Cover




"and in your darkest hour
now old secrets fade
you can watch the world
devoured in its hate"


[ "the end is the beginning is the end" - the smashing pumpkins]




Topografie 01



43°46'23"N - 11°15'21"O - Blickrichtung: Nord


Eigentlich begann alles im Süden. Ein Blick über die Dächer der Stadt hatte bereits von den Gärten aus gereicht. Es hätte keinen Grund gegeben, sich absichtlich in das Bad aus Menschen, Hitze und Lärm zu werfen, aber es gibt Situationen, da ist der Gruppenzwang stärker. Als ich meinen Kopf an der großen Sonnebrille des Wachmanns vorbei in das kühle Treppenhaus streckte, pochte mir dumpf der Schädel. Ich hatte es nicht besonders eilig mit dem Treppensteigen, die Kühle des alten Gemäuers, die relative Stille... aber die Menschen hinter mir wollten nach oben, und die Treppe war zu eng zum überholen.
Als ich auf dem Dach angekommen war, schlug die Sonne wieder zu. Ein Blick zur steinernen Brüstung. Die Dächer ringsum ließen mich zweifeln, ob die Erdoberfläche wirklich das Pflaster der Straßen und Plätze dort unten war, oder nicht in Wahrheit die sonnenwarmen Schindeln, doch als ich mich dem Gelände weiter näherte, wurde der weit unten liegende Domplatz nur allzu überzeugend. Wärme, Schlafmangel und ein Gefühl von Gleichgültigkeit ließen mein akrophobisches Herz höher schlagen. Ich beugte mich nach vorne und blickte in den Strudel. Die Geräusche verschwanden, die Schwerelosigkeit ebenso, nur ich allein, ich und die Höhe...
Ich spürte einen Griff an meiner Schulter und sofort schossen Stimmen, Hitze und Panik zurück in meinen Körper. Ich blinzelte eine Sekunde und fasste mich selbst. "Nicht runterfallen..." hörte ich neben mir. "Danke" dachte ich, doch seitdem schwindet die Höhe...


Topografie 02



45°26'30"N - 10°59'51"O - Blickrichtung: Ost


Die Brust schimmert golden in seiner Hand, das Gesicht errötet - und das nicht nur vom Sonnenbrand. Lebemann war er, sicher, zumindest in Sachen italienischer Wein und Hachez-Schokolade. Aber er war zu bodenständig und prinzipientreu für so etwas. Der traditionelle Griff an die entblößte Brust der Julia, die überall sonst genauso verwittert war wie ihre weniger attraktiven und vorzugsweise männlichen Nachbarn auf Brunnen und Verkehrsinseln, war ein Tribut an seine Schüler. Ich stand im schatten des Balkons und musste unwillkürlich an Claire Danes denken und grinsen.
Ich war jung genug um in dem Alter zu sein, einen Namen an die Wand zu kritzeln. Ich habe nie erzählt, welchen... und vermutlich bleibt das auch besser so. Zwischen den Millionen anderen Namen, wird er wohl sowieso nie gefunden werden können, schon gar nicht von mir selbst. Der Platz des Namens ist vergessen, fast ebenso die dazu gehörige Person. Alles verblasst, nur Namen, die bleiben...
[Und nein, der Name war nicht Claire... bevor hier jemand was reindeutet... Nicht dass ich die damals nicht... aber lassen wir das.]


