Cover

Sarcophagi



-BAND.EINS
-BAND.ZWEI


-ZWEI.001



"Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig..."
Ein leises Entweichen von Luft erklang, als der Hydraulikzylinder die Türverriegelung freigab. Das kleine Lämpchen über dem Scanpad blinkte zweimal grün, dann erlosch es, nur um zehn Sekunden später erneut zu blinken, während die schwere Sicherheitstür mit einem dumpfen Stoß wieder verriegelt wurde.

Der Mann, der die Tür zwischen den Blinksignalen passiert hatte, hieß Ryan Tepulev, leitender Ingenieur einer kleinen Arbeitsgruppe im "Konstruktionsbüro für Befriedungstechnologien" an der Mündung des Kjiwsjet-Hauptarmes in den großen Stausee am südlichen Ende von Lelew. Neben seinem Namen und seiner Profession verriet die Mitarbeiterakte, die im Büro von Personalchef Hirgor Olin auf dem Aluminium-Regalbrett mit dem Buchstaben "T" stand, auch sein Alter, 26 Jahre, und seinen bisherigen Arbeitsstatus: "tadellos". Ryan war in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Bis zu seinem elften Lebensjahr lebte er mit seinen Eltern in einem Haus im Herzen von Woronoshki, einem Viertel im Norden der Stadt, zu dem ein einfacher Bürger wie Ryan heute nur schwerlich Zugang bekam. Während der Unruhen und dem Militärputsch vor fünfzehn Jahren schlugen sich seine Eltern, die beide an der Universität von Kjiwskagrad unterrichteten, auf die Seite der militanten Studentenbewegung und wurden irgendwo im Häuserkampf in den Straßen von Chery'inki erschossen.

Ryan wuchs danach im "Mikolos Arbeiterheim für Kinder" in der Nachbarschaft seiner heutigen kleinen Wohnung im Zentrum von Kjiw-Est auf. Er war ein guter Schüler und disziplinierter Arbeiter, und während immer mehr Kinder, die in den Heimen und Schulen als "unteres Volk" aussortiert wurden, Wohnungen in Ostoskoye zugeteilt bekamen, wo sie je nach Glück und Improvisationstalent zwei oder drei Jahrzehnte überlebten, erhielt er eine Anstellung als Ingenieur und schaffte es schnell zum Leiter einer kleinen Abteilung.


-ZWEI.002



Zwei Sicherheitstüren später erreichte Ryan den Trakt für Strahlenwaffentests. Er durchquerte einen weiß gefliesten Raum mit Duschköpfen an der einen und Spinden und Holzbänken an der anderen Seite. Während er den Spind mit der Nummer 38 aufschloss, öffnete er mit der anderen Hand bereits den Reißverschluss seines Overalls. Nach einer Woche wie dieser fieberte er den letzten Tests in diesem Trakt entgegen. Es war praktische Arbeit ohne die üblichen Mengen an Konstruktionszeichnungen und Berechnungsdiagrammen, zudem war der Trakt ein helles, modernes Gebäude, das so gar nicht den kleinen, gedrungenen Betonbüros glich, in denen er normalerweise arbeitete.

Er hängte seine Arbeitskleidung in den Spind und durchquerte den Raum zur Duschzeile. Zudem war dies der einzige ihm zugängliche Ort, an dem das Duschwasser sauber war. Aus den Bleirohren in den Wohnblöcken in Kjiw-Est schwappte meistens eine hellbraune Suppe, von der er hoffte, dass die unsichtbare Belastung des Wassers geringer war als die offensichtliche.

Die Sicherheitstür öffnete sich erneut mit einem Zischen, während Ryan bereits die Kapuze seines sterilen Overalls festzog.

"Ryan!"

Ryan blickte auf und sah Jesska Laibach zu ihm herüberkommen. Jesska arbeitete in seiner Abteilung und war so etwas wie eine Freundin, wenn seine geringe Freizeit so etwas wie Freundschaft überhaupt zuließ. Zumindest trafen sie sich an ihren wenigen freien Tagen hin und wieder im Stadion zum Jogging. Ryan entschied für sich, dass das bei seinem Mangel an sozialem Kontakt einer Freundschaft schon recht nahe kam.

"Jessky..." gab er nun erstaunt zurück, "was machst du hier?"

"Wusstest du das nicht?" erwiderte sie und suchte sich Spind Nummer 46, "ich bin neu ins Team berufen worden... weißt du was das heißt?"

"Du hast später Feierabend?"

"Wir dürfen offiziell zusammen duschen..."

"Oh," Ryan war überzeugt, dass das die beste Antwort war, sicherte dann aber seinen Spindschlüssel an einem kleinen Karabinerhaken im Innenärmel seines Overalls und ging zum hinteren Durchgang, wo die Desinfektionsduschen warteten, "so gerne ich dir beim Ablegen behilflich wäre," er warf einen flüchtigen Blick auf ihre schmalen Schulterblätter, "ich bin leider bereits spät dran... bis später Jessky."

