeln ab, das ihm kräftig missglückte, doch Serena schien es dennoch zu genügen. Sie salutierte lässig und schlenderte wieder zum Tor, an dem nur noch zwei weitere von Seth‘ Leuten standen und die hinteren Hoverpads stabil hielten, während die große, skelettartige Statue stetig durch das blau schimmernde Licht verschwand.
Seth stieg von den Kisten, als Chou endlich ganz verschwunden und außer ihm nur noch Serena in dem großen Raum war. Er betrachtete die silbernen Metallkisten nachdenklich. Wenn er daran dachte, was in diesen lagerte, war es leichtsinnig gewesen, überhaupt auf die Kisten zu klettern. Doch er musste vermeiden, dass sich jemand aus seinem Team an diesen zu schaffen machte. Und da Seth wusste, wie abschreckend seine derzeitige Laune wirkte, war es das einfachste, in der Nähe dieser Fracht zu bleiben.
„Kommst du mit?”, fragte Serena und deutete auf das Tor, das jetzt ohne die Anwesenheit der großen Skelettstatue noch riesiger wirkte als zuvor.
„Natürlich”, erwiderte Seth, „geh vor, ich muss noch die Sicherungsfrequenz einleiten.”
„Von dieser Seite?”, fragte Serena überrascht.
„Ja, besser ist das, glaub mir”, entgegnete er und wich ihrem Blick aus.
Seth war sich nicht sicher, ob Serena Verdacht schöpfte, doch es war in diesem Moment egal. Sie machte keine Anzeichen, sich seiner Weisung zu widersetzen oder – womit er eher gerechnet hätte – unangenehme Fragen zu stellen. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern, drehte sich um und verschwand ebenfals durch das Tor.
Seth blieb alleine zurück, dennoch wartete er noch einen Augenblick, bevor er die Metallkisten öffnete und die Pakete hervorholte. Brücken abbrechen. Das war das, was Zervett wollte. Und das sollte er bekommen. Seth hatte sich lange auf diesen Umstand einstellen können, doch erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass es genau dieser Ort und diese Zeit war, an dem er selbst die Chancen auf eine Rückkehr vernichtete. Alles, was ihm bisher etwas bedeutet hatte, wäre in wenigen Stunden unerreichbar fern sein – und damit nichtig für sein neues Leben.
Seth dachte mit einem Anflug von Wehmut an seine Tochter, seine Ex-Frau, seine Mutter und selbst an seine Katze zurück, die er nun nie wiedersehen würde. Es war ein großes Opfer, das er bringen musste, doch es würde sich lohnen, dessen war er sich sicher. Auf die eine oder andere Art. Mit oder ohne den General. Zervett hatte ihm dieses Leben eröffnet und Seth wollte nicht undankbar sein. Doch er ließ sich das von ihm auch nicht mehr wieder wegnehmen. Er war Seth Warren, der Konzerne geführt hatte, der Armeen geführt hatte und der selbst eine Ehe überstanden hatte, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen. Er war zu Großem fähig, auch ohne Aarick Zervett.
Nur musste er dazu der Stadt entfliehen. Und dem Einfluss des Sangres. Zurück zu alter Stärke. Zurück zu dem Mann, der er vor Jahren gewesen war.
Seth reihte die Pakete aus den Metallkisten auf und verband sie mit den Zündern, bevor er die Halle durchquerte und einen kleinen Leiterwagen zum Tor fuhr. Dann nahm er die miteinander verbundenen Pakete zur Hand und brachte sie rund um das Tor an. Er blickte zur Steuerkonsole des Portals und schaltete das Display ein. Der aktive Parameter – die Station von Ascendor – blinkte grün auf, doch direkt darunter war noch die Ortsvariable von Fleet City gespeichert. Es wären nur zwei Handgriffe und das Portal würde ihn zurück in die Stadt bringen. Zwei Handgriffe. Eine ganz einfache Sache.
Schwieriger war da schon die Frage, ob er Zervett vertrauen sollte oder nicht. Glaubte er dem General, gab es keine zwei Optionen. Er würde den Zünder scharf machen und durch das Tor nach Ascendor treten. Wenn er ihm jedoch nicht glaubte … Es wäre für Seth ein Leichtes gewesen, die Parameter zu tauschen, nach Fleet City zurückzukehren und die Loge zu übernehmen. Den Zünder würde er natürlich trotz allem scharf machen, und damit wäre er für immer außer Reichweite des Generals und Lumières, und damit von jedem, der ihm gefährlich werden konnte.
Vorausgesetzt, Zervett hatte auch in diesem Punkt nicht mit verdeckten Karten gespielt. Die Anzahl der Unbekannten in diesem Spiel häufte sich. Seth musste sich auf sein Bauchgefühl verlassen, und das mochte er nicht besonders.
Unschlüssig stand er minutenlang vor dem Tor. Ihm lief die Zeit davon. Das Tor stand noch nach Ascendor offen und die Gefahr, dass jemand – zum Beispiel Serena – zurückkehrte und nach seinem Verbleib sah, wurde nicht geringer.
Also zwang er sich zum Handeln. Er machte den Zünder scharf, der nun stetig heruntertickte. Dieser würde zwar nur die Konsole sprengen und damit das Tor versiegeln – bis zur großen Detonation und der Vernichtung aller Spuren würden noch einige Stunden vergehen – doch das reichte, um sich zu einer Entscheidung zu zwingen.
Seth trat an die Konsole heran und verharrte mit seiner Hand nur Zentimeter über der Parametersteuerung. Er dachte an seine Tochter, an seine Katze, an seine Ex-Frau. In dieser Reihenfolge. Und dann an die Männer und Frauen, die er nach Ascendor geschickt hatte.
Die Entscheidung lag doch auf der Hand, oder etwa nicht? Er konnte sich nicht anders entscheiden als zu dem, was er nun tat. Es war von Anfang an so vorgesehen gewesen. Und er spielte mit. Nicht weil er wollte, sondern weil er musste. Das Leben bietet selten Auswege. Und nur manchmal Umwege, die aber am Ende dennoch dorthin führen, wo das Schicksal einen haben will.
So einfach war das.
08 | LIVONIA/ROOT
„Bist du sicher, dass hier der Durchgang ist? Ich sehe nur eine geschlossene Sicherheitsschleuse, die offensichtlich verschweißt wurde.” Cyprien klopfte demonstrativ gegen das kalte Metall vor ihm.
„Ich sehe es, ich sehe es”, kam Rasmus‘ Antwort über Funk, „gib mir einen Moment Zeit. Die Schleuse ist als unpassierbar verzeichnet, aber es gibt in der Nähe einen alternativen Durchgang. Einen Belüftungsschacht oder einen Versorgungsgang oder etwas in der Art. Sieh dich mal um.”
„Habe ich schon, ich sehe nichts”, knurrte Cyprien.
„Aber ich brauche die Kamerabilder, um deinen genauen Standort zu lokalisieren”, entgegnete Rasmus mit mühevoller Geduld.
„Dann beeil dich besser, bevor mich die Guardians finden. Oder Bastet.”
„Quatsch mich nicht voll, dann arbeite ich schneller”, gab Rasmus zurück. „Im Übrigen wäre das alles einfacher, wenn du den Visor genommen hättest. Dann würdest du jetzt Grundriss und Kommentare aus dem Livonia direkt vor deinen Augen sehen.”
„Das Ding hindert mich daran, meine Augen und mein Hirn richtig zu benutzen”, Cyprien drehte seinen Kopf langsam zur Seite, damit die Kamera in seinem Helm die Umgebung filmen konnte.
Rasmus erwiderte nichts mehr darauf und Cyprien war damit einverstanden. Er hatte keine große Lust noch länger in einer dunklen Sackgasse irgendwo tief im Inneren der unteren Ebene der Pyramide festzustecken. Dies sollte ein einfacher Botengang sein. Nun gut, vielleicht war ‚einfach‘ nicht ganz der passende Ausdruck, denn ungefährlich war in diesen Tagen nichts, was sich in den unteren Bereichen der großen Pyramide mitten in Fleet City abspielte.
Es herrschte Krieg. Krieg zwischen den Guardians und der Loge, die nach Zervetts Abschied aus der Stadt deutlich an Aktivität zugenommen hatte. Und zwischen den Verbrecherbanden, die sich hier eingenistet hatten. Und dann waren da noch die versprengten Widerstandsgruppen, die sich untereinander kaum kannten und keine geordnete Struktur hatten.
Doch genau das wollte Cyprien ändern. Nachdem ein großer Teil ihrer Gruppe Richtung Atlantis aufgebrochen war und die Guardians Lilian gefangen und den Black Phoenix de facto zerschlagen hatten, war es die einzige Möglichkeit, die er gesehen hatte, im Kampf um diese Stadt – seine Stadt! – noch eine relevante Rolle zu spielen.
An einem Abend kurz nach Lilians Verschwinden hatte ihre geschrumpfte Gruppe im alten Hauptquartier in Chapel Shire zusammengesessen und fast ausschließlich getrunken und geschwiegen. Als sich nach und nach alle Anwesenden zur Nach verabschiedet hatten, waren es noch Rasmus und Cyprien, die weit nach Mitternacht als letzte zurückblieben. Cyprien, der den Verlust nahestehender Pesonen aus eigener Erfahrung gut kannte, entschloss ich schließlich zu etwas, das ihm eigentlich nicht lag: ein aufmunterndes Gespräch.
Doch der einzige Zugang, den er zu Rasmus fand, war über die Arbeit, und von dem, was Rasmus den ganzen Tag mit seinem Technikzeug in der Werkstatt anstellte, verstand Cyprien nicht viel. Also sprachen sie darüber, was man tun müsste, um wieder Ordnung in die Stadt zu bringen, und schon bald stelten sie fest, dass sie beide denselben Hang zu irrsinnigen Plänen hatten. Cyprien, weil er zu viel getrunken hatte, Rasmus jederzeit.