Topografie 03



47°37'22"N - 10°12'40"O - Blickrichtung: Ost


In meiner Erinnerung bleiben Fotos von mir. Nicht deshalb, weil ich mit Narziss auf Bruderschaft getrunken hätte, sondern deshalb, weil es nur sehr wenige Bilder gibt, auf denen ich meinen eigenen Anblick ertrage. Zumindest war das sehr lange Zeit der Fall. Bezeichnend ist folgendes Bild:
Ich stand auf einem großen Stein, ringsum war Wasser, und das betraf vor allem die Vertikale. Während links und rechts des Steins ein seichter, schmaler Bach floss, wirbelte ein hoher Wasserfall hinter mir Gischt um mich herum. Wir waren tief im Wald, rutschige schmale Pfade hatten uns hinab an diesen Punkt geführt, ein kleines aber tiefes Tal, schmal wie eine Schlucht, das Tageslicht drang grau und gefiltert hinab. Die Gischt glühte wie eine Corona von weit oben.
Das Bild zeigte mich als Schatten, ein gutes Stück über dem Erdboden auf einem großen Stein, und klein vor dem hohen Wasserfall, in Wolken aus Gischt, verzerrt und auf eine Weise genau an dem Platz, dem ich mich zugehörig fühlte. Damals. Sichtwinkel ändern sich mit der Zeit. Der Stein unter mir ist verschwunden, der Boden schwammig, aufgeweicht, der Weg mühsam, aber beim zurückblicken bin ich erstaunt über die Strecke, die ich seitdem zurückgelegt habe... Nur die Größe der Schlucht, des Wassers, der Bäume haben sich nicht geändert. Dagegen ist jedes Gebäude ein Witz.


Topografie 04



47°58'29"N - 11°10'59"O - Blickrichtung: Nord


Es war so etwas wie eine Übergabe. Es ging um technisches Gerät, das auf dem Parkplatz unterhalb den Kofferraum wechselte. Unter den Augen der Bruderschaft, ein Aufstieg noch, dann waren dort die Gärten, grau und verregnet. Es war die Luft der Höhe, die meinen Atem aussetzten, während neben mir ein Nachhilfekurs in bayerischer Kultur ablief. Ich sah durch die großen Fensterscheiben hinaus in eine Welt unter Moos und bemerkte die Spiegelungen im Glas. Ich habe mich immer gefragt, wie das mit Kontakten läuft. Gibt es für so etwas einen Code, eine bestimmte Losung?
Dabei war mir das beste Beispiel seit Jahren bekannt. Ein Mensch, dessen größtes Problem eine schwer zu bändigende Toleranz ist, die ihm beim finden von eigenem Wesen und Zugehörigkeit unter Umständen im Weg steht, weshalb er sie gerne mal offensiv ausblendet. Er knüpft nicht Kontakte, die Kontakte passieren einfach. (So ähnlich wie bei Chuck Noris und dem Wasser...)
Mittelwege scheinen irgendwie nicht so unser Ding zu sein...


Topografie 05



48°08'00"N - 11°34'59"O - Blickrichtung: Ost


Damals kostete der Chickenburger nur einen Euro. Das gute alte Einmaleins unter dem großen, gelben Buchstaben. Ich hatte ein Seminar verlassen. Der Raum war bedrückend, viel zu voll, das Haus als solches war betongewordenes Grauen, die Welt der Studenten wollte in meinen Kopf eindringen, und ein Blick aus dem Fenster ließ die kühle Regenluft erahnen. Städte im Regen haben etwas göttliches. Die Lichter der vorbeischwimmenden Tram, der Wind von der Isar aufsteigend, das gedämpfte Hupen des Münchner Stadtverkehrs, vorbeieilende Regenschirme... Es war, als wäre die Stadt eine Kulisse, einzig gebaut für mein eigenes Kopfkino. Ich ließ die Egozentrik einen Moment schweifen und besann mich dann wieder darauf, nicht von Fahrrädern überrollt zu werden.
Hinter der Glasscheibe war es warm und das helle Licht leuchtete in die Dämmerung hinaus. Ich saß nahe der Tür um den Luftzug zu spüren, wenn jemand hereinkam. Das Burgerpapier zusammengeknüllt lehnte ich mich zurück und holte den Umschlag aus der Tasche. Ich las erneut. Ein Gefühl von Freiheit umgab mich, wie ich es in dieser Stadt nicht für möglich gehalten hätte. Der Inhalt des Brieftextes war nichts besonderes... oder zumindest nichts, was über die Besonderheit der Gedanken eines Freundes hinausgeht. Aber das Symbol war das was zählte. Ich entschloss mich in dem Moment damals, an der nächsten Ausfahrt abzufahren.


