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EIN LEBEN, KLAR WIE DIE STREICHER




I. DAS WEIßE RAUSCHEN


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Teil a. Der galvanisierte Himmel
Teil b. Hinter dem weißen Horizont
Teil c. Gorecki
Teil d. Bionik


b. Hinter dem weißen Horizont




Das Geld hatte noch für eine halbe Pizza gereicht.
Alles ist teurer geworden.

stellte Mjú zerknirscht fest. Sogar fettige Pizza...


Er betrachtete die übergroße Scheibe Salami, die auf dem Käse lag und sich an den Rändern so nach oben gewölbt hatte, dass ein Fettsee in ihrer Mitte stand.
Ich muss dringend etwas verkaufen, sonst kann ich ab nächster Woche mein Essen in den Hinterhöfen suchen.


Missmutig kippte Mjú das Fett auf das dreckige Pflaster neben der Imbissbude. Er war hinunter zum Hafen gegangen, nachdem er die von ihm gesuchte Pizzeria geschlossen vorgefunden hatte. Vermutlich war die ebenfalls von den schlechter gehenden Geschäften betroffen.
Alles geht zugrunde in dieser Stadt... auf jeden Fall in meiner Gegend.

er blickte über die Landungsbrücken hinüber zur hohen Klippe, die steil über dem Hafen thronte. Der Kreivinsbjerg wirkte von hier wie eine Trutzburg. Und in gewisser Weise war er das. Dort lebte der Teil der Gesellschaft, der sich noch eine solche nennen konnte. Vor einigen Jahren war sogar eine Mauer errichtet worden, die die Viertel oben auf der Klippe vom tiefer liegenden Rest der Stadt abtrennte. Eine Flutschutzmauer hieß es in den offiziellen Stellungnahmen. Die Presse nannte sie jedoch nur den "Gesellschaftswall".
Mjú stand auf und schlenderte entlang der Kaimauer zur Gondelstation. Der Hafen war die letzte Station vor dem Stadtrand. Um diese Uhrzeit kamen Mjú nur noch wenige Menschen entgegen, die die Gondel vom Kreivinsbjerg hinunter in die Gewerbegebiete nahmen. Und niemand fuhr mehr aus der Stadt hinaus. Doch als die Gondel ihre automatischen Türen schloss und sich wieder in Bewegung setzte, weiter aus der Stadt herauszufahren, sah Mjú aus dem Augenwinkel eine Gestalt im letzten Abteil, die offensichtlich eingeschlafen sein musste. Offensichtlich eine junge Frau, vielleicht noch ein Mädchen. Mjú konnte sich nicht vorstellen, dass sie aus der Stadt heraus fahren wollte.
Hastig sah er sich um und lief zu dem kleinen Terminal der Gondel, nur um festzustellen, dass jemand den Touchscreen eingeschlagen hatte. Erneut ließ er seinen suchenden Blick durch die Umgebung schweifen und machte schließlich ein öffentliches Tele-Terminal aus. Eilig rannte er darauf zu und wählte die Öffentliche Verkehrsgesellschaft aus den Einträgen unter "Schnellwahl".
Es dauerte einige Sekunden, dann wurde er in die Warteschleife durchgestellt. Ein unerträgliches Gedudel erklang, dass nicht nur die Öffentliche Verkehrsgesellschaft einsetzte, um unerwünschte Anrufer abzuwimmeln. Eigentlich war das mittlerweile gängiges Mittel aller Service-Hotlines. Mjú fragte sich, ob er in einem solchen Fall auf das Notrufportal zurückgreifen konnte, entschied sich aber dagegen. Welchen Grund hätte er haben können? Die Frau in der Gondel war freiwilliger Fahrgast. Er konnte nicht einmal sicher sagen, dass sie nicht doch mit Absicht den Weg aus der Stadt gewählt hatte. Doch wenn dem so war, dann interessierte ihn der Grund dafür.
Kurzentschlossen cancelte er die Verbindung und lief zurück zur Station, gerade als die nächste Gondel einfuhr. Er erreichte sie noch rechtzeitig, um die automatisch schließenden Türen zu stoppen und einzusteigen. Atemlos ließ er sich auf einen hölzernen Sitz sinken und sah aus dem Fenster. Die Gondel setzte sich in Bewegung, und der im dämmrigen Schatten der Kreivinsbjergklippe versinkende Hafen zog draußen vor der Gondel vorbei. Mjú war erwartungsgemäß allein in der Gondel.