Sie sprachen von den maskierten Superhelden aus den alten französischen Kinderserien, und auch wenn Rasmus noch ein Teenager war, als Cyprien Europa verlassen hatte, sie teilten die Begeisterung für diese Kindheitsfantasien. Und dann beschlossen sie, selbst zu solchen zu werden.
Cyprien wurde zu „Root” (was nichts anders als die englische Übersetzung seines Nachnamens Racine war), dem Frontkämpfer und Ex-Bullen, der sich durch die nächtlichen Gassen schleicht und auf seine raue Art die versprengten Widerstandstruppen eint. Und Rasmus zu „Livonia”, dem Phantom im Hintergrund, das die Strippen zieht und wundersame Dinge mit Technik macht.
Am nächsten Morgen – eigentlich war es wohl eher schon früher Nachmittag – hatte Cyprien die wilden Ideen der letzten Nacht fast vergessen. Rasmus jedoch nicht. Zwei Abende später präsentierte Rasmus etwas, das er das „Livonia-Netzwerk” nannte, eine Art Hybrid aus Computer- und Sangretech, das als Kommunikations- und Wissensbasis für die Widerstandstruppen dienen sollte.
Und hier begann Cypriens Herausforderung: Jetzt war Root gefragt, durch die dunklen Gassen zu ziehen und das Livonia-Netzwerk in die Widerstandsgruppen zu bringen.
Doch es funktionierte. Es hatte nicht lange gedauert und Cyprien hatte in seinem alten Einsatzgebiet als Officer der District Police die ersten Gruppen ins Livonia-Netzwerk eingebunden. Mittels ID-gebundener Sangre-Transmitter konnten diese die Datenbanken des Netzwerks mit Informationen über Feindbewegungen, Straßengeschäfte, Verkäufe von Waffen, Sangretech oder Drogen füllen.
Und dann folgte der Ernstfall. Während Cypriens Aktivitäten im alten Hafendistrikt schon ein kleiner Erfolg für Livonia und Root waren, stellten sie dennoch nur einen Testlauf für ihr eigentliches Ziel dar: Die Pyramide.
Und hier war er, Cyprien – Root, der Held im Schatten. Und er war auf seinem Weg, eines der größeren Nester des versprengten Black-Phoenix-Widerstands zu erreichen: die Archangels. Rasmus hatte nur dank seiner akribischen Beobachtung und Auswertung der Daten im Livonia-Netzwerk überhaupt Hinweise auf diese Gruppe gefunden, doch die Fährte schien vielversprechend. Vorausgesetzt Cyprien fand einen Weg zurück aus der Sackgasse.
„Hast du was?”, fragte er ungeduldig.
„Ich glaube”, kam Rasmus‘ Antwort zögerlich über den Funk. „Ein Stück den Gang zurück müsste eine Wohneinheit sein.”
„Ja, die habe ich gesehen. Unverriegelt und verlassen, wie es schien.”
„Gut”, Rasmus versuchte, überzeugend zu klingen, „das klingt gut. Zentral in der Wohneinheit müsste eine Art Foyer sein. Dort ist die Vorinstallation für … etwas … einen Brunnen oder sowas?”
„Die Bauschächte?”, fragte Cyprien und nickte zu sich selbst, während er sich auf den Weg zu besagtem Ort machte. Damit konnte er leben. Eigentlich hätte er mit allem leben können, was ihn aus dieser Sackgasse führte, doch die Bauschächte waren ein einigermaßen bequemer Weg.
Während der ersten zwei Jahrzehnte nach der Fertigstellung der gigantischen Pyramide, hatten die damaligen Bauherren und Investoren noch das Gefühl des Goldrausches gespürt. Die höheren Ebenen der Pyramide und die Appartements im Außenbereich der unteren Ebenen mit Blick über die Stadt waren heiß begehrt und erzielten horrende Preise auf dem Wohnungsmarkt. Die innenliegenden Wohngebiete der unteren Ebenen, deren Ausblick sich zumeist auf mehrstöckige Plätze im Inneren des Bauwerks, mit künstlichem Licht und begrenztem Horizont beschränkte, erschienen für viele als preiswertere Alternative. Es wurde Unmengen an Geld in den Ausbau dieser Wohneinheiten gesteckt, die Infrastruktur an Läden, Restaurants, Apotheken, Versorgungszentralen und anderen notwendigen Einrichtungen wurde aufgebaut, doch dann ebbte das Interesse der Öffentlichkeit plötzlich ab. Viele der Wohnanlagen wurden nie bevölkert, noch mehr wurden nie richtig fertiggestellt.
Die Wohneinheit, die Cyprien nun betrat, gehörte zu denen, die bereits weit gediehen waren, die aber keine Mieter – oder später Käufer – mehr gefunden hatten. Die Zugänge zu den Appartements waren ansprechend gestaltet, die Aufteilung und das Bepflanzungssystem des zentralen Foyers waren klug durchdacht, doch einige Details waren noch nicht ganz fertiggestellt worden zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Investoren zurückgezogen hatten.
Mitten im Foyer war das runde Becken eines Gebildes, das mal ein Springbrunnen hätte werden sollen. Cyprien kannte solche Punkte mittlerweile. Die Pyramide war durchzogen von einem Netz an Bauschächten, die sich einst über das ganze Rohkonstrukt der Pyramide erstreckt hatten, jedoch dort, wo Wohneinheiten oder andere Teile des gewaltigen Komplexes fertigestellt wurden, zurückgebaut worden waren. Ein unfertiger Brunnen deutete jedoch darauf hin, dass es hier an diesem Ort noch eine Anbindung an das System der Bauschächte geben musste.
„Dreh dich langsam im Kreis”, sagte Rasmus.
„Für dich gerne”, brummte Cyprien, „ist aber nicht notwendig, ich hab den Durchgang.”
Ein Stück abseits des Brunnens hatte er in einer großen Pflanzanlage eine metallene Klappe entdeckt, die er nun aufstieß. Mit einer altmodischen Taschenlampe, von der er hoffte, dass sie zu Roots Image als alter Haudegen passte, leuchtete er in den dunklen Schacht darunter. Metallene Sprossen einer Leiter schlossen sich an, die nach nur zwei Metern auf einer ebenso metallenen Bodenplatte endeten.
„Alles klar”, gab Cyprien zu Protokoll, als er in den Schacht gestiegen war und die Klappe über sich wieder zuzog, „ich bin drin.”
„Siehst du Vektoren?”, fragte Rasmus hoffnungsvoll.
„Lass mich nachsehen …”
Vektoren waren elektronische Signaturen in den Wänden der Schächte, die an empfangsbereite Comdevices Informationen übermittelten, die den Benutzern der Gänge den richtigen Weg in andere Sektoren der Ebene zeigten.
„Keine Vektoren, die noch funktionieren würden”, entgegnete Cyprien einen Moment später, „du musst mich wohl leider führen.”
„Also dann”, Rasmus seufzte, „gehen wir es an …”
Die Bauschächte gingen nach einiger Zeit in Wartungsgänge über, die sich in einigen Punkten von ersteren unterschieden. Hier gab es Licht, so dass Cyprien seine Taschenlampe wegstecken konnte, zudem waren die Wände gestrichen und massiv, während die Bauschächte oft nur ein wackliges Geländer hatten, das sie vom offenen Herzen der Pyramide, den Kabelstraßen und Rohrsystemen, trennte.
Und schließlich funktionierten auch die Vektoren, die Cyprien passierte, sodass er mithilfe seines Comdevices den Weg in den angrenzenden Sektor, in dem sie die Archangels vermuteten, finden konnte. Cyprien war erleichtert, als Rasmus‘ Stimme verstummte. Es war nicht so, dass Cyprien es als störend empfand, mit ihm zusammenzuarbeiten. Im Gegenteil, er hatte in den ganzen Jahren bei der District Police keinen Partner, mit dem er auch nur annähernd so gut zusammengearbeitet hatte, wie mit Rasmus, doch nach mehreren Stunden im Niemandsland der Pyramide mit nichts als Rasmus‘ Stimme in seinem Kopf, kam ihm die einsetzende Stille plötzlich wie eine Erlösung vor.
„Was sage ich den Archangels eigentlich, wenn sie denn wirklich da sind?”, fragte Cyprien nach einiger Zeit, in der er die Sektorengrenze schließlich passiert hatte.
„Wie machst du es denn sonst immer?”, fragte Rasmus zurück.
„Sonst habe ich mehr Informationen. Ich weiß, woher die Gruppe kommt, welche Motive sie bewegt, wie sie einer Idee wie dem Livonia-Netzwerk gegenüber eingestellt sind. Doch jetzt ist die einzige Information, die ich habe, dass die Gruppe groß und offensichtlich wichtig ist.”
„Echt? Das ist alles, was ich dir bisher gesagt habe?”, erkundigte sich Rasmus verlegen.
„Ja, echt.”
„Na dann spitz mal die Ohren, Mr. Root!”
„Nur Root, bitte, ich mag es nicht besonders formell.”
„Die Archangels bestehen zumindest zum Teil aus Agenten des Black Phoenix. Darunter sind angeblich auch einige Überläufer der Guardians. Wie viele es sind, kann ich nicht sagen, vielleicht haben wir es nur mit ein paar zu tun.”
„Und warum sind sie dann so wichtig für uns?”, fragte Cyprien.
„Du meinst abgesehen davon, dass sie Deserteure aus Jos Team in ihren Reihen haben könnten?”, bemerkte Rasmus. „Sie sind dafür bekannt geworden, dass sie Gegner konvertieren anstatt nur zu bekämpfen, wenn möglich. Vor allem Bastet und die Conus-Gang haben einige Mitglieder an sie verloren.”
„Sie konvertieren anstatt zu töten, meinst du?”, Cyprien klang wenig begeistert. „Das hört sich nicht sehr freiwillig an. Vielleicht eher eine Sekte?”