Topografie 06



48°09'03"N - 11°34'44"O - Blickrichtung: West


Lichtblicke prägen sich ein. Warum? Ich persönlich glaube, dass unser Gedächtnis ein großes Buch voll mit Fotopapier ist. Je heller die Belichtung, desto klarer die Kontraste in der Dunkelkammer der Erinnerungen. Das Bild in diesem Winkel der Erde zeigt mich an einem Freitagnachmittag. Kurz vor dem Wochenende, im Gepäck Lakritztee und Lebkuchen, vor mir die knorrige Tür des Instituts für Nordistik. Es war so etwas wie Tradition. Tradition für ein Semester, danach war der Winter zu Ende. Und der Freitag war nicht mehr das, was er vorher war.
Der Isländischkurs war vermutlich meine beste Zeit an der Uni... und das in einem Fach, in dem ich gar nicht eingeschrieben war.
Im Nachhinein ist das nicht so schlimm. Ich kann es als "Ich hab nur das gemacht, was mir Spaß macht!" auslegen. Das ist zwar weder die Wahrheit noch erstrebenswert, aber es klingt cool. Und darauf kommt es hier doch an, oder? Cool sein. Will ich. Kann ich. So. (Zumindest solange mich das Internet vor näheren Blicken schützt...)


Topografie 07



48°09'39"N - 11°33'48"O - Blickrichtung: Süd


Es gibt Orte auf der Welt, für die braucht es kein besonderes Ereignis, keinen interessanten Moment. Sie haben ihr eigenes Flair. Dieses umfing uns, als wir an einem Samstag aus der Tram stiegen. Die Fahrt vom Schlosspark war lang genug, um wieder halbwegs aufzutauen. Spätherbst und kühler Wind. Wir waren auf dem weg nach Hause. Knapp zehn Quadratmeter. Doch wir hatten den Schlosspark adoptiert. Es war unser Garten, und der war groß genug um uns beide zu fassen.
Dieser Ort hier ist die Schnittstelle. Der Übergang einer Welt voller Weite und Gedanken in eine Welt voller Enge und Wirklichkeit. Und an dieser Schnittstelle bleibe ich noch heute stehen und frage mich, was mit mir passiert, wenn ich eine Welt verlasse und eine andere betrete. Es gibt viele dieser Schnittstellen, und es scheint so, als ändert sich ein Teil meines Wesens an jedem Übergang. Ich bin nicht ich bin nicht ich bin ich... und so weiter. Vielleicht sind es die Welten, die ich überwinden muss, um irgendwann einen klaren Blick auf das Ganze zu bekommen, aber vorerst bleibe ich an meiner Schnittstelle und beobachte meinen kondensierenden Atem.


Topografie 08



48°10'23"N - 11°33'02"O - Blickrichtung: Süd


Das Zelt stand noch da, doch ich war nicht mehr darin sondern davor. Der Tag war heiß. Wir hatten die kühle Hölle des unterirdischen Aquariums verlassen und saßen auf den warmen Steinstufen oberhalb des Sees. Eine Woche zuvor hatte ich dort im Zelt auf der Bühne gesessen und meinen Blick über die vereinzelten Personen schweifen lassen. Blickrichtung: Nord. Ich hatte mich gefragt, warum um alles in der Welt die ein paar Stagehands beim entspannten Verkabeln der Wedges zusehen...
So ändert sich die Ansicht. Als wir dort saßen, war die Bühne noch leer. Niemand arbeitete dort, aber immerhin war es warm und sonnig. Ich stellte mir die Frage, ob es nicht ebenso unverständlich sei, dass Leute vor einer leeren Bühne im Regen sitzen, wie wenn ich vor einer leeren Bühne in der Sonne sitze. Aber meine Schwester war zu Besuch. Und wann immer meine Geschwister in der Nähe sind, wird das Leben entspannt. Ich weiß nicht warum, vermutlich ist das so eine genetisch festgelegte Familien-Chemie, die dafür sorgt, dass die Zeit einfach mal etwas langsamer läuft...
Außerdem hatten wir etwas zu essen und mussten uns damit schließlich irgendwo hinsetzen. Das war dann auch Grund genug, den Gedankengang zu beenden.


