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EIN LEBEN, KLAR WIE DIE STREICHER




I. DAS WEIßE RAUSCHEN


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Teil a. Der galvanisierte Himmel
Teil b. Hinter dem weißen Horizont
Teil c. Gorecki
Teil d. Bionik


d. Bionik




Es waren die Augen. Der Blick. Die Sinne. Ein Engel braucht keine Welle, keinen Äther, keine Antennen. Ein Engel ist nicht an die Subjektivität des Lebenden gebunden. Er kann alles sehen. Aus jedem Blickwinkel. Ein visuelles Massaker. Optische Gewalt. Reizüberflutung ... Reizüberflutung.


Veníce erschrak. Ihre Augen waren geschlossen und noch im Traum gefangen, doch ihre Finger tasteten bereits wieder in der Welt der Wachen. Abgewetzter Stoff glitt unter ihren Händen hindurch und webte feine Muster in ihre linke Wange. Sie fühlte sich ausgetrocknet und gar nicht mehr nüchtern.
Allmählich erwachten auch ihre Augen. Sie richtete sich auf. Ihr Blick fiel auf einen Tisch mit einigen leeren Flaschen Vodka. Im Sessel ihr gegenüber saß zurückgelehnt der Kahlköpfige und schlief geräuschvoll und betrunken. Veníce' Schädel pochte dumpf. Wieviel hatte sie getrunken? Wie lange hatte sie geschlafen? Sie sah sich um und entdeckte das Hausterminal. Schwankend stand sie vom Sofa auf und schleppte sich unsicheren Schrittes vorwärts. Das Display des Terminals gab ihr zumindest auf ihre zweite Frage Antwort.
Gut, nur einige Stunden. Nicht der Rede wert.

Veníce seufzte und stand auf. Es war mitten in der Nacht. Sie zog ihre Schuhe an und sah sich noch einmal in der Wohnung des Kahlköpfigen um, dann ging sie hinaus auf den Flur.
Einige Sekunden lang starrte sie auf Mjús Tür. Dann beschloss sie, es an einem anderen Tag wieder zu versuchen, und stieg die Treppe hinab.

~



Langsam zog Mjú an der Wolldecke. Er wollte Malín nicht aufwecken. Umständlich rückte er seinen Zeichenblock zurecht, warf einen Blick auf die Skizze, dann zog er noch ein Stück an der Decke. Gerade soweit, dass Malíns Brüste zu sehen waren. Mjú nickte zufrieden und begann eine neue Skizze.

Der Sex hatte nicht lang gedauert, aber er war intensiv. Malín hatte auf ihre Zigarette danach - ein von ihr mit Vorliebe kultiviertes Klischee - verzichtet, hatte Mjú ihren schmalen Rücken zugedreht und war eingeschlafen. Er aber fühlte sich nicht mehr müde. Er hatte sich eine Hose übergezogen und seinen Skizzenblock geholt. Inzwischen war Malín eingeschlafen. Mjú zeichnete ihre nackten Füße, die unter der Decke hervorragten, ihren gebeugten Nacken, unter dessen Haut die Halswirbel hervortraten, ihre fröstelnde linke Schulter, ...

Malín hatte ihn zuvor nach seinen Comics gefragt. Er hatte versucht, das Gespräch auf etwas anderes zu lenken. Das weiße Rauschen

zählte zu den Comics, auf die er nicht gerade stolz war, aber diese Reihe verkaufte sich von seinen Werken am besten.
"Worum geht es in dem Comic?" hatte sie gefragt.
"Um nichts besonderes", entgegnete Mjú.
"Na los, erzähl schon!"
"Um eine Stadt, in der die Menschen nach dem Tod zu Engeln werden. Engel, die alles sehen. Wirklich alles! Jeden Augenblick, jede Bewegung, jede Meinung, jede Zeit und jeden Ort. Und es gibt die lebenden Menschen. Sie brauchen ihr Netzwerk aus Antennen, um ihre beschränkte Wahrnehmung zu ordnen. Und Engel und Menschen liegen im Streit."
"Klingt ... sonderbar."
"Findest du? Ich halte die Idee für ziemlich abgedroschen. Allsehende Himmelsgeschöpfe, an technische Hilfsmittel gebundene Menschen ... eine alte Parabel."
"Ach echt ... ? Nie gehört."
"Ich glaube, ich habe sie aus einem alten Kinderbuch. Eines dieser Bücher, die meine Mutter immer versucht hat, vor mir zu verstecken. Sie sagte, die Geschichten in diesem Buch wären zu verstörend. Aber um ehrlich zu sein, sie sind harmlos verglichen mit dem echten Leben."
"Wem sagst du das ..."

