DER LINDGREN-KOMPLEX
Es ist einer dieser Tage mal wieder. Selten geworden in den letzten Jahren, sehr selten. Er kommt, er will Regen, das Wetter schlägt um und wir haben Herbst Anfang August. Kein verregneter Herbst, aber irgendwo auf halber Strecke dorthin aus der Sommerlethargie. Der Himmel ist blau mit vereinzelten Wolken, ein steter Wind bläst kühl über die Wiesen und die Sonne krallt sich schon an den Horizont.
Wir sind mal wieder unterwegs, draußen in den Feldern, auf dem guten alten Weg, auf unserem Weg. Wir mussten ein Stück mit dem Auto fahren, das hat er früher nicht gemacht, aber er soll es ja üben. Wundert mich eigentlich, den Führerschein hat er doch lange genug. Doch sobald wir das Auto verlassen haben und über die abschüssige Wiese voll im Wind Richtung knorrigem Weidezaun springen, ist das Auto vergessen. Auch die Zeit ist vergessen, das Datum, seine Abreise morgen und die Dinge, die er hätte tun müssen und nicht getan hat. Stattdessen springen wir über die Wiese.
Na gut, ich springe, er geht ganz normal. Noch.
Wir kommen durch ein kleines Waldstück. Die Zweige hängen tief in den Weg, und an einer Stelle scheinen sie eine Art Tor zu bilden. Er hat mir oft gesagt, dass an dieser Stelle eine neue Welt anfängt. Ich habe das nie ganz verstanden, aber er ist größer und sieht die Dinge von einem anderen Punkt aus. Ich glaube ihm, für mich ist es fast egal.
Der Weg führt nur noch ein Stück am Waldrand entlang, dann geht er zwischen einer Benjeshecke und einem Feld steil bergauf, hoch zu einer kleinen Anhöhe, auf dem der Baum steht. Der Weg ist wild überwuchert, in der tiefen Feldwegspur laufend reichen sogar ihm die Gräser bis an die Hüfte, mir kommt es so vor wie in einem Tunnel.
Während ich hier so hinter ihm her gehe und versuche, nicht die Orientierung im Gräserwald zu verlieren, denke ich darüber nach, warum er heute eine Jacke trägt. Er hat den ganzen Winter über keine getragen, nur seine üblichen Strickpullover, aber jetzt... gut, er hat nur ein T-Shirt drunter und der Wind ist frisch, aber trotzdem. Diese dünne Jacke erinnert doch irgendwie an eine alte Astrid Lindgren-Erzählung. Glaube ich zumindest, von meiner Spezies gibt es nicht besonders viele Literaturwissenschaftler... Jedenfalls ist sein leicht springender Gang hinauf zum Baum der eines Kindes aus den alten schwedischen Büchern. Und die Jacke passt doch irgendwie dazu. Jedenfalls besser als das dredg-Shirt dadrunter...
Am oberen Wegende bleibt er stehen und sieht zu dem Baum. Ich zeige mich solidarisch und bleibe neben ihm stehen. Er zeigt mir einen halb abgebrochenen Ast, der schon im letzten Winter so dort hing, und die verwitterten Reste eines Baumhauses. Ich frage mich, was einen Menschen dazu bringt, einen Baum so genau zu beobachten... vielleicht sogar zu kennen.
Aber ich versuche nicht ihn zu verstehen, ich trotte nur verständnisvoll neben ihm her, das findet er toll, und ich kann in Ruhe meinen eigenen Gedanken nachhängen. Ich bin nämlich nicht mehr so jung wie früher. Er auch nicht, aber ich altere schneller, was einerseits traurig ist, denn mit wem soll er im hohen Alter bitte an dem Baum vorbeigehen? Andererseits auch ganz gut so.
Wir staksen durch eine Ackerfurche zu der kleinen Grasinsel, auf der der Baum steht. Man kann von hier zu allen Seiten über die Felder und Wiesen sehen, sogar ich mit meiner Größe kann das. Der Wind bläst hier ungehemmt auf uns ein, er findet das lustig, aber er hat ja auch deutlich weniger Frisur, die kaputt gehen könnte. Außerdem kreisen hier diese verdammten Feldschwalben, ganz schön viele, und nicht eine kann ich schnappen. Eine schreiende Ungerechtigkeit, aber... es geht hier ja nicht um mich...
Es dauert eine ganze Zeit, bis er schließlich fast schüchtern über die Baumrinde streicht und wir wieder zurück zum Weg und weiter gehen. Das Wegstück was folgt, finde ich wesentlich besser. Ich mag Maisfelder, das Rauschen des Windes in den großen Blättern und um die Kolben, das Versteckspiel unter dem Dach aus Pflanzen...
Nur geht er hangabwärts immer etwas zu schnell für meinen Geschmack. Ich hätte mehr Zeit... Ich sehe ihm nach und denke wieder über die Jacke und den Lindgren-Vergleich nach. Eigentlich stellt er ein ganz schönes Klischee dar. Ich glaube er ist gerade genau das, was er sein will. Aber ob er es ist, weil er das Klischee mag, oder dasKlischee mag, weil er es ist, lässt sich für mich nicht sagen. Ich weiß nur: er spricht kein Schwedisch und trägt diesesdredg-Shirt drunter. Er ist dann wohl eine andere Rasse. Sagt man bei uns jedenfalls so.