Topografie 09



48°09'22"N - 11°31'14"O - Blickrichtung: Nord


Wir waren kreativ. Richtig kreativ. Wir hatten es geschafft, ein lachendes Klo zu vertonen. Als Animation versteht sich. Kennt jemand die Bezeichnung "btree header"? Gute Arbeit zeigt sich dann, wenn man rumalbert, Blödsinn auf unterstem Niveau macht und die Zeit irgendwie im Flug vergeht, aber trotzdem etwas dabei rauskommt. Das war der Fall. Wir waren echt gut. Kennt jemand die Bezeichnung "btree header"?
Zwei Stunden waren vergangen, seitdem ich eigentlich nach Hause fahren wollte. Aber die Arbeit war gerade produktiv, warum also unterbrechen?
Es gibt immer wieder Menschen, mit denen man gut zusammenarbeiten kann und dann aus irgendwelchen blöden Ideen tatsächlich etwas wird. Und er gehört definitiv dazu. Wenn jemand einen Experten sucht, der auch der absurdesten Idee noch etwas abgewinnt udn zudem gleich die Recherche danach übernimmt, wie man das gewinnbringend umsetzen könnte, dann kann ich ihn da definitiv empfehlen.
Doch kurz bevor das vertonte Toilettenmonster (Anmerkung: die Animationen waren nicht von uns, wir haben nur den Sound gemacht) die Weltherrschaft an sich reißen konnte, gab es ein kleines Problem mit der externen Festplatte. Das Problem ließ sich nicht beheben. Außerdem war es nicht klein. Es war groß! Es zerstörte unsere grandiosen Werke! Und Schuld war nur der "btree header"...


Topografie 10



48°09'23"N - 11°31'43"O - Blickrichtung: Nord


Meine offizielle Konfession ist katholisch. Ich sollte das mal ändern. Nicht, dass ich die Kirche als Quelle allen Übels sehe, ich will mir auch nicht anmaßen ein Urteil über das Verhältnis zwischen positiven und negativen Seiten zu fällen, aber mein Glaube ist ebensowenig kompatibel mit den Statuten der katholischen Kirche, wie mein Leben an sich. Ich persönlich glaube auch, dass es mehr Sinn macht, seinen Glauben nicht an etwa zu adressieren, was von Menschenhand errichtet wurde. Wenn ich will, dass jemand meine Gedanken hört, dann habe ich eher das Gefühl, dass ich mich von Gebäuden fernhalten sollte. Nichts gegen alte, dunkle Kirchen, das sind teilweise imposante Bauwerke, aber nichts gegen ein Blätterdach...
Wenn man aber in einer Kirche sitzt und das eindeutige Gefühl hat, dass man inmitten einer Stadt der Erde und dem Himmel näher ist als man es vorher erwartet hat, dann lohnt es sich, seine Meinung über Gebäude als solche zu überdenken. Und auch wenn ich es bisher vermieden habe, die Orte hinter den Koordinaten explizit zu nennen, wer in München ist, sollte der Herz Jesu Kirche einen Besuch abstatten, möglichst bei Tageslicht.