~



R°odâ hielt außer Atem inne. Er war ihr entkommen. Vielleicht die einzige halbwegs brauchbare Spur in diesem sinnlosen Fall, wie zufällig über den Weg gelaufen, nur um bei der vorsichtigen Frage, warum er nach Veníce suche, davonzulaufen. Und er war schnell. Verflucht schnell. R°odâ war es nicht gewohnt abgehängt zu werden, doch nachdem sie ihn durch ein Dutzend Gassen verfolgt hatte, war er schließlich urplötzlich verschwunden.
"Ich hasse meinen Job", knurrte sie wütend, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
Sie ließ Sigurd gar nicht erst zu Wort kommen. Atemlos und ungehalten berichtete sie Sigurd von dem Fremden, der sich nach der Villa Tjade erkundigt hatte und ihr dann davon gelaufen war. Sie schnitt ihrem Chef das Wort ab, als er sich darüber wunderte, dass ihr jemand zu Fuß entkommen wäre, und schließlich drückte sie das Gespräch mitten in seiner Verabschiedung weg. Zuvor hatte Sigurd ihr zerknirscht zugestanden, sich freizunehmen.

Sigurd wusste, was er an R°odâ hatte. Sie war seine beste Mitarbeiterin, wären da nicht ihre regelmäßig auftretenden Launen, die sie kopflos machten und zu oft in wildem Aktionismus endeten. Seitdem er R°oda vor zwei Jahren freundlich zu einer Therapie gezwungen hatte, hatte sie sich selbst besser im Griff. Sie drehte nicht mehr durch, konnte sich selbst zur Ruhe zwingen, sofern man ihr diese Ruhe gewährte, und analysierte ihr eigenes Verhalten, sodass sie wenige Stunden später wieder motiviert und einsatzfähig war.
Für R°odâ aber verschob sich das Problem nur. Sie hatte sich besser im Griff und neigte weniger zu Wutausbrüchen, doch das ständige Nachdenken und Selbstkritisieren trieb sie von Zeit zu Zeit in eine depressive Stimmung. Für gewöhnlich äußerte sich das in einer kühlen Distanz zu ihr selbst, die in brenzligen Situationen zu einer ungesunden Risikobereitschaft führte. Einzig aufgefangen wurde diese nur durch den Umstand, dass R°odâ gedanklich soweit von sich weg war, dass ihre objektive Lageeinschätzung und das Abwägen von Gefahr in erstaunlicher Weise gesteigert waren. Wie eine Maschine!

stellte sie dann sarkastisch fest.

Doch als sie nach dem Telefonat mit Sigurd missmutig durch die Gassen schlurfte, war sie erst am Anfang ihrer depressiven Phase. Und diese hielt auch für die nächsten Stunden an, in denen sie ziellos durch die Stadt zog. Als sie am Morgen - es wurde bereits hell - ihre Wohnung betrat, war es ihr, als wäre sie zwei Schritte hinter ihrem Körper zurück. Sie schüttelte sich innerlich, um sie herum schwoll die Zeitlupe an und bettete sie in Watte, dehnte langsam das Band, das sie mit ihrem Körper verband, bis es fast zerreißen musste.
R°odâ riss die Augen weit auf, als müsse sie Licht und Luft an das schwindelnde Dunkel in ihrem Hirn lassen. Sie spürte ihre Hände ineinander, doch sie fühlten sich taub an, als hielten sich zwei Fremde an den Händen. Ein Schaudern durchzuckte sie. Ihr dumpf aus der Ferne schlagendes Herz hatte zu rasen begonnen. Kalter Schweiß umfasste sie. Erneut schüttelte sich R°odâ und spürte so etwas wie ein Erwachen in sich.
Sie stolperte ins Bad, ließ kaltes Wasser in die Wanne und fiel mit dem Gesicht vorwärts hinein ...