„Du denkst an Gehirnwäsche oder sowas? Mag sein, aber … einige Berichte aus dem Netzwerk behaupten, die Archangels hätten die Möglichkeit, ihren Gegnern die Wahrheit zu zeigen, so dass diese keine andere Wahl haben, als ihren Standpunkt zu vertreten.”
„Das macht es nicht besser.”
„Wie dem auch sei … wir müssen uns diese Gruppe ansehen. Wenn die tatsächlich auf der richtigen Seite stehen …”
„… und das auch mit den richtigen Mitteln tun …”
„… dann könnten sie ein wichtiger Verbündeter sein für das Netzwerk.”
„Hauptsache wir sind uns einig, was die Wahl der Mittel angeht”, beharrte Cyprien.
„Das war schon immer unsere Maxime”, entgegnete Rasmus, doch er schien damit Cyprien eher auszuweichen, als ihm zuzustimmen.
„Siehst du das selbst etwa anders?”
„Nein … eigentlich nicht. Aber manchmal ist es schwierig zu akzeptieren, dass nicht das Ziel alleine ausmacht, ob man zu den Guten gehört oder nicht. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser ist über Leichen zu gehen, wenn man sein Ziel schneller erreicht und damit auch bewirkt, dass weniger Menschen ihr Leben lassen.”
„Aber es sind nicht deine Hände, an denen ihr Blut klebt, Livonia.”
„Natürlich”, entgegnete Rasmus nachdenklich, dann lachte er. „Ist übrigens verdammt cool, dass wir uns mit Superheldennamen anreden.”
„Erwähne es noch einmal und ich kappe die Leitung!”, knurrte Cyprien grinsend.
„Das würdest du nicht wagen!”
„Stimmt, würde ich nicht”, stimmte Cyprien zu, „vor allem weil ich dort vorne jemanden sehe …”
„Das müssen die Archangels sein!”, sagte Rasmus aufgeregt. „Also los, pflanzen wir ihnen unser Netzwerk ein!”
„Wenn sie die richtigen Ziele verfolgen!”
„Ich weiß, ich weiß … und mit den richtigen Mitteln.”
„So ist es”, Cyprien lächelte, „so wird es gemacht!”
09 | FASSADE
„Sie war in meinem Traum … oder der Vision, oder wie auch immer du es nennen willst”, sagte Isaak eindringlich. „Wir müssen verdammt vorsichtig sein, Ninive!”
„In deiner Vision”, wiederholte Ninive. Sie wollte nicht von einem Traum sprechen. Ein Traum hatte für sie etwas Fantastisches, etwas für das Gehirn Konstruktives. „Dann ist diese Czarina also eine der Gesandten von Jor?”
„Genau. Wie Zervett. Und Jeremy. Und Bruchot. Und Nathan und die ganzen anderen Mistkerle, die wir nicht kennen.”
„Dann sind wir den Geheimnissen um sie aber doch ein Stück näher gekommen, Isaak.”
Sie saßen nebeneinander auf einem der beiden Betten in dem luxuriös eingerichteten Zimmer, das man ihnen zugewiesen hatte. Es gab sicher schlechtere Orte auf der Welt, um eine Zwangspause zu verbringen, aber die allgemeine Stimmung war nicht besonders gut gewesen, als der Gruppe klar wurde, dass sie jetzt nur abwarten konnten. Die Zimmer, in die man sie gebracht hatte, grenzten alle an einen großen Saal, der Ninive an die luxuriösen Pariser Hotels erinnerte, die sie aus der Werbung kannte, die regelmäßig zu diversen Feiertagen die Pariser Bevölkerung aufforderte, sich ein paar sorgenfreie Tage für irrsinnig viel Geld zu gönnen.
„Draußen stehen Wachen”, bemerkte Ninive, „schon seit unserer Ankunft.”
„Ich weiß”, entgegnete Isaak, „aber allzu ernst scheinen sie uns nicht zu nehmen, sonst hätten sie uns niemals zu zweit in ein Zimmer gelassen.”
„Ich kann damit leben”, sagte Ninive und strich mit einem Finger über Isaaks Schulter.
„Ich bin froh, wenigstens mit dir zusammen zu sein”, sagte Isaak sanft, „aber … ich glaube, wir sollten zu Sayuri.”
„Ich wusste doch, dass ich dir alleine nicht genüge”, scherzte Ninive.
„Was denn? Hast du gerade eine anzügliche Bemerkung gemacht?”, fragte Isaak fasziniert.
„Das ist das erste, was man lernt, wenn man mit euch unterwegs ist”, gab Ninive zurück.
„Natürlich”, Isaak lachte. „Aber im Ernst … wir sollten zu Sayuri. Sie hat einige Dinge, die uns jetzt nützlich sein könnten.”
„Und was zum Beispiel?”, fragte Ninive und war sich nicht sicher, ob es noch immer um Zweideutigkeiten ging.
„Kriechwanzen”, sagte Isaak.
„Du willst hier Leute abhören?”, fragte Ninive skeptisch. „Bislang sind noch alle freundlich zu uns, vielleicht sollten wir das nicht so unüberlegt aufs Spiel setzen.”
„Ja, ja, du hast Recht. Das ist ein Argument, aber”, Isaak stand vom Bett auf, was Ninive etwas enttäuschte, „hör dir mein Argument an: Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn wir Informationen sammeln wollen. Wenn die hier über interessantere Dinge als ihre Alltagsroutine reden, dann jetzt, wo unsere Ankunft frisch ist.”
„Okay, du hast mich überzeugt”, stimmte Ninive zu und erhob sich ebenfalls. „Aber was sagen wir den Wachen draußen? Müssen wir denen was sagen? Sollen die uns am Verlassen der Räume hindern oder nur beobachten?”
„Gute Frage”, gab Isaak zu.
„So oder so werden sie uns genau im Auge behalten”, Ninive sah zum Fenster des Zimmers hinüber, das hinter mehreren Lagen dichter Vorhänge fast verborgen war. „Es sei denn, wir gehen außenrum …”
Isaak folgte ihrem Blick zum Fenster.
„Klettern?”, fragte er dann.
„Klettern.”
Sie zogen die Vorhänge zur Seite und hatten zum ersten Mal, seitdem sie das Zimmer betreten hatten, einen freien Blick auf ihre Umgebung. Der Ausblick war atemberaubend. Vor dem Fenster schloss sich ein schmaler Balkon an, der hoch über den flachen Dächern der würfelförmigen Gebäude, Wohn- und Infrastrukturmodule der Atlantisstation, thronte. Und dahinter erstrecke sich der Ozean, dessen Oberfläche im direkten Umfeld der Station ruhig und glatt glitzerte, bevor er im Dunkel der Nacht verschwand.
Sayuris Zimmer war nur ein Fenster weiter und die Konstruktion aus Stahlrohren und unzusammenhängenden Glasplatten, die dem einzigen wirklich beeindruckenden Gebäude der Station ein markantes Aussehen verliehen, eigneten sich besser als erwartet für eine Kletterpartie.
Dennoch wurde Sayuri für einen Augenblick kreidebleich, als sie verwundert das Fenster ihres Zimmers öffnete und Ninives Gesicht vor dem Hintergrund des nächtlichen Himmels auftauchen sah.
„Was macht ihr da?”, fragte sie entgeistert, während sie zur Seite trat und die beiden hinein ließ. „Klettern?”
„Nein, fliegen”, entgegnete Isaak. „Natürlich klettern, nach was sieht das für dich aus?”
„Ich meinte, warum macht ihr das?”, verbesserte sich Sayuri und boxte Isaak in die Seite.
„Weil uns auf diesem Weg keiner sieht”, sagte Ninive.
„Seid ihr sicher?”, Sayuri warf noch einen Blick aus dem Fenster.
„Ziemlich sicher”, Isaak ließ sich unaufgefordert auf Sayuris Bettkante nieder, „wir haben niemanden gesehen. Und wir sind zu hoch, als dass wir jemandem aufgefallen wären, der unten am Boden ist.”
„Die Glasflächen sind in alle Richtungen geneigt und geben guten Schutz”, ergänzte Ninive, „wir haben aufgepasst.”
„Aber warum seid ihr nicht durch die Tür gegangen? Sind wir eingesperrt?”, fragte Sayuri alarmiert.
„Nein, nein”, beruhigte Ninive sie, „wir wollten nur nicht weiter auffallen.”
„Aber ich will nicht, dass ihr euch in Lebensgefahr begebt, nur um mich zu besuchen!”
„Sei mir nicht böse, Sayuri”, entgegnete Ninive, „aber wir sind nicht nur hier, weil wir Sehnsucht nach dir hatten.”
„Eigentlich überhaupt nicht deswegen”, stellte Isaak grinsend klar.
„Ninive, schmeiß ihn bitte aus dem Fenster”, erwiderte Sayuri. „Also, was wollt ihr dann?”
„Isaak dachte, es wäre eine gute Idee, wenn wir uns auf der Station ein wenig umhören”, Ninive legte einem Instinkt, den sie nicht richtig einordnen konnte, folgend ihren Arm um Isaak Taille.
„Das halte ich auch für eine gute Idee”, entgegnete Sayuri und zückte ihr Comdevice. „Und deshalb bin ich euch auch schon einen Schritt voraus.”
„Deine Wanzen sind schon unterwegs?”, fragte Isaak.
„Aye!”, entgegnete Sayuri und schaltete das Display des Comdevices ein. „Und sie haben die Stationschefin geortet.”
„Wo?”, fragte Isaak und nahm Sayuri das Comdevice aus der Hand, auf dem eine ruckelnde Videoaufzeichnung zu sehen war, die Czarina zeigte, wie sie in einem großen Salon auf einer gepolsterten Liege lag, ein Compad in ihren Händen.
