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Leseprobe

AutoExil

von Jón Faras

 

 

 

CORPVS I

 

© 2015 Jón Faras

Alle Rechte vorbehalten.

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Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua

www.facebook.com/aihua.art

Bildmaterial: © aleshin: 81334319 - fotolia.de

 

Ein Wiedersehen aus Glas

 

In meiner Jugend liebte ich ein Mädchen. Ich lernte sie kennen, da war ich elf Jahre alt. Sie war ein Jahr jünger, ging auf dieselbe Schule wie ich und war beliebt. Im Gegensatz zu mir. Ich hatte schlechte Noten, schlechte Eltern und kaschierte meine Schüchternheit mit Arroganz.

Mein Vater arbeitete als Pfleger im Altenheim. Er gehörte zu jenen Personen, die ein Alter von über siebzig Jahren für höchst unanständig hielten. Er sprach schlecht von den Bewohnern des Altenheims, nannte sie "Sozialschmarotzer" oder "debilen Kompost". An schlimmen Tagen sprach er von "Altlasten aus der Nazi-Zeit". Er hatte sich früh mit seinen Eltern überworfen, die eine Fabrik in Nürnberg hatten während des Krieges. Er hatte ihnen seit seiner Jugend immer wieder alle möglichen Verbrechen der Hitlerzeit vorgeworfen, hatte ihre Fabrik ein KZ genannt und seinen Vater "Judenschinder". Er selbst rannte sein Leben lang im Army-Parka herum und erzählte jedem, ob er ihn nach seiner Meinung gefragt hatte oder nicht, dass alle Soldaten Mörder seien. Er kannte auch ansonsten alle Parolen der kleinen Antifa-Bibel. Ich hatte ihm eines Tages bei einer unserer zahlreichen Streitereien alle Verbrechen der R.A.F., die er heimlich als Freiheitskämpfer verehrte, vorgeworfen. Ich war nicht besser als mein Vater.

Meine Mutter arbeitete bei der Kirche, irgendein Hilfsjob, glaube ich. Um ehrlich zu sein, habe ich mich nie dafür interessiert. Und sie sprach nie davon, schon gar nicht in der Gegenwart meines Vaters, der der Kirche noch immer die Kreuzzüge übel nahm und eines Tages zur Taufe meiner Cousine mit Intifada-Schal im Gottesdienst auftauchte. Er hatte bis zu seinem Tod nicht verwunden, dass seine als Meinung versteckte Provokation niemanden interessierte.

Ich hörte einmal eine alte Frau im Supermarkt über meine Mutter sagen, dass sie ein herzensguter Mensch sei. Ich habe davon wenig erfahren dürfen. Sie schämte sich für meine schlechten Leistungen in der Schule und im Sportverein und auch für ihren Mann, auch wenn sie es nie so deutlich gesagt hatte.

Das Mädchen, das ich liebte, hieß Annalena, kein seltener Name, aber sie war etwas Besonderes – und nicht nur deshalb, weil ihr halber Freundeskreis auf sie stand. Ich gehörte dazu – zu ihrem Freundeskreis – auch wenn ich nie wirklich verstand warum. Ich kam mit ihr sehr gut aus, konnte mit ihr reden, mich mit ihr treffen. Doch Hoffnungen machte ich mir nie. Zumindest keine ehrlichen. Ich konnte mit ihr über ihre Beziehungen sprechen, über ihre Freunde, die kamen und gingen, doch selber kam und ging ich nie. Ich blieb immer dort auf der Stelle.

 

Der Regen hatte München fest im Griff, schon den ganzen September über. Die wartenden Menschen am Promenadenplatz drängten schnell durch die sich öffnenden Türen der gerade angekommenen Tram. Durch die beschlagenen Scheiben warf Mark Wittmann einen Blick zurück auf den Bayrischen Hof, in dem er geschäftlich zu tun hatte. Er versuchte sich auf den Feierabend zu freuen, doch irgendwie wollte es ihm nicht gelingen. Es war Samstagabend, und am nächsten Morgen wurde er erneut hier erwartet. Er konnte sich Besseres vorstellen, als sonntags zu arbeiten, andererseits machte es kaum einen Unterschied, wann er frei hatte. Er wohnte alleine und musste sich nach niemandem richten. Außer vielleicht nach dem bayrischen Ladenschlussgesetz.