Jesska wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, dann ging sie hinüber zu den Duschen und drehte das Wasser auf. Sie beobachtete die feinen Wasserstrahlen, die aus dem hohen Duschkopf strömten, die Rinnsäle, die sich auf dem sauberen, gefliesten Boden bildeten und schließlich im kleinen glänzenden Abflussgitter verschwanden.

So klares Wasser!


-ZWEI.003



"Ah, Chox Tepolev," wurde Ryan begrüßt, bevor er den Kommandostand der Testhalle B noch betreten hatte, "wir machen's heute kurz."

Ryan zog reflexartig die Brauen hoch. Srebor Roscow, der Leiter des Traktes, war für seinen Ehrgeiz bekannt und beendete die Tests selten innerhalb der vorgesehenen Zeit. Ryan konnte sich nicht erinnern, jemals früher zum Duschen gegangen zu sein.

"Chox Roscow," gab er zurück, "letzte Woche standen noch eine Menge nachzuholender Tests an, die..."

"Der Plan hat sich ein wenig verschoben," entgegnete Roscow, "wir haben die fünf letzten Mitglieder in unser Team integriert. Ich möchte, dass Sie heute die Einweisung machen, die Tests gehen wir dann nächste Woche mit Verstärkung an, im Übrigen..."

Roscow legte Ryan väterlich die Hand auf die Schulter.

"Im Übrigen wird mit Ablauf Ihres aktuellen Projektes in den Betonzellen," Roscow sprach immer abfällig über die Büros außerhalb seines Traktes, "hier in meinem Trakt eine leitende Stelle frei, und ich würde es gerne sehen, wenn Sie diese Position in Zukunft übernehmen würden. Mit unseren fünf neuen Forschungsassistenten wird dann ein zehnköpfiges Team in einer eigenen Abteilung arbeiten. Ich habe der Personalabteilung bereits eine Empfehlung zukommen lassen. Ihre Übernahme in meinen Forschungstrakt wird nur noch eine Formalität sein."

"Ich soll..." vor Überraschung hätte sich Ryan fast im Ton vergriffen, "gerne nehme ich die Stelle an, Chox Roscow!"

"Das freut mich," erwiderte Roscow, "dann lassen Sie mich die Eckpunkte für die Teameinweisung durchgehen..."


-ZWEI.004



Ryan verließ die Umkleideräume als erster, verabschiedete sich von seinem neuen Team und eilte durch die langen Korridore und schließlich die breiten Industriestraßen von Lelew. Die Beförderung zum Teamleiter in Roscows Abteilung kam einem gesellschaftlichen Aufstieg gleich, der einem Heimkind wie Ryan normalerweise verwehrt wurde. Vielleicht bekam er sogar eine kleine Wohnung in Woronoshki.

Ryan sah auf die Uhr, als er die Sicherheitsschleuse nach Kjiw-Est passierte. Er schlug kurzerhand den Weg zum Stadion ein und hoffte, Jesska noch zu erwischen. Er brannte darauf, ihr von seiner Beförderung zu erzählen. Was würde sie sagen? Sie war schließlich immer der Ansicht gewesen, Kinder aus Kjiw-Est sollten sich mit solchen Hoffnungen gar nicht erst abgeben, da sie doch nur enttäuscht wurden.

Enttäuscht war auch Ryan über Jesskas Reaktion.

"Glaubst du wirklich, dass das gut für dich ist?" fragte sie skeptisch und ließ sich schwer atmend auf die Betonstufen der Stadiontreppe sinken.

"Warum nicht?" er fühlte sich vor den Kopf gestoßen, "Jessky, das ist mehr, als ich mir jemals hätte erhoffen können!"

"Genau, Ryan, denk mal darüber nach." Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sein enttäuschtes Gesicht. "Entschuldige... natürlich freue ich mich für dich. Ich habe nur Angst vor..."

Ryan sah sie aufmerksam an. "Wovor, Jessky?"

"Ich... ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, dass wir hier in Kjiw-Est ein gutes Leben führen, solange wir nicht über unsere Grenzmauern hinaus blicken."

"Was sollten wir dahinter schon sehen?" Ryan schüttelte den Kopf, "was sollte es so schlimmes geben, außerhalb unserer Mauern?"

"Warst du mal in Ostoskoye, Ryan?" Jesska stützte sich hoch und zupfte am T-Shirt, dass an ihrer Haut klebte.

"Seit Ewigkeiten nicht mehr, aber..."

"Aber ich." Jesska musterte ihn. "Versprich mir, Ryan, dass wenn du über die Mauern blickst, es zu beiden Seiten tust."

Ryan nickte nur stumm und sah Jesska nach, als sie im kalten, dunklen Gang des Stadions verschwand. Langsam setzte auch er sich in Bewegung, mit düsterer Miene, die erst verflogen war, als er in seine Heimatstraße einbog.

"Heimat..." sagte er laut zu sich selbst, während er am Anfang der Straße stehen blieb, "Heimat wird für mich immer Kjiw-Est sein. Ich gehöre nicht zum Abschaum von Ostoskoye! Und ich werde auch nicht Teil der Woronoshki-Elite."

Beruhigt durch diese Feststellung ging er weiter, die Straße hinab bis zu seiner Wohnung...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.07.2008

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