„Kein Ton?”, fragte Ninive und drehte Isaaks Hände so, dass sie selbst einen guten Blick auf das Display hatte.
„Nein, leider nicht. Die Dame ist zwei Stockwerke über uns, eigentlich nicht besonders weit weg, aber etwas blockiert die Kleinen”, sagte Sayuri.
„Die Kleinen?”, Isaak sah verwirrt auf.
„Die kleinen Roboter, die die Wanzen tragen”, erklärte Sayuri, „aber immerhin haben wir ein Bild.”
„Mit dem wir leider nicht viel anfangen können”, bemerkte Ninive. „Wir brauchen den Ton dazu … ich will hören, was sie sagt und mit wem sie spricht.”
„Mit wem sie spricht?”, fragte Sayuri.
„Offensichtlich führt sie über das Compad ein Gespräch mit jemandem”, Ninive gab Sayuri das Comdevice zurück.
„Und genau das Gespräch werden wir jetzt mithören”, sagte Isaak und zeigte zum Fenster. „Zwei Stockwerke sind zu schaffen.”
„Wir müssen aber vorsichtig sein, dass wir nicht gesehen werden!”, mahnte Sayuri.
„Nahe den Fenstern sind auf einer Seite des Salons große Skulpturen, wenn wir dahinter bleiben, sollte sie uns nicht entdecken”, sagte Ninive und ging zum Fenster, „nur das Stockwerk dazwischen müssen wir genau im Auge behalten.”
Der Aufstieg stellte sich als deutlich schwieriger dar als der Weg von ihrem Zimmer zu Sayuris. Die Glaselemente waren auf einem Gerüst aus metallenen Stangen und Rohren angebracht, das zwischen den Stockwerken etwa einen Meter hohe Lücken hatte, die sie überwinden mussten. Ninive zog sich auf eine schmale Schiene hoch, klemmte diese zwischen ihre Beine und schwang dann ihre Arme nach oben. Mit den Händen erreichte sie so den über ihr liegenden Gerüstabschnitt. Sie atmete tief ein und zog sich mit einem Klimmzug nach oben. Einen Moment lang hing sie nur an ihren Händen über der Tiefe, dann spürte sie die Schiene unter ihren Füßen und stieß sich nach oben ab, um mit einem waghalsigen Manöver den Oberkörper über das unterste Rohr des Gerüsts zu bringen. Schwer atmend ließ sie sich nach vorne fallen, ihre Hände und Füßen baumelten unter ihr ins Leere, bevor sie sich aufraffte und das nächste Stockwerk in Angriff nahm.
„Äh, ich lass euch dann mal alleine”, hörte sie Sayuri unter ihr. Kurz darauf zog sich Isaak neben ihr hoch, der ebenfalls vor Anstrengung tief einatmete. Er setzte sich auf das Rohr und hielt einen Moment inne.
„Es ist doch eigentlich ein schöner Ort hier oben, so weit weg von allem, was uns Sorgen macht”, bemerkte er.
„Wir sind nicht weit weg davon”, wandte Ninive ein, „und wir verpassen das Gespräch, wenn wir uns nicht beeilen!”
Sie umgingen die Balkone und Fenster und arbeiteten sich weiter nach oben, bis sie schließlich dort ankamen, wo sich der Salon befinden musste, in dem Czarina war. Jedoch war genau dort das Gerüst ausgespart, sodass der Blick aus den Fenstern des Salons auf das Meer weit unter ihnen fiel.
„Fuck!”, fluchte Ninive, „so kommen wir nicht bis zum Fenster hoch.”
„Warte mal”, Isaak rüttelte vorsichtig an einigen Metallstangen unter ihnen, dann hakte er seine Füße zwischen diese und drückte die Knie durch. „Komm her!”
„Was hast du vor?”, fragte Ninive und spürte einen Anflug von Angst.
„Komm schon, vertrau mir!”, Isaak winkte sie heran, griff nach ihren Beinen und führte sie auf die Stange unter ihm. „Stütz dich an der Wand ab!”
Ninive schloss für eine Sekunde die Augen, dann konzentrierte sie sich darauf, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie spürte Isaaks festen Griff an ihren Oberschenkeln, als er sie hoch hob, bis sie über den Rand des Fensters blicken konnte.
„Ein Stück nach rechts”, sagte sie und hätte es fast bereut, als Isaak schwankend zur Seite rutschte. Ein Fenster war einen Spalt geöffnet, und als Ninive nah genug an diesen herangekommen war, konnte sie Czarina schließlich verstehen.
„Nein, hör mir zu!”, hörte sie Czarina sagen. Die Stimme der Stationskommandantin klang angespannt. Es war kein harmonisches oder freundschaftliches Gespräch, das dort stattfand. „Er war vor drei Tagen noch hier. Ja, Aarick Antonio Zervett. Ich kenne ihn, ich weiß, wovon ich rede … nein, sag das nicht, du h… Nein! Ich weiß, was damals war, aber seitdem sind Jahrzehnte vergangen.”
Czarina verstummte und hörte der Person am anderen Ende, deren Stimme Ninive nur als leises Zischen wahrnahm, zu.
„Er ist nicht mehr hier. Wie ich sagte, er ist vor drei Tagen weitergereist nach Sol Orbit. Ich habe keine Ahnung, was er dort will. Vermutlich nach Jor. Ich habe ja keine Einsicht mehr in diese Intels. Ich weiß nur, dass ich ihm Sektion R überlassen sollte. Und die hat er wie geplant versiegelt.”
Erneut eine längere Stille.
„Ja, aber du musst verstehen, dass ich nicht gewillt bin, das einfach so zu glauben. Aarick hat sich verändert, aber den Ausdruck, den er bei seinem Abschied hatte, den kenne ich. Lasst mich Sektion R überprüfen, zumindest teilweise! Der Komma…”, Czarina atmete hörbar ein. „Der Kommandant hat hier nur bedingte Befugnisse! Und es ist egal, was EDGE mir sagt, die Hoheitsrechte habe ich noch immer von Jor!”
Stille.
„Drohst du mir etwa?! Das wäre nämlich ein großer Fehler, mein Freund! Das ist meine Station, und wenn ich will, setze ich mich über EDGE hinweg. Zufrieden?”
Ninive sah nach unten, als sie ein Zucken in Isaaks Arm spürte. Sie deutete ihm an, dass er sie herunterlassen sollte, und einen Moment später hatte sie das Gefühl, ohne Halt über dem Abgrund zu schweben. Als sie die Metallstangen des Gerüsts wieder unter ihren Füßen spürte, hielt sie sich an seinen Schulern fest und verharrte so länger als notwendig gewesen wäre, um wieder festen Halt zu bekommen.
„Was hast du gehört?”, fragte Isaak.
„Zervett war hier. Und Czarina kennt ihn”, antwortete Ninive.
„Natürlich, sie sind beide Teil der Gesandten.”
„Ja, aber da war noch mehr … sie hat ihm auf Geheiß von EDGE – so hieß doch die Organisation, von der sie Teil ist, oder? – eine Sektion der Station überlassen.”
„Dann müssen wir zu dieser Sektion!”, sagte Isaak sofort.
„Sehe ich auch so. Nur ist diese Station versiegelt. Und Czarina will sie überprüfen lassen und riskiert dafür sogar einen Streit mit … dem Kommandanten, oder sowas.” Ninive sah Isaak an und machte Anstalten, seine Schultenr loszulassen. „Sollten wir das nicht lieber besprechen, wenn wir wieder im Zimmer sind?”
Isaak nickte, doch legte seine Arme um sie, bevor sie sich auf den Weg nach unten machen konnte. Wortlos zog er sie zu sich. Ninive lehnte ihre Stirn gegen seine. Sie hatten auf der langen Reise zur Atlantis-Station langsam gelernt, dass sie sich nicht mehr zur Distanz zueinander zwingen mussten. Und auch wenn es noch immer Isaak war, der etwas öfter als sie die Initiative ergriff, sie spürte, dass sie bereit war zu erkennen, dass Momente wie dieser die Bestimmung ihres Lebens waren. Und sie war glücklich darüber – so zumindest interpretierte sie ihre eigene Gefühlswelt. Glücklich und ein wenig überrascht. Und ängstlich. Und überwältigt.
Die Höhe, in der sie sich befanden, war ein Sinnbild dafür. Und das Risiko des tiefen Sturzes wohl ebenso.
10 | PASSAGE
Wer konnte schon sagen, wohin die Wege des Lebens führen? Vielleicht waren es die letzten Blicke, die Seamus auf die Stadt unter ihm werfen würde. Vielleicht der letzte Moment mit dem Gesicht im Fahrtwind eines Shuttles, das sich entlang der Pyramide über die Dächer der Stadt erhob. Er hatte diese Augenblicke immer geliebt, egal ob er auf dem Weg mit dem Black Phoenix Einsatzteam zu einer gefährlichen Mission oder nur auf dem Weg zu Lilians Appartement auf Ebene 2 war.
Natürlich war es wahrscheinlicher, dass er an diesen Ort zurückkehren würde. Er hatte Freunde hier – Lilian und Rasmus, Cyprien und den Hund – diese wollte er wiedersehen. Und auch wenn sie sich voll ausgerüstet auf den Weg zu Fenjas altem Appartement machten, es war nicht gesagt, dass das Portal noch existierte. Oder sie sich dazu entschließen würden, es zu passieren. Doch wenn es der letzte Moment war, den er mit dieser Stadt teilte, die ihn auf liebliche und grausame Weise Schönheit, Demut, Rausch, Stolz und Niedergang, Hass und Tod gelehrt hatte, dann war er perfekt.
Das Shuttle, an dessen Luke Seamus stand, glitt durch den feinen Schleier aus leichtem Schneefall, der die Stadt um ihn herum in eine Stille hüllte, die so unwirklich war, als wäre er auf einer übergroßen Landkarte unterwegs und nicht in einer wirklichen Welt.