Das kleine blaue Kästchen vor ihm klackte, als ein weiterer Fahrgast seine Fahrkarte entwertete. Mark sah auf. Ein älterer Herr steckte umständlich sein Portemonnaie ein und griff nach einer Stange, als die Tram sich in Bewegung setzte. Es ratterte leise und der Zeitstempel in dem blauen Kästchen setzte um eine Markierung vorwärts.

"Entschuldigung, ich ...", erklang eine Stimme neben Mark. Er rutschte automatisch auf den Sitz am Fenster. Eine Frau setzte sich neben ihn. Es dauerte fast eine ganze Minute bis Mark merkte, dass sie ihn anstarrte. Nun sah auch er auf. Und erschrak. Er kannte die Frau.

 

Ich erreichte München am späten Nachmittag und schleppte mich und meinen Koffer direkt in den Burger King. Mit einer Tüte Chicken Wings ging ich kurz darauf ziellos einen der Bahnsteige entlang, bis ich die offene Halle des Hauptbahnhofs hinter mir gelassen hatte. Auf einer leeren Bank setzte ich mich und schlug den Kragen gegen den beißenden Wind hoch. Ich hatte mir meine Ankunft hier anders vorgestellt, weniger trostlos. Ich aß zwei der Chicken Wings, doch hatte keinen sonderlichen Appetit. Diese Stadt sollte für die nächsten Monate mein Zuhause sein. Sie würde sich noch bemühen müssen, um es auch zu werden.

Ich ließ schließlich die Chicken-Wings-Tüte stehen und schlenderte langsam zurück in die große Halle, von wo aus ich meinen Weg zur U-Bahn suchte. Ich versuchte, den U-Bahn-Plan zu lesen, war aber nie besonders gut darin. Ich landete schließlich auf dem Bahnhofsvorplatz, ohne wirklich zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Es gab keinen Grund zur Eile, die Wohnungsschlüssel hatte ich im Gepäck, und über das Wochenende lagen keinerlei Verpflichtungen an.

Nachdem ich meinen Koffer bis zum Karlsplatz und von dort durch die überfüllte Fußgängerzone geschleppt hatte, nahm ich die Tram am Marienplatz. Ich suchte nach einem Sitzplatz, meine Knie schmerzten und meine Schultern waren verspannt vom Schleppen des Koffers.

 

"Annalena?", er hatte einige Augenblicke gebraucht, bis er sie erkannt hatte. Früher in der Schule trug sie weiße Blusen und Strickjacken, Stoffhosen oder knielange Röcke und ihre dunkelblonden Haare meist offen. Jetzt saß sie dort neben ihm, die Haare unter einer Baskenmütze dunkel gefärbt, in schwarzer Lederhose, dickem grauen Wollpullover und schwarzem Stoffmantel. Ihre Augen waren dunkel geschminkt, ihre Haut wirkte etwas blass. Er wusste nicht, ob er sie noch so schön fand wie früher, doch das spielte keine Rolle.

"Hey! Was machst du hier?", sie bemühte sich um ein heiteres Lächeln, doch Mark merkte, dass sie müde war, vielleicht auch etwas distanzierter als früher.

Er war mittlerweile dreißig und hatte zwei Kinder, die bei seiner Ex-Frau in Düsseldorf lebten. Er sah sie fast nie. Er war mit 19 ins Ausland gegangen. Während die meisten seiner Freunde beim Bund waren oder Zivildienst machten, wollte der wegen starkem Untergewicht ausgemusterte Mark vor allem weg von seinen Eltern. Er arbeitete einige Monate auf einem Hof in Spanien, um sich eine Reise nach Nepal leisten zu können, doch bald begann er eine Affäre mit der Tochter seines Arbeitgebers, und als diese schwanger wurde, bestanden ihre Eltern auf eine schnelle Heirat. Ein Jahr später ging er mit ihr zurück nach Deutschland, wo sie ihr Studium fortsetze. Er blieb zuhause und träumte vom Himalaya. Mit 25 erklärte er seiner Frau, dass dies gar nicht sein Leben war und er bereits zu lange gebraucht hätte, um aus diesem Traum aufzuwachen. Elisa, seiner Frau, standen die Tränen in den Augen. Er schlief noch einmal mit ihr, gab seinen Kindern Christine und Júlian einen Kuss und fuhr davon.