~



Die Fenster waren weit geöffnet und eine frische Briese kam vom Fjord herauf und jagte die flüchtigen Kohlezeichnungen über das unebene Parkett. Das weiße Laken hatte dunkle Handabdrücke, ebenso Malíns Rücken. Mjús kohleverschmierte Hände ragten unter der Bettdecke hervor, während sich langes blondes Haar über seine jungenhafte Brust legte, die sich gleichmäßig dem Atem folgend hob und senkte. Der Wind frischte erneut auf und blähte den nahen staubigen Vorhang, der die hintere Hälfte des Raums im Dunkel hielt. Die Silhouette eines großen Mannes zeichnete sich im Schattenwurf auf dem Holzboden ab.
"Zeit ist etwas so relatives, und dennoch halten sich die Menschen daran", grollte die dunkle Stimme Goreckis.
"Zeit kann ein Geschenk sein", entgegnete eine weiche hohe Stimme hinter ihm.
"Sie bedeutet nur den Verlust alles zu sehen, alles zu wissen, Serge!"
"Für dich mag es ein Verlust sein, Gorecki", Serge setzte sich an den geflickten, staubigen Flügel auf dessen Tasten die Morgensonne fiel, "doch es ist ein Mittel, um die grandiose Vielzahl der möglichen Wahrheiten zu erzeugen."
"Spielerei!" spuckte Gorecki aus.
"Mag sein, wie die Musik. Und doch ein rettendes Ufer vor dem Wahnsinn, den wir erleben, wenn wir alles sehen, alles wissen, alles hören, ohne Grenzen."
Serge begann leise und langsam zu spielen. Der Wind schwoll an, füllte den Raum, strich durch Mjús Haar, wehte die Bettdecke von Malíns Bein. Eine Skizze wirbelte auf und klatschte Gorecki ins Gesicht. Wütend riss er das Blatt entzwei, und mit dem Geräusch des Reißens zersprang im Flügel eine Saite.
Serge hielt inne und sah Gorecki an. Ein dumpfer Rythmus erklang, als er mit den Fußspitzen angespannt auf das Parkett trommelte. Gorecki straffte sich und schüttelte unwillig den Kopf. Dann ging er zum Fenster und verschwand. Serge blieb am Flügel sitzen, begann jedoch nicht erneut zu spielen. Der Rythmus verebbte. Serge wandte sich dem Ätherreceiver zu und verschwand ebenfalls.

~



Mjú träumte. Es kam ihm vor wie eine Kindheitserinnerung, doch zugleich wusste er, dass dies ganz und gar unmöglich war. Als Kind war er niemals außerhalb des weißen Horizonts gewesen, und dieser Ort, an dem er sich nun träumend befand, musste zweifellos außerhalb der Stadt liegen. Er zitterte. Das lag am kalten Wind. Gefroren hatte er oft als Kind.
Kein Wunder, du bist ja auch nur Haut und Knochen.

hatte seine Mutter immer gesagt, wenn sie ihren Sohn fröstelnd im hohen Gras stehen sah. Doch im Traum sagte sie es nicht, im Traum war sie nicht bei ihm. Dafür sprach eine andere Stimme zu ihm.
"Dies ist die Lokomotive. Unsere Verbindung zu den anderen Enklaven. Sie ist der Natur nachempfunden, reine Bionik. Die Energie, die uns durchströmt, der Blutkreislauf, der Lebenswille, all das haben die Erbauer in ihr umgesetzt. Das streben nach der Ferne, menschengleich und dennoch ... reine Bionik."
Mjú verstand kein Wort. Alles was er sah, war ein rostiger Zug; Dampflok, Kohletender, vier Reisewaggons.
"Bionik?" fragte er.
"Das sagte ich doch", entgegnete die Stimme.
Sie war gleich neben ihm, das wusste er, doch umdrehen wollte er sich nicht. Es war ein Spiel, er musste es erraten. Musste sie

erraten.
"Bionik ist doch alles", fuhr sie fort.
"Wie meinst du das?" fragte Mjú dazwischen, um Zeit zu gewinnen.
"Alles was wir machen ist eine Adaption der Natur. Wusstest du das nicht?"
"Ähm ... bestimmt."
"Wir können nichts erschaffen, das nicht aus der Natur entstanden ist."
"Das mag daran liegen, dass der Mensch selbst Natur ist", stieg Mjú wieder ins Gespräch ein. Ihm fiel auf, dass er während des Gesprächs älter geworden war. Siebzehn oder achtzehn Jahre war er nun alt. Und mittlerweile hatte er das Gefühl, dass die Stimme, deren Besitzerin er vergeblich zu erraten versuchte, nun wesentlich besser in den Traum passte.
"Kluger Junge", entgegnete sie lachend, und in diesem Moment erkannte Mjú die Stimme. Es hatte in seinem Leben nur eine Person gegeben, die ihn so aufziehen konnte ... und durfte. Nur eine Person, die es schaffte, die Dunkelheit aus seinen Gedanken zu vertreiben.
Mjús Trauma waren die Jugendlieben. Und diese holte ihn nun wieder ein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
- Fortsetzungsroman -

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