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EIN LEBEN, KLAR WIE DIE STREICHER




I. DAS WEIßE RAUSCHEN


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Teil a. Der galvanisierte Himmel
Teil b. Hinter dem weißen Horizont
Teil c. Gorecki
Teil d. Bionik


c. Gorecki




Sollte ich in diesem Moment sterben, ich hätte keine Angst, denn ich habe niemals genug gesehen um zu wissen, dass nach dem letzten Schritt nichts mehr kommen kann. Und ich werde den Schritt in das unendliche Vergessen nicht antreten, bevor ich nicht alle Geheimnisse des Universums gesehen habe.


Veníce las diesen Satz immer und immer wieder. Sie stand im heruntergekommenen Treppenhaus in einem der schlechteren Viertel der Stadt und zitterte. Nicht nur vor Kälte. Die Kälte war ein Grund, der sie frösteln ließ, doch das Zittern konnte sie sich nicht richtig erklären. Es war eine bunte Collage aus unterschiedlichen Gefühlen. Die Angst vor dem Viertel, ihr war die Welt außerhalb des Kreivinsbjerg kaum bekannt, die Einsamkeit des Augenblicks, die Trostlosigkeit des Ortes, an dem der Verfasser der Zeilen wohnte, die für sie zu einer Art heiliger Schrift geworden waren, der Alkohol...
Nein,

korrigierte sie sich in Gedanken, nicht der Alkohol. Nicht mehr. Hier und jetzt bin ich nüchterner als jemals zuvor.


Zumindest war sie ernüchtert. Sie hielt die erste Ausgabe von Das weiße Rauschen

erneut in den gelblich dreckigen Schein der Glühbirne und las erneut den Eingangsmonolog des Protagonisten.
Schließlich fasste sich Veníce ein Herz und stieg die Treppe hinauf. Die Wohnung war ganz oben unter dem Dach des Hauses. Veníce klopfte zaghaft an die verzogene Holztür. Während sie auf eine Antwort wartete, sah sie sich im Treppenhaus um. Ein kleines kreisrundes Fenster blickte zur Straße hinab. Jemand hatte den Holzrahmen, der ebenso verzogen war wie die Tür, mit kleinen Zeichnungen verziert. Es waren offensichtlich Zeichnungen, die ohne große Motivation und aus Langeweile entstanden waren, doch sie erkannte den Stil wieder. Veníce spürte ein Kribbeln im Nacken. Sie hatte ihn gefunden!
Zu dumm nur, dass er die Tür nicht öffnen wollte. Vermutlich war er nicht zu Hause. Sie klopfte erneut, diesmal lauter, doch erneut regte sich in der Wohnung nichts. Veníce seufzte und blätterte in Das weiße Rauschen

. Sie kannte die Geschichte bis ins kleinste Detail, der Eingangsmonolog war ihr allabendliches Gebet, die düsteren, kryptischen Kommentare des Engels Gorecki begleiteten sie wie ein ewiges Mantra, die ätherische Schönheit Kalinka, Tochter des verschollenen Seefahrers Larion, wurde zu ihrer Identität...

~



Mjú trat vom Dachfirst zurück.
...denn ich habe niemals genug gesehen um zu wissen...

hallte sein letzter Gedanke nach. Er sprang durch das Dachfenster hinab in sein helles Loft und drehte am Zahnrad des Ätherreceivers. Die ersten Töne schwankten unstet, bevor das Gerät die Welle gefunden hatte. Mjú machte sich eine Tasse Tee, während er gedankenverloren der Welle Prokofieff

zuhörte.
"Wie kann der Mensch jemals ohne Antennen leben?" fragte er laut, während der Engel Serge im Senderaum des Äthers zu spielen begann.
"Er kann. Er hat es einst. Doch ohne Antennen sind seine Sinne verkümmert. Ohne Antennen wäre der Mensch ein blindes Tier, das nur den Wechsel von Kalt und Warm wahrnehmen könnte", grollte eine tiefe Stimme aus der anderen Ecke des Raumes.
"Sei still, Gorecki!" rief Mjú ins Off, "wir Menschen sind nicht weit von euch Engeln entfernt. Nur haben wir uns einen gesunden Geist bewahrt!"

~



"Das nennst du einen gesunden Geist?