"Ich bin schon seit fast fünf Jahren in dieser Stadt“, sagte Mark mit einem verlegenen Seitenblick.

Sie lächelte nur.

"Und du machst hier Urlaub?", er warf einen Blick auf ihren Koffer.

"Nein, ich ziehe ein", sie ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen, "ich habe eine kleine Wohnung in Lehel."

"Im Lehel", verbesserte Mark automatisch, nach fünf Jahren hatte man sich gewisse Dinge angewöhnt, "es heißt 'im Lehel'."

Sie schwieg.

"Dann wohne ich nicht sehr weit entfernt", sagte er, "oben auf der anderen Isarseite, nicht weit vom Maximilianeum."

Sie nickte.

Er setzte erneut an, hielt dann aber inne und betrachtete sie näher.

"Du siehst müde aus, soll ich dich zu einem Kaffee einladen?" Es klang sonderbar normal dafür, dass er sie mehr als zehn Jahre nicht gesehen hatte.

"Mark, ich sehe schrecklich alt aus, oder?"

"Du siehst ... was?" Darauf war er nicht vorbereitet gewesen, er sah sie überrascht an.

"Ich sehe alt aus, oder?", wiederholte sie und sah ihm nun ins Gesicht. Er bemerkte die kleinen Fältchen um ihre Augenwinkel und eine ihm ungewohnte Schwere in ihrem Blick. Normalerweise liebte er das an Frauen, Spuren von Leben in ihren Gesichtern, doch Annalena bestach früher vor allem durch ihre Jugendlichkeit, den Anflug von Unschuld, und mittlerweile hatte sie diesen Reiz verloren.

"Wir alle werden älter", begann er ohne sich die Mühe der Diplomatie zu machen, "sehe ich etwa noch so aus wie mit 19?"

"Nein", ihr Blick prüfte sein Äußeres, "du hast dich gemacht, Mark, du siehst gut aus."

Mark verengte die Augen. Er hatte bisher nie gehört, dass er gut aussehe, auch wenn ihm bewusst war, dass er über die Jahre ein gewisses Wirken auf Frauen entwickelt hatte. Aber das ausgerechnet von Annalena zu hören, berührte ihn. Es schmerzte, ohne dass er sich sicher war, warum.

"Du siehst auch gut aus", erwiderte Mark, "das war schon immer so. Natürlich verlieren wir unsere Jugend, aber wir gewinnen auch etwas im Laufe der Zeit hinzu."

Die Tram kam am Maxmonument zum Stehen und Annalena sah auf. Mark half ihr, den Koffer hinaus zu tragen, zögerte einen Moment und folgte ihr dann in den Regen. Er hätte ohnehin nur eine Station später aussteigen müssen.

 

Ich hatte über die Jahre hinweg angefangen, meine Eltern zu hassen. Während meiner Zeit in Spanien starb mein Vater an Krebs, von dem er gesagt haben soll, dass der "alte Menschenabfall" ihn angesteckt hätte. Zumindest war er so konsequent gewesen, nicht alt zu werden. Meine Mutter bat mich darum, sie zu besuchen. Ich sagte ihr, dass ich mir die Fahrt nach Deutschland nicht leisten könne, und dass ich auf einen Umzug zurück in die Heimat sparte. Sie beschimpfte mich und fragte, wie sie denn dastehe, wenn der eigene Sohn nicht zur Beerdigung des Vaters erschien. Ich sagte ihr, dass das ganz genau den richtigen Eindruck machen würde, und dass sie endlich so ehrlich sein und ebenfalls wegbleiben sollte, wenn sie Vater verscharrten. Sie heulte und ich legte auf. Seitdem hatte ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Ich habe ihr nie von Elisa und den Kindern erzählt...

 

"Was hast du die letzten zehn Jahre gemacht?"

Sie saßen in einem kleinen Straßencafé unweit des Bayrischen Nationalmuseums und hatten schon eine Weile wortlos in den prasselnden Regen gestarrt.

"Ich?" Mark sah Annalena an und brauchte etwas, um seine Gedanken zu ordnen, "ich habe in Spanien gearbeitet, auf einem Hof, und einige Zeit in Düsseldorf, bevor ich nach München gekommen bin."