Topografie 11



48°09'36"N - 11°29'34"O - Blickrichtung: Ost


Ich mag kleine Winkel. Ich mag auch große Räume und weite Flächen, aber das spielt hier keine Rolle. Ich mag kleine Winkel. Vor allem nahe großen Räumen und weiten Flächen. Als ich einen Blick in den Raum war, wusste ich, warum. Es ist das Unerwartete. Die Treppe, vor ein Fenster gezimmert, das nicht so aussah, als hatte es geplant, eine Treppe vorgesetzt zu bekommen, führte hinauf. Ich musste den Kopf einziehen, so wie mein Vater es früher machte, wenn wir in alten Burgruinen waren, was ich als Kind immer unheimlich cool fand. Jetzt war es eher Notwendigkeit. Mein Bruder folgte und zog ebenfalls den Kopf ein.
Die kleinen Zimmer waren nur zu einem kleinen Teil begehbar, aber der Blick aus den kleinen Fenstern unterm Dach reichte aus um zu wissen, dass weder Schöner Wohnen noch Einsatz in vier Wänden hier etwas verbessern konnten. Ikea-Regale machen sich auch nicht so gut in Schlössern... und seien es auch nur kleine Parkburgen.


Topografie 12



48°14'57"N - 11°33'56"O - Blickrichtung: Nord


Wir hatten die Spitze des Baums fast erreicht. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von den Ästen, die ihn nicht mehr halten würden. Wir waren schon als Kinder - wie vermutlich die meisten Kinder - immer auf Bäume geklettert, wenn sich die Gelegenheit bot. Dieser Baum war in etwa so groß wie die Bäume damals. Seine Hände waren auf gleicher Höhe wie damals. Nur seine Füße waren jetzt viel weiter unten. Ungefähr achtzig Zentimeter über dem Boden.
Damals waren die Bäume hoch in unserer Vorstellung. Wir blickten einfach nach oben, so dass wir keinen Boden mehr sahen, und schon spürten wir die Höhe. Auch wenn wir keine zwei Meter hoch saßen. Ich hatte die Kamera mit an diesem Tag. Unsee Größe hatte sich vielleicht verändert, aber nicht unsere Sichtweise. Eine Kamera sieht nur das, was sie sehen soll. Der bewölkte Himmel, sein Grinsen, dass sich seit Kinderzeit nicht geändert hat, den Baumwipfel... Dann doch ein Kameraschwenk, die Position der Füße, der wenig entfernte Boden. Das war nur gerecht. Als Kinder mussten wir die Nähe des Bodens auch immer wieder feststellen...


Topografie 13



49°45'35"N - 8°51'15"O - Blickrichtung: Süd


Nachtwanderung. Ich habe sie geliebt und viel zu selten gemacht. In einer Stadt ist das natürlich sinnlos, zuviel Licht, zuviel Lärm... Als ich im ersten Sommer in das Dorf meiner Grundschulzeit zurückkehrte, wanderten wir. Nachts. Von einem Griechen zurück, bei dem ich viel zu viel gegessen hatte, wenn ich mich richtig erinnere. Über eine schmale Straße durch die Felder und Wälder des Odenwalds. Dort, wo sich die Dörfer in kleine Bachtäler flüchten und von Ferne den Anschein erwecken, hier wären nur Hobbits zu Hause, dort wo Waldhänge das wenige Licht der Ansiedlungen schlucken, wo eine vereinzelte Straßenlaterne bei einer Ansammlung von drei Höfen um 22 Uhr erlischt, wo kaum Autos fahren, weil es in dieser Gegend keinen Grund gibt, irgendwohin zu fahren, dort wanderten wir.
Auf einem Hügel hielten wir an. Um uns trotz des Sommers nur Mondlicht. Und Sterne. Jeder weiß, dass man viele, viele Sterne sieht, wenn nirgendwo sonst ein Licht scheint (und es nicht bewölkt ist), aber ich fragte mich in dem Moment, ob man so etwas wirklich wissen kann, wenn man es nicht selbst gesehen hat. Die Nacht ist nicht still, sie ist auch nicht völlig dunkel, das ist sie nur in den Träumen von Goths oder in Erzählungen von Poe.
Und wieder stellt man fest wie brutal aber doch wichtig, da real, die plötzliche Erdung solcher Momente sein kann. Wir saßen dort auf dem auskühlenden Asphalt, und dann kam das einzige Auto, das uns in der Nacht begegnete. Wir bemerkten den Lichtschein bereits, als es den gegenüberliegenden Hang hinabfuhr. Es rauschte an uns vorbei, und blieb nur eine kurze Notiz. Die Nacht dort kann nichts beeindrucken.