~



Und wieder war das erste Kleidungsstück, dass R°odâ trug, ihr Handy. Sie grinste spöttisch über sich selbst, als sie vor dem Badezimmerspiegel stehen blieb und mit dem Badetuch ihre kurzen Haare trocknete, während sie den Ausführungen ihres Chefs folgte. Sie seufzte.
"Das heißt, ich soll nach Feierabend mitten in der Nacht Kindermädchen für eine versnobte Zwanzigjährige spielen?"
Sie warf das Badetuch zur Seite.
"Na klar weiß ich das, Sigurd, das Kind ist nur wegen seiner Eltern so, aber deshalb hat sie trotzdem keine Sonderbehandlung verdient."
Sie trat in Skin-O-Mat, drückte den Knopf und hob die Arme.
"Also gut, ich kann ja doch nicht ablehnen... Nein, Sigurd, ich verstehe schon. Ja, aber bitte... erzähle das meinem Papa und du bist tot, klar?!"
Sie beendete das Gespräch, während sie feine Düsen von Achsel bis Knie in eine dünne Gummischicht hüllten. Sie hatte sich den Skin-O-Mat vor einigen Jahren zugelegt, da sie es mittlerweile gewohnt war zu telefonieren und sich gleichzeitig anzuziehen. Zudem war der aufgesprühte Stoff mit Abstand die robusteste und bequemste Unterwäsche, die sie kannte, was sich schon in manchem Einsatz bezahlt gemacht hatte.
Gut, zumindest glaube ich das um nicht meine chronische Faulheit für die teure Anschaffung verantwortlich zu machen...


R°odâ lachte auf und zog ihren schwarzen Einsatzanzug über, eine Art Ganzkörper-Strampelanzug mit eingewebter Kevlarverstärkung, von dem sie froh war, ihn selten bei Tageslicht nutzen zu müssen. Sie zog die Stofflaschen über die Enden des Reißverschlusses und stülpte die Kapuze über ihre noch feuchten Haare.

Zwanzig Minuten später traf sie Sigurd wie vereinbart am Gartentor der Villa Tjade, die selbst im Villenviertel des Kreivinsbjerg noch wie ein kleiner Palast wirkte. Nachdenklich musterte sie Sigurd in seiner Paradeuniform.
"Du hast dich ja rausgeputzt..." knurrte sie.
"Ich muss mich auch mit der Familie unterhalten", entgegnete Sigurd schlecht gelaunt, "sei froh, dass ich dir nicht diesen Job überlasse."
"Das würdest du nie", R°odâ nahm die Hände aus den Taschen, "weil du weißt, dass entweder die oder ich das nicht überleben würden."
Sigurd verzog den Mundwinkel und spuckte in die Hecke. Er war ziemlich groß und breitschultrig. R°odâ verglich ihn gerne mit einem Bären. Allerdings mit einem sehr gemütlichen Bären, der nur selten seine Pranken schwang. Sie selbst war nicht gerade klein, doch Sigurd überragte sie weit genug um über ihre Kapuze hinwegsehen zu können.
"Hör zu", setzte Sigurd an und wurde ernst, "ich muss wieder rein und so tun, als würden wir alle verfügbaren Kräfte auf ihren Fall ansetzen. Es gibt ohnehin kaum etwas, das ich dir erzählen kann. Ihre Tochter Veníce ist verschwunden. Sie war mit ein paar Freunden im Gartenpavillon am feiern und wollte nach deren Aussage nur rüber zum Haus um zur Toilette zu gehen. Dort ist sie aber scheinbar nicht angekommen. Sowohl die Freunde als auch die Familie sind aber ziemlich betrunken..." Sigurd hob ergeben die Hände, "ich melde mich, wenn ich vernünftige Antworten von den Herrschaften