"Was hast du gemacht, in Düsseldorf meine ich?"

"Eine Fotografenausbildung", Mark hatte sie erst in München gemacht, doch er wollte ihr nicht von Elisa erzählen, "ich arbeite als Fotograf."

"Hast du ein Atelier oder so?"

Mark bemerkte, dass Annalena wirklich Interesse daran zu haben schien. Früher hatte meistens sie geredet und er zugehört.

"Aber nur ein kleines für private Zwecke", Mark schlürfte an seinem Milchkaffee, "um Geld zu verdienen, mache ich Fotos vor Ort für Firmen und Zeitschriften. Und manchmal für den Bayrischen Rundfunk."

"Private Zwecke?", sie setzte ihr leeres Cola-Glas ab und kramte eine zerbeulte Packung Luckys aus ihrer Manteltasche.

"Ich fotografiere Menschen", er zwang sich dazu, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm das Thema unangenehm war. Ihr gegenüber.

"Echt?", sie verfluchte leise ihr Feuerzeug und zündete sich die Zigarette an der Kerze, die auf dem Tisch stand, an, "würdest du mich auch fotografieren?"

"Dich ...? Also", er versuchte die richtigen Worte zu finden, "eigentlich mache ich hauptsächlich Aktaufnahmen ..."

"Ah ...", erwiderte sie gedehnt und lehnte sich zurück. Und für einige Zeit kehrte das Schweigen zurück.

 

Erst später wurde mir klar, dass sie genau wusste, was für Fotos ich machte. Ich verfluchte mich selber für die Antwort, die ich ihr gegeben hatte. Ich hätte ihr anbieten können, sie zu fotografieren. Eine Porträtaufnahme aus Höflichkeit und das Thema wäre elegant erledigt gewesen.

Wir hatten uns zusammen ihre Wohnung angesehen, unterm Dach eines der alten Häuser im Lehel, ruhig gelegen, zwei Zimmer, Küche, Bad, fünf Minuten zu Fuß bis zur U-Bahn. Außer einer Einbauküche hatte sie keine Einrichtung. Ihr Vater würde am Montag mit ihrem Hab und Gut kommen, sagte sie. Ich entschuldigte mich, dass ich Montag arbeiten müsse und ihr nicht helfen könne. Ihr Bedauern nahm ich ihr nicht ab, wusste aber auch nicht, warum sie so abweisend reagierte. Trotz einiger unvorsichtiger Worte hatten wir uns gut verstanden und sie sagte, sie würde mich am Montagabend besuchen kommen.

Ich kaufte auf dem Rückweg vom Bayrischen Hof noch einige Sachen ein, Reis, Pfeffer, Tomaten und eine Flasche Whiskey. Ich überlegte, ob Annalena wie früher noch immer gerne Whiskey trank.

Wir haben oft nachts im Alkoholnebel auf dem verwaisten Parkplatz des Einkaufszentrums gelegen und unsere Eltern verflucht. Ich, weil ich meine Eltern hasste, sie, weil ihre Eltern zu perfekt waren und von ihr das gleiche erwarteten. Oft saßen wir auch im Winter dort, wir froren, sie zitterte neben mir. Ich habe mich häufig gefragt, ob ich nicht den Versuch wagen und meinen Arm um sie legen sollte, nur um sie zu wärmen. Doch mir fehlte der Mut, nicht nur bei ihr, bei jedem Mädchen.

Nach meiner Ehe mit Elisa war das anders, ein Teil von mir war wie verwandelt. Ich nahm oft Frauen zu mir nach Hause, und nicht selten blieb es nicht beim Fotografieren.

 

Die Absenz von Samthandschuhen

 

"The days have turned away from me ..." Mark sang gedankenverloren aber gut gelaunt die erste Zeile mit. Er liebte die Musik von John Frusciante, er hatte das Gefühl, dieser würde über sein eigenes Leben singen, manchmal zumindest. Das Telefon klingelte. Mark hielt inne, drehte die Musik leiser und warf einen Blick auf den köchelnden Reis, bevor er nach dem Telefon griff.

"Wittmann ..."