Topografie 14



49°44'33"N - 8°51'54"O - Blickrichtung: Nord


Menschen sind mit Bäumen verbunden. Weiß jeder, ist nichts neues, nicht erst seit Tolkien oder sowas. Klar. Ich jedenfalls glaube, dass ich irgendwie mit Bäumen verbunden bin. Vermutlich nur aus dem Grund, weil ich mir das als Kind irgendwann in den Kopf gesetzt habe... aber letztlich ist der Grund ja weitestgehend egal. Mein Wesen macht halt aus, dass ich und Bäume ziemlich dicke sind. Das fing schon damit an, dass ich als Kind von einem Spaziergang eine kleine Buche mitgebracht und im Vorgarten gepflanzt habe. Ja, das mit dem "Jeder Mensch sollte im Leben mal einen Baum gepflanzt haben" hab ich längst hinter mir. Was Bäume angeht, bin ich schon mindestens fortgeschritten. Als Kind hatte ich dann auch immer Angst, dass die Buche irgendwann gefällt würde, weil mein Vater meinte, die Wurzeln heben irgendwann die Pflastersteine. Wir haben nicht annähernd lange genug dort gewohnt, um diesen Zeitpunk zu erleben.
Auf der Wiese nördlich von unserem Haus stand ein großer Weidekätzchenstrauch. Als Kinder sind wir viel in dem herumgeklettert. Aber irgendwann hörte ich, dass der Baum/Strauch gefällt werden sollte, weil dort ein Haus gebaut wurde. Ich bin daraufhin in den Baum/Strauch geklettert und wollte da bleiben, so dass keiner den fällen konnte. Gut, ich musste natürlich abends dann zum Essen reinkommen, und danach hab ich auch schon wieder über etwas anderes nachgedacht. Aber die Initiative zählt. In diesem Fall. Der Strauch wurde trotzdem irgendwann gefällt, allerdings... Ich war vor einigen Jahren mal wieder in dem Ort. Das ganze alte Feld um unser Haus wurde inzwischen komplett bebaut, nur der Abschnitt, wo der Strauch einst stand, ist als einziges nach wie vor Wiese. Die Welt ist schlecht. Manchmal.


Topografie 15



49°44'47"N - 8°51'12"O - Blickrichtung: West


Früher war das so, dass Freunde entweder da waren, oder nicht. In meiner Grundschukzeit generell mal eher nicht. Ich bin generell nie ein Mensch gewesen, der andere sucht, aber wenn es heute sowas wie ein Idealbild von Freundschaft für mich gibt, dann stammt das ausgerechnet aus der Grundschulzeit. Auch wenn ich sie bei einigen Besuchen nach unserem Umzug aus diesem Ort vermutlich erst viel besser kennenlernte als in der Zeit, als wir in eine Klasse gingen.
Es war eigentlich sowas wie die perfekte Freundschaft unter Kindern. Ein wenig wie aus einem Lindgren-Buch (nicht ganz ohne Grund, wir hatten beide Astrid Lindgrens Bücher zum Großteil komplett verinnerlicht). Unter dem Titel "Wie wir einen Kuchen machten" könnte man zum Beispiel den Tag zusammenfassen, als wir beim Aufstehen den Plan fassten, einen Kuchen zu machen, dazu im Garten Beeren pflückten und diese mitsamt mehreren Packungen Quark auf einem Biskuitboden arrangierten. Ihre Mutter konnte uns gerade noch davon abhalten, das ganze Ding einfach so in den Ofen zu schieben. Stattdessen warteten wir dann bis zum Nachmittag, erstens weil Kuchenzeit nunmal am Nachmittag ist, zweitens weil dann der Kuchenboden auch endlich weitgehend aufgetaut war.
Ich könnte dazu jetzt endlos etwas schreiben, aber... ich habe gerade versucht mich noch auf einen kurzen Abschnitt zu beschränken. Geht nicht.