Doch was war diese wirkliche Welt überhaupt? Gab es sie? Lebte er in dieser? Vor einigen Jahren hätte Seamus abfällig über diese Fragen gelacht. Doch das war, bevor er die Korridore kennengelernt hatte. Und die Geschichten von Sasha und Ninive über die Fraktale. Vor allem letztere waren es, die ihn Respekt vor der Frage nach der Wirklichkeit haben ließen.
„Ich klinke mich aus”, hörte er Rasmus‘ Stimme in seinem Ohr. „Root wartet auf euch nahe der Landekoordinaten. Das Netzwerk steht euch zur Verfügung, aber ich weiß nicht, wie es sich verhält, wenn ihr das Portal durchquert.”
„Danke, Livonia”, antwortet Seamus ernst. „Ich hinterlasse einen Vermerk zum Portal, wenn wir es finden. Und wenn wir es durchqueren sollten.”
„Okay. Aber denk daran, dass du die Einträge auf meine Signatur exklusiv schaltest. Ich bin mir nicht sicher, ob alle unsere Widerstandskämpfer davon wissen sollten.”
„Keine Sorge. Das geht nur an dich und Root.”
„Gut. Also, Kommando Kalahari”, Rasmus konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, „viel Glück, Freunde!”
Seamus nickte zu sich selbst, als sich Rasmus aus dem Funk abmeldete, dann wandte er sich seiner kleinen Crew zu, die im Inneren des Shuttles wartete. Die drei Frauen waren, ebenso wie er selbst, voll ausgerüstet. Schwere Waffen, vollgepanzerte Kampfanzüge, große, runde Helme, die fast nur aus Glas bestanden, und Kommunikatoren, die auf Basis von Sangretech eine stabile Funkverbindung zu jedem einzelnen von ihnen garantieren sollten.
Nur Ilyena fiel aus der Reihe. Sie trug anstatt der vollen Schutzmontur und des Helms nur ihr übliches kurzes Kleid aus sandfarbenem Leinen, das neben ihren Schultern und Armen auch den größten Teil ihrer Beine oberhalb der hohen Stiefel frei ließ. Seamus hatte nicht versucht, sie davon zu überzeugen, eine volle Rüstung anzulegen. Er kannte Ilyena lange genug. Einerseits war ihre Entscheidung aufgrund ihrer besonderen Sangrefähigkeiten vermutlich gut begründet und andererseits war sie stur. Sehr stur.
„Ich hoffe, du weißt, dass ich mit diesen Dingern kaum Erfahrung habe”, sagte Lynx nicht zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus der Villa und hob eine der beiden Automatikpistolen hoch.
„Ich hoffe nicht, dass wir sie überhaupt einsetzen müssen”, antwortete Seamus ruhig.
„Ich hoffe, wir werden sie einsetzen müssen”, bemerkte Sasha, die ihrerseits ein schweres Sturmgewehr trug.
Während Lynx skeptisch zu Sasha sah und Ilyena grinste, fragte Seamus sich, ob er auf das Anführen dieser speziellen Gruppe wirklich vorbereitet war. Damals in Paris, als er mit Lilian bei den Sec-Teams war, war ihm das nicht schwer gefallen, doch da gab es einen klaren Kodex, deutliche Regeln und Befehlsstrukturen. Und jetzt hatte er Ilyena und Sasha in seinem Team. Eine davon war schwierig unter Kontrolle zu halten. Beide … würden hoffentlich ihre natürliche Zerstörungskraft rechtzeitig auf mögliche Gegner richten.
Sie umrundeten die Nordwestecke der Pyramide und bogen in einer scharfen Kurve in einen Einflugkanal zwischen Ebene 4 und 5 ein, der einst für Versorgungsshuttles des Warentransportsystems gebaut worden war. Es gab unzählige dieser großen Schächte, in denen sich auch ein großes Transportshuttle problemlos manövrieren ließ, bis es die Frachtbuchten erreichte, die sich in regelmäßigen Abständen zu beiden Seiten des Einflugkanals befanden und die anliegenden Ladenzeilen, Cafés und Restaurants, Apotheken, Supermärkte und viele weitere Läden und Einrichtungen, die sich in den Foyers und Markthallen der umliegenden Wohneinheiten befanden, mit Lieferungen versorgten.
Eine Faust in einem groben Handschuh klopfte zweimal laut gegen die geöffnete Abtrennung zwischen Cockpit und Transportraum des Shuttles, in dem Seamus und sein Einsatzteam waren.
„Die Bucht hat keine intakten Andockstellen”, sagte die Pilotin, deren Akzent auf ihre Herkunft aus den Kolonien unterhalb Fleet Citys hinwies. Seamus hatte sie für den Flug zur Pyramide angeheuert, weil sie im Livonia-Netzwerk als vertrauenswürdige und zuverlässige Transporteurin vermerkt worden war.
„Gibt es eine Ausweichmöglichkeit?”, fragte er und lehnte sich nach vorne in das Cockpit des Shuttles.
„Der Kanal sieht ziemlich ramponiert aus. Außerdem sind wir kurz vor den Sperrbezirken. Viele Buchten sind hier gar nicht vollständig ausgebaut. Nie gewesen”, antwortete die Pilotin, „aber weiter außen am Eingang gab es intakte Buchten.”
„Die sind aber in der Hand der Guardians”, Seamus schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster des Shuttles, dann zeigte er nach rechts. „Was ist mit der anderen Seite? Die Bucht dort sieht gut aus.”
„Das ist korrekt”, entgegnete die Pilotin vorsichtig, als würde sie überlegen, wie sie ihrem Kunden auf höfliche Art und Weise widersprechen könne. „Aber das ist die falsche Seite des Kanals.”
„Richtig, aber es gibt die Brücke, oder?”
„Die würde ich euch aber echt nicht empfehlen”, legte die Pilotin ihm nahe, „ungeschützt, wacklig … wer weiß, ob die überhaupt noch halten, wenn man sie benutzt.”
„Ich weiß”, Seamus legte der Pilotin eine Hand auf die Schulter, „aber das ist unser Problem. Bring uns einfach sicher zur Andockstelle, okay?”
„Aye, Chef!”, entgegnete die Pilotin sarkastisch und tippte sich an die Stirn, bevor sie das Shuttle in einem erneuten scharfen Bogen herumriss und die gegenüberliegende Bucht anflog.
„Du willst über die Brücke?”, Lynx sah Seamus an und zog eine Augenbraue hoch, als dieser sich wieder zu ihnen umgedreht hatte.
„Selbst wenn wir vorsichtig anstatt schnell sind, werden wir keine zehn Minuten brauchen, um die Brücke zu überqueren”, sagte Seamus, „wenn wir uns erst durch andere Sektoren kämpfen müssen, wird das deutlich länger dauern und wir gehen ein größeres Risiko ein.”
„Klar”, Lynx schien nicht restlos überzeugt, „aber das Risiko von Gegnern besiegt zu werden hat weniger drastische Folgen als ein Sturz in mehrere hundert Meter Tiefe.”
„Wir sprechen hier von den Guardians”, Seamus schüttelte den Kopf, „mir ist ein schneller und endgültiger Aufschlag lieber als das, was Lilian passiert ist. Euch etwa nicht?”
Zögerliches Nicken kam als Antwort. Seamus konnte ihre Reaktion natürlich nachvollziehen. Obwohl sie alle wussten, dass eine direkte Konfrontation mit den Guardians zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen würde, gab es doch die irrationale Hoffnung, diesem Schicksal noch irgendwie zu entrinnen. Der Fall von der Brücke hingegen ließ keinen Raum für falsche Hoffnungen. Es lag nicht in der Natur der Menschen, sich instinktiv für die logische Lösung eines Problems zu entscheiden, wenn es um ihr Leben ging.
Außerdem, dachte Seamus, hat Lilian diese Logik durchbrochen. Nicht nur, weil sie überlebt hatte, sondern auch, weil sie auf eine neue Art mit dem Leben zufrieden war. Sie war dankbar für das, was man ihr gegeben hatte. Das war ohne Zweifel eine Stütze für die Moral des Teams, doch Seamus hatte Angst, dass es ihr auch die Stärke genommen hatte, für die er sie so lange bewundert hatte.
„Viel Glück, Leute!”, rief die Pilotin aus dem Cockpit, nachdem sie Seamus, Sasha, Ilyena und Lynx an der intakten Andockstelle abgesetzt hatte und das Shuttle wieder auf Abflugenergie hochfuhr. „Fallt nicht zu tief!”
„Dankeschön”, entgegnete Ilyena zähnefletschend, „wir denken an dich, falls doch …”
Die Luke des Shuttles schloss sich und die Pilotin hob ab. Wenige Sekunden später war sie bereits durch den großen Kanal in Richtung Außenhaut der Pyramide verschwunden. Die kleine Gruppe der Zurückgebliebenen prüfte routinemäßig die Ausrüstung, dann hielten sie, angeführt von Seamus, auf einen schlanken Turm am Rande der Bucht zu, an dem eine Treppe außen nach oben führte. Diese Türme, die in jeder Shuttlebucht standen, dienten einerseits zur Beobachtung und Kommunikation mit den Shuttles und den benachbarten Buchten, andererseits führten von diesen auch die Brücken hinüber zur gegenüberliegenden Seite.