"
Veníce sah auf, als sich jemand am Treppenabsatz räusperte. Sie errötete, als ihr bewusst wurde, dass sie laut gelesen hatte.
"Bist du Mjú?" fragte sie den Mann, der nun aus dem Schatten der Treppe ins spärliche Licht vor dem runden Fenster trat. Er war kahlköpfig und muskulös, eine schmale Narbe teilte seine linke Augenbraue. So hatte sich Veníce den Gesuchten zwar nicht vorgestellt, doch sie durfte nicht erwarten, dass Mjú tatsächlich so aussah, wie in seinen Comics.
"Mjú?" der Kahlköpfige schüttelte lachend den Kopf. Es war ein erschöpftes Lachen, fand Veníce.
"Dann entschuldige", sie klappte das Comicheft zu.
"Bist 'ne Freundin von Mjú?" der Kahlköpfige musterte sie, "siehst gar nich' aus wie jemand der mit ihm befreundet ist."
Jetzt schüttelte Veníce knapp den Kopf und hob die Hand mit dem Comicheft.
"Ein Fan?" der Kahlköpfige lachte erneut.
"Was ist daran so komisch?"
Anstatt einer Antwort grinste der Mann nur und ging zur Wohnungstür auf der anderen Seite des Flurs. Er fischte einen kleinen Schlüssel aus seiner Tasche und drehte sich dann zu Veníce.
"Magst 'n Drink bis der Herr Comiczeichner zurück kommt?"

~



"Wo ist diese Pizzeria?" fragte R°odâ entnervt und trommelte mit den Fingerknöcheln gegen den Rahmen der hölzernen Pförtnerklappe.
"Um das sagen zu können, müsste ich wissen, zu welcher Pizzeria Fräulein Veníce gegangen ist", schnarrte die Stimme des Pförtners, "sowas kann ich nicht so einfach wissen, wenn das Fräulein es mir nicht sagt, wissen Sie?"
"Ja, schon gut", R°odâ seufzte, "gibt es eine Pizzeria, bei der sie regelmäßig war?"
"Wer?"
"Veníce natürlich..."
"Hmm. Nein. Jetzt wenn ich so darüber nachdenke", setzte der Pförtner erneut an, "dann habe ich sie eigentlich nie zu irgendeiner Pizzeria gehen sehen."
"Und das fällt Ihnen jetzt erst auf?" R°odâ rollte mit den Augen.
Der Pförtner schwieg verstimmt.
"Na toll, keinen Anhaltspunkt wo sie hingegangen ist, ich weiß nichtmal, ob sie wirklich Pizza holen wollte." R°odâ warf einen flüchtigen Blick über die Straße.
"Da kann ich Ihnen vielleicht helfen", meldete sich der Pförtner wieder zu Wort.
"Ach nein... Und wie?"
"Sie ist die Straße runter zum Gesellschaftswall."
R°odâ sah den Pförtner perplex an. "Woher wollen Sie das nun wissen?"
"Na ich hab ihr nachgeschaut."
"..." R°odâ setzte zu einer bissigen Antwort an, hielt aber inne und schüttelte nur den Kopf. "Wenn mein Kollege fragt, sagen Sie ihm bitte, ich durchkämme die Stadt."
Missmutig zog sie das Tor ins Schloss und ging die Straße hinab.

~



Mjú starrte noch immer fasziniert auf die freigelegte Wand.
"Warum malt jemand eine Szene aus meinem Comic hier draußen an eine Wand?"
Er trat zum wiederholten Mal näher an die Wand. Die Zeichnung war perfekt imitiert, jede Linie war an ihrem Platz, das Wandgemälde war wie kopiert.
"Warum malt überhaupt jemand irgendetwas an diese Wand?" Malín scharrte fröstelnd mit den Füßen. So groß ihre Erleichterung auch war, dass sie nicht mehr alleine in der düsteren Gondelstation warten musste, so klein war ihre Geduld.
"Ja, warum?" Mjú ließ sich von Malíns schlecht gelauntem Ton nicht beeindrucken. "Hier eine Wand zu verschönern macht überhaupt keinen Sinn. Niemand kommt hier raus und wartet auf eine Gondel... außer vielleicht..." er warf Malín einen kurzen Blick über die Schulter zu.
"Früher waren viele Arbeiter hier draußen", Malín trommelte mit den Fingern auf die Tabakdose in ihrer Tasche.
"Ja, aber diesen Comic habe ich vor drei Jahren gezeichnet, zu der Zeit waren die Wände hier schon mit Moos bedeckt."
"Bist du sicher, dass du den Comic nicht nach dieser Szene abgezeichnet hast?" fragte Malín und hörte in die Nacht auf das Geräusch des Seilzugs, der bald die nächste Gondel zurück in die Stadt herantragen sollte.
"Was denkst du, ob ich sicher bin?" Mjú drehte sich mit einem Grinsen zu Malín.
"Ist ja schon gut", Malín verstummte, und auch Mjú fiel in Schweigen und beobachtete weiter das Wandgemälde.