Es war Elisa. Sie telefonierten ein- oder zweimal im Monat, zumindest in den letzten drei Jahren wieder. Elisa hatte ihm sein Verschwinden verziehen, nachdem er vor drei Jahren der Einladung zu ihrer Hochzeit gefolgt war. Ihr neuer Mann war gut für sie und die Kinder, Mark wusste das. Er war bodenständig und ruhig, etwas das auf Mark nie zutraf. Er hatte beiden ehrlich gratuliert und Elisa war überglücklich, dass Mark sich mit ihrem neuen Mann verstand, und auch die Kinder, damals acht und sechs Jahre alt, sowohl mit ihm als auch mit Mark keine Probleme hatten. Mark fuhr damals erleichtert nach München zurück. Das Wissen, dass er seine Familie zerstört hatte, wollte ihm nie Ruhe lassen, bis er schließlich zu dieser Hochzeit fuhr. Doch als er zuhause war, schloss er sich drei Tage lang im Schlafzimmer ein und bekam einen Wutanfall nach dem anderen. Irgendwo tief im Inneren wusste er, dass er Elisa noch immer liebte, so wie sie früher war, ohne Mann und ohne Kinder.

Doch bald verflog sein Zorn, er brauchte nie sehr lange, um Menschen wieder zu vergessen. Am Telefon waren sie wie gute Freunde, und Elisa gab ihm immer das Gefühl, er wäre verantwortungs- und verständnisvoll. Es war paradox, aber er brauchte das.

An diesem Montagabend teilte sie ihm mit, was Christine sich zum Geburtstag wünschte. Sie wurde in der Woche darauf elf Jahre alt, und so langsam wurde es für Mark schwierig nachzuvollziehen, wie sich der Kosmos seiner Kinder entwickelte. Elisa verabschiedete sich schnell, sie schien guter Laune, und sagte, sie und Thomas, ihr Mann, würden noch später am Abend ins Theater fahren.

 

Ich verfluchte mich an diesem Abend. Ich stand vor dem großen Spiegel, den ich mir am Vormittag in Schwabing gekauft hatte, und grübelte allen Ernstes über die Wirkung meiner Kleidung nach. Mark hatte mich verwirrt, als er mir erzählte, dass er Aktfotos mache. Meinte er, ich wäre nicht gut genug dafür, oder hatte er sich einfach nur ungeschickt angestellt? Vielleicht war ich aber in seiner Vorstellung noch immer das Mädchen von damals. Und ich musste ihm Recht geben, wenn er davon ausging, dass ich früher nicht mal darüber nachgedacht hätte. Allerdings sollte er mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich nicht wieder nach dem Fotografieren fragen würde.

Ich hatte es aufgegeben mein Alter mit jugendlicher Kleidung zu verdecken. Ich suchte jetzt nach etwas, was mich selbstbewusst erscheinen ließ, denn an Selbstvertrauen hatte es mir immer gefehlt. Ich entschied mich schließlich für einen alten Tweed-Anzug, sollte Mark mich doch noch fotografieren, hätte dieser auch sicherlich das richtige künstlerische Flair. Ich steckte meine Haare hoch und stülpte eine graumelierte Strickmütze darüber, dann vermied ich jeden weiteren Blick in den Spiegel. Meine immer noch kahle Wohnung wirkte wenig gemütlich und so ging ich bereits etwas früher hinunter und nahm einen kleinen Umweg entlang der Isar. Es regnete nicht mehr, aber von allen Bäumen und Vordächern tropfte noch das Wasser. Ich fröstelte etwas, der Wind pfiff nicht gerade zimperlich durch die Häuserfluchten.

An der Isar angekommen setzte ich mich auf das Geländer der großen Brücke unterhalb des Maximilianeums und dachte an meine letzte Beziehung, vor meinem Umzug, als ich noch in Stuttgart lebte. Er arbeitete in einer IT-Firma und ich hasste es, wenn er anfing über seine Arbeit zu reden. Aber die restliche Zeit über, in der er nicht arbeiten war, liebte ich ihn. Bis ich dann irgendwann herausfand, warum er nicht zu mir ziehen wollte. Ich hatte einige kurze Affären seit ihm, aber ich habe bei keinem mehr das Gefühl verspürt, dass ich ihn am nächsten Tag wiedersehen wollte. Zudem wusste ich, dass meine Arbeit in Stuttgart bald abgeschlossen sein würde, und wollte die Zeit, die mir neben der Arbeit blieb, nicht für den Aufbau einer Beziehung ohne Zukunft verwenden.