‚Brücke‘ war jedoch kaum der adäquate Ausdruck für das Konstrukt, über das die vier nun ihren Weg hinüber zur anderen Seite nahmen. Eigentlich war es ein breites, metallenes Rohr, das in einem leichten Bogen den Einflugkanal überspannte. Darauf befestigt war eine hüfthohe Reling, die mit Metallplatten verstärkt war, und an der eine metallene Schiene mit beweglichen Karabinerhaken entlangführte. In diese hakten sie nun ihre Waffengurte ein und waren so vor dem Fall gesichert, sofern die Brücke hielt und sie nicht unter Beschuss gerieten. Ilyena zog ein dünnes aber haltbares Stück Seil aus einer kleinen Tasche, die sie mit zwei Riemen um ihren Oberschenkel geschnallt hatte, band es sich um die Taille und befestigte sich damit an einem der Karabiner. Doch Seamus hatte den Eindruck, als sie schließlich vor ihm die Brücke überquerte, dass dies mehr ein Zugeständnis an ihre Mitreisenden als ein notwendiger Schutz war, denn sie ging so trittsicher und leichtfüßig, dass es Seamus nicht gewundert hätte, wäre sie über die Reling balanciert.
„Sieht aus, als würde das Ding halten”, bemerkte Sasha, die ganz vorne ging. „Dein Glück, Seamus, für einen Absturz hätte ich dich zur Verantwortung gezogen. Noch im Fallen!”
Auf der anderen Seite angekommen trafen sie auf Cyprien, der mit dem Rücken an einem Stapel alter Transportkisten lehnte. Auch er hatte sich verändert, seit Seamus ihm zum ersten Mal begegnet war. Der mürrische Ex-Officer hatte anfangs einen verbissenen und reservierten Eindruck gemacht, doch nun hatte er neben seinem Hang zum Zynismus auch eine Art bissigen Humors entwickelt, der Seamus trotz seiner mittlerweile eisernen Ausgeglichenheit zum Lachen bringen konnte.
Cyprien führte sie durch einen Teil des Versorgungssystems des Sektors zu einem zentralen, langen Gang, der einige Wohneinheiten miteinander verband.
„Findet ihr den Weg von hier?”, fragte er.
„Ich erkenne den Gang wieder”, sagte Seamus und musterte seinen kahlköpfigen, vollbärtigen Gegenüber. Cyprien schien unruhig oder ungeduldig. Vielleicht sogar nervös. „Alles in Ordnung?”
„Klar. Ich warte gerne auf euch zwischen den Fronten von Guardians und Bastet”, entgegnete Cyprien sarkastisch, dann aber gab er Seamus einen freundschaftlichen Stoß gegen die Schulter. „Keine Sorge, ich habe nur eine heikle Mission mit Rasmus hinter mir. Wir haben eine neue Gruppe in unser Netzwerk geholt, die … mir etwas Bauchschmerzen bereitet hat.”
„Diese Archangels?”, fragte Seamus, ohne dass ihn die Details in diesem Moment wirklich interessiert hätten. Er wollte zu einem späteren Zeitpunkt alles darüber hören, doch jetzt hatte er andere Aufgaben unmittelbar vor sich.
„Du fragst nur aus Höflichkeit”, Cyprien lachte rau, „das ist aber okay … macht euer Ding, wir sprechen nach eurer Rückkehr.”
Seamus nickte und sah Cyprien einen Moment lang nach, als dieser sich umdrehte und durch eine aufgebrochene Tür in ein ehemaliges Administrationsbüro verschwand. Dann deutete er den Gang hinab und ging voran zu Fenjas Appartement, in dem er vor Wochen bereits einmal gewesen war. Damals, als ihn nichts anderes getrieben hatte als die Aussicht, mit ihr … nein, halt! Nicht mit ihr zu schlafen. Das hatten sie bereits in der vorangegangenen Nacht hinter sich. Er war Fenja in ihr Appartement gefolgt, weil er die Person hinter der perfekten Film-Noir-Fassade entdecken wollte. Und für einen kurzen Moment war er kurz davor gewesen.
Doch dann hatte er hinter die verschlossene Tür in den letzten Raum von Fenjas Wohnung geblickt. Denselben Raum, den er nun in Begleitung von Lynx, Ilyena und Sasha betrat, nachdem sie die Appartementtür aufgebrochen hatten. Und wie damals war auch jetzt dort diese große Kiste, die mit einer Decke verhängt war.
„Ist es das?”, fragte Sasha und zwängte sich an Seamus, der für einen Augenblick wie angewurzelt stehengeblieben war, vorbei in den Raum.
„Das ist es”, Seamus trat ebenfalls an die Kiste heran.
„Ist es gefährlich?”, fragte Ilyena skeptisch.
„Es ist ein Durchgang”, gab Seamus zurück.
„Und was erwartet uns dahinter?”
„Finden wir es heraus!” Seamus zog die Decke herunter und enthüllte den Durchgang, denn dort, wo die Rückwand der Kiste hätte sein müssen, begann ein steinerner Balkon mit niedriger Brüstung, und hinter dieser erstreckte sich ein weites, grünes Tal.
„Immer wieder beeindruckend”, bemerkte Ilyena und trat als erste auf den Balkon.
„Hat jemand eine Idee, was das ist?”, fragte Seamus und deutete auf die Landschaft, während der Rest der Gruppe Ilyena durch das Portal folgte.
„Diese Welten sehen für mich alle gleich aus”, sagte Sasha, „aber zeig mir die Feinde, die dort leben, dann kann ich dir vielleicht mehr sagen.”
„Ich könnte auf Feinde verzichten”, Lynx trat an die Brüstung und sah sich um. „Wir sind direkt in ein Fraktal eingedrungen. Eigenartig, ich kannte bislang nur Wege zu den Fraktalen, die durch die Korridore führten. Das hier ist … anders.”
„Lynx, du hast doch gesagt, du kannst die Eigenschaften des Sangres sehen, richtig?”, wandte sich Seamus nun direkt an die ehemalige Wächterin. „Was sagen dir die Energien, die an diesem Ort strömen?”
„Ich bin mir nicht sicher”, Lynx schloss die Augen und bewegte angestrengt ihre Hände, als wolle sie die Luft durchkämmen. „Die Energien sind jedenfalls in starker Unruhe. Es ist nicht so ein Chaos wie in Fleet City, aber nicht weit davon entfernt.”
„Was bedeutet das?”, fragte Sasha.
„Es bedeutet, dass wir nicht die ersten sind, die auf diesem Weg in das Fraktal gekommen sind.” Lynx öffnete die Augen wieder. „Und ich bin mir fast sicher … ja, sehr sicher sogar, dass vor uns Visaren das Portal passiert haben.”
11 | CORE
Ninive lag lange wach, bevor die Müdigkeit endlich langsam durch ihre Glieder kroch. Sie bildete sich ein, im angrenzenden Raum Stimmen zu hören, auch wenn die Wände eigentlich zu dick waren. Isaak war bei Sayuri, um die Logs weiterer Kriechwanzen auszuwerten. Eine Weile hatte Ninive bei ihnen gesessen, doch irgendwann spürte sie, dass sie Raum und Zeit für sich brauchte, und war zurück in das Zimmer gegangen, dass sie sich mit Isaak teilte.
Eine Weile hatte sie trainiert, Liegestützen, Sit-ups, Kniebeugen, in der Hoffnung, dadurch überschüssige Energie abzubauen, die sich nach einem Tag voller Untätigkeit angestaut hatte. Sie hatte schließlich mit dem Gedanken gespielt nach den anderen zu sehen – Eva, Solvejg, Sequana und Inaktu – die im Salon saßen, der zwischen ihren Zimmern lag. Doch Ninive stand nicht der Sinn nach Gesellschaft, und so hatte sie sich ihren Jumpsuit ausgezogen und war unter die Bettdecke geschlüpft.
Ihr Schlaf war unruhig und von sonderbaren Träumen begleitet. Ninive konnte später nicht mehr sagen, wann sie wieder aufgewacht war, und wie viel von dem, was in ihren Erinnerungsfetzen übrig geblieben war, aus einem Traum stammte.
Das erste, an das sie sich mit Sicherheit erinnerte, war der enge, dunkle Kasten, der sie umgab. Und dass sie in diesem durchgeschüttelt wurde. Sie konnte sich nicht bewegen, jedenfalls nicht mehr als wenige Zentimeter, denn links, rechts, über, unter, vor und neben ihr war sofort eine Wand. Sie hörte ein Zischen von draußen und daraufhin leise Stimmen, die sie nicht verstand.
Der erste klare Gedanken nach einem mühsam niedergerungenen Anflug von Panik war, dass man sie entführte. Das war keine ganz neue Erfahrung für Ninive und wenn sie an das letzte Mal dachte, als sie Lilian und Seamus gewaltsam aus einem Zug geholt und damit vor Zervett gerettet hatten, dann gab es doch immerhin die Möglichkeit, dass sie sich nicht in einer völlig ausweglosen Lage wiederfand.
Doch vorerst musste sie warten, bis jemand die Güte hatte, sie aus diesem Kasten zu befreien. Und dieses Warten forderte schließlich seinen Tribut. Ninive hatte Zeit zu denken. Waren es Czarinas Leute, die sie aus ihrem Zimmer geholt hatten, während Isaak noch bei Sayuri gewesen war? Und wenn ja, was hatten sie mit ihr vor? War Czarina doch noch mit Zervett im Bunde und hatte nun den von diesem lange verfolgten Klon für ihn gefangen?
Angst stieg in ihr auf. Keine Besorgnis oder kurz aufflammende Panik, sondern echte, blanke Angst. Sie versuchte gegen die Wände der Kiste zu hämmern, doch der Raum war so beengt, dass sie keinen festen Schlag zustande brachte. Eine wütende Ohnmacht überkam sie, sie hörte das Blut in ihrem Inneren rauschen, und versuchte fieberhaft, ihr Sangre zu konzentrieren, doch auch das wollte ihr nicht gelingen.
Plötzlich kamen ihr die Nachrichten aus Fleet City in den Sinn, als Seamus ihnen erzählt hatte, was mit Lilian geschehen war. Ninive war bestürzt gewesen, als sie vom Schicksal ihrer Freundin gehört hatte, doch in die Freude darüber, dass Lilian die Torturen überstanden hatte, hatte sich die Erleichterung gemischt, dass Ninive selbst so etwas nicht widerfahren war. Das schlimmste Schicksal, dass sich Ninive vorstellen konnte, war Folter in diesem Ausmaße. Und nun befand sie sich selbst in der Hand fremder Entführer.