~



Nach der sechsten Pizzeria setzte sich R°odâ auf eine halbhohe Mauer und blickte entnervt die Straße entlang. Sie hatte nie bemerkt, dass es soviele Pizzerias in der Magnussensgasse gab. Und noch hatte sie das Ende der Straße nicht erreicht. Die Magnussensgasse war lang, einer der längsten Straßen der Stadt.
Seufzend stand R°odâ auf und passierte die Stöpe der hohen Flutschutzmauer. Mittlerweile war sie ziemlich sicher, dass sie Veníce' Spur in keiner Pizzeria mehr finden würde, selbst wenn das diese bei einer gewesen sein sollte. Doch eine Alternative hatte sie nicht, es gab keinen Anhaltspunkt, wo Veníce sonst hingegangen sein könnte. Was also blieb ihr anderes übrig, als weiter die Straße hinabzugehen und die Pizzerias abzuklappern?

"Entschuldigen Sie..."
R°odâ hielt abrupt an, als eine große Gestalt ihren Weg kreuzte. Ein Blick zur Seite zeigte, dass diese wohl aus einem dunklen Hauseingang gekommen sein musste. Der Mann, der R°odâ angesprochen hatte war hochgewachsen und in einen eleganten weißen Anzug gekleidet.
"Ich suche den Weg zur Villa Tjade..."
R°oda nickt knapp und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter die Magnussensgasse hinauf.
"Immer geradeaus", murmelte sie als Antwort.
"Danke", erwiderte der Mann und machte einen Schritt zur Seite.
"Allerdings..." R°odâ, die bereits zum Weitergehen angesetzt hatte, hielt inne und drehte sich zu dem Mann, "der Zeitpunkt ist nicht der beste um dort aufzukreuzen."
"Ist er das nicht?" der Mann legte den Kopf schief und musterte R°odâ.
"Nein, aktuell ist dort die Polizei, es gab... einen Vorfall."
"Einen Vorfall?" der Mann nickte, "Danke für den Hinweis."
"Was genau wollen Sie eigentlich bei den Tjades?" erkundigte sich R°odâ beiläufig.
"Ich suche ihre Tochter", entgegnete der Mann.

~



"Ja, ich bin einfach so eingeschlafen."
Malín musste lachen. Es war nicht besonders warm in der Gondel, aber allein die Tatsache, dass sie nun die Lichter der Stadt wieder sahen, besserte ihre Laune merklich.
"Du hast bestimmt einen anstrengenden Job", bemerkte Mjú, "nicht so eine brotlose Kunst wie Comics zu zeichnen."
"Mit deiner brotlosen Kunst läuft es bei dir bestimmt besser als bei mir", Malín dachte an ihren Webcam-Job und hoffte, dass ihr gespräch nicht bei dem Thema hängen blieb.
"Willst du meine Wohnung sehen?" Mjú lächelte sie herausfordernd an, "dann kannst du dir selbst ein Bild machen."
Malín dachte an ihre eigene Wohnung, die dunklen Zimmer, nur erhellt vom Monitorflimmern, zugig und wenig einladend.
"Ist das eine Einladung?" fragte sie.
"Sicher... ich kann dir aber nicht viel anbieten. Einen Tee vielleicht oder ein Bier", Mjú blickte aus dem Gondelfenster und betrachtete die Hafenstation, die langsam näher kam.
"Keine Sorge, mit einer warmen Decke bin ich vollauf zufrieden", Malín betrachtete Mjú von der Seite. Er war nicht ihr Typ

, aber davon abgesehen war er ein gutes Argument, die Nacht nicht in ihrer Wohnung zu verbringen.
Außerdem habe ich selber gesagt, dass ich schon lange keinen Mann mehr hatte. Er ist zwar eher eine großer Junge, aber er hat bestimmt mehr drauf als meine Webcam-Bekanntschaften.

Malín lächelte verlegen, als ihr Mjú den Blick zuwandte. Außerdem ist dieser Comic von ihm...

Das Weiße Rauschen. Vielleicht erzähle ich ihm später von der Tabakdose...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
- Fortsetzungsroman -

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