habe. Die einzige sinnvolle Auskunft kam vom Pförtner, der ausgesagt hat, Veníce hätte das Grundstück verlassen um Pizza zu holen. Das hat sie ihm jedenfalls gesagt... Er steht vorne am Haupttor, sprich du mit ihm, ich muss rein..."
Sigurd beendete seinen Lagebericht und drehte sich wortlos um. Während er durch den Garten Richtung Villa verschwand, notierte sich R°odâ eilig einige Stichpunkte, dann machte sie auf dem Absatz kehrt um das Grundstück zu umrunden...

~



Mjús Trauma waren die Jugendlieben. Unerfüllt waren sie geblieben, unerreichbar scheinend und abgöttisch verehrt. Doch als die Jahre kamen und ihm klar wurde, dass er in ihren Schatten kniend nur im Stillen erreicht hatte, was andere laut und von sich selbst eingenommen für sich beanspruchten, träumte er von anderen Umständen.
Mjú sah sich als verwundeter Soldat. Noch halb ein Kind wie der Bleuet bei Japrisot, ganz und gar nicht heldenhaft aber menschlich. Er schleppte sich mit letztem Atem nach Hause an die Küste, legte seine geschundenen Handgelenke in ihren Schoß und das Ohr gegen ihr Herz, dass hinter den kleinen Brüsten schlug.
In Mjús Welt waren Frauen Krieger und er nur das aufgeschreckte Wild. Doch für alle sichtbar verkörperte er Mjú, den Held seiner Mittelklasse-Comics. Und in denen wurde ihm vorgeschrieben, dass die Engel mit den Maschinengewehren Männer waren. Es hatte keinen Zweck zu widersprechen. Er war auf das Geld angewiesen. Es sei denn, er bekäme die Chance in den Krieg zu ziehen...

Er schreckte aus seinen stillen Gedanken auf, als hinter den Fenstern der Gondel das weiße Leuchten näher kam. Mjú hatte es bislang niemals im Dunkeln durchquert, und auch bei Tageslicht blendete das Licht so stark, dass er mehrere Sekunden lang benommen war.
Das weiße Licht umgab die Stadt auf der Landseite. Es war eine Schutzvorrichtung, eine Art energetische Barriere die Jahre vor seiner Geburt bereits errichtet worden war, um die wilde Natur - "Teufel Gaia" nannten es die Nachrichtensprecher - von den Straßen der Stadt fernzuhalten. Es gab nur zwei Möglichkeiten, diese Barriere zu durchqueren. Die eine der beiden war die Gondelstrecke, die andere eine Hochbrücke auf der anderen Seite der Stadt.
Mjú schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die Rückenlehne, um seine Augen zu schützen, während die Temperatur im Gondelinneren merkbar anstieg. Mjú hatte sich oft gefragt, ob es für einen Menschen wirklich gesund sein konnte, die Barriere öfter zu durchqueren. Jedesmal wenn er außerhalb der Stadt war, spürte er eine stechende Kälte in seinen Knochen. Vielleicht war er nur besonders sensibel, aber ihm kam die Barriere immer mehr wie eine Bedrohung als ein Schutz vor. Er hatte vor einigen Monaten einen Comic über die Barriere gezeichnet, doch sein Verlag hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er diese Entwürfe umgehend zu vernichten hätte. Er musste sie vor den Augen des Verlegers verbrennen, doch eine Kopie von diesen ruhte noch immer in der Gemüseschublade von Mjús Kühlschrank.
Das Durchqueren der Barriere dauerte nur wenige Sekunden, und ebenso merklich wie die Temperatur gestiegen war, fiel sie jetzt ab und wurde deutlich kühler als in der Stadt. Mjú konnte die feuchte, salzige Luft im Innern der schlecht isolierten Gondel schmecken. Ihm lief ein Schauder über den Rücken, als die Gondel schließlich in die Station einfuhr.