Endlich fand außerhalb der Kiste eine Veränderung statt. Ninives Behältnis wurde abgestellt. Sofort spürte sie die vielen Stellen an ihrem Körper, die durch den Transport in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Blaue Flecken und Abschürfungen. Kurz darauf setzte ein sanftes Schaukeln ein, und schließlich wurde sie erneut transportiert.
Und dann öffnete jemand die Kiste. Ninive blinzelte in das grelle Licht über ihr. Die Umrisse von zwei Köpfen schoben sich in ihr Blickfeld. Ninive wartete nur den Bruchteil einer Sekunde, dann riss sie die Fäuste hoch und schleuderte sie den beiden Gesichtern entgegen. Ein bläulicher Schimmer lief über ihre Haut und eine Sekunde später stand sie in Kampfpose in der Kiste, die auf einem niedrigen Tisch stand, während zwei Personen neben ihr am Boden lagen und sich die Hände auf ihre Nasen pressten. Zwei weitere Personen standen einen Schritt entfernt und starrten sie nur mit offenen Mündern an. Ninive verspürte den Drang, diesen die nächsten Fausthiebe zu verpassen, doch dann besann sie sich.
„Was habt ihr mit mir gemacht?”, fragte sie, ohne ihre Lauerstellung zu verlassen. „Wer seid ihr?”
Die beiden Gestalten vor ihr brauchten einen Moment, bevor sie sich regten. Eine von ihnen – eine Frau in einem schwarzen, kurzärmeligen Mantel mit kunstvoll hochgestecktem Bauernzopf – hob abwehrend die Hände.
„Warte, Ninive, wir sind auf deiner Seite!”, sagte sie eindringlich und der intensive Blick ihrer tiefgrünen Augen bewegte Ninive dazu, ihre Körperspannung etwas zu lockern. Halb hinter der Frau stand ein deutlich kleinerer, schmächtiger Mann in einem braunen Tweedanzug, mit wirren, dunkelbraunen Haaren, ausgeprägten Koteletten und sorgfältig gestutztem, schmalen Oberlippenbart. Seine Augen waren pupillenlos schwarz und die Behaarung an seinen Handrücken und in seinem Nacken verriet Ninive, dass er ein Wolfen war.
„Ich hoffe, ihr habt eine verdammt gute Erklärung für das hier”, fauchte Ninive.
„Die haben wir”, entgegnete die Frau mit den grünen Augen, „doch sie ist nicht gerade einfach. Aber du wirst uns nach dem Zuhören zustimmen, dass dies der einzige Weg war, dich aus den Armen von EDGE zu befreien.”
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das sagte, beeindruckte Ninive. Doch so leicht ließ sie sich nicht besänftigen. Wieder schien jemand besser als sie selbst wissen zu wollen, was gut für sie war. Zwar war ihr das lieber, als in die Hand von Folterern zu fallen, doch jetzt, da sie das Gefühl hatte wieder die Kontrolle über die Lage zu gewinnen, konnte sie sich auch Ungeduld wieder leisten.
„Ich höre …”, sagte sie auffordernd.
„Langsam”, entgegnete die Frau und deutete zu den beiden Personen am Boden, die Ninive mit der vollen Wucht ihrer Sangre-befeuerten Fäuste getroffen hatte, „wir müssen uns erst um deine Opfer kümmern.”
„Erst will ich einen Grund”, widersprach Ninive und sah die beiden Gestalten am Boden an, um einschätzen zu können, wie schlimm ihr Zustand war. Doch beide hatten sich soweit wieder erholt, dass sie auf dem Boden saßen und mit dem Schwindelgefühl kämpften, dass Ninives Faust in ihrem Schädel hinterlassen hatte.
„Wir sind okay, Sal”, sagte eine der beiden mit einer hohen Stimme, die jedoch scharf und beißend und alles andere als lieblich klang. Sie gehörte einer Frau mit asiatischen Zügen und bis auf einen imposanten, blondierten Irokesenschnitt kahl rasierten Schädel. Sie steckte in einem rot-schwarzen Jumpsuit, der über und über mit Nieten besetzt war. Hätte sie weitere Kleidung getragen, es wäre Ninive schwergefallen, ihr Geschlecht auszumachen, denn die Gesichtszüge hätten auch die eines jungen Mannes sein können, und die kleinen Brüste und schmale Taille der Frau fielen nur dank des enganliegenden Jumpsuits auf. Auch ihre Augen waren pupillenlos schwarz.
Die zweite Gestalt, die sich eine blutige Nase geholt hatte, war ein hünenhafter Mann mit wildem, dunkelblonden Bart, der zu seinem markanten Kinn länger wurde, kurzgeschorenen Kopfseiten und dichtem Haupthaar, das er mit Lederriemen in einen nachlässig geflochtenen Pferdeschwanz gebunden hatte. Wenn Ninives Schlag einen Mann wie ihn von den Füßen geholt hatte, dann beeinduckte es sie, dass die schmale Frau im nietenbesetzten Jumpsuit noch bei Bewusstsein war.
„Ich bin Salome”, sagte nun wieder die Frau mit den grünen Augen, „und wir sind von CORE.” Sie machte eine Pause, als müsse Ninive das irgendetwas sagen.
„CORE? Und ihr seid die Gegner von EDGE, vermute ich?”, bemerkte sie ungeduldig.
„Ja, das ist richtig”, bestätigte Salome, „und das ist gut so, denn EDGE ist in die Hände der falschen Leute gefallen, die auf Jor ihre Macht erweitern wollen und sich nicht mehr um die Belange der Randgebiete kümmern.”
„Jor? Randgebiete?” Ninive verstand nicht viel von dem, was Salome sagte, doch was ihr sofort klar wurde war, dass sie von Leuten entführt worden war, die mehr über dieses Jor und EDGE und die Zustände auf der Atlantis-Station wussten, als jeder andere bisher, mit dem Ninive gesprochen hatte. Und offenbar schienen sie bereit, mit ihr darüber zu reden. Ninive gefiel der Gedanke noch immer nicht, wieder auf eine Gruppe zu vertrauen, die sie ungefragt verschleppt hatte, doch sie wusste auch, dass in diesem Moment Informationen wichtiger waren als alles andere.
„Sie hat doch keine Ahnung von irgendetwas außerhalb der Erde”, sagte der Hüne mit der blutigen Nase auf eine Art lachend, als hätte er nicht gerade einen Faustschlag ins Gesicht bekommen. „Wir müssen ihr alles erzählen.”
Ninive überlegte, ob sie protestieren und darauf hinweisen sollte, dass sie schon einiges von Fraktalen, Korridoren und sonderbaren Kreaturen gesehen hatte, hielt es dann aber für klüger, diese Information nicht herauszugeben.
„Dann sollten wir es uns aber etwas gemütlicher machen”, sagte Salome und deutete auf eine Gruppe von Sesseln, die in einer Ecke des niedrigen Raums standen. „Und außerdem wäre es hilfreich, wenn unser Gast zumindest unsere Namen kennt. Das hier ist Goliath”, sie deutete auf den Wolfen neben ihr, „und die beiden, die ihre Gesichter nicht rechtzeitig aus der Gefahrenzone bringen konnten, sind Lanie und Thijs.”
„Freut mich, dich endlich zu treffen”, sagte Thijs der Hüne freundschaftlich und reichte Ninive die Hand. Sie nahm diese und ließ sich aus der Kiste und vom Tisch helfen, bevor sie etwas überrumpelt zu den Sesseln hinüber ging. Goliath der Wolfen nickte ihr vorsichtig zu, offenbar war ihm Ninives Gegenwart nicht ganz geheuer. Die andere Wolfen, Lanie mit dem Irokesenschnitt, hingegen musterte Ninive kritisch und zeigte kein Zeichen von Versöhnlichkeit. Ninive beschloss, sie im Auge zu behalten.
„Ich versuche, an das anzuknüpfen, was du als Erdenbewohner, der seinen Weg bis zu dieser Station gefunden hat, wissen kannst”, sagte Salome, als alle saßen. „Die Erde ist nur eine Welt, die es im Universum gibt. Es gibt andere Orte, die weit von der Erde entfernt liegen, aber über das System aus Korridoren miteinander verbunden sind. Vom zentralsten dieser Orte aus wird das bekannte Universum gesteuert. Dieser Ort nennt sich Jor. Es ist so etwas wie die größte und wichtigste Stadt von allen.”
„Jor ist also nur ein Ort auf einem anderen Planeten?” Ninive fragte sich, warum sie diese Information enttäuschte. Dieser Moment war in etwa so, als wären Aliens zur Erde gekommen und hätten ihr gesagt, es gäbe außerirdisches Leben. Nein, halt! Das war nicht nur so, als ob. Ihr hatte gerade jemand gesagt, dass es Leben dort draußen im All gab. Nur waren ihre Erwartungen durch die Erfahrungen mit den Fraktalen und Korridoren vielleicht mittlerweile etwas andere. Sie hatte Jor als etwas Höheres erwartet. So etwas wie ein mythischer Ort vielleicht.
„Sie scheint nicht besonders beeindruckt”, stellte Thijs seinerseits etwas enttäuscht fest.
„Nein, es ist nur …”, begann Ninive und verstummte.
„Ich verstehe das. Sie hat gerade erst die Atlantis-Station gefunden”, kam ihr Salome zuhilfe, „und da diese kaum durch Zufall zu finden ist, muss sie schon einiges mehr gesehen haben als das.”