 

Einen Augenblick hatte sie gedacht, jeden Moment wieder umzukehren und nach Hause zu gehen. Die Gedanken an der Nachtluft hatten Annalena Angst gemacht, doch als Mark schneller als erwartet die Tür öffnete und sie mit einem entwaffnenden Lächeln hereinbat, verflogen plötzlich alle Bedenken und sie spürte die Wärme, die von seiner Wohnung ausging.

"Trinkst du immer noch Whiskey?" Mark wollte sich vergewissern, bevor er innerlich siegessicher den Single Malt servierte.

"Sowas merkst du dir?" Annalena lächelte das verlegene Lächeln, das Mark immer an ihr gemocht hatte.

"Ich vergesse doch nicht unsere nächtlichen Gelage ...", er holte die Eiswürfel aus dem Gefrierfach und ließ sie klingend in die Gläser fallen.

"Nur dass wir früher nur Bourbon lauwarm direkt aus der Flasche getrunken haben", Annalena merkte, wie ihre Stimmung langsam gelöster wurde.

"Aber wir haben immer davon geträumt, irgendwann Single Malt on the Rocks zu trinken", Mark reichte ihr eines der beiden Gläser und goss den Whiskey ein.

"... in einem englischen Landhaus in Cornwall", Annalena lachte bei dem Gedanken.

"Na und ... irgendwo muss man anfangen", Mark deutete zum Tisch, "setz dich doch, ich muss mal nach dem Essen sehen."

"Du bist lange nicht mehr in unserer Heimat gewesen, oder?" Annalena war auf dem Weg zum Tisch an der furchtbaren alten Kommode vorbeigekommen, die Elisa Mark aufgezwungen hatte, als er sie vor zwei Jahren besucht hatte. Das Foto, das sie sich ansah, war ein Schnappschuss aus Marks altem Zimmerfenster im Haus seiner Eltern.

"Nein, es ... hat sich nicht ergeben", Mark konzentrierte sich auf das Essen. Dass Annalena ausgerechnet darüber sprach, ärgerte ihn, aber was hatte er erwartet? Sie beide verband nur die Vergangenheit.

"Ich wünschte, ich hätte so viel Mut zum Loslassen gehabt wie du", Annalena setzte sich schließlich mit einem Seufzen, "mich verbindet noch immer viel zu viel mit der Zeit damals ..."

"Du sagst das so, als wüsstest du, wovon du sprichst", entgegnete Mark und lachte leise, während er den Herd ausstellte.

"Ich habe zu viel Zeit dort zugebracht in den letzten Jahren", entgegnete sie irritiert, sah ihn dann aber forschend an, "oder meinst du, dir ist es auch nicht besser ergangen?"

"Das klingt so, als würden hier zwei gescheiterte Existenzen miteinander reden", er kam zum Tisch und setzte sich.

"Nein, ganz so schlimm ist es sicher nicht", Annalena griff nach dem Whiskeyglas und überspielte mit einem Lächeln den bedrückten Tonfall, "hmmm ... auf früher?"

"Besser nicht", Mark musste lachen, "trinken wir lieber auf morgen ..."

 

Ja, auf morgen ... das konnte ich schon immer gut. Die Vergangenheit war mir zu bedrückend, die Gegenwart zu kompliziert. Ich war immer ein Mensch, der für den Moment leben konnte, selten aber für den Moment, in dem ich mich gerade befand. Ich versuchte das Bild auf der Kommode zu vergessen. Es war auf der letzten Party in meinem alten Zimmer entstanden, am Abend bevor ich nach Spanien fuhr. Ich hatte mir damals geschworen, nie mehr zurückzukehren. Dass ich es tatsächlich zehn Jahre später noch nicht getan hatte, erschreckte mich. Es schien so, als hätte ich den Kontakt zu einer Welt verloren, die ich damals hasste, und die dennoch alles war, was mich einst ausmachte.

Und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jón Faras
Bildmaterialien: Bildmaterial: © aleshin - 81334319 - fotolia.de / Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua - facebook.com/aihua.art
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0646-0

Alle Rechte vorbehalten

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