~



Sie war eingeschlafen und erst erwacht, als sie von einem gleißenden Weiß umgeben war. Erschrocken hatte sie ihre Augen geöffnet und gleich darauf laut geflucht. Ihr war schwindelig und sie sah kaum mehr als vage Umrisse, als sie kurz darauf aus der Gondel gestiegen war und die leere Plattform aus Beton betrat. Mit einem leisen Zischen schlossen die Türen hinter ihr und die Gondel entschwebte der Station.
Malín fröstelte und ging langsam auf die schmale Treppe zu, die von der Plattform hinunter in den ruinösen Wartesaal führte. Die trockenen Gräser überragten sie zu beiden Seiten des überwucherten Weges, der sich am Ende der Treppe anschloss. Malín war nur einmal zuvor draußen vor der Stadt gewesen und hatte sich geschworen, es niemals zu wiederholen. Als sie vier Jahre alt gewesen war, hatte ihr Vater sie mitgenommen. Er arbeitete in einer Art Messlabor hinter dem weißen Horizont. Malín wusste nicht, was er dort eigentlich machte. Sie war noch keine zehn, als er nicht mehr nach Hause kam. Den Grund dafür hatte sie nie erfahren.
Mit einem Blick zurück zog Malín die Tür zu. Es war eher die Gewohnheit, die sie dazu trieb, als dass es einen wirklichen Sinn hatte. Die Milchglasscheibe der Tür war zerbrochen und ein kalter Wind wehte in den zugigen Wartesaal. Sie drückte auf den Lichttaster nahe der Tür, und wider Erwarten flammte das gelbe Licht in der Raummitte auf. Unter der nackten Glühbirne, die nur durch die Reste eines alten Lampenschirms gekrönt war, standen einige Holzbänke. Malín ließ sich langsam nieder und betrachtete die Wände des Raumes. Diese waren mit Moos und Flechten besetzt. Lange Risse zogen sich durch den aufgequollenen, feuchten Putz.
Es dauerte eine ganze Weile - und es war die Langeweile, die Malín dazu trieb, die Wände genauer anzusehen - bis ihr die Muster hinter der organischen Patina auffielen.
Ein Fresko in einer Gondelstation?

fragte sie sich selbst und stand auf. Sie trat an die Wand und kratzte vorsichtig das Moos herunter. Die Linienführung sah nicht nach einem alten Fresko aus. ...viel eher nach einem Comic.



Zehn Minuten später hatte sie die Wand an der Stirnseite des Raums freigelegt. Gebannt starrte sie auf die Zeichnung, die sich hinter dem Moos befunden hatte. Sie nahm kaum wahr, dass draußen unterdessen die nächste Gondel angekommen und wieder abgefahren war. Nur langsam löste sie sich aus ihrer gedankenversunkenen Starre und ließ die Hand in ihre Tasche gleiten um die silberne Tabakdose hervorzuholen. Sie konnte schwören, dass die abgerissene Ecke des Comicheftes zu dieser Zeichnung an der Wand des Raumes passte. Mit zittrigen Fingern öffnete sie die kleine, silberne Dose.
In diesem Moment wurde die Tür zum Wartesaal geöffnet, und Malín ließ die Dose vor Schreck fallen. Scheppernd landete diese auf dem steinernen Boden. Hastig bückte sie sich und hob sie auf, um sie in ihrer Tasche verschwinden zu lassen. Erst dann sah sie zur Tür...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.08.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
- Fortsetzungsroman -

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