„Ja, das ist es”, entgegnete Ninive vorsichtig, „ich hatte … ich hatte Kontakt zu einigen Wesen, die ich vor wenigen Jahren noch nicht einmal als Figuren aus einem Märchen akzeptiert hätte, und habe Orte gesehen … sonderbare Orte. Die Vorstellung einer Stadt dort draußen im Weltraum erscheint plötzlich so … so profan.”
„Ich würde nicht behaupten, dass Jor irgendetwas anderes als profan ist”, Thijs lachte wieder. Er erinnerte Ninive an eine dieser Figuren aus den alten Serien über die Wikinger, die sie in Paris ein paar Mal gesehen hatte.
„Dennoch”, widersprach Salome, „so einfach ist es nicht. Technisch gesehen ist Jor eine Stadt auf einem fernen Planeten, so wie die Erde ebenfalls ein ferner Planet ist, wenn man von Jor aus blickt, doch es ist die Verbindung zwischen diesen Welten, die bemerkenswert ist.”
„Die Korridore?”, mutmaßte Ninive und hatte fast vergessen, dass sie hier mit Leuten sprach, die sie kurz zuvor gewaltsam entführt hatten.
„Exakt”, Salome nickte freundlich, „die Korridore ermöglichen die Verbindung zweier so weit entfernter Punkte. Und noch einiger anderer Orte …”
„Richtig”, Ninive entschied sich, mit ihrem bereits vorhandenen Wissen einen Vorstoß zu wagen, „ihr beide, Goliath und … Lanie, richtig? Ihr seid aus den Forsten.” Sie war sich bei Lanie nicht ganz sicher gewesen, denn diese hatte außer ihrem blondierten Irokesen, schmalen dunklen Augenbrauen und langen Wimpern keine erkennbare Körperbehaarung. Doch die Augen und die Haltung, die Ninive auch bei den wilden Wolfen gesehen hatte, erkannte sie wieder.
„Unsere Vorfahren waren aus den Forsten”, antwortete Goliath mit einer dunklen, androgynen Stimme, „wir selbst kommen von Jor … oder in Lanies Fall aus einer der Kolonien.”
„Dann seid ihr Kinder der Wolfen, die mit dem Schiff die Forsten verlassen haben, als das Wasser stieg?”, fragte Ninive weiter, als sie sich wieder an die Details von Bours Geschichte über die Prophezeiung der Sternfahrer erinnerte.
„Wir sind Kinder des Exodus”, bestätigte jetzt Lanies beißende Stimme.
„Du kennst unsere Geschichte?”, fragte Goliath beeindruckt.
„Sicher nur einen kleinen Teil. Ich habe den Wächter der Forsten getroffen, der mir einiges erzählt hat”, antwortete Ninive.
„Bour?”, Goliath Tonfall klang plötzlich defensiv und Lanie gab ein verächtliches Zischen von sich.
„Er hat mir das Leben gerettet”, erklärte Ninive sich in der Pflicht fühlend, ein gutes Wort für den Mann einzulegen, der nicht nur sie sondern auch Sequana, Sasha, Solvejg und Inaktu vor den wilden Wolfen gerettet hatte.
„Schön für dich”, schnarrte Lanies Stimme.
„Lanie!”, knurrte Goliath die Frau im nietenbesetzten Jumpsuit in einem Tonfall an, den Ninive von dem kleinen, schmächtigen Mann nicht erwartet hätte. „Entschuldige, unsere Geschichte mit Bour ist geprägt von Überlieferungen unserer Vorfahren. Wir wollen kein Urteil über den Mann fällen.”
„Zurück zum Kern unseres Anliegens”, ging nun Salome dazwischen. „Für Jor gehören viele der Welten, und so auch die Erde, zu den Randgebieten des Universums. Daher wurden die Dienste für Sicherheit, Überwachung und Erforschung an unterschiedliche Organisationen abgegeben, die der Führung von Jor nahestehen. Und EDGE ist eine davon. Sie unterstehen offiziell dem Willen von Jor, doch wir sind hier fernab der großen Stadt. Wir haben schon seit längerem bemerkt, dass es andere Interessen gibt, die sich bei EDGE eingeschlichen haben.”
„Dann seid ihr so etwas wie der Widerstand?”, fragte Ninive, die eine direkte Parallele zur Geschichte ihrer eigenen Gruppe erkannte.
„So könnte man es nennen. Wir sind CORE, wir wollen zurück zum Kern dessen, für was wir hier eingesetztz wurden. Also zur Sicherung der Grenzen der Welten, zur Eindämmung des Sangres, zur Enthüllung korrumpierender Tendenzen in der Struktur von EDGE.”
„Okay, das habe ich verstanden, aber was hat das mit mir zu tun? Warum habt ihr mich dann entführt?”, fragte Ninive, doch sie war sich sicher, die Antwort bereits zu kennen.
„Warum?”, Salome schien nun ernsthaft verwundert und sah zu ihren Mitstreitern, die sich ebenfalls fragende Blicke zuwarfen. „Sag mir, Ninive”, fuhr Salome vorsichtig fort, „woher hast du das Amulett, das du da um den Hals trägst?”
Das war es! Ninive hatte den kleinen Metallanhänger seit ihrer Ankunft auf der Atlantis-Station immer sichtbar getragen, so wie der geheimnisvolle Besucher in ihrer Kabine gesagt hatte. Sie hatte darauf gesetzt, dass die unbekannte Person, die nur aus ihrem Team stammen konnte, es tatsächlich gut mit ihr meinte. Und vielleicht war das auch so. Jedenfalls hatte irgendjemand offenbar gewusst, dass dieser Anhänger CORE dazu bringen würde, sie in ihre Reihen zu holen.
Ninive entschloss sich nach einigen erwartungsvollen Sekunden, in denen alle Augen auf sie gerichtet waren, es noch einmal mit dem Weg der Ehrlichkeit zu versuchen. Sie erzählte in groben Zügen von ihrer Gruppe, von Zervett, den sie verfolgten, und von den Details, wie sie an das Amulett gekommen war.
„Entschuldige bitte”, begann Thijs mit freundlicher aber deutlich beeindruckter Stimme, „die enge Kiste tut mir leid, aber es war die richtige Entscheidung, dich hier zu uns zu holen.”
Ninive sah ihn an und dachte nach. Die Mitglieder von CORE waren ganz offensichtlich beeindruckt gewesen von ihrer Geschichte. Vor allem der Kampf gegen die Visaren in der Oper von Fleet City und ihre Begegnungen mit den Ossfhang und dem Quetzal hatte sie in Erstaunen versetzt. Doch andererseits hatten sie offensichtlich noch immer einige Informationen, die Ninive gut gebrauchen konnte. Es erschien ihr nicht völlig abwegig, auf die Pläne und Beweggründe ihrer Entführer einzugehen. Immerhin war es nicht das erste Mal, richtig?
Gerade als sie etwas entgegnen wollte, öffnete sich eine Tür und eine weitere Frau kam herein. Diese steckte in weiten Baggypants, die Ninive sofort an Lilian erinnerten. Auch ansonsten gab es einige Parallelen zu Lilian, denn die Person war ähnlich schmal und zierlich gebaut, wie Lilian, jedoch bestimmt noch einen halben Kopf kleiner. Zudem war ihre Körperform ungewohnt. Die Frau trug zu den Baggypants, die sich nur dank eines breiten Gürtels überhaupt auf ihren deutlich hervortretenden Hüftknochen hielt, nur ein schmales, schwarzes Tuch, das sie sich auf Höhe ihrer Brust um gebunden hatte und so den größten Teil ihres Oberkörpers offenbarte. Ninive stellte sofort fest, dass die Frau einen Knochenbau hatte, der sich von dem eines normalen Menschen in einigen Dingen unterschied. Einerseits schien sie weniger Rippen zu haben, die zudem einen deutlich flacheren Brustkorb formten, andererseits wirkte es so, als hätte sie anstatt eines aus knöchernen Wirbeln bestehenden Rückgrats so etwas wie eine lange, dünne, flexible Säule, die ihre Bewegungen und ihren Gang deutlich geschmeidiger und leichtfüßiger erscheinen ließen. Und das obwohl sie mit ihren bloßen Füßen nachlässig über den Boden schlurfte.
„Darf ich vorstellen?”, Salome deutete mit der Hand zu der Frau, „das ist unsere Pilotin Zephyr. Und deinem Blick entnehme ich, dass du noch keiner Seraal begegnet bist bisher, richtig?”
„Seraal?”, echote Ninive und betrachtete Zephyr noch genauer. Die Haut der kleinen Frau war ihr im ersten Moment blass vorgekommen, doch sie schien, je nachdem wie sie zum spärlichen Licht der einzelnen Lampen im Raum stand, blau und olivbraun zu changieren. Zudem waren ihre großen, schrägstehenden Augen fast ganz weiß, nur bei genauerem Hinsehen erkannte Ninive eine blasssilbrige Pupille in einer kaum wahrnehmbaren, hellblauen Iris.
„Ich bin Ninive”, stellte sie sich vor, nachdem sie sich vom Anblick der Seraal wieder gelöst hatte. „Und ich habe allmählich Probleme, mir alle Namen zu merken.”
12 | NOVEMBER
Die Archangels waren ein voller Erfolg für das Livonia-Netzwerk gewesen. Ein Mann namens Robert Yorodez war einer ihrer Köpfe und Cyprien kannte ihn aus seinen ersten Jahren bei der District Police. Er erinnerte sich, dass Robert irgendwann zum Black Phoenix abberufen worden war und er ihn aus den Augen verloren hatte, doch dass er ihn jetzt wieder getroffen hatte, war ein Glücksfall, den Cyprien erst gar nicht glauben konnte.
Und so hatte er, während ihn Robert wie einen alten Weggefährten durch das Lager der Archangels führte, nach dem Haken an der Sache gesucht. Und er glaubte, diesen auch gefunden zu haben, als Robert frei heraus sagte, dass er bei den Guardians gewesen war, bevor Jo völlig
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3886-7
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