Etwas später geht es durch einen dichten Vorhang aus Zweigen in ein weiteres kleines Waldstück, das nur etwa hundert Meter breit, aber sehr lang ist. Durch die Bäume sind links und rechts jederzeit die Felder zu sehen und der Wind fegt erneut durch alles hindurch. Ich erinnere mich vor ein paar Jahren, da sind uns hier Rehe über den Weg gelaufen. Und außerdem muss hier irgendwas komisches wachsen, das berauschend wirkt. Zumindest auf mich. Pilze oder sowas, ich weiß nicht. Jedenfalls raste ich hier regelmäßig aus. Nur heute nicht, heute bleibe ich dabei, ihn zu beobachten. Ich frage mich, was er sich davon verspricht, sich in den Wind zu stellen, den Kopf in den Nacken gelegt nach oben durch die Baumkronen zum Himmel zu sehen und die Arme auszubreiten. Vielleicht ist ihm ja doch zu heiß mit der Jacke und er sucht nach Abkühlung. Ha, siehste!? Das kommt davon, wenn man ein Klischee sein will.
Es wird bereits dämmrig, als wir durch die Heide und zwischen weiteren Stoppelfeldern entlang gehen. Die großen Heuhaufen zu beiden Seiten, die auf trockenes Wetter warten reizen mich schon, aber ich bleibe in seiner Nähe, ich kann gar nicht anders. Er summt leise "heysátan" vor sich hin, das ist aber auch kein Schwedisch! Will ich nur mal anmerken...
Erneut bleibt er stehen und ich jetzt auch. Ich wage einen Blick zum Himmel so wie er und verstehe, dass dort oben etwas sein muss, was man von seiner Höhe aus sicher sehen kann. Ich frage ihn beiläufig, was er jetzt tun würde, wenn er könnte. Eigentlich wollte ich damit nur andeuten, dasswir weitergehen könnten, aber er gibt natürlich prompt eine seiner länger dauernden Antworten.
"Weißt du Pontus," er nennt mich so, weil ich so heiße, und ja, ich gebe es zu, der Name ist aus einem Astrid Lindgren-Buch, aber SEINER ist es trotzdem nicht, "wenn ich könnte, würde ich genau diesen Moment festhalten. Als Bild, als Melodie, als Geräusch, wie der Wind schmeckt, wie dies alles hier zusammenpasst... Aber das geht nicht..."
"Mal ein Bild," schlage ich vor.
"Ich kann nicht malen, und eine direkte Kopie von diesen Farben würde vermutlich zu sehr an Bob Ross erinnern."
"Naja, der hat fast meine Frisur..."
"Fast..."
"Aber du machst doch Musik, schreibe ein Lied über den Moment."
"Geht nicht," er weigert sich aber auch andauernd, das naheliegendste zu sehen, seine Welt muss echt kompliziert sein, "ich kann kein Lied schreiben, was das alles umfasst. Erstens weil ich es nicht kann, zweitens weil es nicht möglich ist. Wenn ich könnte, würde ich genau diesen Moment konservieren und alle Menschen sehen lassen. Dann würden alle einen Moment inne halten, und wenn sie weiterleben eine Erinnerung daran haben, während ich mich hier ins Feld lege und einfach erstarre."
"Oh nein, ich will aber weiter..."
"Das wäre perfekt, oder?"
"Wenn du das sagst..."
Er lächelt nur verklärt, schüttelt sich dann leicht, und plötzlich ist er wieder hier in meiner Welt angekommen. Wir gehen weiter, auf der anderen Seite des Felds mit dem Baum vorbei und zurück über die Wiese hoch zum Auto. Am Fuß der Wiese sind wir wieder in dieser Welt, weil wir zurück durch dieses Tor aus Ästen gegangen sind. Soviel weiß ich mittlerweile auch schon.
Ich will rennen. Er weiß das, und ich weiß, dass er auch rennen will. Aber er trifft sich gleich mit Freunden, die wohl auch schon zu Hause warten, denn - wie gesagt - er vergisst gerne die Zeit. Und das Rennen, das würde doch seine Frisur zerstören. Er ist halt einfach zu cool zum rennen...
Er setzt ein Bein vor das andere, irgendwie unschlüssig. Oder ist er doch nicht zu cool dazu? Na...?
Er geht etwas schneller, zuckt dann mit den Achseln und rennt doch. Oben am Auto angekommen wirft er natürlich direkt einen Blick in den Rückspiegel, aber immerhin. Er sieht jetzt auch zerzaust aus. So wie ich. Während ich in den Kofferraum springe und er meine Leine abhakt, grinst er.
"Pontus, du siehst aus, als hättest du alle Frisuren die David Bowie jemals hatte gleichzeitig."
Ich lach mich tot. Witzbold.
Wir fahren mit dem Wagen zurück, noch ein Stück Landstraße, zum üben, ihr wisst schon. Ich sehe auf die im Dämmerlicht entschwindenden Mittelstreifen, schüttel meine Bowie-Frisur und brumme leise "I'm deranged...".
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet dem Hund. Und dem Baum.