Topografie 16



51°01'57"N - 9°15'32" O - Blickrichtung: Nordwest


Es gibt Dinge, die sind an jedem Ort. Man muss sie sich nur tief im Inneren vorstellen. Zu diesen Dingen gehört auch der Winter. Und der Urlaub. An Orten, kalt und trostlos, in grauem Regenschleier, braucht es mehr Vorstellungskraft als an anderen. Oder die richtige Gesellschaft. Ich habe viele Gesichter gesehen in jungen Jahren, bevor mir gestattet wurde mich in meine eigene Welt zurückzuziehen. Und einige dieser Gesichter tauchen noch immer im Regenschleier auf.
Es war damals das graueste Silvester am trostlosesten Ort der Welt. Selbst der See in unmittelbarer Nähe war auf den ersten Blick hässlich. Aber - wer es nicht glaubt, soll es einemal im Leben ausprobieren - jeder See gewinnt an Schönheit, wenn man ihn einmal umrundet hat. Nicht weil man dann über seine Größe triumphiert hätte, sondern weil man ihn von so vielen Seiten aus gesehen hat und fest stellt, dass man doch nie mehr als einen Standpunkt haben kann.
Wir träumen vom Überwinden von Ozeanen und haben es doch nichtmal gemeinsam um einen See geschafft. Stattdessen legen wir Drainagen und betonieren die Ufer. Aber auch ein See hat ein Gedächtnis...


Topografie 17



51°02'20"N - 7°53'31"O - Blickrichtung: Süd


Heimat sind Bilder, die man sich einrahmt. Losgelöste Bilder, die ihre Anknüpfpunkte tief im Inneren der Vergangenheit haben. Ich stand auf dem Rand des hölzernen Sandkastens und sah den Hang hinab in das Tal. Meine Haare waren hellblond damals, unbefleckt von der Zeit. Wenn ich einmal alt sein werde und weißhaarig, ich stelle mich wieder so in den Wind und lasse mich durch das Sonnenlicht blenden, das in meinen eigenen Strähnen reflektiert. Der graue Pullover, selbstgestrickt (von meiner Mutter, nicht von mir...) mit dem gelben Drachen darauf, flatterte leicht im Wind.
Es gab nur einen wirklichen Weg in diesem Ort. "Brötchen-hol-weg" hieß er. Alle anderen Wege waren Straßen. Schmal und schlecht asphaltiert zwar, aber Straßen. Folgte man dem Weg, kam man zur einzigen Sensation des Dorfes: Einem Möbelhaus auf der anderen Seite des Tals, am Hang der Hügelkette, in deren Wäldern wir Wichtelhütten aufgestellt hatten und Kartoffeln im offenen Feuer rösteten.
Das Möbelhaus war eigentlich ein großes, quadratisches Schaufenster. Wenn wir entlang der Wichtelhütten spazieren gegangen waren, kamen wir oft im aufziehenden Regenschauer an diesem Haus vorbei und stellten und dort unter dem schmalen Vordach unter. Der Blick durch die Scheiben und die Faszination: Da sind ganz viele Zimmer in einem!
Wenn ich heute bei IKEA Kinder durch die einzelnen Schauzimmer laufen sehe, gehe ihnen hinterher durch die einzelnen Einrichtungslandschaften und wünsche mir, nur halb so groß zu sein, damit alles zwischen Billy-Regal und Röstö-Ofen noch gewaltiger aussieht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.07.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
gewidmet: Nathanæl, Xylo & Medellia

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